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Die Deutschen hassen die Juden. Wenigstens glauben sie es ihren Führern, die den Antisemitismus ausschreien wie eine deutsche Errungenschaft. Die Deutschen begehen gegen ihre eigene jüdische Minderheit jetzt sogar Handlungen, mit denen sie sich selbst am meisten schaden. Denn sie verfallen der Verachtung, und das ist schlimmer, als wenn man gehaßt wird.
In Wirklichkeit sind die Deutschen das letzte Volk, das auf den Judenhaß ein Recht hatte. Sie sind den Juden viel zu ähnlich. Auch sie zeichnen sich als einzelne aus in ihren »großen Männern«. Als einzelne übertreffen sie oft den Wert ihrer Nation. »Deutschland ist nichts, jeder Deutsche ist viel«, sagt Goethe, dessen Gedenkjahr grade noch gefeiert werden konnte, bevor in Deutschland die Barbarei ausbrach. Heute würde der größte Deutsche einfach übergangen werden, denn von ihm zu Hitler führt kein Weg.
Man hat schon längst bemerkt: Juden und Deutsche, beide halten sich für das auserwählte Volk. Man sollte aber auch fragen, was das bedeutet und welche Hintergründe eine solche übertriebene Selbstbehauptung hat. Sie ist kein Zeichen einer wirklichen inneren Sicherheit. Wenn jemand von sich zu viel Wesens macht, liegt es in neun von zehn Fällen daran, daß er im Grunde an sich zweifelt – was kein Fehler ist. Der Zweifel kann fruchtbar sein, man sollte ihn nicht unterdrücken. Ihre verhältnismäßig unglückliche Geschichte hat sowohl Deutschen wie Juden allen Grund gegeben zu Vorbehalten hinsichtlich ihrer Art. Daher die jüdische Selbstironie, denn was sonst ist ihr berühmter Witz! Bei den Deutschen wird der »Minderwertigkeitskomplex« auf andere Weise »überkompensiert«, nämlich durch forsches Auftreten.
Wo ist dies Auftreten am forschesten? In den östlichen Teilen des Landes, wo man von Nation, besonders aber von Rasse, am wenigsten reden sollte; denn der ganze Osten, das eigentliche Preußen, wird bewohnt von den Nachkommen slavischer Stämme, und noch vor zwei- bis dreihundert Jahren wurde dort nur wenig deutsch gesprochen. Tatsächlich aber ist hier der Sitz des neuen deutschen Rassen-Nationalismus. Als Germane spielt sich der zuerst auf, der sogar in Urzeiten nie einer gewesen ist.
Auch der Antisemitismus hatte seinen Herd nicht in dem alten Gebiet der deutschen Kultur, von dort ging er wenigstens in neuerer Zeit nicht aus, sondern eher aus den Provinzen, die einst inneres Kolonialland waren. Das hindert nicht, daß ganz Deutschland schließlich angesteckt wurde, genau wie vom kriegerischen Imperialismus, der auch aus Preußen gekommen ist. Wenn ein verfeinerter Mensch zusammenlebt mit einem roheren, wer wird den anderen beeinflussen? Die Antwort steht leider fest, wenigstens für die meisten Fälle.
Man suche nicht weiter, der Antisemitismus verrät einen Fehler im inneren Gleichgewicht einer Nation, genau wie jener unberechtigte gewaltsame Imperialismus, der Deutschland zuletzt in einen so unglücklichen Krieg geführt hat. Denn schon Jahre vor 1914 wurde England von vielen Deutschen gehaßt, genau wie jetzt der Jude, der auch wieder dem Deutschen seinen Platz an der Sonne wegnimmt, wie sie meinen.
Ich habe meine Landsleute immer nur bedauert, wegen ihrer unglücklichen Leidenschaft andere zu hassen, nur weil sie vermeintlich bevorzugt vom Glück waren. Ich selbst habe als Schriftsteller einige Altersgenossen gehabt, die erfolgreicher waren als ich; gehaßt habe ich sie nie, und wenn es möglich war, habe ich sie bewundert. Ich bin aber auch aus einer alten Familie des alten Deutschland, und wer Tradition hat, ist sicher vor falschen Gefühlen. Tradition befähigt uns zur Erkenntnis, und sie macht uns geneigt zur Skepsis und zur Milde. Nur Emporkömmlinge führen sich zuzeiten auf wie die Wilden.
Nach dem verlorenen Kriege blieb den Deutschen vorerst keine Aussicht, ihr falsches Selbstgefühl noch einmal an Fremden zu erproben. Sie mußten den Gegenstand ihrer Rache im Innern suchen und fanden die Juden, die angeblich nicht zu ihnen gehörten und auch nicht assimiliert werden konnten. Natürlich ist nicht einzusehen, warum grade die Juden, deren Vorfahren vielleicht schon im frühen Mittelalter ins Land kamen, nicht ebensogut Deutsche sein sollten wie jene Slaven, die erst viel später aufgenommen worden sind. Aber vernünftige Einwände helfen nicht, wenn man nun einmal einen Feind braucht.
