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Eines Tages hielt er es nicht mehr aus.
Man war jetzt schon im Oktober. Er war mit seiner Frau im Theater und sie saßen im Parkett. Kurz bevor der Vorhang sich hob, wurde ein noch leerer Platz in der Reihe vor ihm von einem jungen Menschen eingenommen, der dann fast vor ihnen saß.
Den ganzen Abend hatte er diesen braunen und festen muskulösen Nacken, diesen von blonden Haaren bedeckten, starken Hinterkopf vor sich und mußte sich bezwingen, seine Faust nicht auf ihn niedersausen zu lassen. Er hörte und sah fast nichts von dem, was auf der Bühne vorging.
Er war entschlossen, vor der Pause seine Frau zu bitten, sitzenzubleiben; hinter ihm herzugehen, wenn er aufstehen sollte, und ihn zu stellen. Er kam nicht dazu. Als sie begann und das Licht aufleuchtete, war der Platz vor ihnen leer.
Auch die zweite Hälfte des Abends war ihm verdorben. Er dachte nur an den, der noch eben dort gesessen hatte.
Er hielt es nicht mehr aus.
Er mußte mit einem Menschen über die Sache sprechen. Nicht um sich Rat zu holen – nur um zu hören, was ein anderer in seiner Lage tun würde.
Lange überlegte er die Frage: Mit wem? –
Es konnte nur ein Jurist, wie er, sein. Kein Vorgesetzter. Natürlich auch keiner von den Herren, mit denen er amtlich und ständig zu tun hatte. (Und selbstverständlich auch kein Rechtsanwalt – ein Staatsanwalt, der zu einem Anwalt ging – noch nie dagewesen! ...) Es konnte nur ein befreundeter Kollege sein. Aber er hatte wenig Freunde, Er hatte eigentlich nur einen, und ob der wirklich noch sein Freund war, stand nicht einmal so fest. Jedenfalls war er sein Leibbursch. Alter Herr jetzt, wie er; und wenn sie sich in Gesellschaft trafen, plauderten sie, Justizrat Eberhardt und er, ganz freundschaftlich eine Weile miteinander.
Auch kamen sie amtlich nie zusammen und daher auch nie in Konflikt. Denn Justizrat Eberhardt plädierte längst nicht mehr. Er stand nur noch (so von oben herab) einem großen Notariat mit erstklassigem Klientel vor, in dem er bei besonderen Gelegenheiten selbst zu erscheinen geruhte. Er bewohnte eine Etage im Tiergarten und war bekannt als reicher Lebemann großen Stils.
Seine ausgesprochenen Eigenschaften waren Jovialität und Humor – zwei Dinge, von denen Staatsanwalt Sierlin auch nicht die Spur besaß. Mit seinem stets gleich verbindlichen Wesen bezauberte er alle Welt und schlich sich, trotz seines Embonpoints und seiner angegrauten Jahre auch heute noch in die Herzen junger (sogar sehr junger) Damen.
Seine Weine waren berühmt; seine Bonmots gingen von Mund zu Mund; die Herrenabende in den behaglichen und künstlerisch eingerichteten Räumen des kinderlosen Witwers galten als kleine Ereignisse der Saison, zu denen sich seine zahllosen Freunde drängten.
Justizrat Eberhardt war aber nicht nur ein geistreicher Kopf, sondern auch von hervorragender Begabung und hätte es weit bringen können, wenn er nicht zu bequem gewesen wäre und sein unabhängiges Leben nicht jedem anderen vorgezogen hätte.
Ihn also beschloß Staatsanwalt Sierlin zu besuchen, obwohl sie sich im Grunde ihrer Herzen nicht leiden konnten (er nannte ihn einen Menschen ohne moralische Grundsätze und erhielt die Bezeichnung eines unausstehlichen und blutigen Strebers zurück).
