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Rede gehalten bei Übernahme der Professur für Philosophie (Geschichte und Theorie der induktiven Wissenschaft) an der Universität Wien am 21. Oktober 1895.
Den naiven hoffnungsfrohen Anfängen des Denkens jugendlicher Völker und Menschen ist es eigentümlich, daß beim ersten Schein des Gelingens alle Probleme für lösbar und an der Wurzel faßbar gehalten werden. So glaubt der Weise von Milet, indem er die Pflanze dem Feuchten entkeimen sieht, die ganze Natur verstanden zu haben; so meint auch der Denker von Samos, weil bestimmte Zahlen den Längen harmonischer Saiten entsprechen, mit den Zahlen das Wesen der Welt erschöpfen zu können. Philosophie und Wissenschaft sind in dieser Zeit nur Eins. Reichere Erfahrung deckt aber bald die Irrtümer auf, erzeugt die Kritik, und führt zur Teilung, Verzweigung der Wissenschaft.
Da nun aber gleichwohl eine allgemeine Umschau in der Welt dem Menschen Bedürfnis bleibt, so trennt sich, demselben zu entsprechen, die Philosophie von der Spezialforschung. Noch öfter finden wir zwar beide in einer gewaltigen Persönlichkeit wie Descartes oder Leibniz vereinigt. Weiter und weiter gehen aber deren Wege im allgemeinen auseinander. Und kann sich zeitweilig die Philosophie so weit der Spezialforschung entfremden, daß sie meint, aus bloßen Kinderstubenerfahrungen die Welt aufbauen zu dürfen, so hält dagegen der Spezialforscher den Knoten des Welträtsels für lösbar von der einzigen Schlinge aus, vor der er steht, und die er in riesiger perspektivischer Vergrößerung vor sich sieht. Er hält jede weitere Umschau für unmöglich oder gar für überflüssig, nicht eingedenk des Voltaireschen Wortes, das hier mehr als irgendwo zutrifft: »Le superflu – chose très nécessaire«.
Wahr ist ja, daß wegen Unzulänglichkeit der Bausteine die Geschichte der Philosophie größtenteils eine Geschichte des Irrtums darstellt, und darstellen muß. Nicht undankbar aber sollen wir vergessen, daß die Keime der Gedanken, welche die Spezialforschung heute noch durchleuchten, wie die Lehre vom Irrationalen, die Erhaltungsideen, die Entwicklungslehre, die Idee der spezifischen Energien u. a. sich in weit entlegene Zeiten auf philosophische Quellen zurückverfolgen lassen. Es ist auch gar nicht gleichgiltig, ob ein Mensch den Versuch der Orientierung in der Welt mit Erkenntnis der Unzulänglichkeit der Mittel aufgeschoben, aufgegeben, oder ob er denselben gar nie unternommen hat. Diese Unterlassung rächt sich ja dadurch, daß der Spezialist auf seinem engern Gebiet in dieselben Fehler wieder verfällt, welche die Philosophie längst als solche erkannt hat. So finden wir wirklich in der Physik und Physiologie namentlich der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts Gedankengebilde, welche an naiver Ungeniertheit jenen der Jonischen Schule, oder den Platonischen Ideen, oder dem berüchtigten ontologischen Beweis u. a. auf ein Haar gleichen.
Dies Verhältnis scheint sich nun allmählich doch ändern zu wollen. Hat sich die heutige Philosophie bescheidenere erreichbare Ziele gesetzt, steht sie der Spezialforschung nicht mehr abhold gegenüber, nimmt sie sogar eifrig an derselben Teil, so sind anderseits die Spezialwissenschaften, Mathematik und Physik nicht minder als die historischen, die Sprachwissenschaften sehr philosophisch geworden. Der vorgefundene Stoff wird nicht mehr kritiklos hingenommen; man sieht sich nach den Nachbargebieten um, aus welchen derselbe herrührt. Die einzelnen Spezialgebiete streben nach gegenseitigem Anschluß. So bricht sich allmählich auch unter den Philosophen die Überzeugung Bahn, daß alle Philosophie nur in einer gegenseitigen kritischen Ergänzung, Durchdringung und Vereinigung der Spezialwissenschaften zu einem einheitlichen Ganzen bestehen kann. Wie das Blut, den Leib zu nähren, sich in zahllose Kapillaren teilt, um dann aber doch wieder im Herzen sich zu sammeln, so wird auch in der Wissenschaft der Zukunft alles Wissen in einen einheitlichen Strom mehr und mehr zusammenfließen.
