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Vortrag gehalten zu Graz i. J. 1866.
Wozu hat der Mensch zwei Augen?
Damit die schöne Symmetrie des Gesichtes nicht gestört werde, könnte vielleicht der Künstler antworten. Damit das zweite Auge einen Ersatz biete, wenn das erste verloren geht, sagt der vorsichtige Ökonom. Damit wir mit zwei Augen weinen können über die Sünden der Welt, meint der Frömmler. Das klingt eigentümlich. Sollten Sie aber mit dieser Frage gar an einen modernen Naturforscher geraten, so können Sie von Glück sagen, wenn Sie mit dem bloßen Schreck davon kommen. Entschuldigen Sie, mein Fräulein! spricht der mit strenger Miene, der Mensch hat seine Augen zu gar nichts; die Natur ist keine Person und daher auch nicht so ordinär, irgend welche Zwecke zu verfolgen. Das ist noch nichts! Ich kannte einen Professor, der hielt seinen Schülern vor Entsetzen das Maul zu, wenn sie eine so unwissenschaftliche Frage stellen wollten.
Fragen Sie nun noch einen Toleranten, fragen Sie mich. Ich weiß eigentlich nicht genau, wozu der Mensch zwei Augen hat, ich glaube aber zum Teil auch dazu, daß ich Sie heute hier versammelt sehen, und mit Ihnen über dieses hübsche Thema sprechen kann.
Sie lächeln schon wieder ungläubig. Nun es ist dies schon eine jener Fragen, die hundert Weise zusammen nicht vollkommen zu beantworten vermögen. In der Tat, Sie haben bisher nur 5 Weise gehört und wollen gewiß von den übrigen 95 verschont bleiben. Dem ersten werden Sie einwenden, daß wir als Kyklopen einherschreitend uns ebenso hübsch ausnehmen würden; dem zweiten, daß wir nach seinem Prinzip noch besser 4 oder 8 Augen hätten und in dieser Hinsicht entschieden gegen die Spinnen zurückstehen; dem dritten, daß Sie nicht Lust haben zu weinen; dem vierten, daß das bloße Verbieten der Frage Ihre Neugier mehr reizt als befriedigt, und um mich abzutun, sagen Sie, mein Vergnügen sei nicht so hoch anzuschlagen, um das Doppelauge bei allen Menschen seit dem Sündenfalle zu rechtfertigen. Weil Sie aber auch mit meiner kurzen und einleuchtenden Antwort nicht zufrieden sind, haben Sie sich die Folgen selbst zuzuschreiben. Sie müssen nun eine längere und gründlichere hören, so gut ich sie eben geben kann.
Da nun aber die naturwissenschaftliche Kirche einmal die Frage nach dem Wozu verbietet, so wollen wir, um ganz orthodox zu sein, so fragen: Der Mensch hat einmal zwei Augen; was kann er mit zwei Augen mehr sehen als mit einem?
Erlauben Sie, daß ich Sie ein wenig spazieren führe! Wir befinden uns in einem Walde. Was ist es wohl, was den wirklichen Wald so vorteilhaft von einem noch so trefflich gemalten Walde unterscheidet, was ihn so viel reizender erscheinen läßt? Ist es die Lebendigkeit der Farben, die Licht- und Schattenverteilung? Ich glaube nicht. Es scheint mir im Gegenteil, als ob darin die Malerei sehr viel zu leisten vermöchte.
Die geschickte Hand des Malers kann uns mit einigen Pinselstrichen sehr plastische Gestalten vortäuschen. Noch mehr erreicht man mit Hilfe anderer Mittel. Photographien nach Reliefs sind so plastisch, daß man meint, die Erhöhungen und Vertiefungen greifen zu können. Eins aber vermag der Maler nie mit der Lebendigkeit zu geben wie die Natur, – den Unterschied von nah und fern. Im wirklichen Walde sehen Sie deutlich, daß Sie einige Baumstämme greifen können, daß andere unerreichbar weit sind.
Das Bild des Malers ist starr. Das Bild des wirklichen Waldes ändert sich, wenn Sie die geringste Bewegung ausführen. Jetzt verbirgt sich ein Zweig hinter dem andern. Jetzt tritt ein Baumstamm hervor, der durch den andern verdeckt war.
Betrachten wir diesen Umstand etwas genauer. Wir bleiben zur Bequemlichkeit der Damen auf der Straße I, II. Rechts und links ist der Wald. Wenn wir bei I stehen, sehen wir etwa 3 Bäume (1, 2, 3) in einer Richtung, sodaß der fernere immer durch den nähern gedeckt wird. So wie wir fortschreiten, ändert sich dies. Wir müssen von II aus nach dem fernsten Baume 3 nicht soweit umblicken als nach dem nähern 2, und nach diesem wieder weniger als nach 1. Es scheinen also beim Fortschreiten die nähern Gegenstände gegen die fernern zurückzubleiben, und zwar desto mehr, je näher sie sind. Sehr ferne Gegenstände, gegen welche man beim Fortgehen lange in fast derselben Richtung hinsehen muß, werden mitzugehen scheinen. So begleitet der Mond den Eisenbahnzug, welcher die Landschaft durchrast.