Denn Justizrat Eberhardt war, wie gesagt, einmal der einzige, der in Betracht kam; sodann aber war er von absoluter Diskretion, in den zarten Angelegenheiten des Herzens nicht weniger als in den ernsten seines Berufes.
Er meldete sich also an, wurde mit Liebenswürdigkeit begrüßt, in einen Klubsessel genötigt und mit einer Importe versehen.
Es wurde nach dem Ergehen seiner Familie gefragt; dann nach dem eigenen; und endlich behutsam nach dem Zweck seines Besuches:
»Aber du wolltest meinen Rat, lieber Sierlin ...« Der Gefragte kaute an seinem Schnurrbart. (Eine scheußliche Angewohnheit, dachte der glattrasierte Justizrat – das ballt sich nachher im Magen zu einem unverdaulichen Klumpen zusammen.)
»Äh, ja, eine ganz blödsinnige Geschichte ... eigentlich gar nicht der Rede wert ...« Er wartete auf Hilfe. Sie kam nicht. Er mußte allein weiter und gab ein ganz allgemein gehaltenes Bild:
»Es ist da so ein Mensch, der seit längerer Zeit auf Schritt und Tritt hinter mir her ist.« ... Er erzählte einige Fälle.
Justizrat Eberhardt war bald im Bilde.
»Ein Verfolger also. Weshalb verfolgt er dich?«
Staatsanwalt Sierlin kaute weiter. Nein, man half ihm nicht. Im Gegenteil. Er druckste.
»Der Mensch hat unschuldig gesessen. Er bildet sich wahrscheinlich ein, ich habe ihm dazu verholfen ...«
Es war seltsam, welch scharfen Ausdruck die freundlichen blauen Augen unter den hellen Wimpern ihm gegenüber annehmen konnten, diese Augen, die ihn keinen Augenblick verließen, während die Stimme ihren weichen Klang behielt, als sie jetzt fragte:
»Und du hast ihm dazu verholfen?«
Die Antwort war kurz und scharf:
»Ich habe nur meine Pflicht getan!«
Er tut immer seine Pflicht, dachte der Justizrat bei sich. Aber man kann seine Pflicht so und so tun. Er tut sie immer – »so« ... Er wird noch einmal böse anrennen, mit seiner verdammten Pflichterfüllung ...
Aber er sagte nur:
»Was tut er dir?«
Jetzt war die Antwort schon fast gereizt:
»Das ist es ja eben. Er tut mir nichts. Wenigstens nichts, woraufhin ich ihn fassen könnte. Ich sehe ihn, wo ich gehe und stehe. Dann ist er plötzlich fort. Es ist auf die Dauer unerträglich und muß ein Ende nehmen ...«
Der Zuhörer schwieg eine ganze Weile. Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück, schlug die etwas zu kurz geratenen Beine übereinander, blies den Rauch seiner Zigarre von sich und sagte endlich gemütlich:
»Ja, mein lieber Sierlin, das mußt du mir nun schon etwas näher auseinandersetzen. Verzeih – aber ich verstehe immer noch nicht recht. Er verfolgt dich und tut dir nichts. Er ist da und dann immer wieder fort. Ich sehe wirklich noch nicht klar ...«
Der so in die Enge Getriebene mußte weiter mit der Sprache heraus. Er gab ein gedrängtes Bild von der ganzen Sache. Er erwähnte abermals die zahllosen Begegnungen auf der Straße und im Café. Er kam jetzt auch auf die des Zusammentreffens im Seebad und bei der Rückkehr – auf alle diese geheimnisvollen und unerklärlichen Zusammentreffen – zu sprechen, deren Aufklärung ihm schon so viel Kopfzerbrechen gekostet hatte, und die ihm immer noch unverständlich waren.
Die klugen, blauen Augen verließen ihn auch weiterhin keinen Augenblick.
