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Monsieur Gaston

Wirklich fürchtete sie kein Versagen ihrer Kraft. Nichts lag ferner, als ihr Geld auf den Tisch zu werfen, wie die Spieler von einst, die manchmal bis zum Selbstmord gingen. Blutspuren im Garten zeugten noch diese Stunde, die nächste schon nicht mehr. Die Spur und das Leben, beide ausgelöscht. »Bringen die neueren Sitten diesen äußersten Fall hervor? Auf seiten von Touristen, die das Spiel nicht ernst nehmen? Deren Existenzkampf überall härter oder gewagter ist als an einem Platz des müßigen Leichtsinns, wenn es die berauschte Leidenschaft nicht mehr sein kann.«

Schade, dann zeigte die Leidenschaft ihre Energie auch nicht von der anderen Seite. Lebewohl, dahingegangener Draufgänger, der allen gewissenhaften Verlierern ihre falschen Konventionen umwarf, und wie leicht. Kaum daß er sich bis an den Rand des Tisches vorgedrängt hatte, setzte er das Maximum, verlor es, hatte es mit einem Griff zurück; die Schaufel des Croupier kommt zu spät, bei echter Entschlossenheit eines Spielers. Dieser hatte dem Zufall seine Sache abgenommen, »il n'admettait pas d'aléas«. Keine Minute übrigens, er war aus der Partie. Eine halbe Stunde in den Händen der Hauspolizei und der Photographen, dann stand es fest, daß er das Casino nie wieder betreten werde. Ebenso sicher lagen die Scheine an seiner Brust.

Die Zurückgekehrte hegte weder Vorsätze gegen die Abmachungen noch ernste Achtung für das gebieterische Schicksal. Sie sah ein ungeübtes Publikum es versuchen, nachlässig zuerst, aber die Überlegenheit hielt keineswegs stand, wenn die Verluste dauerten. Der Mann mit den zehntausend – »dann Schluß« – wallte auf, schon drohte er, in sein Hotel zu laufen, um aus dem Kassenschrank mehr von seinem Vorrat zu holen. Indessen wachte über ihn die Gattin. Blieben einzig die alten Frauen, sie wenigstens befolgten die Regeln. War eine reich, ließ sie es dahin kommen, daß sie heute abend nach neuem Reisegeld telegraphieren mußte. Extreme, aber nachgiebige Naturen.

Das starke Beispiel bildeten die armseligen Greisinnen, die auf Papier ihr Glück berechneten und nichts dafür gaben, außer es war unfehlbar. Ein gesichertes Einkommen deckte vielleicht gerade ihnen den Rücken. »Es scheinen noch immer die gleichen. Wahrhaftig, da ist Félicité!« Ein faltiges Gesicht von bäuerlicher Geduld und Stille, die sich selbst genügen; keines äußeren Gewinnes bedarf die selbstgeschaffene Glückseligkeit. »So sitzt sie seit der Vorzeit. Der Gatte, den sie hatte, war schon damals dahin, ihr schwarzes Gewand sah aus wie dieses. Ihr Beutel hat, zugleich mit ihr, jede Abgeschabtheit hinter sich gebracht; beide eingegangen in den Schoß der Dinge.«

Der friedliche Blick sagte einer lange Vermißten, die er wahrscheinlich nicht erkannte: »Nun siehst du. Wozu deine Unruhe, dein Kampf? Hier hättest du la félicité gefunden.« Was eine noch immer Unvollendete nicht überzeugen kann. Diese schöpfte einen verhältnismäßigen Trost allein aus der Mode der alten Garde, die Jahrzehnte sorglos überschlug. Man merkte es nicht. Auffallen, in Erstaunen setzen kann nur die verjährte Auszeichnung und Pracht.

