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Die sittliche Erziehung

Die gegenwärtigen Diktaturen haben den Drang, die Demokratie zu zerstören bis zu dem Grade, daß künftige Geschlechter nicht einmal den Begriff mehr kennen. Ein Ausspruch Hitlers kennzeichnet besonders gut seine Geistesart und zeigt, wie er die Menschen einschätzt: »Ich weiß wohl«, soll er gesagt haben, »daß wir gewisse Generationen nicht mehr erfassen können. Aber wir werden ihnen die Kinder nehmen.«

Das heißt: die jungen Menschen, über deren Charakterbildung er verfügt, sollen nicht mehr stolz und frei sein. Nie sollen sie den Ehrgeiz kennen, teilzuhaben an einer Gesellschaft, deren Einrichtungen allmählich gerechter werden. Gerechtigkeit und Freiheit sollen gestrichen sein aus dem Geist der Nachfahren. Es soll ihnen nicht beifallen, selbständig zu denken oder nach ihrem Gewissen zu handeln. Einzig der Staat wird ihnen vorschreiben, was wahr sein soll. Die Wahrheit wird nicht mehr aufgefunden werden durch uneigennützige Erkenntnis: denn das ist »Kulturbolschewismus«. Sie wird verfügt werden im Namen der Volksgemeinschaft, eigentlich aber nur von den Machthabern.

Die Rückwärtserziehung einer ganzen Nation hat in Deutschland eingesetzt. Schon ist sie auf der Höhe und zeitigt täglich Ergebnisse, so vielfältig, daß man staunt. Zum Beispiel haben die Studenten unsere Bücher nicht nur verbrannt: sie haben sie auch gestohlen. Nicht alle wurden auf den Scheiterhaufen geworfen, viele fielen in Säcke, und die wißbegierigen jungen Leute verschwanden damit heimlich. So kamen sie zu Werken, die allerdings aus den Wohnungen politischer Gegner herausgeholt waren, aber anders wären sie eben nicht dazu gekommen. Andererseits hatten sie mit der possenhaften Ausräucherung des bösen Geistes ein Verdienst erworben um die Partei, ja, um das Vaterland. Denn das ist bekanntlich das gleiche, und außerhalb der Partei gibt es kein Vaterland.

An manchen Berliner Häusern hängt bei festlichen Gelegenheiten ein Bild Hitlers, mit den Füßen am Boden und dem Kopf im obersten Stockwerk. Die Inschrift verkündet: »Hitler der Arbeiterfreund!« Wirklich ziehen denn auch Tausende von Arbeitern, alt und jung, mit begeisterten Zurufen vorbei am Bilde dessen, der ihre Gewerkschaften zerstört und die Kassen beschlagnahmt hat. Eine gleich große Zahl von Proletariern kann an diesen Kundgebungen des Hochgefühls nicht mehr teilnehmen, denn sie sind gefangen oder umgebracht. Wer vorläufig noch verschont bleibt, ist um so fester überzeugt, daß er sich richtig benimmt so wie hier. Er lebt doch wenigstens. Er kann sogar frische Eier kaufen, wenn er das noch kann.

Eine Handlung und eine Überzeugung sind gut, wenn sie nützlich sind, und nur so lange. Ein treuer Untertan des Diktators und des Vaterlandes, die eins sind, wird man dadurch, daß man gewisse Worte ruft und die gebotenen Bewegungen dazu macht. Mit zunehmender Gewöhnung kommen diese armen Leute allmählich so weit, daß sie ihre früheren Genossen, die im Gefängnis hungern und sich foltern lassen, für Verräter halten. So sieht die neue Erziehung zum wahren Deutschtum aus. Ob sie durchdringt, das richtet sich offenbar nach der Macht derer, die sie erzwingen. Die Vaterlandsliebe bedeutet unter der Diktatur, daß man zum Stärkeren hält.