Wenn wir nun irgendwo hinter einem Hügel zwei Baumwipfel hervorragen sehen, über deren Entfernung von uns wir im Unklaren sind, so können wir sehr leicht darüber entscheiden. Wir gehen nur einige Schritte, etwa nach rechts, und welcher Wipfel nun mehr nach links zurückweicht, der ist der nähere. Ja, der Geometer könnte sogar aus der Größe des Zurückweichens die Entfernung bestimmen, ohne jemals zu den Bäumen hinzugelangen. Nichts anderes als die wissenschaftliche Ausbildung unserer Bemerkung ist es, welche das Messen der Entfernungen der Gestirne ermöglicht.
Also aus der Veränderung des Anblickes beim Fortschreiten kann man die Entfernung der Gegenstände im Gesichtsfeld bemessen.
Streng genommen haben wir aber das Fortschreiten gar nicht nötig. Denn jeder Beobachter besteht eigentlich aus zwei Beobachtern. Der Mensch hat zwei Augen. Das rechte ist dem linken um einen kleinen Schritt nach rechts voraus. Beide Augen werden also verschiedene Bilder desselben Waldes erhalten. Das rechte Auge wird die nähern Bäume nach links verschoben sehen, und zwar desto mehr, je näher sie sind. Diese Verschiedenheit genügt, um die Entfernungen zu beurteilen.
In der Tat können Sie sich von folgenden Tatsachen leicht überzeugen:
1. Sie haben mit einem Auge (wenn Sie das andere schließen) ein sehr unsicheres Urteil über die Entfernung. Es gelingt Ihnen z. B. schwer, einen Stab durch einen vorgehaltenen Ring zu stecken, meist fahren Sie vor oder hinter demselben vorbei.
2. Sie sehen mit dem rechten Auge denselben Gegenstand anders als mit dem linken.
Stellen Sie einen Lampenschirm gerade vor sich auf den Tisch, mit der breitern Seite nach unten, und betrachten Sie ihn von oben. Sie sehen mit dem rechten Auge das Bild 2, mit dem linken das Bild 1. – Stellen Sie hingegen den Schirm mit der weitern Öffnung nach oben, so erhält das rechte Auge das Bild 4, das linke das Bild 3. Schon Euklides führt solche Bemerkungen an.
3. Endlich wissen Sie, daß mit beiden Augen die Entfernung leicht zu erkennen ist. Dies Erkennen muß also wohl aus der Zusammenwirkung der beiden Augen hervorgehen. In dem obigen Beispiele erscheinen uns die Öffnungen in den Bildern beider Augen gegen einander verschoben, und diese Verschiebung genügt, um die eine Öffnung für näher zu halten als die andere.
Ich zweifle nicht daran, meine Damen, daß Sie schon sehr viele und feine Komplimente über Ihre Augen gehört haben, aber das hat Ihnen gewiß noch niemand gesagt, – ich weiß auch nicht, ob es Ihnen schmeicheln wird – Sie haben in Ihren Augen, einerlei ob schwarz oder blau – kleine Geometer!
Sie wissen nichts davon? Ja, ich weiß eigentlich auch nichts. Aber es kann doch nicht gut anders sein. Sie verstehen doch nicht viel von Geometrie? Ja, das geben Sie zu. Und mit Hilfe Ihrer beiden Augen messen Sie die Entfernungen? Das ist doch eine geometrische Aufgabe. Und die Auflösung dieser Aufgabe kennen Sie doch, denn Sie schätzen ja die Entfernungen. Wenn aber Sie die Aufgabe nicht lösen, so müssen das die kleinen Geometer in Ihren Augen heimlich tun, und Ihnen die Auflösung zuflüstern. Ich zweifle also nicht, daß es sehr flinke Kerlchen sind!
Was mich dabei wundert, bleibt nur, daß Sie von den Geometern nichts wissen. Vielleicht wissen aber auch die von Ihnen nichts. Vielleicht sind es so recht pünktliche Beamte, die sich um nichts kümmern als um ihr Bureau. Dann könnten wir aber die Herren ein wenig aufs Eis führen.
Bieten wir dem rechten Auge ein Bild, welches ganz so aussieht wie der Lampenschirm für das rechte Auge, und dem linken Auge ein Bild, welches aussieht wie der Lampenschirm für das linke Auge, so meinen wir in der Tat, den Lampenschirm körperlich vor uns zu sehen.
Sie kennen den Versuch! Wer Übung im Schielen hat, kann ihn gleich an der Figur anstellen, mit dem rechten Auge das rechte Bild, mit dem linken das linke Bild betrachten. In dieser Weise wurde das Experiment zuerst von Elliot 1834 ausgeführt. Eine Vervollkommnung desselben ist das von Wheatstone 1838 angegebene und von Brewster zu einem so populären und nützlichen Apparat umgestaltete Stereoskop. Brewster, The Stereoscope. London 1856. S. 18, 19, 56, 57.
