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Die abgegangene Kobalt war etwas betäubt von ihrer einmaligen Begegnung mit einem vieldeutigen, ungeklärten Wesen: das war Estelle. In ihren Gedanken sagte sie, die von ihr kam, Stella. Als Ergebnis blieb nur ein früher getragener Name, die alte Sprache, die vermutete Herkunft. Heute war aus Stella geworden, was sie wohl selbst nicht wußte. »Wie kommt sie zu tragischen Geheimnissen und lebt in Schrecken, mit dem reinen Gesicht, das aber mich erschreckte? Ihr Kidnapping, ihre Verwicklung in Verbrechen sind Vorwände, sich kindisch aufzuspielen, interessant zu sein und um Hilfe zu rufen. Wir mißtrauten einander. Das Echteste wäre, trotz allem, unsere versäumte Umarmung gewesen.«
Wenn Estelle Zeit fand, sich ihre Besucherin zurückzurufen, aber auch ihr Auftritt mit dem Comte X verhinderte nicht jeden Augenblick, daß Kobalt ihr einfiel, im Gegenteil – dann kam zuerst der Pfau. »Sie hat ihn erkannt«, dachte Estelle. »Sie ist es. Damals wurde alles versteigert, ihre Leute ausgestorben oder verschollen, sie selbst schon dahin und fort mit ihrem Kowalsky. Er muß tot sein, und sie heißt Kobalt – nach ihm, und gewiß nicht erst hier, es ist ein Nachklang alter Abenteuer, vielleicht hat sie den Spitznamen von ihrer eigenen stolzen Familie, weil sie den Allerweltsspekulanten heiratete.«
Estelle hatte verzichtet, Léon Jammes auf der Straße zu folgen, bis sie sich ihm anvertrauen konnte; der Gedanke an Kobalt verließ sie nicht so bald. Eher hätte sie Comte X vergessen, aber mit Kobalt hing auch er zusammen. »Natürlich kommt er wieder, wir brauchen einander. Sein häßlicher Name, schlechter Ruf und die Scheu, vor Frauen zu glänzen, nur mich ausgenommen, vieles beeinträchtigt ihn noch, kann sich übrigens ändern, wenn Monsieur Laplace gewinnt. Der und Lucien sich trennen? Es wird nicht gleich gemordet, dann behalten sie einander, und ich bin mit drin. Ich mache mir bei der Welt einen Ruhm aus meinem begehrten Freund. Tut nichts, Kobalt, wie sie war, wie sie hieß, vor Madame la Préfète hinzuführen, wäre wirksamer gewesen. Et elle a toujours ses doigts effilés des belles d'antan: – mit den zugespitzten Fingern der vergangenen Schönen.«
So weit Estelle, deren unschuldige Träume wahr werden oder nicht. Kobalt wird sie nicht wiedersehen, außer spät, sehr spät. Kobalt öffnete drunten die Tür nach der Bank, aber sie tat es ohne volle Gegenwart. Sie hätte kaum sagen können, wo sie war, welchen Wendungen der Dinge sie entgegenging. Sie fühlte den Pfau, als ob wieder ihre Kinderhände hinglitten über sein glitzerndes Gefieder. Im Zuge der Bilder nahmen alsbald mehrere Abwesende sie bei der Hand, ihre verstorbenen Eltern, die blendende Französin, von der sie sich gern erziehen ließ. Der Vater war für ein ungehemmtes Heranwachsen in Sonne und Regen, den reichlichen Regen von Klostergmund.