Diese der heutigen Generation nicht mehr fremde Auffassung denke ich zu vertreten. Hoffen Sie also nicht, oder fürchten Sie nicht, daß ich Systeme vor Ihnen bauen werde. Ich bleibe Naturforscher. Erwarten Sie aber auch nicht, daß ich auch nur alle Gebiete der Naturforschung durchstreife. Nur auf dem mir vertrauten Gebiet kann ich ja versuchen, Führer zu sein, und nur da kann ich einen kleinen Teil der bezeichneten Arbeit fördern helfen. Wenn es mir gelingt, Ihnen die Beziehungen der Physik, Psychologie und Erkenntniskritik so nahe zu legen, daß Sie aus jedem dieser Gebiete für jedes Nutzen und Zuwachs an Klarheit gewinnen, werde ich meine Arbeit für keine vergebliche halten. Um aber an einem Beispiel zu zeigen, wie ich mir solche Untersuchungen meinen Vorstellungen und Kräften gemäß geführt denke, bespreche ich heute, natürlich nur in Form einer Skizze, einen besonderen begrenzten Stoff: Den Einfluß zufälliger Umstände auf die Entwickelung von Erfindungen und Entdeckungen.
Wenn man von einem Menschen sagt, er habe das Pulver nicht erfunden, meint man damit seine Fähigkeiten in eine recht ungünstige Beleuchtung zu stellen. Der Ausdruck ist kaum glücklich gewählt, da wohl an keiner Erfindung das vorsorgliche Denken einen geringeren, und der glückliche Zufall einen größeren Anteil gehabt haben mag, als gerade an dieser. Dürfen wir aber die Leistung eines Erfinders überhaupt unterschätzen, weil ihm der Zufall behilflich war? Huygens, der so viel entdeckt und erfunden hat, daß wir ihm wohl ein Urteil in diesen Dingen zutrauen können, weist dem Zufall eine gewichtige Rolle zu, indem er sagt, daß er den für einen übermenschlichen Genius halten müßte, welcher das Fernrohr ohne Begünstigung durch den Zufall erfunden hätte. »Quod si quis tanta industria exstitisset, ut ex naturae principiis et geometria hanc rem eruere potuisset, eum ego supra mortalium sortem ingenio valuisse dicendum crederem. Sed hoc tantum abest, ut fortuito reperti artificii rationem non adhuc satis explicari potuerint viri doctissimi.« Hugenii Dioptrica (de telescopiis).
Der mitten in die Kultur gestellte Mensch findet sich von einer Menge der wunderbarsten Erfindungen umgeben, wenn er nur die Mittel der Befriedigung der alltäglichen Bedürfnisse beachtet. Versetzt er sich in die Zeit vor Erfindung dieser Mittel, und versucht er deren Entstehung ernstlich zu begreifen, so müssen ihm die Geisteskräfte der Vorfahren, welche solches geschaffen haben, zunächst als unglaublich große, der antiken Sage gemäß als fast göttliche erscheinen. Sein Erstaunen wird aber beträchtlich gedämpft durch die ernüchternden, aufklärenden und die Vorzeit doch so poetisch durchleuchtenden Enthüllungen der Kulturforschung, welche vielfach nachzuweisen vermag, wie langsam, in wie unscheinbaren kleinen Schritten, jene Erfindungen entstanden sind.
Eine kleine Vertiefung im Boden, in welcher Feuer angemacht wird, ist der ursprüngliche Ofen. Das Fleisch des erlegten Tieres, mit Wasser in dessen Haut getan, wird durch eingelegte erhitzte Steine gekocht. Auch in Holzgefäßen wird dieses Steinkochen geübt. Ausgehöhlte Kürbisse werden durch Tonüberzug vor dem Verbrennen geschützt. So entsteht zufällig aus gebranntem Ton der umschließende Topf, welcher den Kürbis selbst überflüssig macht, der aber noch lange über den Kürbis, oder in ein Korbgeflecht hinein geformt wird, bevor die Töpferkunst endlich selbständig auftritt. Auch dann behält sie noch, gewissermaßen als Ursprungszeugnis, das geflecht-ähnliche Ornament bei. So lernt also der Mensch durch zufällige, d. h. außer seiner Absicht, Voraussicht und Macht liegende Umstände, allmählich vorteilhaftere Wege zur Befriedigung seiner Bedürfnisse kennen. Wie hätte auch ein Mensch ohne Hilfe des Zufalls voraussehen sollen, daß Ton, in der üblichen Weise behandelt, ein brauchbares Kochgefäß liefern würde?