Wer immer mittelmäßig war, darf unbeachtet am Tisch sitzen, einen wertvollen Platz den einträglichen Kunden wegnehmen; darf viel rechnen, wenig setzen, ja, obendrein den großen Spieler verachten. Die Bank läßt es der unvordenklichen Klientin hingehen. Der Wagehals wird morgen wiederkommen oder nicht. Hat einer die Bank gesprengt, wie man übertrieben sagt, erträgt er es manchmal bis nächstes Jahr: dann sieht man ihn alles zurückbringen. »Hier, vielleicht nur hier, sucht niemand im Kleid meine Füße oder macht sich kleiner, um mir unter den Hut zu starren. Ich könnte ungestraft in den Kreis eindringen.«

Sie unterließ es, aus Mißtrauen gegen Ansammlungen, aus dem einmal erlernten Bedürfnis nach Abstand. Immerhin erwachten diesmal Zustände von einst, als jedes Gedränge ihre Laune erregte. »Meine Mitmenschen haben mich amüsiert, bös und fröhlich gemacht, ob einzeln oder in Mengen; sogar die Roulette, das Spiel aller Welt, bekam Anziehung von ihrer Durchschnittlichkeit, ihrem Zulauf. Genug, jetzt steht es anders – mag sein, besser.« Sie streifte an beiden Seiten die dichte Mannschaft der umfänglichen Spieltische, während sie einer freigehaltenen Bahn nach dem Hintergrund folgte. Auf dem Weg erriet sie einiges. »Au fond, mes sentiments d'alors, c'était de l'énervement, et de la condescendance. Je manquais d'humilité. En aurais-je enfin?«

Sie bezweifelte ihre sittlichen Fortschritte, im Unglück macht man keine. Noch immer zog es sie nach dem letzten der Säle, der vornehm geblieben sein mußte. Das Baccarat, das Trente et Quarante überstiegen die abgezählten Barschaften von Touristen, sie ermüdeten die erste Ehrfurcht der Gattinnen. »Ging ich hier achtlos ein und aus? Eine unbedeutende Schwelle – ein schwerer Schritt.« Kaum daß sie versuchte, um die prunkhafte Tür des letzten Saales zu spähen. Dahinter, die Stimme eines Spielleiters klang ihr diskret wie für eine Auslese. Die bekannte Auslese, wer darin fehlt, weiß es seit heute ganz.

In Gedanken überschlug sie den Inhalt ihrer Tasche – sie hatte ihn nicht gezählt. Möglich, daß er ausreichte, für dieses eine Mal dasselbe Glück und Mißgeschick herauszufordern wie die gewohnten Besucher des letzten Saales. Gut, es reicht einmal und nicht lange, was dann? Sie wird aufstehen müssen. Oh! niemand starrt ihr unter den Hut, die ganze Zeit hat man sich verhalten, als wäre sie ein Fall wie andere, von derselben Klasse. Warum nicht? Sogar ihrer persönlichen Gesellschaft kann einer der Männer vordem angehört haben; taktvoll schweigt er – bis sie aufbricht und entschwindet. Ist es eine Frau, dann wartet sie noch länger: sie schämt sich. »Auf meinem Rückzug werde ich hinter mir nichts hören. Sehr schlimm das, man könnte davon steckenbleiben im Teppich.«

Noch lauschte sie – dem Aufschlagen der Karten, das übrigens kein Geräusch macht; hören wird es allenfalls, wer sich nicht in dieser Partie befindet: »Meine ist älter.« – »Das waren – wir«, sah sie und wendete sich sofort. »Tiens, il fallait être un tas de ramollis, daß man den Angestellten allein das Spiel machen ließ und dabei die Lippen schminkte.« Ein träumerischer Besuch war dies, bei den Spielern des höchsten Ranges, ihres eigenen. Infolgedessen kehrte sie um. Sie näherte sich der mittleren Roulette – nunmehr wie eine Abwesende, bestimmt ohne den Vorsatz einzudringen, wäre es in die letzte Reihe der Belagerer. Alles änderte sich, als der Croupier ihr auffiel.