Man läßt es sich gesagt sein, und die Patienten eines jüdischen Arztes hüten sich, ihn aufzusuchen, trotz allem Vertrauen, das sie zu ihm haben. Sie waren vielleicht durchaus keine Antisemiten, aber Rassengläubigkeit lernt man, wenn es sein muß. Man macht sogar schon mit, wenn ein Vorteil winkt. Wo kein Geschäft mehr geht, ist es ein Trost, wenigstens die israelitischen und marxistischen Konkurrenten loszuwerden. Diese wie jene verschwinden vom Schauplatz, und wem es zu lange dauert, bis sie abhauen, der denunziert sie. Das ist ehrenvoll und ist Gewinn. Einer zeigt den andern an wegen marxistischer Umtriebe oder einfach, weil er »miesgemacht« hat, was laut ministerieller Verordnung verkappter Marxismus ist. Damit macht man sich beliebt und außerdem fällt es so leicht. Das Denunzieren wird ohne weiteres zum Bestandteil der verwandelten Sitten und einer erneuerten Moral, die kraftvoller als die alte ist. Jeder sucht seinen Stolz darin, den Nachbarn zu bespitzeln, mag es ihm im Augenblick auch nichts einbringen. Immerhin sorgt er vor und wird sich auf geleistete Dienste berufen können an dem Tage, wo er selbst denunziert ist. Die gute Gesinnung findet ihre Stütze in der heilsamen Furcht.

Ebenso gute Stützen sind allerdings Haß und Neid. Als wir ausgewanderten Intellektuellen unsere Heimat verließen, war es höchste Zeit. Tags darauf drohte uns Verhaftung und was noch sonst. Tatsächlich hatten unsere lieben Kollegen von den nationalistischen Blättern nichts eiliger, als Nachforschungen anzustellen über unseren Verbleib. »Man hat sie nirgends gesehen; nach Hause sind sie auch nicht gekommen.« Man hielt es nicht aus vor Ungeduld, wir möchten endlich dafür gezüchtigt werden, daß wir so lange und so sichtlich die geistig Überlegenen gewesen waren und daß die Republik uns gesellschaftlich dahin gestellt hatte, wohin wir gehören.

Es war eine gute Zeit für die Schriftsteller im Solde des Herrn Hugenberg, wie auch für ihn selbst, der mehrere Ministerien beherrschte. Seitdem hat Hitler, der frühere Schützling Hugenbergs, ihn untergekriegt. Er mußte abtreten. Seine Partei wurde aufgelöst, auf den Stahlhelm konnte er nicht mehr bauen; da drohte dann auch seinen Zeitungen das Verbot oder die Enteignung. Der Tag kann kommen, wo er selbst verhaftet wird. Wenn seine Mitarbeiter jetzt noch in Entzücken geraten über den Sturz einstiger Größen, dann bewegt sie nicht mehr nur ihr Haß. Das elende Geschick eines sozialdemokratischen Oberpräsidenten wird ihnen wohl schon etwas mehr zu denken geben als noch vor Wochen. Der alte Mann war durch die Stadt geschleift worden, in der er lange der Höchste gewesen war. Die Menge pfiff und heulte, wo er vorbeikam, einst ein so mächtiger Beamter, jetzt als Straßenarbeiter gekleidet, mit einer Schaufel in der Hand. Damit nichts fehle zu seinem Leidensweg, mußte der Unglückliche durch das ganze Oberpräsidium hindurch, wo seine früheren Untergebenen von Amts wegen »Nieder« riefen.

Die Hugenberg-Presse gab diese Auftritte begeistert wieder. In besonderes Entzücken geriet sie über eine Racherede des Nazi-Polizeipräsidenten, übrigens ein verurteilter Mörder, der kurze Zeit vorher aus dem Zuchthaus entlassen war und jetzt für die öffentliche Sicherheit sorgte. Schön. Nur hat man die Empfindung, daß der Schreiber, sosehr er jubelt, doch keine so ungemischte Befriedigung mehr genießt wie damals, als unserem Verbleib nachgeforscht wurde. Eine Ahnung überkommt ihn wohl doch, daß bald auch er selbst und seinesgleichen allen Grund haben könnten, den Aufenthalt zu wechseln. Seither haben sie das Fürchten gelernt, und Furcht ist als Erziehungsmittel noch zuverlässiger als selbst Neid und Haß.