Die meisten der in die Kulturanfänge fallenden Erfindungen – Sprache, Schrift, Geld u. a. eingeschlossen – konnten schon deshalb nicht Ergebnis absichtlichen planmäßigen Nachdenkens sein, weil man von deren Wert und Bedeutung eben erst durch den Gebrauch eine Vorstellung gewinnen konnte. Die Erfindung der Brücke mag durch einen quer über den Gießbach gestürzten Baumstamm, jene des Werkzeugs durch einen beim Aufschlagen von Früchten zufällig in die Hand geratenen Stein eingeleitet worden sein. Auch der Gebrauch des Feuers wird wohl dort begonnen und von dort aus sich verbreitet haben, wo Vulkanausbrüche, heiße Quellen, brennende Gasausströmungen, Blitzschläge Gelegenheit boten, dessen Eigenschaften in ruhiger Beobachtung kennen und benützen zu lernen. Nun erst konnte der etwa beim Durchbohren eines Holzstückes gefundene Feuerbohrer in seiner Bedeutung als Zündvorrichtung gewürdigt werden. Phantastisch und unglaublich klingt ja die von einem großen Forscher geäußerte Ansicht, welche die Erfindung des Feuerbohrers durch eine religiöse Ceremonie entstehen läßt. Und so wenig werden wir von der Erfindung des Feuerbohrers erst den Gebrauch des Feuers ableiten wollen, wie etwa von der Erfindung der Zündhölzchen. Denn sicherlich entspricht nur der umgekehrte Weg der Wahrheit. Dies schließt nicht aus, daß der Feuerbohrer nachher bei der Verehrung des Feuers oder der Sonne eine Rolle gespielt hat. – [Ich freue mich, meine auf Grund psychölogischer Erwägungen gefaßten Ansichten über diese Dinge in Übereinstimmung zu finden mit den Ausführungen von K von den Steinen (»Unter den Naturvölkern Central-Brasiliens.« Berlin 1897. S. 214–218.) Derselbe nimmt etwa folgende Stufen an: 1. Benützung des zufällig in der Natur vorgefundenen Feuers, 2. Pflege und Erhaltung desselben, 3. Verbreitung und Übertragung desselben (durch Brände und glimmenden Zunder), 4. Erfindung des Feuerbohrers bei Beschaffung des Zunders. – Das genannte Buch tritt auch manchen anderen Vorurteilen wirksam entgegen. – 1902]
Ähnliche zum Teil noch in tiefes Dunkel gehüllte Vorgänge begründen den Übergang der Völker vom Jäger- zum Nomadenleben und zum Ackerbau. Vergl. hierüber die höchst interessante Mitteilung von Carus, The philosophy of the tool. Chicago 1893. Wir wollen die Beispiele nicht häufen und nur noch bemerken, daß dieselben Erscheinungen in der historischen Zeit, in der Zeit der großen technischen Erfindungen wiederkehren, und daß auch über diese teilweise recht abenteuerliche Vorstellungen verbreitet sind, welche dem Zufall einen ungebührlich übertriebenen, psychologisch unmöglichen Einfluß einräumen. Die Beobachtung des aus dem Theekessel entweichenden, mit dem Deckel klappernden Dampfes soll zu Erfindung der Dampfmaschine geführt haben. Man denke an den Abstand zwischen diesem Schauspiel und der Vorstellung einer großen Kraftleistung des Dampfes für einen Menschen, der die Dampfmaschine eben noch nicht kennt! Wenn aber ein Ingenieur, der schon Pumpen gebaut hat, eine zum Trocknen erhitzte noch mit Dampf erfüllte Flasche zufällig mit der Mündung ins Wasser taucht, und nun dieses heftig in die Flasche hineinstürzend sich erhebt, dann liegt wohl der Gedanke recht nahe, auf diesen Vorgang eine bequeme vorteilhafte Dampfsaugpumpe zu gründen, welche sich in psychologisch möglichen, ja naheliegenden unscheinbaren kleinen Schritten allmählich in die Wattsche Dampfmaschine umwandelt.
Wenn nun auch dem Menschen die wichtigsten Erfindungen in von ihm unbeabsichtigter Weise durch den Zufall recht nahe gelegt werden, so kann doch der Zufall allein keine Erfindung zu stande bringen. Der Mensch verhält sich hierbei keineswegs untätig. Auch der erste Töpfer im Urwald muß etwas von einem Genius in sich fühlen. Er muß die neue Tatsache beachten, die für ihn vorteilhafte Seite derselben erschauen und erkennen, und verstehen, dieselbe als Mittel zu seinem Zweck zu verwenden. Er muß das Neue unterscheiden, seinem Gedächtnis einfügen, mit seinem übrigen Denken verbinden und verweben. Kurz er muß die Fähigkeit haben, Erfahrungen zu machen.