Zuerst, weil niemand ihn beachtete oder in Anspruch nahm: in dem ganzen Gewühl nicht einer, der mit der erhöhten Persönlichkeit etwas anzufangen wußte. Erhöht wurde er von seinem runden Stuhl, der, nicht unähnlich dem Sitz eines Redners, Autorität bildete. Einzig die unerfahrenste der lächerlichen Typen bemühte ihn mit der sinnlosen Bitte, ihr einen Schein in Spielmarken umzuwechseln. Ohne betonte Herablassung wies er sie an eine der wandelnden Kassen.

Sein hohes Amt war, die geheiligten Formeln auszusprechen: »Setzen Sie! Es wird nichts mehr gesetzt.« Zwischen den beiden Befehlen an die angstvolle Menge war er dem Gähnen nahe: eine Täuschung wohl, denn um so pünktlicher bewegte sich nachher seine Schaufel – zog alles, alles ein. Die Opfer, eine Mehrheit, so gut wie die Gesamtheit, bewunderte, daß dennoch etwas liegenblieb und freigebig vermehrt wurde von der, man konnte meinen, selbstherrlichen Schaufel. Ach! das Gesetz waltete streng, gleichviel ob unweise Verlierer das alte Gerücht übernahmen, als werde das Glück dirigiert, wie wenn vieljährige Übung den Meister befähigte, das Rad nach seiner Wahl zu drehen, die Kugel rollen zu lassen, wohin es ihm gefalle.

Die einstige Zugehörige hinter seinem Stuhl stellte fest, daß der Mann, genaugenommen, abwesend war wie sie, ja, unbeschäftigt, und das war sie nicht. Sie vermutete, außerhalb dieses Saales interessiere ihn erst recht nichts. Das Café allenfalls, wo er nachts um zwei mit einem Kameraden Ekarté spielte. Eine lebende Roulette geworden, kann er nach Schluß der Bank nicht anhalten; dürfte endlich schlafen, da versucht er im eigenen Namen, wie die Karten fallen. Ein Spieler: ihn langweilt die umgebende Ahnungslosigkeit. Ihn langweilt sein Wissen, daß ihn das Spiel um sein Leben gebracht hat; daß es außer der Langeweile nichts anderes mehr gäbe als nur die Reue. Wenn einer ihn wenigstens fragen wollte, ob der Tisch nicht doch unmerkliche trucs birgt oder warum Petroleumlampen ihn erhellen, inmitten der krudesten Beleuchtung ringsum.

Da keiner ihn, wenn noch so töricht, in Anspruch nahm, gähnte er endlich im geschlossenen Mund: das war der Augenblick. Hinter seinem erhöhten Stuhl, wo die Spieler nicht mehr drängten, sprach eine ungewöhnliche Stimme. Sein Gähnkrampf blieb stecken, als er die Aufforderung hörte, mehrere große Marken, die man herreichte, auf das Tableau zu schieben. Es war das einfachste Anliegen, nur daß von den Touristen nicht einer bisher es vorgebracht hatte. Er beeilte sich zu tun wie geheißen: gleich danach rief er sein »Rien ne va plus«.

Dann erst, während die Kugel rollte, folgte er einer Versuchung, er sah nach der Stimme um. »Dachte ich es doch«, stellte er bei sich fest. »Une ancienne.« Er zweifelte durchaus nicht, daß er das Geld placiert hatte wie geheißen. Um aber nochmals die Stimme zu hören, fragte er – ohne Zeitverlust, denn die Kugel war nahe am Ziel: »C'était bien ça, à cheval?« – »Nein, richtig war es nicht«, bekundete die Stimme. »Je disais autre chose. Mais vous avez bien fait.« Das letzte erfüllte sich, während es gesprochen wurde. Mit dem Wort fiel die Kugel, in das richtige Loch.

