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Er überwand es schnell.
Auch wenn er gewußt hätte, was es war, dieses Gefühl – nie hätte er sich gegenüber erlaubt, es bei seinem wahren Namen zu nennen.
Er war der Staatsanwalt Sierlin, der nichts auf der Welt fürchtete als Gott allein; der nichts zu fürchten hatte, weil sein Leben tadellos vor aller Augen offen dalag; und der sein Auge vor keinem anderen Menschen niederschlug.
Und er, er sollte sich von einem solchen hergelaufenen Kerl, diesem Halunken, der Gott weiß was im Schilde führte, ins Bockshorn jagen lassen? – Nein! – Nie! –
Er würde ihn wiedersehen. Wann und wo, das wußte er nicht, denn das Treiben dieses Menschen war ja ganz unberechenbar. Aber daß er ihn wiedersehen, daß er eines Tages wieder mit ihm zusammentreffen würde, sagte ihm sein Gefühl jetzt mit absoluter Sicherheit. Dann aber: Gnade ihm Gott! –
Er wußte nicht, wer dieser »Kaufmann Adolf Braun« war. Er hatte den Namen nie gehört. Er sagte ihm nichts. Er wußte nicht, was dieser Herr Braun (wenn der Name nicht etwa ein angenommener war, was wahrscheinlich war) von ihm wollte. Er wußte nicht, weshalb und aus welchen geheimnisvollen Gründen dieser Kerl eine solche Unmenge an Zeit, Geld und Geduld – ja, auch an Geduld! – aufwandte, um sich ihm in den Weg zu stellen und dann diesen Weg wieder freizugeben. Er wußte nur, daß er ihn wiedersehen würde.
Er war es jetzt, der nach ihm aussah. Auf der Straße, in dem Café, in der Straßenbahn, bei jedem Nachhausekommen. Er war es, der darauf lauschte, daß die bekannten Schritte wieder hinter ihm ertönen sollten, um sich dann blitzschnell umzudrehen und ihm gegenüberzustehen.
Aber er sah und hörte wieder einmal nichts von ihm. Eine Woche, eine zweite verging – nirgends auch nur eine Spur. Es war, als wollte er jetzt, gerade jetzt, fortbleiben und für immer. Aber er glaubte nicht daran. Er würde wiederkommen. Ganz unverhofft, eines Tages, wenn er gerade nicht an ihn dachte.
Das Rätsel, das sich hinter dieser Person und ihrem Gebaren verbarg, ließ ihn nicht los. Immer wieder suchte er es zu lösen.
Woher wußte er von seiner plötzlichen Reise nach Kiel? – Woher den Ort und sogar den Namen des Hotels? – Woher, wann er dort eintreffen wollte? – Und woher – woher? – so bis auf die Minute genau den Tag und die Stunde seiner Rückkehr? – Es war unbegreiflich. Es war um den Verstand zu verlieren. Welche Bundesgenossen hatte denn dieser Mensch, um Dinge zu wissen, die außer seiner Frau und ihm niemand wissen konnte?...
Mit dieser darüber zu sprechen, unterließ er noch immer. Sie war nicht die Frau, mit der er sein Gedanken teilte, und sie wäre die letzte gewesen, diese Gedanken für sich zu behalten.
Er fragte sie nur beiläufig einmal:
»Sag mal, Bertha, wer hat eigentlich von unserem Aufenthalt an der See vorher gewußt ? – Und wer von meinem Besuch in Kiel?«–
Sie sah ihn verwundert mit ihren schönen leeren Augen an. Das Benehmen ihres Mannes wurde doch immer merkwürdiger. Liebenswürdig war er nie gewesen, das lag nicht in seiner Art, aber in letzter Zeit war er so verändert, daß es so fast nicht mehr weiterging. (Sie beklagte sich bei ihren Freundinnen in vertrautem Kreise schon längst bitterlich darüber.) Und was sollte das nun wieder heißen ? –
So antwortete sie nur:
»Wer von unserer Reise gewußt hat? – Nun, unsere Bekannten.« (Sie nannte ein paar Namen.) »Aber wozu willst du das wissen ? – Es war doch kein Geheimnis.«
Er gab noch nicht nach. Ein Verdacht war in ihm aufgestiegen.