Man könnte die Fähigkeit, Erfahrungen zu machen, geradezu als das Maß der Intelligenz ansehen. Dieselbe ist beträchtlich verschieden bei Menschen desselben Stammes und wächst gewaltig, wenn wir, bei den niederen Tieren beginnend, dem Menschen uns nähern. Erstere sind fast ganz auf ihre mit der Organisation ererbten Reflextätigkeiten angewiesen, individueller Erfahrungen fast ganz unfähig, und bei ihren einfachen Lebensbedingungen derselben auch kaum bedürftig. Die Reusenschnecke nähert sich immer wieder der fleischfressenden Aktinie, so oft sie auch mit Nesselfäden beworfen zusammenzuckt, als ob sie keinGedächtnis für den Schmerz hätte. Möbius, Naturwiss. Verein f. Schleswig-Holstein. Kiel 1873. S. 113 ff. Dieselbe Spinne läßt sich wiederholt durch Berührung des Netzes mit der schwingenden Stimmgabel hervorlocken; die Motte fliegt wieder der Flamme zu, an welcher sie sich schon verbrannt hat; der Taubenschwanz stößt unzähligemal gegen die gemalten Rosen der Tapetenwand, Die Beobachtung über den Taubenschwanz verdanke ich Herrn Prof. Hatschek. ähnlich dem bedauerlichen verzweifelten Denker, der dasselbe unlösbare Scheinproblem immer wieder in derselben Weise angreift. Fast so planlos wie Maxwellsche Gasmoleküle und fast ebenso unvernünftig kommen die Fliegen angeflogen, und bleiben, dem Lichten und Freien zustrebend, an der Glastafel des halb geöffneten Fensters gefangen, indem sie den Weg um den schmalen Rahmen herum nicht zu finden vermögen. Der Hecht aber, der im Aquarium von Ellritzen durch eine Glastafel getrennt ist, merkt doch schon nach einigen Monaten, nachdem er sich halb zu Tode gestoßen, daß er diese Fische nicht ungestraft angreifen darf. Er läßt sie nunmehr auch nach Entfernung der Scheidewand in Ruhe, verschlingt aber sofort jeden fremden neu eingebrachten Fisch. Schon den Zugvögeln müssen wir ein bedeutendes Gedächtnis zuschreiben, welches wahrscheinlich wegen Wegfalls störender Gedanken so präcis wirkt wie jenes mancher Cretins. Allgemein bekannt ist aber die Abrichtungsfähigkeit der höheren Wirbeltiere, in welcher sich deren Fähigkeit, Erfahrungen zu machen, deutlich ausspricht.
Ein stark entwickeltes mechanisches Gedächtnis, welches dagewesene Situationen lebhaft und treu wiederholend ins Bewußtsein zurückruft, wird genügen, eine bestimmte besondere Gefahr zu vermeiden, eine bestimmte besondere günstige Gelegenheit zu benützen. Zur Entwicklung einer Erfindung wird dasselbe nicht ausreichen. Hierzu gehören längere Vorstellungsreihen, die Erregung verschiedener Vorstellungsreihen durcheinander, ein stärkerer, vielfacher mannigfaltiger Zusammenhang des gesamten Gedächtnisinhaltes, ein durch den Gebrauch gesteigertes mächtigeres und empfindlicheres psychisches Leben. Der Mensch kommt an einen unüberschreitbaren Gießbach, der ihm ein schweres Hemmnis ist. Er erinnert sich, daß er einen solchen auf einem umgestürzten Baum schon überschritten hat. In der Nähe sind Bäume. Umgestürzte Bäume hat er schon bewegt. Er hat auch Bäume schon gefällt, und sie waren dann beweglich. Zur Fällung hat er scharfe Steine benutzt. Er sucht einen solchen Stein, und indem er die in Erinnerung gekommenen Situationen, welche sämtlich durch das eine starke Interesse der Überschreitung des Gießbaches lebendig gehalten werden, in umgekehrter Ordnung herbeiführt, erfindet er die Brücke.
Daß die höheren Wirbeltiere in bescheidenem Maße ihr Verhalten den Umständen anpassen, ist nicht zweifelhaft. Wenn sie keinen merklichen Fortschritt durch Aufsammlung von Erfindungen zeigen, so erklärt sich dies hinreichend durch einen Grad- oder Intensitätsunterschied ihrer Intelligenz dem Menschen gegenüber; die Annahme eines Artunterschiedes ist Newtons Forschungsprinzip gemäß unnötig. Wer nur einen minimalen Betrag täglich erspart, hat demjenigen gegenüber einen unabsehbaren Vorteil, der denselben Betrag täglich verliert, oder auch den gewonnenen nur nicht dauernd zu erhalten vermag. Ein kleiner quantitativer Unterschied erklärt hier einen gewaltigen Unterschied des Aufschwungs.
Dasselbe, was für die vorhistorische Zeit gilt, gilt auch für die historische, und was von der Erfindung gesagt wurde, läßt sich fast wörtlich in Bezug auf die Entdeckung wiederholen; denn beide unterscheiden sich nur durch den Gebrauch, der von einer neuen Erkenntnis gemacht wird. Immer handelt es sich um den neu erschauten Zusammenhang neuer oder schon bekannter sinnlicher oder begrifflicher Eigenschaften. Es findet sich z. B., daß ein Stoff, der eine chemische Reaktion A gibt, auch eine Reaktion B auslöst; dient dieser Fund lediglich zur Förderung der Einsicht, zur Erlösung von einer intellektuellen Unbehaglichkeit, so liegt eine Entdeckung vor, eine Erfindung hingegen, wenn wir den Stoff von der Reaktion A benützen, um die gewünschte Reaktion B zu praktischen Zwecken herbeizuführen, zur Befreiung von einer materiellen Unbehaglichkeit. Der Ausdruck »Neuauffindung des Zusammenhanges von Reaktionen« ist umfassend genug, um Entdeckungen und Erfindungen auf allen Gebieten zu charakterisieren. Derselbe umfaßt den Pythagoreischen Satz, welcher die Verbindung einer geometrischen mit einer arithmetischen Reaktion enthält, die Newtonsche Entdeckung des Zusammenhanges der Keplerschen Bewegung mit dem verkehrt quadratischen Gesetz ebenso gut, wie das Auffinden einer kleinen Konstruktionsänderung an einem Werkzeug oder einer zweckdienlichen Manipulationsänderung in der Färberei.