Die Schaufel hatte eilig einzuraffen. Ein großer Wurf gewonnenen Geldes traf allein die Nummern, die sie selbst besetzt hatte. »Faites votre jeu!« Ohne eigene Teilnahme ließ er den höheren Auftrag ergehen. Dieser wurde befolgt, zögernd, von schwankenden Charakteren, die befürchteten, sie hätten sich zu früh entschieden. Die Kugel lief, da überstürzten sie sich, zur eigenen Überraschung. Allein die Rechner vor ihrem Papier handelten ohne Sorgen und Zweifel, es läge denn an ihrer eigenen Fehlbarkeit. Die Pause des gewohnten flottement erlaubte dem Mann im schwarzen Rock mit weißer Schleife, nochmals den Kopf zu wenden, nach der Stimme, die nichts verlautete.

»Madame läßt das Ganze stehen?« fragte er; es war eine Tonart zwischen Respekt und Vertraulichkeit: er hatte sie nicht gewählt. Die Antwort kam ohne Besinnen, sie war niemals überlegt worden; ihn belehrten seine Erfahrung und ihre Stimme. »Faites comme vous voudrez«, sprach sie, als erwachte sie, und nicht einmal vollständig. Aber die Stimme hat einen unerklärten Zauber, für einen Mann, der sich immer langweilt, auch bei seinem nächtlichen Ekarté, und dem Schlaf nur ausweicht, weil der Schlaf das Leben noch mehr herabsetzt.

Das Ganze stand – und gewann. Diesmal entfernte Monsieur Gaston den angewachsenen Betrag, den ansehnlichsten der letzten Stunde: die »pontes« beobachteten ihn, welcher Figur des Hintergrundes er so viel aushändigte. Mißtrauische glauben gleich an ein Einverständnis und geheime Tricks. Da der Verdacht auf alle Fälle unerwünscht ist, hatte Monsieur Gaston die Erfolge seiner persönlichen Kundin eigenmächtig unterbrochen: sie begriff es. Er war ihrer Zustimmung sicher. »Vous avez raison, Monsieur Gaston«, sagte sie so schön, daß er nicht den Mut zu widersprechen fand.

Er hieß nicht wie sie meinte, aber meinte sie es? Mehrere des Namens hatten vorher auf seinem Platz gesessen; sie ließ es darauf ankommen und sollte gewonnen haben. »Vous m'avez reconnu« – als ob er sie bewunderte. So war es, mochte sie ihn verwechselt haben. Sie begriff ihren Irrtum, bewegte leicht den Kopf; ihr Lächeln, als sie ihm vom Gewinn seinen Anteil überreichte, war beides, hochmütig und zart. Der Mann mit dem gelichteten Haar, das allzu schwarz glänzte, begegnete dem gleichen Anstand nicht mehr oft. »Madame la Comtesse sait jouer«, sagte er, schon wieder bei der rollenden Kugel.

Sie hatte seinen Namen nicht erraten, dafür er etwas vom ihren. Seinen Anteil hatte sie ihm unauffällig zugesteckt, dabei mit einer Leichtigkeit, als könnte es anders nicht sein; ein Haufe von Spielmarken für die Kasse der Croupiers, ein Packen Scheine für ihn. Diese ließ er verschwinden, geschickt wie ein Taschenspieler. Je mehr ihm aufgepaßt wurde, um so stolzer erlebte er sich – und seinen vornehmen Schützling.

Es stand geschrieben, sie sollten einander verstehen, mit Worten, zwischen den Worten, während er über die herversetzte Erscheinung eigentlich doch unbelehrt blieb, nicht anders als sie über ihn. Hätte sie bemerkt, daß er sich sogar die Reue oftmals wünschte, lieber als die Langeweile? Oder er, daß ihre letzten Veränderungen gerade dies bezeichneten, eine Probe auf die Reue? Sie übersah freundlich, daß er zum Schein lebte; er freundlich, daß sie starb. Durch die Macht ihrer Geheimnisse waren sie nunmehr gute Bekannte.