Die Mutter lag auf ihrem Ruhebett vor offenem Fenster, den Blick auf Berge, verwischtes Grün im Regen. »Mama empfing mich jedesmal wie zum Abschied. Sie glaubte nur ungefähr an den nächsten Tag. Auf ihre schönen Hände habe ich viel geweint. Wirklich krank kann sie nicht gewesen sein, oder soviel wie ich. Zum Schluß stirbt man; aber es trat ein, als alles verloren und auch Papa schon gebrochen war, er, der erklärt hatte, mit ägyptischen Zigaretten versorgt, werde er in einer Einsiedelei aushalten. Da waren wir Geschwister unsere Wege gegangen, jedes einen anderen.«
Hier fühlte sie, daß jemand ihr nachsah: Pigeon an seinem Tisch, dies war die Gegend. Auf einmal erkannte sie, wo sie war, was sie im Sinn hatte – nach der Verwandlung ihrer ersten harmlosen Vorsätze. Diese waren widerrufen schon seit dem anzüglichen Unbekannten. Indessen, Estelle hatte sie völlig belehrt, wohin sie ging, zu wem, in welchen unvorstellbaren Sachen. »Zu denken, daß ich einfach Geld holen wollte, und wahrhaftig annahm, es sei da. Doch. Ich habe es geglaubt, zum wenigsten an jedem Morgen, und noch immer währt der Morgen.«
Alain Messager, der Alte, der nach ihr hinaufgeläutet hatte, stand vor seiner Tür und erwartete sie. Anstatt zu eilen, verweilte sie, Gedränge an den Schaltern hielt sie auf, man lief ihr vor die Füße, sah ihr unter den Hut. Um Zeit zu gewinnen, versuchte sie nochmals den soeben abgelaufenen Traum; aber er kommt nur ungerufen. Als die Eltern starben, ihr Besitz versteigert wurde, war sie reich, frivol, Frau eines ungebundenen Kapitalisten, Königin einer gemischten Welt, die Erinnerungen nicht kennt. »Ein Andenken hätte ich nehmen sollen, den Pfau.«
Der Chasseur empfing sie behutsam, seine Hand bat, sie möge ihn still gewähren lassen, während er unhörbar die äußere Tür öffnete. In der zweiten hatte er vorher einen Spalt gelassen. Alain horchte, schloß wieder, er hauchte nur. »Sogleich. Die Herren sind keine Minute mehr bei ihren anderen Sorgen.« Sie dachte: »Warum wären sie. Ihre Sorge bin leider ich.« Sie zeigte dem Alten ein heiteres Gesicht. Ganz recht, das seine klärte sich auf. Sie selbst mußte bedrückt ausgesehen haben, was nicht sein durfte.
Drinnen sagten sie: »Die Stunde ist herum.« – »Ihre Stunde«, sagte Frédéric Conard. »Ich habe keine Grenze gesetzt, der Tag hat den Anschein, als wäre er verloren.« Léon Jammes widersprach ihm freundschaftlich. »Versuchen Sie nicht, lieber Freund, mich irrezuführen. Der Tag ist wichtig wie keiner. Was Sie zu tun haben, wiegt einige geschäftliche Transaktionen auf. Sie können es nur schwer erwarten, Madame Conard zu sehen.« – »Und ihr bis in die letzte Einzelheit zu erzählen, was ich jetzt erfahren habe?« fragte der Gatte, blieb stehen, sah in die Luft. »Sie kennen mich schlecht. Sie mißverstehen Estelle.«
Léon Jammes behielt seine Meinung für sich; er sagte nur: »Sie schulden ihr eine Warnung.« – »Wäre ich dieser Tage frei, ich brächte sie auf das Land.« Conard seufzte. – »Unter keiner Bedingung«, riet der andere ihm. »Sie muß bleiben, darf niemand sehen, am wenigsten den Comte X, und ausgehen nur mit Ihnen.« – »Sie reden«, erwiderte Frédéric. Er dachte, und verschluckte es, daß Estelle, rein und völlig unerfahren, die drohenden Zusammenhänge niemals begreifen werde. »Kann ich selbst sie nach der Reihe klar herzählen?«
Er versuchte es. »Die Sache ist öffentlich, während sie persönlich ist. Sie betrifft eine Verschwörung und meine Frau.« – »Sie betrifft auch Sie.« – »Gut, auch mich, über meine Frau hinweg. Sie ist, heute früh, zu einem ersten falschen Schritt veranlaßt worden.« – »Und seither zu einem zweiten, den sie nicht ausführen wird, beruhigen Sie sich.« – »Das ist nicht wahr.« Ein Aufschrei, dann leise: »Woher können Sie wissen?« – Woher? Alain hatte es durch den Spalt gemeldet, als Léon Jammes an die Tür ging, während Frédéric nicht hörte noch sah. Alain hatte gemeldet: »Monsieur le Président de Revers est allé voir Madame Conard.« Diesmal fiel Conard in seinen Sessel, aber nur auf die Kante; seine Unruhe sollte ihn gleich wieder aufreißen. »Mein Gott, welch ein furchtbares Interesse nehmen alle an meiner unschuldigen Frau.«
Der politische Agent betrachtete ihn. Es war nicht sicher, daß der harmlose Mann seine Augen wirklich mit den Fingern ganz bedeckte. So harmlos, wie er sich gibt, ist keiner. Léon Jammes zuckte die Achseln, was sein Patient dennoch bemerkt zu haben schien; er kam auf und begann wieder. »Ich weiß jetzt, daß der Präsident Laplace mich haßt.« Schon wurde er unterbrochen.