Er schloß:
»Der Kerl verbittert mir allmählich das Leben. Ich will das nicht mehr. Es soll aufhören. Ich lasse mich nicht länger zum Narren halten von einem solchen Bengel ... Ich ...«
Er wurde unterbrochen:
»Aber warum fragst du ihn nicht einfach, was er von dir will?«
»Ich kann es doch nicht. Ich habe es hundertmal tun wollen. Entweder geht es nicht oder er ist fort, bevor ich ihm nahekomme. Der Mensch ist ein Verrückter. Man müßte ihn einsperren lassen ...«
Justizrat Eberhardt wandte jetzt endlich seinen Blick fort und auf die liebevoll gepflegten Nägel seiner weichen, weißen Hand.
Das Gespräch wurde nun ganz Frage und Antwort.
»Wann erfolgte die Verurteilung?«
»Vor etwa zweieinhalb Jahren ...«
»Weshalb?«
»Wegen Unterschlagung.«
»Das Wiederaufnahmeverfahren?«
»Vor anderthalb.«
»Freisprechung. Der Schuldige fand sich.«
»Was weißt du über ihn?«
»Wenig.« – Name, Wohnung, äußere Verhältnisse (Geld, immer Zeit, anständige Kleidung) wurden erwähnt.
Pause.
Dann weiter:
»Woher kann er gewußt haben, wohin ihr diesen Sommer gereist seid?«
»Ich weiß es nicht ...«
»Aber er muß es in Erfahrung gebracht haben?« Staatsanwalt Sierlin zuckte die Achseln.
Er hatte noch nichts von der Kieler Reise gesagt. Jetzt kam auch sie zur Sprache und das Begegnen am Schalter.
Über die Züge des Anhörers zog zum erstenmal ein schwaches, leise belustigtes Lächeln. Es wurde nicht gesehen.
»Weißt du, lieber Sierlin, die Geschichte kommt mir denn doch etwas zu unwahrscheinlich vor: du trittst ganz plötzlich eine Reise an, von der außer deiner Frau kein Mensch weiß. Du willst dein Billett nehmen und derselbe Mensch, von dem du sprichst, steht plötzlich vor dir und fordert genau dasselbe, und fährt dann nicht mit ... Nein, du mußt dich geirrt haben ...«
Staatsanwalt Sierlin fuhr auf:
»Aber ich habe mich nicht geirrt! – Ich habe ihn gesehen, dicht vor mir, wie ich dich jetzt vor mir sehe!«
Er erhielt keine Antwort. Doch bemerkte er jetzt das leise Lächeln. Er wollte heftig werden. Aber gegenüber Justizrat Eberhardt wurde man nicht heftig. Er bezwang sich daher und fragte nur:
»Was würdest du an meiner Stelle tun, Eberhardt?«
Diesmal kam die Antwort ohne Zögern:
»Gar nichts! – Ihn laufen lassen. Über ihn hinwegsehen, wie er – nach deiner Beschreibung – über dich hinwegsieht. Und – nimm es mir nicht übel, lieber Sierlin, sieh doch mal die Sache auch von der anderen Seite an. Dem Mann ist doch ein ganz offenbares Unrecht geschehen. Er ist verbittert. Es geht ihm gewiß schlecht. Wenn du ihn wiedersiehst, sprich mit ihm. Freundlich. Suche ihn aufzuklären über seinen Irrtum. Und wenn er sich in Not befindet, hilf ihm. Sprich menschlich mit ihm. Nicht – verzeih, wenn ich es sage – nicht in deiner zuweilen etwas harten Art. Denn eigentlich ist es doch ganz nett von ihm, daß er dir so gar nichts tut. Manch anderer...«
Der Zuhörer schüttelte den Kopf.
Er war nicht verstanden worden. Alles, was er gesagt hatte, war in den Wind geredet.