Da ihr klar war, daß er sie hier nicht länger brauchen konnte, suchte sie mit den Augen einen Platz – fand ihn auch; ihn zu erreichen bedurfte es ihrer Aufmerksamkeit und Geduld. Die Hände voll Geld, fing sie an, die Lücken im Andrang wahrzunehmen, erreichte wirklich den Tisch – die Leute waren nachgiebig gegen eine erfolgreiche Spielerin. Jetzt brauchte sie nur zu warten, bis ein unglücklicher Spieler seinen Stuhl aufgab: sie wußte, welcher. Monsieur Gaston desgleichen; er verständigte sie, zwischen seinen beruflichen Gesten, über den Verlierer, der verzichten mußte. Seinen Hinweis fing nur sie auf, es war ein halbes Leuchten in seinem erstorbenen Gesicht. »Le type est f …, il n'a plus le sou«, las sie, beinahe ohne hinzusehen.

Sie wußte noch mehr. »Er hat sich ruiniert, weil ich hier bin. Auf der Herfahrt im Zuge wagte er nicht offen aufzutreten. Triumphieren wollte er über mich in der Roulette. Ein Verzweifelter, er wird mir kein Glück bringen, wenn ich ihn ablöse.« Mit ihm kam es sogar ernster, als sie dachte. Ihr ehemaliger Verfolger verließ seinen Stuhl: da rollte die Kugel noch, sie sollte über seinen letzten Einsatz erst entscheiden. Er hatte nicht nötig, hinter seinem Rücken zu hören, daß er verloren habe. Sie setzte sich statt seiner, niemand wollte ihr zuvorkommen.

Hier erkannte sie ihn, dieses Mal deckte ihn sein unbezweifelter Name. Er hatte vergessen, sich zu beobachten. Er streifte ihre Schulter – ohne Entschuldigung, denn er sah sie nicht. Blind durchbrach er das Gedränge, das seine Stöße erwiderte: sie erinnerte sich dieser Blindheit, die jedesmal begleitet war von jähem Erbleichen, einer Verzerrung des Mundes; in dem herabgezogenen Winkel konnte Schaum erscheinen. Am Tage vor dem Abend, als er für immer abreiste, hatte sie ihn zuletzt erblickt wie er war, wie er zu Zeiten sein mußte, als Ausgleich, damit nicht nur seine verführerischen Eigenschaften unbeherrscht wären, auch die Leidenschaft, die häßlich macht.

»Was noch. Wozu sitze ich hier.« Denn sie vergaß zu spielen. Es fiel ihr nicht ein, da ihre Gewißheit, ihn erkannt zu haben, schon dahin war. »Verführerisch, dieser war es nie. Am wenigsten hat er in der Wut eine reizende Bewegung gehabt« – sie wußte, welche: das Reißen an der Haarsträhne! »Diesem«, behauptete sie, »ist keine Locke zwischen die Augen gefallen. Der stiehlt auch nicht liebenswürdig, obwohl er stiehlt. Spuren des Lebens, wie er sie trägt, hinterläßt kein jugendlicher Leichtsinn. Genug und zu viel; er ist es nicht.« Schon verwarf sie das zerstörte Bild. »Kein Vergleich ist möglich. Ich lasse mich betrügen, nicht jeder kehrt wieder: auch ich nicht. Natürlich hat er eine andere gesehen, und ist selbst ein anderer.« Sie bewegte die Knie, um aufzustehen. »Rien ne vas plus.« Da warf sie eine Handvoll Marken irgendwohin.

Drei Atemzüge, beschwerlicher als bis jetzt: schon verlor sie. Warum beschwerlicher? Das Rollen des Balles konnte sie kaum gespannt haben, sie war ihm nicht gefolgt, versäumte auch, das Ergebnis zu hören, als es ausgerufen wurde. Die Schaufel strich nahe vorbei, um ihren Einsatz mitzunehmen: dies bemerkte sie endlich, erschrak wohl, aber mehr auf Verlangen ihres Bekannten, Monsieur Gaston. Er schenkte ihr, über die Köpfe hinweg, einen warnenden Blick. »Im Schlafe sollte man nicht wagen, was man so schwer gewonnen hat. Mehr Aufmerksamkeit ändert wohl auch nichts.« Achselzucken, so wenig, daß es nur für sie war. »Aber man weiß doch, wann aufhören.«