»Solange Sie kein synarque sind. Eine Bank wie diese darf an ihrer Spitze keinen Gegner der Bewegung, will sagen keinen aufrichtigen Patrioten haben. Mais on ne s'en deéfait pas sans avoir des raisons avouables. Um ihn loszuwerden, braucht es Gründe, die man nennen darf. À défaut d'autres, on le frappe à travers sa femme. Zuerst Ihre Frau treffen, ist doppelt geboten, seit Monsieur Laplace beschlossen hat, le Comte X, den Philosophen der Dame, unschädlich zu machen! Dieser Spielverderber bedient sich eines zweifelhaften homme de main. Mag sein, daß die Freundschaft des Fremden mit Kobalt, einer anderen Fremden, auch dem Comte X unbekannt war.«
»Hiermit wären wir wieder bei der Figur Kobalt«, sagte der Patient. Der Operateur sagte: »Im Grunde haben wir sie niemals verlassen. Kobalt behauptet die Schlüsselstellung. Le Comte X muß sie vernichten, damit er wieder in Gunst gelangt – wenn unser Präsident dieses Geschäft, wie die Dinge liegen, nicht lieber Ihrer Frau überträgt. Mit Kobalt wären alle beide verloren, le Comte X und Estelle. Von Ihnen schweige ich.«
»Pas moi. Dieser Tag soll nicht vergehen, ohne daß ich die Öffentlichkeit mit mir beschäftige. Weshalb ein Bankdirektor fliegt. Eine verwickelte Geschichte.« Keine Gesten begleiteten seine hochtrabende Verzweiflung; die großen Worte wurden schwach gesprochen. »Sie glauben es sich selbst nicht«, stellte Léon Jammes fest. »Die Öffentlichkeit, am Tage der Kriegserklärung, will von keinen Morden hören.« – »Bald fällt man«, ergänzte Frédéric.
»Ich so gut wie Sie.« Der Mann des Deuxième Bureau ging zur Warnung über. »Aber vor der ehrenvollen Chance zu fallen habe ich die weniger ruhmreiche, einige Leben zu retten, aus dem Hintergrund und unerkannt.«
»Es ist Ihres Amtes«, bestätigte Conard, den Kopf zur Seite, auf die Schulter gesenkt, es sah deutlich nach Vorbehalten aus. Er bedachte, daß nicht zuerst Estelle erhalten werden sollte, sondern diese andere Person. Nur um der Abenteurerin willen war in dieser abgemessenen Stunde auch von seiner unschuldigen Frau die Rede. Léon Jammes erriet leicht, was in ihm vorging. »Sie wollen wissen, wer Kobalt ist«, sagte er. – »Sagen Sie mir, wer Kobalt ist«, wiederholte Frédéric.