Die Erschließung neuer, bislang unbekannter Tatsachengebiete kann nur durch zufällige Umstände herbeigeführt werden, unter welchen eben die gewöhnlich unbemerkten Tatsachen merklichwerden. Die Leistung des Entdeckers liegt hier in der scharfen Aufmerksamkeit, welche das Ungewöhnliche des Vorkommnisses und der bedingenden Umstände schon in den Spuren wahrnimmt, Vgl. Hoppe, Entdecken und Finden. 1870. und die Wege erkennt, auf welchen man zur vollen Beobachtung gelangt.
Hierher gehören die ersten Wahrnehmungen über die elektrischen und magnetischen Erscheinungen, die Interferenzbeobachtung Grimaldis, Aragos Bemerkung der stärkern Dämpfung der in einer Kupferhülse schwingenden Magnetnadel gegenüber jener in einer Pappschachtel, Foucaults Beobachtung der stabilen Schwingungsebene eines auf der Drehbank rotierenden zufällig angestoßenen Stabes, Mayers Beachtung der Röte des venösen Blutes in den Tropen, Kirchhoffs Beobachtung der Verstärkung der D-Linie des Sonnenspektrums durch eine vorgesetzte Kochsalzlampe, Schönbeins Entdeckung des Ozons durch den Phosphorgeruch beim Durchschlagen von elektrischen Funken durch die Luft u. a. m. Alle diese Tatsachen, von welchen viele gewiß oft gesehen wurden, bevor man sie beachtete, sind Beispiele der Einleitung folgenschwerer Entdeckungen durch zufällige Umstände, und setzen zugleich die Bedeutung der gespannten Aufmerksamkeit in ein helles Licht.
Aber nicht nur bei Einleitung, sondern auch bei Fortführung einer Untersuchung können ohne die Absicht des Forschers mitwirkende Umstände sehr einflußreich werden. Dufay erkennt so die Existens zweier elektrischer Zustände, während er das Verhalten des einen von ihm vorausgesetzten verfolgt. Fresnel findet durch Zufall, daß die auf einem matten Glas abgefaßten Interferenzstreifen weit besser in der freien Luft zu sehen sind. Die Beugungserscheinung zweier Spalten fällt beträchtlich anders aus als Fraunhofer erwartet, und er wird in Verfolgung dieses Umstandes zur Entdeckung der wichtigen Gitterspektren geführt. Die Faradaysche Induktionserscheinung weicht wesentlich ab von der Ausgangsvorstellung, die seine Versuche veranlaßt hat, und gerade diese Abweichung stellt die eigentliche Entdeckung vor.
Jeder hat schon über irgend etwas nachgedacht. Jeder kann diese großen Beispiele durch kleinere selbsterlebte vermehren. Ich will statt vieler nur eines anführen. Zufällig einmal beim Durchfahren einer Eisenbahnkurve bemerkte ich die bedeutende scheinbare Schiefstellung der Häuser und Bäume. Dies belehrte mich, daß die Richtung der totalen physikalischen Massenbeschleunigung physiologisch als Vertikale reagiert. Indem ich zunächst nur dies in einem großen Rotationsapparat genauer erproben wollte, führten mich die Nebenerscheinungen auf die Empfindung der Winkelbeschleunigung, den Drehschwindel, die Flourensschen Versuche der Durchschneidung der Bogengänge u. a., woraus sich allmählich die alsbald auch von Breuer und Brown vertretenen Vorstellungen über Orientierungsempfindungen ergaben, die, erst so vielfach bestritten, jetzt so vielfach als richtig anerkannt werden, und welche noch in letzter Zeit durch Breuers Untersuchungen über die »macula acustica« und Kreidls Versuche mit magnetisch orientierbaren Krebsen in so interessanter Weise bereichert worden sind. Nicht Mißachtung des Zufalls, sondern zweckmäßige und zielbewußte Benützung desselben wird der Forschung förderlich sein.
Je stärker der psychische Zusammenhang der gesamten Erinnerungsbilder je nach Individuum und Stimmung, desto fruchtbringender kann dieselbe zufällige Beobachtung werden. Galilei kennt das Gewicht der Luft, er kennt auch die »Resistenz des Vacuums«, sowohl in Gewicht als auch in der Höhe einer Wassersäule ausgedrückt. Allein diese Gedanken bleiben in seinem Kopfe nebeneinander. Erst Torricelli variiert das spezifische Gewicht der druckmessenden Flüssigkeit, und dadurch erst tritt die Luft selbst in die Reihe der drückenden Flüssigkeiten ein. Die Umkehrung der Spektrallinien ist vor Kirchhoff wiederholt gesehen und auch mechanisch erklärt worden. Die Spur des Zusammenhanges mit Wärmefragen hat aber nur sein feiner Geist bemerkt, und ihm allein enthüllt sich in ausdauernder Arbeit die weitreichende Bedeutung der Tatsache für das bewegliche Gleichgewicht der Wärme. Nächst dem schon vorhandenen vielfachen organischen Zusammenhang des gesamten Gedächtnisinhaltes, welcher den Forscher kennzeichnet, wird es vor allem das starke Interesse für ein bestimmtes Ziel, für eine Idee sein, welche die noch nicht geknüpften günstigen Gedankenverbindungen schlägt, indem jene Idee bei allem sich hervordrängt, was tagsüber gesehen und gedacht wird, zu allem in Beziehung tritt. So findet Bradley, lebhaft mit der Aberration beschäftigt, deren Erklärung durch ein ganz unscheinbares Erlebnis beim Übersetzen der Themse. Wir dürfen also wohl fragen, ob der Zufall dem Forscher, oder der Forscher dem Zufall zu Erfolg verhilft?