Ob sie es einsah! Das Geld, mit dem sie spielt, gehört einem anderen; hätte sie es verdient, sie säße nicht hier. Frédéric – er behält Anspruch, auch auf den Gewinn! Wenn ihr Gewissen mit sich handeln läßt, fällt jedenfalls an ihn, was von dem anvertrauten Geld zuletzt übrigbleibt, nachdem sie es lange genug aufs Spiel gesetzt. Wann das sein wird? Sie weiß nicht, will nicht wissen. All ihr Bestreben und fester Beschluß wird sein, das Kapital für ihn zu retten, in ihrem Beutel die Scheine: er hat sie ungezählt hineingestopft; sie zählt sie nicht.

Grund genug, fortan aufmerksam, wenn nicht angstvoll, den leichten Sprüngen des Balles zu folgen. Er läuft zwischen ihr und dem Mann, den sie nicht wiedersehen wird. Was der hüpfende Ball ihr bringt, wird morgen ihre letzte Botschaft sein an einen Verlorenen. Dies einmal ausgemacht, gewann sie. Oh! es war kein Zufall, obwohl die Schaufel des Croupier ihr den Haufen zuschob, selbstverständlich wie nur der Zufall. Während der gegebenen Pause vor neuen Proben auf den Zufall senkte sie den Hutrand tief, damit ihr Gesicht sie nicht verrate. »Ich gewinne, aber das ist ein Zeichen. Ich soll ihn wiedersehen. Estelle erwartet mich morgen. Noch heute würde sie mich empfangen, mag auch kein Zug mehr gehen vor Mitternacht.«

Sie hoffte es, aber glaubte es wenig. Den schwarzen Filz ließ sie herab für sich selbst, zum Schutz ihrer ungesicherten Hoffnung. Dennoch war dies ihr glücklicher Augenblick: vergebens suchte sie ihn später wieder. Sie verlor, gewann und verlor, der Wechsel des Glückes wurde gewohnt und gemein; sie nannte es billig, Zeichen darin zu erblicken und Hoffnung zu erzwingen. Das erste Mal war die Hoffnung freiwillig erschienen. Wollte sie jetzt, unter Qualen, sich herbeilassen, wurde sie abgewiesen.

Man ist beschäftigt, mit vielem, ausgenommen, was man tut. Sie bepflasterte nicht mehr Ziffern allein, auch Zéro, Bande, Rouge. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß überall, wohin sie ihre Marken schob, eine andere Hand ihr folgte, um zu setzen wie sie. Als sie es bemerkte, währte es schon lange; der Beweis war ein Ring mit schwarzem Stein, den sie oft, oft vor Augen gehabt hatte. Erst diese Weile? Nur hier? Warum raten, an Vergangenem raten, als wäre es noch wissenswert. Gut denn, einen Stein wie diesen, eine Seltenheit, wenn man will, nur in den Pyrenäen zu haben, hatte sie einst verschenkt.

Auf dem Ring, wie sie ihn verschenkte, war der schwarze Stein von Brillanten umgeben; sie erinnerte sich: sieben, und versuchte die umgearbeitete Fassung zu erkennen. Es gelang ihr nicht. Immerhin konnte jemand die wertvollen Bestandteile verkauft haben; nur das Andenken hätte er behalten. Sie wollte die Erklärung leugnen, übrigens war es keine, angesichts der Hand, ihrer verfärbten Haut, der vorgetretenen Knöchel. Eine alte Hand, unedel gealtert; die Trägerin ihres Ringes war das nicht. Ihre eigene lag zu nahe: sie verglich – und nahm sie hastig weg.