»Sie werden sie sogleich erforschen. Wenn sie selbst sich Ihnen anvertraut, wissen Sie mehr als ich. Unsere Sache wäre halb gewonnen.« – »Was wirft sie Ihnen vor?« – »An einem gewissen Zeitpunkt erhob ich gegen sie Beschuldigungen, die wenig Halt hatten, wie ich wußte. Meine wirklichen Gründe, sie ausweisen zu lassen, konnte ich ihr nicht sagen. Ein Minister gibt uns wohl Aufträge, die von auswärts, von einflußreichen Stellen natürlich, veranlaßt sind.«
»Zum besten eines Betroffenen, Sie scheinen es anzudeuten. Die Wichtigkeit einer Kobalt muß man verstehen lernen.« Das letzte Wort erreichte er kaum, der andere fiel schon ein, streng diesmal. »Verstehen muß man ihre Bedeutung in der Affäre. Ich bekenne mich schuldig. Als ich Kobalt verdächtig machte, lieferte ich dem Präsidenten Laplace im voraus seine heutigen Vorwände. Er hofft, euch alle in die Hand zu bekommen, mich mit, seitdem ihr zweifelhafter Jugendfreund, doppelt belastet, bei Kobalt aufgetaucht ist.«
»Wer ist er?« fragte Conard. »Nicht zu ermitteln oder zu beweisen«, schloß Léon Jammes – um ihm nicht ins Gesicht zu sagen, daß nur seine reine Estelle auch dies vielleicht schon herausgebracht habe, von Kobalt persönlich. Ihr Besuch droben? Von Alain gemeldet. Überraschend sprach aber Frédéric: »Sie muß Estelle sehen.« – »Warum?« fragte Léon Jammes.
Dies ist für Conard der Moment, mit der Sprache schwer anzusetzen, dann sich zu überhasten. »Damit diese Kobalt gerührt wird vom unverdienten Leid, damit sie erkennt, daß sie sich opfern muß – ja die Verwicklungen, die ihre Existenz verschuldet, beenden muß – und sterben.«
»Voilà pourtant un homme doux, qu' attendre des autres. Wenn das von einem sanften Mann kommt …« denkt Léon Jammes. Er spricht: »Plus de Kobalt, plus d'accrocs. Ohne Kobalt ginge alles glatt. C'est cela même l'idée de notre bon Monsieur Laplace. Vous y venez. Maintenant, recevez la condamnée. Lassen Sie die Verurteilte herein!« Womit Léon Jammes sich, ohne darum gebeten zu sein, nach dem entfernteren Fenster und bis hinein in den Vorhang verfügt. Unter die Tür tritt Kobalt.
Mit ausgestreckter Hand kam der Direktor, Monsieur Frédéric Conard, ihr entgegen, er fragte nach ihrem Wohlergehen in dem aufrichtigen Ton, als läge ihm an einer großen Kundin. Es war aber Verlegenheit, weil er noch soeben hart – er fürchtete: grausam – gesprochen hatte von einem Wesen, dessen Erscheinung nicht ohne Wirkung blieb. »Von ihr verlangte ich, daß sie stürbe? Mais j'étais fou. On ne désire pas la mort d'une femme comme celle-ci.«
Die Einleitung verlängerte sich, da die Dame so wenig unbefangen wie der Herr war. Vor einer Stunde wäre sie ohne Pause, zuversichtlich hervorgekommen mit ihrer Einbildung, daß Geld auf sie warte. Einbildung nannte sie es jetzt, glaubte an kein eingetroffenes Geld, noch an den Absender, Fernand seines Namens. Seine Existenz hatte sie lange, lange geglaubt, als wäre er zugegen; während der abgelaufenen Stunde schien er sich aufgelöst zu haben. Ausgeträumt, ihre Nächte. Dies ist ein auffallend klarer Tag, an dem sich Wahrheiten herausstellen. Der Herr vor ihr indessen hält sie für eine Person, die mit alberner Zähigkeit an seinen Schaltern ein nie vorhandenes Geld verlangt.