Niemand denke daran, ein größeres Problem zu lösen, von dem er nicht so ganz erfüllt ist, daß alles andere für ihn Nebensache wird. Bei einer flüchtigen Begegnung Mayers mit Jolly zu Heidelberg äußert letzterer zweifelnd, daß ja das Wasser durch Schütteln sich erwärmen müßte, wenn Mayers Ansicht richtig wäre. Mayer entfernt sich ohne ein Wort zu sagen. Nach mehreren Wochen tritt er, von Jolly nicht mehr erkannt, bei diesem ein mit den Worten: »Es ischt aso!« Erst durch einige Wechselreden erfährt Jolly, was Mayer sagen will. Der Vorfall bedarf keiner weiteren Erläuterung. Nach einer mündlichen, brieflich wiederholten Mitteilung Jollys.
Auch wer von sinnlichen Eindrücken abgeschlossen nur seinen Gedanken nachhängt, kann einer Vorstellung begegnen, welche sein ganzes Denken in neue Bahnen leitet. Ein psychischer Zufall war es dann, ein Gedankenerlebnis im Gegensatz zum physischen, dem er diese sozusagen am Nachbild der Welt auf deduktivem Wege gemachte Entdeckung, anstatt einer experimenteilen, verdankt. Eine rein experimentelle Forschung gibt es übrigens nicht, denn wir experimentieren, wie Gauss sagt, eigentlich immer mit unsern Gedanken. Und gerade der stetige, berichtigende Wechsel, die innige Berührung von Experiment und Deduktion, wie sie Galilei in den Dialogen, Newton in der Optik pflegt und übt, begründet die glückliche Fruchtbarkeit der modernen Naturforschung gegenüber der antiken, in welcher feine Beobachtung und starkes Denken zuweilen fast wie zwei Fremde nebeneinander herschreiten.
Den Eintritt eines günstigen physischen Zufalls müssen wir abwarten. Der Verlauf unserer Gedanken unterliegt dem Associationsgesetz. Bei sehr armer Erfahrung würde dieses nur eine einfache Reproduktion bestimmter sinnlicher Erlebnisse zur Folge haben. Ist aber durch reiche Erfahrung das psychische Leben stark und vielseitig in Anspruch genommen worden, so ist jedes Vorstellungselement mit so vielen andern so verknüpft, daß der wirkliche Verlauf der Gedanken durch ganz geringe zufällig ausschlaggebende, oft kaum bemerkte Nebenumstände beeinflußt und bestimmt wird. Nun kann der Prozeß, den wir als Phantasie bezeichnen, seine vielgestaltigen Gebilde von endloser Mannigfaltigkeit zu Tage fördern. Was können wir aber tun, um diesen Prozeß zu leiten, da wir doch das Verknüpfungsgesetz, der Vorstellungen nicht in der Hand haben? Fragen wir lieber: Welchen Einfluß kann eine starke, immer wiederkehrende Vorstellung auf den Verlauf der übrigen nehmen? Die Antwort liegt nach dem Vorigen schon in der Frage. Die Idee beherrscht eben das Denken des Forschers, nicht umgekehrt.
Versuchen wir nun, in den Vorgang der Entdeckung noch etwas nähern Einblick zu gewinnen. Der Zustand des Entdeckers ist, wie W. James treffend bemerkt, nicht unähnlich der Situation desjenigen, der sich auf etwas Vergessenes zu besinnen sucht. Beide fühlen eine Lücke, kennen aber nur ungefähr die Natur des Vermißten. Treffe ich z. B. in Gesellschaft einen wohlbekannten freundlichen Mann, dessen Namen mir entfallen, der aber die schreckliche Forderung ausspricht, ihn irgendwo vorzustellen, so suche ich nach Lichtenbergs Anweisung im Alphabet zuerst den Anfangsbuchstaben des Namens. Eine eigentümliche Sympathie hält mich beim G fest. Probeweise füge ich den nächsten Buchstaben hinzu, und bleibe beim e. Bevor ich den dritten Buchstaben r noch wirklich versucht habe, tönt schon der Name »Gerson« voll in mein Ohr, und ich bin von meiner Pein befreit. – Bei einem Ausgang hatte ich eine Begegnung und erhielt eine Mitteilung. Zu Hause angelangt hatte ich über Wichtigerem alles vergessen. Mißmutig und vergebens sinne ich hin und her. Endlich merke ich, daß ich in Gedanken meinen Weg nochmals gehe. An der betreffenden Straßenecke steht der Mann wieder vor mir, und wiederholt seine Mitteilung. Hier treten also nach und nach alle Vorstellungen ins Bewußtsein, welche mit der vermißten verbunden sein können, und ziehen schließlich diese selbst ans Licht. Besonders in dem ersten Fall ist – wenn die Erfahrung einmal gemacht ist, und als bleibender methodischer Gewinn dem Denken sich eingeprägt hat – ein systematisches Verfahren leicht ausführbar, da man schon weiß, daß ein Name aus einer gegebenen begrenzten Zahl von Lauten bestehen muß. Zugleich sieht man aber, daß doch die Kombinationsarbeit ins Ungeheure wachsen würde, wenn der Name etwas länger, und die Stimmung für denselben nur mehr schwach wäre.