»Nein,« sagte er und seine Stimme war viel leiser als sonst, »nein, das ist es nicht. Der Mensch will keine Hilfe von mir... Er will etwas ganz anderes... Was – ich weiß es nicht... Und ich kann nichts gegen ihn tun...«
»Aber, du wirst doch keine Furcht vor ihm haben? – Furcht vor einem Menschen, der dir nichts getan hat und tut ...« hörte er sagen.
Er stand auf und richtete sich zu seiner vollen Länge empor:
»Furcht? – Glaubst du wirklich, daß ich vor irgendeinem Menschen auf der Welt Furcht habe, Eberhardt! «
Der ebenfalls sich langsam Erhebende sagte begütigend:
»Daß du keine Furcht hast, weiß ich. Wir waren beide im Korps und du mein Leibfuchs ...«
Nach einer kleinen Pause weiter:
»Ich möchte dir gerne raten. Aber wie kann ich es? – Nach allem, was du mir eben erzählt, hast du keine Handhabe irgendwelcher Art gegen ihn. Er lauert dir auf und läuft fort, wenn er dich sieht. Er reist dir nach und fährt ab, wenn du kommst. Eine etwas merkwürdige Art von Verfolgung, lieber Sierlin, wie du zugeben wirst. Das alles läßt doch eher auf rein zufällige Begegnungen schließen als auf beabsichtigte. Und sollten nicht – wenn auch zugestandenermaßen bei einigen eine gewisse, wenn auch ganz unerklärliche Absicht vorgelegen haben mag – sollten nicht doch die meisten nur in deiner Einbildung bestehen, lieber Sierlin?«
Er schloß:
»Jedenfalls scheint ihm dein Anblick ebensowenig angenehm zu sein wie dir der seine. Immerhin eine gewisse Garantie für die Zukunft, daß du ihm nun nicht mehr begegnest, oder daß du, wenn ihr euch begegnen solltet, ihn gleich wieder aus den Augen hast...«
Er kam nicht ganz zu Ende. Eine Hand wurde hingestreckt:
»Verzeih, wenn ich dich so lange aufgehalten habe, Eberhardt.«
»Nicht im geringsten! – Also, wenn du meinen Rat befolgen willst: Laß ihn laufen. Wenn es wirklich ein Rennen sein soll – ich glaube noch nicht recht daran – so bedenke: Einer wird immer zuerst müde. Er wird schon müde werden, und früher als du... dieser – geheimnisvolle Unbekannte.« Sie nahmen einen etwas plötzlichen und kurzen Abschied:
»Wenn du wieder einen Rat brauchst, du weißt...«
Allein, strich Justizrat Eberhardt sorgfältig die Asche von seiner Zigarre und dachte: Beginnender Verfolgungswahnsinn! Der Teufel werde aus dieser Geschichte klug! – Ein Verfolger, der davonläuft!
Er lachte in sich hinein. – Furcht? – Keine Furcht? – Sie stand dir auf dem Gesicht geschrieben, mein Lieber, trotz deiner großen Worte!
Dann wieder ernst:
Das hat er von seiner verfluchten Streberei. »Jeder Angeklagte ist schuldig, auch wenn er es nicht ist.« Eine schöne Maxime! – Aber ich habe ihn ja nie gemocht, meinen guten Sierlin, schon damals nicht, als er so gegen meinen Willen durchaus mein Leibfuchs werden wollte...
Der, dem diese wenig freundlichen Gedanken galten, stand unterdessen auf der Straße, unschlüssig, wohin er sich wenden wollte.
Dann rief er ein vorbeifahrendes Taxi an.
Er merkte nicht, daß er beobachtet wurde, wie er beim Betreten des Hauses beobachtet worden war. Diese Unterredung hatte ihren Zweck verfehlt.
Er dachte nur an die letzten Worte seines Freundes: Müde werden ... einer wird es immer früher als der andere ...
Er richtete sich auf.
Ich bin der eine nicht! – sagte er vor sich hin.
Aber er war seiner nicht mehr so ganz sicher.