Die neue sittliche Erziehung umschließt die Furcht und den Haß. Auch verbindet sich die Gewaltanbetung mit der Lust am fremden Leid. Der Rassenstaat verlangt von den Seinen, daß sie den Tod anderer befriedigt mit ansehen. Nichts ist eigentlich berechtigter, da doch »der Deutsche nicht gern im Bett stirbt«, zufolge jenem ulkigen Papen, der seinerseits ungefähr ebenso gebettet ist wie Hugenberg und daher immer ungestümer wird. Richtiger hätte er gesagt, daß der Deutsche, wie im allgemeinen der Mensch, überhaupt nicht gern stirbt, weder im Bett noch anderswo. Allerdings bringt das gegenwärtige »System« ihm Unempfindlichkeit bei. Das geht so weit, daß man, kühl bis ans Herz hinan, die Kranken zugrunde gehen läßt, anstatt ihnen, wie früher, wenigstens etwas Milch zu bewilligen.

Immer steht der famose Göring in erster Reihe, ob das Denunzieren für eine Pflicht gegen den Staat erklärt wird oder ob die Seelen sich verhärten sollen gegen das Schauspiel von Hinrichtungen. Die Republik hatte keine mehr gewollt. Jetzt dagegen werden die längst zum Tode Verurteilten hervorgeholt aus den Gefängnissen, wo man sie absichtlich vergessen hatte, und Göring, so unermüdlich wie morphiumsüchtig, findet für eines noch immer Zeit: das ist, Hinrichtungen zu befehlen.

Die kräftigere Moral, zu der diese Nation angehalten wird, hat noch eine Wirkung. Alle passen sich den amtlichen Lügen an und übernehmen sie. Der Reichstagsbrand ist für die Öffentlichkeit eine Tat von Kommunisten, und die werden sie wohl büßen, obwohl sie nichts damit zu tun haben. Wegen Ermordung eines Sipomannes wird eine Unzahl von Kommunisten qualvoll sterben müssen, an Stelle der Nazis, die, wie jeder weiß, auf den Polizisten geschossen haben. Die Nation glaubt felsenfest an diese Wahrheiten, nur ihre einzelnen Angehörigen halten sie allerdings für schamlose Lügen und teilen dies insgeheim einander auch mit. Ebenso liest man ja auch Bücher, die man verbrannt zu haben behauptet. Eine Moral mit doppeltem Boden, das ist die Höhe dieser Erziehung. Denken und Wissen gibt es nur noch, solange man sich nicht erwischen läßt.

So ist es auch mit den Geisterflugzeugen, die niemand gesehen hat; aber das »System« braucht sie, damit es wirkliche Flugzeuge bauen kann. Dasselbe ist es mit der Rassenlehre, deren Unsinnigkeit fast allen Deutschen auffällt, die Dorftrottel vielleicht ausgenommen. Auch die »Eugenik« wird einigermaßen zuschanden gemacht, wenn eine Nation, aus der alle angefaulten Teile ausgemerzt werden sollen, als Führer ausnahmslos nachweisbare Degenerierte hat. Und die wissen es. Und Göring gibt einen Erlaß von sich, aus dem das schlechte Gewissen spricht, einen Erlaß gegen die Mittel, die er selbst spritzt.

Der laut verkündete Antimarxismus steht in offenbarem Widerspruch zu dem mehr und mehr betätigten Bolschewismus. Auch diesen verkündet man, schmückt ihn aber mit dem Beiwort germanisch. Dann ist alles gut. Die Friedensreden stimmen nicht zu dem Rüstungsgeschrei. Aber eine Politik mit noch so offen eingestandenen Ansprüchen auf Eroberung will doch beileibe keine Kriegspolitik sein.

Übrigens ist die Kriegspolitik auch nicht ehrlicher als die Friedensreden. Der Krieg kommt sicher ganz von selbst, entschlossen war man gar nicht. Er wird entfesselt werden kraft seiner sittlichen Erziehung auf Grund von Lügen. Niemals noch ging eine solche Lügenlawine über eine Nation nieder, fälschte ihr die eigene, jüngste Geschichte und brachte fertig, daß sie alles vergaß.

Die sittliche Erziehung entscheidet über die Zukunft einer Nation und der ganzen Welt. Die Demokratie nur stürzen, heißt noch nichts. Den neuen Geschlechtern mußte auch das Fassungsvermögen abgewöhnt werden für den Begriff des Friedens, für die Begriffe Gerechtigkeit und Wahrheit. Hitler hatte richtig gesagt: »Wir werden ihnen die Kinder nehmen.«


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