Nicht ohne Grund pflegt man zu sagen, der Forscher habe ein Rätsel gelöst. Jede geometrische Konstruktionsaufgabe läßt sich in die Rätselform kleiden: »Was ist das für ein Ding M, welches die Eigenschaften A, B, C hat?« »Was ist das für ein Kreis, der die Geraden A, B und letztere in einem Punkt C berührt?« Die beiden ersten Bedingungen führen unserer Phantasie die Schar der Kreise vor, deren Mittelpunkte in den Symmetralen von A, B liegen. Die dritte Bedingung erinnert uns an die Kreise mit den Mittelpunkten in der durch C auf B errichteten Senkrechten. Das gemeinsame Glied oder die gemeinsamen Glieder dieser Vorstellungsreihen lösen das Rätsel, erfüllen die Aufgabe. Ein beliebiges Sach- oder Worträtsel leitet einen ähnlichen Prozeß ein, nur wird die Erinnerung in vielen Richtungen in Anspruch genommen, und reichere, weniger klar geordnete Gebiete von Vorstellungen sind zu überschauen. Der Unterschied zwischen der Situation des konstruierenden Geometers und jener des Technikers oder Naturforschers, welcher vor einem Problem steht, ist nur der, daß ersterer sich auf einem vollkommen bekannten Gebiet bewegt, während letztere sich mit diesem weit über das gewöhnliche Maß hinaus erst näher vertraut machen müssen. Der Techniker verfolgt hierbei mit gegebenen Mitteln wenigstens noch ein bestimmtes Ziel, während selbst letzteres dem Naturforscher zuweilen nur in allgemeinen Umrissen vorschweben kann. Oft hat er sogar das Rätsel erst zu formulieren. Oft ergibt sich erst mit der Erreichung des Ziels die vollständigere Übersicht, welche ein systematisches Vorgehen ermöglicht hätte. Hier bleibt also dem Glück und Instinkt viel mehr überlassen.
Unwesentlich ist es für den bezeichneten Prozeß, ob derselbe in einem Kopfe rasch abläuft, oder im Laufe der Jahrhunderte durch eine lange Reihe von Denkerleben sich fortspinnt. Wie das ein Rätsel lösende Wort zu diesem, verhält sich die heutige Vorstellung vom Licht zu den von Grimaldi, Römer, Huygens, Newton, Young, Malus und Fresnel gefundenen Tatsachen, und erst mit Hilfe dieser allmählich entwickelten Vorstellung vermögen wir das große Gebiet besser zu durchblicken.
Zu den Aufklärungen, welche Kulturforschung und vergleichende Psychologie uns liefern, bilden die Mitteilungen großer Forscher und Künstler eine willkommene Ergänzung. Forscher und Künstler dürfen wir sagen, denn Johannes Müller und Liebig haben es mutig ausgesprochen, daß ein tiefgehender Unterschied zwischen dem Wirken beider nicht besteht. Sollen wir Leonardo da Vinci für einen Forscher oder für einen Künstler halten? Baut der Künstler aus wenigen Motiven sein Werk auf, so hat der Forscher die Motive zu erschauen, welche die Wirklichkeit durchdringen. Ist ein Forscher wie Lagrange oder Fourier gewissermaßen Künstler in der Darstellung seiner Ergebnisse, so ist ein Künstler wie Shakespeare oder Ruysdael Forscher in dem Schauen, welches seinem Schaffen vorhergehen muß.