Fünfundsechzig Millionen gegen 570000 sogenannte Fremdstämmige, sehr vornehm ist das nicht, und wahres Selbstvertrauen spricht daraus nicht. Sooft dies gesagt wurde, es hat niemals Eindruck gemacht. Die Juden sollten unbedingt eine Gefahr sein, für die deutsche Wirtschaft und besonders für die deutsche Seele. »Das Geld, das ihr zum Juden tragt, ist verloren für die deutsche Wirtschaft«, damit begründen die siegreichen Nationalsozialisten den Boykott der jüdischen Läden. Einen so offenkundigen Unsinn können nicht einmal sie selbst glauben. Aber es handelt sich auch gar nicht um die Wahrheit, sondern um einen Vorwand, die eigenen schlechten Gefühle zu entladen, und außerdem um innere Annexionen, die einzigen, die getätigt werden können.
Denn die halbe Million Israeliten wächst an bis auf fünf Millionen, wenn alle Familien gemischten Blutes mit eingerechnet werden. Kein einziger aus dieser Menschenmasse hat künftig Zutritt zur Verwaltung, zum Anwaltsberuf, zum Handel oder zur Finanz. Nirgends dürfen sie auftreten; das heißt in Wirklichkeit: sie sollen Hungers sterben. Ein ebenso einfaches wie wirksames Verfahren, um einen Bevölkerungsüberschuß loszuwerden! Es schadet nichts, wenn damit ein ganzes Volk vergiftet wird.
Die Nazis würden dies Volk niemals erobert haben, hätten sie sich nicht des Hasses bedient. Der Haß war ihnen nicht nur das Mittel, hochzukommen, er war der einzige Inhalt ihrer Bewegung. Die Republik hassen und sie stürzen, um selbst die ganze Macht zu bekommen, jahrein jahraus haben sie das dem Volk als national eingeredet, und die Republik nannten sie eine Judenrepublik, einfach, um dem Volk beide zugleich verhaßt zu machen, die Republik und die Juden. Es ist eine Ehre für die Juden, daß ihr Name verbunden ist mit dem Versuch eines menschlichen, freiheitlichen Regimes; denn das war die Republik bei aller ihrer Unzulänglichkeit.
Welche Juden werden von den triumphierenden Nazis am meisten verfolgt? Die geistigen Arbeiter unter ihnen, und auch das wäre eine Ehre, wenn triebgebundene Dummköpfe wie diese Nazis mit ihrem Haß überhaupt jemand ehren könnten. Bestand wirklich, solange eine freie Auslese erlaubt war, die Mehrzahl der Berliner Anwälte aus Juden, dann hat dies sicher Gründe gehabt, die in der Soziologie der größten Stadt lagen und die nicht willkürlich beseitigt werden können. Die Juden waren unentbehrlich, sie wären es auch heute, wenn es noch eine Rechtspflege gäbe.
Man hat der Juden für sehr vieles unbedingt bedurft. Warum hätte der so deutsche Chirurg Sauerbruch sieben jüdische Assistenten gehabt und wollte sie trotz Befehl der nationalen Regierung nicht hergeben? Woher ferner die bewunderten jüdischen Kapellmeister? Die Musik gilt als deutscheste der Künste, und unter ihren glänzendsten und treuesten Vermittlern sind verhältnismäßig viele Juden. Andererseits ist der erste Bühnengestalter Deutschlands zweifellos Max Reinhardt. Das Theater des letzten Vierteljahrhunderts ist ein wirklicher Ruhm des Landes und seiner Hauptstadt, aber ohne Reinhardt ist seine Geschichte nicht denkbar, vielleicht wäre es gar nicht vorhanden ohne ihn. Ihm ist jetzt verboten worden, Regie zu führen, und den Kapellmeistern, zu dirigieren. Aber, nicht wahr, der sentimentale Schlager »Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren« wird auch weiterhin im ganzen Nazireich gedudelt und gepfiffen werden, und der ist von zwei Juden, man weiß es nur nicht. Wenn man die Menschen, die man nach dem Gesetz der Rasse hassen will, wenigstens erkennen würde!