Wie nur anfangen, von der Wirklichkeit, die er erfahren muß. Sein Gedanke war derselbe: wie anfangen. Ihre finanziellen Zwangsvorstellungen oder wie er es sonst genannt hatte, als Léon Jammes ihn davon unterrichtete – es ist die Frage, ob sie ihm auch nur einfielen. Vordringlich war diese Figur selbst, keine sonderbare Bettlerin mehr, die greifbare Bedrohung. Er selbst, oh! gleichviel. Estelle, ihr Leben oder Sterben hingen jedenfalls an der Frau hier, ob an ihrer Existenz oder nur an ihrem guten Willen. Nun sah sie anders aus, war sichtlich eine andere als erwartet.
Seine Bestürzung kam ihm unerwartet; bloße Verlegenheit war es nicht mehr, wenn er nach der Stirn griff, als erinnerte er sich einer unausweichlichen Abhaltung. Vielleicht hätte er das Zimmer verlassen. Sie sprach aber. Erschüttert wie er, von derselben Estelle wie er, fand sie dennoch im gegebenen Zeitpunkt ihre alte Weitläufigkeit. Verbindlich, flüssig sogar, versicherte sie, daß sie nicht lange stören werde. Unnötig, sich zu setzen. Der erregte Mann hatte versäumt, ihr einen Stuhl anzubieten; um so besser, man konnte ihn an gewöhnliche Formen erinnern, vor dem ersten Wort der Tragödie.
Er ließ den Arm fallen, er sah sie an; er sah sie ganz, seit er sie hörte. Ihre Stimme! Sie hatte vergessen, daß ihre Stimme nichts unbedeutender machte, die Dinge nicht, noch sie. Dank ihrer Wirkung, die üblich war, erstaunlich war sie höchstens diesmal, vermochte sie ihn ruhiger zu betrachten als er sie. Seine Verstörtheit beiseite, hat er ein ernstes, beinahe jugendliches Gesicht; die Schatten unter den Augen sind den Umständen beizumessen. Sanfte dunkle Augen, vertiefte Schläfen, die gerade Stirn tritt vor. Der Mann von hoher schlanker Gestalt ist klug, die Erkenntnis macht ihn eher weich als streng.
Sie sah, weil sie sehr nötig hatte es zu sehen. »Der weiß schon lange mehr, als Estelle ihm zutraut. Er verzeiht ihr den Comte X, weil er in ihren Komplikationen, soll ich sagen in ihrem Snobismus, zuletzt die Unschuld aufdeckt. Er ist im Grunde der Überlegene. In Wirklichkeit macht sie mit ihm, was sie will.«
Dies die Viertelminute, als sie einander sahen und zu messen versuchten. Es war der erste Moment, nachdem Frédéric die Stimme Lydias gehört hatte. Dann kam ihm eine ungewollte Bewegung, die halbe Wendung nach dem zweiten Fenster. Sie drückte etwas aus, wenn man sie verstand. »Die Hälfte der Stunde haben Sie mir von dieser Frau gesprochen, und niemals erwähnten Sie ihre Stimme?« Der Vorhang war gebauscht, sonst nichts zu bemerken, aber Conard mit seiner Drehung der Hüften hatte verraten, daß jemand dahintersteckte. Léon Jammes zeigte sich. Er lächelte unter seinem dicken Schnurrbart.