Newton, über seine Arbeitsmethode befragt, wußte nichts zu sagen, als daß er oft und oft über dieselbe Sache nachgedacht habe; ähnlich äußern sich D'Alembert, Helmholtz u. a. – Forscher und Künstler empfehlen die ausdauernde Arbeit. Wenn nun bei diesem wiederholten Überschauen eines Gebietes, welches dem günstigen Zufall Gelegenheit schafft, alles zur Stimmung oder herrschenden Idee Passende lebhafter geworden, alles Unpassende allmählich so in den Schatten gedrängt worden ist, daß es sich nicht mehr hervorwagt, dann kann unter den Gebilden, welche die frei sich selbst überlassene hallucinatorische Phantasie in reichem Strome hervorzaubert, plötzlich einmal dasjenige hell aufleuchten, welches der herrschenden Idee, Stimmung oder Absicht vollkommen entspricht. Die Rolle des Zufalls bei der künstlerischen Erfindung behandelt in vorzüglicher Weise P. Souriau, Theorie de l'Invention, Paris, 1831–1902. Es gewinnt dann den Anschein, als ob dasjenige Ergebnis eines Schöpfungsaktes wäre, was sich in Wirklichkeit langsam durch eine allmähliche Auslese ergeben hat. So ist es wohl zu verstehen, wenn Newton, Mozart, R. Wagner sagen, Gedanken, Melodien, Harmonien seien ihnen zugeströmt, und sie hätten einfach das Richtige behalten. Auch das Genie geht gewiß, bewußt oder instinktiv, überall systematisch vor, wo dies ausführbar ist; aber dasselbe wird in feinem Vorgefühl manche Arbeit gar nicht beginnen, oder nach flüchtigem Versuch aufgeben, mit welcher der Unbegabte fruchtlos sich abmüht. So bringt dasselbe in mäßiger Zeit zu stande, wofür das Leben des gewöhnlichen Menschen weitaus nicht reichen würde. Ich weiß nicht, ob Swifts Akademie der Projektenmacher in Lagado, in welcher durch eine Art Würfelspiel mit Worten große Entdeckungen und Erfindungen gemacht werden, eine Satire sein soll auf Francis Bacons Methode, mit Hilfe von (durch Schreiber angelegten) Übersichtstabellen Entdeckungen zu machen. Übel angebracht wäre dieselbe nicht. – E. Capitaines Schrift »Das Wesen des Erfindens«, welche im Text nicht mehr berücksichtigt werden konnte, sei hier erwähnt. Die Schrift zeugt von einem aufrichtigen Streben nach Aufklärung und enthält viel Gutes. Allerdings hätte sich der Verfasser durch weitere Umschau überzeugen können, daß es um die Einsicht in den Vorgang des Erfindens und um die Schärfe der wissenschaftlichen Begriffe nicht so schlimm steht, als er annimmt. Die Leistungsfähigkeit systematischer und mechanischer Proceduren als Hilfsmittel der Erfindung dürfte aber der Verfasser sehr überschätzen.
Wir werden kaum fehl gehen, wenn wir in dem Genie eine vielleicht nur geringe Abweichung von der mittleren menschlichen Begabung sehen – eine etwas größere Reaktionsempfindlichkeit und Reaktionsgeschwindigkeit des Hirns. Mögen dann derartige Menschen, welche ihrem Triebe folgend einer Idee so große Opfer bringen, statt ihren materiellen Vorteil zu suchen, dem Vollblutphilister immerhin als rechte Narren erscheinen, schwerlich werden wir mit Lombroso das Genie geradezu als eine Krankheit ansehen dürfen, wenn leider auch wahr bleiben wird, daß ein empfindlicheres Hirn, ein gebrechlicheres Gebilde, auch leichter einer Krankheit verfällt.
Was C. G. J. Jacobi von der mathematischen Wissenschaft sagt, daß dieselbe langsam wächst, und nur spät auf vielen Irrwegen und Umwegen zur Wahrheit gelangt, daß alles wohl vorbereitet sein muß, damit endlich zur bestimmten Zeit die neue Wahrheit wie durch eine göttliche Notwendigkeit getrieben hervortritt Crescunt disciplinae lente tardeque; per varios errores sero pervenitur ad veritatem. Omnia praeparata esse debent diuturno et assiduo labore ad introitum veritatis novae. Jam illa certo temporis momento divina quadam necessitate coacta emerget.« Citiert bei Simony, »In ein ringförmiges Band einen Knoten zu machen.« Wien 1881. S. 41. – alles das gilt von jeder Wissenschaft. Wir staunen oft, wie zuweilen durch ein Jahrhundert die bedeutendsten Denker zusammenwirken müssen, um eine Einsicht zu gewinnen, die wir in wenigen Stunden uns aneignen können, und die, einmal bekannt, unter glücklichen Umständen sehr leicht zu gewinnen scheint. Gedemütigt lernen wir daraus, wie selbst der bedeutende Mensch mehr für das tägliche Leben als für die Forschung geschaffen ist. Wie viel auch er dem Zufall dankt, d. h. gerade jenem eigentümlichen Zusammentreffen des physischen und psychischen Lebens, in welchem eben die stets fortschreitende, unvollkommene, unvollendbare Anpassung des letztern an ersteres deutlich zum Ausdruck kommt, das haben wir heute betrachtet. Jacobis poetischer Gedanke von einer in der Wissenschaft wirkenden göttlichen Notwendigkeit wird für uns nichts an Erhabenheit verlieren, wenn wir in dieser Notwendigkeit dieselbe erkennen, die alles Unhaltbare zerstört und alles Lebensfähige fördert. Denn größer, erhabener und auch poetischer als alle Dichtung ist die Wirklichkeit und die Wahrheit.