Was die »nationalen Revolutionäre« richtet, ist, daß sie in keinerlei Beziehung stehen zu den inneren Werten Deutschlands. Sie lieben dies Volk nicht, sonst würden sie von seiner Seele nicht nur faseln, sie würden sie achten in denen, die der Seele Laute zu geben versuchten und eine Form. Aber sie achten nichts, was Deutschland Edles und Starkes hervorgebracht hat. Angefangen mit Goethe, ist ihnen alles entgegengesetzt und fremd; und die Bibliotheken, die jetzt nach ihren Begriffen gereinigt werden sollen, dürfen folgerichtig kein einziges der unvergänglichen deutschen Werke enthalten. Der deutsche Typ, der sich nationalsozialistisch nennt, hat keine Religion mehr, und bis zur Humanität ist er noch nicht fortgeschritten. Er ahnt nicht, was die Verse Goethes bedeuten:
Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,
der hat auch Religion.
Wer diese beiden nicht besitzt, der habe Religion.
Aus dieser völligen Beziehungslosigkeit und Leere erklärt sich sein Judenhaß. Die größten Eroberungen des Geistes werden, Hitler zufolge, nur von reinrassigen Volksgenossen gemacht; und das gibt er von sich vor Ärzten, einer Klasse von Zuhörern, die über den Wert des gemischten Blutes für die Entstehung von Begabungen belehrt sein müßte. Das gibt er von sich, während das Genie schlechthin heute der Welt bekannt ist unter dem Namen Einstein! »Um wie viel kleiner wird ein Volk, wenn es das Genie vertreibt!« ruft ein französischer Gelehrter, weil Einstein künftig keine Berliner Professur mehr haben wird, sondern eine Pariser.
Die deutschen Juden haben viel zu leiden. Wenn das ein Trost sein kann, möchte ich ihnen sagen, daß sie nicht mehr zu erdulden haben als der deutsche Geist und die deutsche Seele selbst, die ihnen immer lieb gewesen sind. Die Juden nahmen geistigen, seelischen Anteil und vermittelten ihn weiter. Sie waren einer der empfänglichsten Teile des Volkes, sie begegneten den geistigen Schöpfern mit wahrer Achtung, sie bemühten sich um sie, sie waren hilfsbereit. Wir haben ihnen zu danken; dies möchte ich ausgesprochen haben heute, da sowohl wir als sie verfolgt werden. Denn nicht nur Einstein, auch Thomas Mann, der kein Jude ist, meidet unfreiwillig das Land, für das er viel getan hat.
Dreizehn Millionen Juden sprechen auf der ganzen Erde einen Dialekt, der dem Deutschen entnommen oder mit dem Deutschen vermischt ist. In manchen Ländern, wo sonst niemand Deutsch versteht, erhalten die Juden sich ihre deutsche Bildung und empfinden sie als Auszeichnung. Jedes andere Volk, außer dem deutschen, jeder Staat, außer diesem, würde hieraus den größtmöglichen Nutzen ziehen. Deutschland will nicht. Dieselben Juden, die Deutschland wie ihre zweite Heimat durch die ganze Welt tragen, in Deutschland selbst werden sie für minderen Rechtes erklärt, sie dürfen keine öffentlichen Ämter bekleiden, aber man darf sie ermorden oder zugrunde richten, wenn man nicht grade gut gelaunt ist und sich damit begnügt, sie auf öffentlichem Platz mit ihren Zähnen das Gras ausreißen zu lassen.
Ich weiß nicht, was jedes fühlende Herz mehr empören muß, die Grausamkeiten oder der Hohn, der sie begleitet. Aus Pogromen und Boykott werden Volksbelustigungen gemacht, und das ist auch ihr einziger praktischer Zweck. Der deutschen Wirtschaft ist mit Judenverfolgungen sowenig gedient wie dem deutschen Namen. Aber eine heruntergekommene Menge, der erlaubt wird, mit der Qual von Menschen ihren Spaß zu treiben, vergißt darüber auf einige Zeit, daß sie selbst so elend bleibt wie zuvor und daß die zur Macht gelangten Abenteurer ihr im Grunde nichts, aber auch gar nichts zu bieten haben.
Nachher will niemand es gewesen sein. Die Morde sind jedesmal das Werk von Kommunisten, die sich als Nazis verkleidet haben. Die Juden aber, die man angeblich loswerden möchte, werden verhindert, das Land zu verlassen, und sie müssen in Briefen und Telegrammen das Ausland darüber aufklären, daß von allen ihren Erlebnissen in Wirklichkeit kein einziges stattgefunden hat. Die erzwungenen Lügen werden von der Welt natürlich aufgenommen, wie sie es verdienen; die Verachtung aber, die sie hervorrufen, fällt auf Deutschland.
Das ist unverzeihlich und wird es bleiben. Das Land, für dessen Kultur und Gesittung wir alle gearbeitet haben, das Land, dessen geistiger Besitz auch durch meine ganze Kraft bereichert worden war, es ist von Menschen ohne Wissen und Gewissen erniedrigt, verroht und in einen Zustand versetzt worden, wie keine äußere Niederlage und nicht einmal die Zerstückelung des Staates ihn hervorbringt. Es ist der Verachtung ausgeliefert.