Keine Spur von Peinlichkeit; Beruf oder Selbstgefühl, ihn konnte niemand ertappen, seine Lage erheiterte ihn. Der andere große Schlanke hatte statt seiner das Bedürfnis, ihn zu entlasten. »Lieber Freund«, sagte Conard, »es war ausgemacht, daß Sie an dieser Unterredung teilnehmen sollten, gleichviel in welcher Absicht, einer wohlwollenden, denke ich.« – »Das ist unwahrscheinlich«, hörte er hinter sich die Stimme. Sie sprach noch: »Unter den Umständen ziehe ich vor zu gehen. Aber es wird mir kaum erlaubt sein.«
»Warum nicht?« fragte Conard, keineswegs ihr, sondern dem Polizisten zugewendet. – »Ja, warum nicht«, wiederholte Léon Jammes. »Aber ich bin nun einmal hier. Madame wußte es, nur bei ihrem Eintritt hatte sie es vergessen. Man ist stark beansprucht«, sagte er versöhnlich. »Wir alle«, bestätigte Conard. »Kaum findet man sich noch zurecht zwischen den Tatsachen, die zu überlegen sind. Mir selbst war entfallen, daß Madame mit Ihnen bekannt ist, Jammes.«
»Gerade das weiß ich«, stellte sie fest, und ihr Gegner wie sie: »Gerade das.« Der Bankdirektor griff zu. »Da der Herr und die Dame hierin übereinstimmen, hindert nichts, daß wir uns setzen.« Er wäre zu froh gewesen, das Schwierigste hätte der andere besorgt, l'entrée en matière. Auch sie hätte es leichter gehabt, unter Mithilfe des dritten in ihren Gegenstand zu kommen. Aber ihr Gegenstand war Estelle. Kein Recht, sie auszuliefern – und wem? »Ich kenne ihn zu meinem Schaden.«
Sie schwankte; sie sah mit an, wie die beiden männlichen Gestalten, merklich gleich in Höhe, Geste, Spannkraft, einander umkreisten, jeder bemüht zu überzeugen. Zwei Offiziere, der eine rangälter und wird sich durchsetzen. Ihm hatte sie schon oft die schadhafte Leber angesehen, der starke Schnurrbart täuschte über das Gesicht. Das andere, ihr bisher fremde, das Gesicht des Gatten, erhielt seinen Ausdruck seelischer Spannung natürlich von einer einzelnen Stunde: dieser.
Der eine wollte, daß sie beisammen blieben, der andere hätte nachgegeben oder stellte sich so, wenn er unterstützt worden wäre – von ihr, die im Gegenteil den Türgriff in die Hand nahm. »Was haben Sie nur, was haben Sie nur« – Frédéric fing an zu verzweifeln. Da zog sein Genosse ihn beiseite, um ihm zu erklären, was denn wohl? Daß von einer Person wie dieser wahre Aussagen nur an anderem Ort erreichbar sein werden. Sie vermutete seine Worte, meinte einige auch aufzufangen. Sie blieb auf ihrer Stelle, sie nötigte ihn, nach dem Ausgang einen Bogen zu machen.
Nun, er tat es, de bonne grâce, wie sie zugeben mußte, unter seinen moustaches de sergent de ville, wie sie zu sagen pflegte, war ein Lächeln, das ihn gewiß nicht rächen wollte. Um mitleidig zu sein, war es zu höflich; die Vertraulichkeit, die sie darin ahnte, mißfiel ihr noch mehr. »Madame de Kowalsky –«, er grüßte; fehlte noch, daß er ihr die Hand anbot, sein Polizeiinstinkt sagte ihm, daß sie es übersehen hätte. Zu ihrem Erstaunen, nicht zu seinem, war sie unfähig, einfach zu schweigen. »Ce sont mes affaires«, sprach sie, hochmütiger als vorgesehen.
Léon Jammes nahm sa mine engageante zurück, mitsamt dem Namen, den er ihr gegönnt hatte. »Écoutez, Kobalt«, begann er – sah nach dem möglichen Lauscher um, beendete gedämpft: »Vous sentez bien que nous devons nous voir?« – »C'est cela. Je suis arrêtée?« fragte dagegen sie. Er schüttelte nur flüchtig den Kopf. Seine Verneinung, ihre Erkundigung, beide gab er für überflüssig aus. »Vous savez bien que non. Si jamais je vous arrête ce sera pour votre sûreté.« Fort war er, bevor sie alles faßte.
Meinte er ihre Angelegenheit, die neueste Wendung, wenn er erwog, sie um ihrer Sicherheit willen festzunehmen? Alain fiel ihr ein. Zweifellos, Alain konnte ihm mehreres zugesteckt haben aus der vorigen Stunde: viel nicht. »Er ist stärker als ich dachte.« – »À qui le dites-vous«, sprach jemand, den sie beinahe vergessen hätte.