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Am Tag vor Weihnachten, dem des heiligen Abends, kaufte Staatsanwalt Sierlin alljährlich auf dem Markt des Vorortes selbst den Weihnachtsbaum, trug ihn eigenhändig nach Hause und schmückte ihn dort aus.
Adolf Braun hatte von diesem Brauch ebenfalls auf dem bekannten Umweg durch seinen Freund erfahren.
Er war zugleich von ihm bedrängt worden: »Du verbringst doch den Abend mit uns, Adolf? – mit mir und meiner Braut, die ich doch dir verdanke – und die du noch gar nicht kennengelernt hast.«
Er sagte ab. Er würde sich hüten, sie kennenzulernen. Noch nicht. Erst, wenn alles vorüber war. Sie hätte ihn wiedererkennen können – von seinem Sitzen auf der Bank, seinem Umherstreifen um das Haus im Frühjahr.
Ede war tief gekränkt.
»Du bist doch ein ganz komischer Mensch, Adolf«, sagte er. Aber er mußte sich fügen. Er wußte, wie ganz unbeeinflußbar sein Freund in manchen Dingen war.
Der Tag vor Weihnachten war klar und frostig. Er fand Adolf Braun schon am frühen Nachmittag auf dem Posten – dem Markt, wo die Tannen zum Verkauf standen. Er ging zwischen den ihrer Erde beraubten Bäumen umher, wurde immer wieder ermuntert, zu kaufen, und sah die letzten Käufer kommen. In ein paar Stunden würde der Platz leer und kein Wald mehr sein.
Er wartete, wie er jetzt schon unzählige Male gewartet hatte – auf ihn.
Aber diesmal war er nicht auf die Höhe seiner selbst. Es war nicht die gespannte Aufmerksamkeit in seinen Zügen, mit der er sonst alles beobachtete, was um ihn her vorging.
Er stand bisweilen minutenlang, wie in Gedanken verloren da. Dann fuhr er auf und erinnerte sich an seine Pflicht. Nicht zum Träumen war er hier! –
Als es Abend wurde, kein Käufer mehr kam und die unverkauften Bäume wieder zusammengebunden und auf einen Haufen geworfen waren, ging auch er.
Er ging den ganzen, weiten Weg bis zum Norden der Stadt zu Fuß. Einmal unterbrach er seine Wanderung, betrat ein leeres Lokal und ließ sich zu essen geben. Erst spät am Abend langte er zu Hause an.
Seine alte Wirtin war fort – zu ihren Verwandten, das Fest mit ihnen zu feiern. Er hatte ihr ein warmes Jackett geschenkt; sie ihm ein kleines Bäumchen mit drei dünnen Lichtern und einen Teller mit Backwerk hingestellt.
Am Morgen hatte sie ihm gesagt – sie behandelte ihn wie ihren (im Kriege gefallenen) Sohn und hatte ihr altes Herz an den jungen Mann gehängt –: »Sie werden doch auch ausgehen, Herr Adolf? – Heute abend?«
Er hatte sie beruhigt: Ja, er würde nicht zu Hause sein.
Nun war er es doch.
Er stand am Fenster und sah auf Dächer... Dächer ... Dächer...
Sie lagen schwarz, in Reihen, unter dem milchigen Himmel.
Kein Ton des Lebens drang von unten herauf – kein Ton, kein Licht.
Er hatte ihn nicht gesehen heute, seinen Feind. Wieder war ein Tag verloren.
Aber zum ersten Male war es ihm fast lieb.
Es war, als ob eine Stimme in ihm spräche: Gib es auf. Er ist genug bestraft...
Aber als er wieder im Zimmer stand und, wie so oft, vor den Bildern seiner Eltern in dem billigen Rahmen, nahm sein Gesicht wieder den alten Ausdruck an, den harten Ausdruck, der selbst einem so abgebrühten Menschen, wie seinem Freund Eduard, zuweilen ein unbehagliches Gefühl einflößte (weil er ihm so gar nicht zu seinem sonstigen, so gutmütigen und freundlichen Wesen zu passen schien).
Auch die Worte, die er vor sich hinsprach, klangen hart:
»Nein! – Denn ich räche ja nicht mich. Ich räche euch!...«
– Er war gesehen worden.
Staatsanwalt Sierlin hatte eben den gekauften Baum bezahlt und unter den Arm genommen, als er ihn in einiger Entfernung stehen sah.
Sein erster Impuls war wieder, auf ihn loszugehen. Die Gelegenheit schien günstig. Dann unterdrückte er ihn: dieser Abend sollte ihm nicht auch noch verdorben werden.
Aber er konnte sich nicht enthalten, hinüber zu spähen, jetzt, wo er nicht gesehen wurde und zwischen den Bäumen hindurch kaum erkannt werden konnte. In dem zur Erde gewandten Gesicht des dort Stehenden sah er einen Ausdruck, den er in ihm noch nicht kannte, und es erschien ihm fremder und unheimlicher denn je.
Verstohlen, um nicht doch noch gesehen zu werden, packte er seinen Baum fester unter den Arm und schlich sich davon.
Der Abend war ihm doch verdorben.