»Und Marie? Hat sie auch nichts davon gewußt?« Nun aber war es mit ihrer Geduld zu Ende. Die Dienstbotenfrage war zwischen ihnen immer ein dunkler Punkt. Nicht, daß sie etwa, wie so manche ihrer Bekannten, auf die jüngeren unter ihnen eifersüchtig gewesen wäre – an der Treue ihres Mannes hatte sie keinen Grund zu zweifeln. Schon seine Moral verbot ihm jeden Seitensprung. Aber er hatte schon so manche tüchtige Kraft durch sein argwöhnisches und überstrenges Wesen vertrieben – nun fing er auch mit Marie an, die schon ein ganzes Jahr bei ihnen war, diesem so fleißigen und tüchtigen, diesem in jeder Hinsicht so zuverlässigen Mädchen, wie sie so leicht kein zweites fand.
Sie begehrte auf und begann ihr Loblied zu singen: wie treu und brav sie sei; wie gut sie wieder während ihrer Abwesenheit das Haus instand gehalten; wie sie nie Besuch empfinge, auch dann nicht, wenn sie verreist wären (Beweis: das Zeugnis der Köchin). Und schloß:
»Natürlich hat Marie gewußt, wo wir waren. Sie mußte mir doch schreiben, ob alles in Ordnung war.« – »Nein,« waren ihre letzten Worte, »nein, Sierlin, die treibst du mir nicht auch noch aus dem Hause mit deiner–deiner–Un–lie–bens–würdigkeit, die wirklich jeden Tag größer wird!«
Er mußte sich geschlagen geben und schwieg. Aber ein paar Tage später – er konnte sich so nicht beruhigen – nahm er sich (seine Frau war nicht zu Hause) Marie vor, als sie ihm den Tee brachte. Die alte Köchin, Hausinventar seit langen Jahren und übernommen, kam nicht in Betracht – sie kochte gut, war aber mehr als dumm und von einer geradezu rührenden Einfalt. Er fragte also Marie:
»Sagen Sie mal, Marie, Sie haben doch von unserer Reise gewußt. Zu wem haben Sie denn von ihr gesprochen ?«
Er wollte sie überrumpeln.
Aber Marie ließ sich nicht so leicht überrumpeln. Sie war Berlinerin, daher nicht auf den Mund gefallen und ahnte gleich, worauf es hinaus sollte. Dies lange Ekel, das sie haßte – (an der Frau hing sie, weil sie der gegenüber die Stärkere und Klügere war) –, wollte hinter ihr Verhältnis mit ihrem geliebten Ede kommen. Aber da kam er bei ihr schlecht an. Sie tat ihre Pflicht, war ehrlich und fleißig, empfing im Hause keine Besuche ihres Freundes (wie doch alle andern Mädchen in ihrer Stellung), und was sie außerhalb desselben tat, ging den da einen Dreck an. Einem armen Mädchen auch noch vorschreiben, was es in seiner freien Zeit tun und lassen sollte – das wäre ja noch schöner gewesen! –
Sie sah den Frager mit ihren hellen Augen also fest an und sagte schnippisch (und wie schnippisch!): »Zu wem soll ich wohl davon gesprochen haben? – Es geht mich ja gar nichts an. Und ich kümmere mich überhaupt nicht um die Angelegenheiten meiner Herrschaften. Die gnädige Frau hätten – «
(mich nie nach so etwas gefragt, hatte sie sagen wollen).
Sie wurde abgewinkt.
Staatsanwalt Sierlin ergänzte sich das Nichtgesagte selbst und entließ sie. Wenn sie ihm mit seiner Frau kam ... Und überdies war aus ihr doch nichts herauszubekommen (wenn sie überhaupt etwas wußte, was ihm jetzt auf einmal wieder sehr zweifelhaft vorkam).
Er war zum zweiten Male geschlagen und so klug wie zuvor.
Er grübelte weiter. Aber je mehr er über die Sache nachdachte, um so unverständlicher wurde sie ihm.
Hätte doch wenigstens noch ein gewisser Sinn in all dem Unsinn gelegen! –
Die Geschichte wurde ihm unheimlich, um so mehr, als sie allem Anschein nach zu Ende war. Es war eine Geschichte fast wie aus einem Kriminalroman. Aber selbst ein gewiegter Detektiv (und er hielt sich selbst für einen solchen) wäre hier mit seinem Witz zu Ende gewesen.
Er konnte nichts tun, als warten, bis er ihn unter die Hände bekam. Unter ihnen, diesen seinen Händen würde sich das Rätsel entwirren, das selbst zu lösen er – wie er sich eingestand – unfähig war.