Was mußte geschehen? Daß sie verlor, auf jeder gespielten Nummer, nicht aber auf Rouge. Sie stand auf, im Arm den goldenen Sack, der wieder einmal klaffte, von den Spielmarken fielen einige zu Boden. Ihr war es unmöglich, sich zu bücken, ihm eigentlich auch, aber mit Stößen und Tritten erlangte er den Raum, zugleich mit dem Protest der Leute, aber diesen beachteten weder er noch sie. Ihre geschlossene Hand faßte nichts mehr, er drückte hinein, was er aufgehoben hatte; inzwischen sagte sie: »Ich verbiete Ihnen, noch länger mein Spiel mitzumachen.«

Sie sah an ihm vorbei, auf das Tableau, das neu besetzt wurde. Ihr Glück, sie war nicht mehr dabei. Was auf Rouge lag, gab sie verloren, Rouge war dreimal gekommen. Ihr unerwünschter Mitspieler gehorchte, nein, er parodierte Gehorsam. Übertrieben pünktlich stürzte er sich auf ihren verlassenen Stuhl, verlangte seinen Einsatz von ihrem zu trennen. Monsieur Gaston hatte ihn deutlich genug unterschieden. Er tat es nochmals; der Spieler zog zurück, was sein war. Wenig, wie man sah. »Es könnte wirklich sein letztes sein. Rouge kommt nicht noch einmal, et c'est moi qui lui aurai sauvé la vie« – dachte sie mit einer Ironie, zu ähnlich der seinen, als er übertrieben pünktlich gehorchte.

Um den halben Tisch und auf seiner anderen Seite lenkte sie nach dem einsamen Café. Von jeher war es wenig und nur kurz besucht worden; der Champagner wurde glasweise verkauft, niemand hatte nötig, die Roulette länger zu versäumen, als bis die Reihe an seiner Nummer war. Sie verlangte kalte Milch. Zwei, drei Frauen, jede in Erwartung des großen Gewinners, nahmen nichts. Spieler, die sich wiederhergestellt hatten, taten ihre nächsten unaufschiebbaren Schritte. Die Milchtrinkerin denkt: »Es ist nicht wichtig. Alles andere seit heute morgen hat mich heftiger angestrengt. Existenzen, die von der Sinnlosigkeit des Spieles eingeschläfert werden, gibt es auch.«

Sie lacht leise vor sich hin, Typen von sonst fallen ihr ein, geduldige Verlierer, die froh waren, das Ärgste im Leben zu vergessen, solange ihr Geld verfloß. »Aber ich habe nicht verloren. Wüßte ich, wieviel ich besaß, wahrscheinlich fände ich jetzt mehr. Das Doppelte, kaum. Vielleicht, daß Frédéric es sagen könnte? Es wird Zeit für sein Diner. Estelle erwartet ihn. Nein, er ist schon bei ihr.« Sie rückte die Schulter, eine Bewegung der Abwehr. »Man überrascht sich auf Träumen die unschwer abzubrechen sind, man verlangt ein Sandwich. Ist dies doch ein Tag der geordneten Mahlzeiten. Man wird noch une femme reguliere werden, dann weiß man auch jeden Augenblick, wieviel man im Sack hat.«

Zwischen die beiden poules hat sich tatsächlich ein Gewinner niedergelassen. Eine zufällige Beobachterin kennt seit langem, was dort vorgeht. »Die spielen nur mit seinem Geld, und auch das muß er ihnen ersetzen. Verdienen sie, wird unverzüglich die Modistin bezahlt. Während sie über die Straße laufen, darf er für eigene Rechnung Glück haben, ohne Sorge, ob eine wiederkommt oder beide ihn sitzenlassen. Die Mädchen leben im Grunde geordnet, wie ihr Freund, ja, wie Frédéric, der nicht spielt. Anders steht es um den dort draußen, er hat seine letzten vier Marken einzeln und in Pausen auf Rouge gesetzt – aus Aberglauben, weil ich es ihm verboten hatte. Ich werde für ihn sorgen müssen: er ruiniert sich für mich.«


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