Man kann sich durch das Stereoskop mit Hilfe der Photographie, indem man zwei Bilder desselben Gegenstandes von zwei verschiedenen Punkten (den beiden Augen entsprechend) aufnimmt, eine sehr klare räumliche Anschauung ferner Gegenden oder Gebäude verschaffen.
Das Stereoskop bietet aber noch mehr. Es kann Dinge zur Anschauung bringen, die man mit gleicher Klarheit an wirklichen Gegenständen nie sieht. Sie wissen, daß, wenn Sie beim Photographen nicht die gehörige Ruhe beobachten, Ihr Bildnis gleich einer indischen Gottheit mit mehreren Köpfen oder Armen ausgestattet erscheint, welche an jenen Stellen, wo sie sich überdecken, zuweilen beide mit gleicher Deutlichkeit erscheinen, so daß man das eine Bild durch das andere hindurch sieht. Wenn eine Person noch vor der Beendigung der Aufnahme sich rasch entfernt, so erscheinen sofort auch die Gegenstände hinter derselben auf dem Bilde; die Person wird durchsichtig. Hierauf beruhen die photographischen Geistererscheinungen.
Man kann nun von dieser Bemerkung sehr nützliche Anwendungen machen. Wenn man eine Maschine z. B. stereoskopisch photographiert und während der Operation einen Teil nach dem andern entfernt (wobei natürlich die Aufnahme Unterbrechungen erleiden muß), so erhält man eine körperliche Durchsicht, in welcher auch das Ineinandergreifen sonst verdeckter Teile deutlich zur Anschauung kommt. Vgl. Artikel IX.
Sie sehen, die Photographie macht riesige Fortschritte, und es ist große Gefahr, daß demnächst ein tückischer Photograph seine arglose Kundschaft in der Durchsicht mit allem was das Herz birgt, und mit den geheimsten Gedanken aufnimmt. Welche Ruhe im Staate! Welch' reiche Ausbeute für die löbl. Polizei! Durch die vereinigte Wirkung beider Augen gelangen wir also zur Kenntnis der Entfernungen und demnach auch der Körperformen. Erlauben Sie, daß ich noch andere hierher gehörige Erfahrungen bespreche, welche uns zum Verständnis gewisser Erscheinungen der Kulturgeschichte verhelfen werden.
Sie haben schon oft gehört und selbst bemerkt, daß fernere Gegenstände perspektivisch verkleinert erscheinen. In der Tat überzeugen Sie sich leicht, daß Sie das Bild eines wenige Schritte entfernten Menschen mit dem in geringer Entfernung vor dem Auge gehaltenen Finger verdecken können. Dennoch merken Sie gewöhnlich nichts von dieser Verkleinerung. Sie glauben im Gegenteil den Menschen am Ende des Saales ebenso groß zu sehen, wie in Ihrer unmittelbaren Nähe. Denn das Auge erkennt die Entfernung und schätzt dementsprechend fernere Gegenstände größer. Das Auge weiß sozusagen um die perspektivische Verkleinerung und läßt sich durch dieselbe nicht irre führen, auch wenn sein Besitzer nichts von derselben weiß. Wer versucht hat, nach der Natur zu zeichnen, hat die Schwierigkeit empfunden, welche diese übergroße Fertigkeit des Auges der perspektivischen Auffassung entgegensetzt. Erst wenn die Beurteilung der Entfernung unsicher wird, wenn sie zu groß wird und das Maß abhanden kommt, oder wenn sie sich zu schnell ändert, tritt die Perspektive deutlich hervor.
Wenn Sie auf einem rasch dahin brausenden Eisenbahnzuge plötzlich Aussicht gewinnen, so sehen Sie wohl mitunter die Menschen auf einem Hügel als kleine zierliche Püppchen, weil Ihnen das Maß für die Entfernung fehlt. Die Steine am Eingang des Tunnels werden deutlich größer beim Einfahren, sie schrumpfen sichtlich zusammen beim Ausfahren,
Beide Augen wirken gewöhnlich zusammen. Da nun gewisse Ansichten sich sehr häufig wiederholen und immer zu ganz ähnlichen Entfernungsschätzungen führen, so müssen sich die Augen in der Auslegung eine besondere Fertigkeit erwerben. Diese Fertigkeit Diese Fertigkeit ist durch die individuelle Erfahrung allein nicht erklärbar. Vgl, »Analyse d. Empfindungen.« 3. Aufl. 1902. S. r59 u. ff. wird wohl zuletzt so groß, daß auch schon ein Auge allein sich in der Auslegung versucht.
Erlauben Sie mir, dies durch ein Beispiel zu erläutern. Was kann Ihnen geläufiger sein, als die Fernsicht in eine Gasse? Wer hätte nicht schon erwartungsvoll mit beiden Augen in eine Gasse gesehen und die Tiefe derselben ermessen? Sie kommen nun in die Kunstausstellung und finden ein Bild, die Fernsicht in eine Gasse darstellend; der Künstler hat kein Lineal gespart, um die Perspektive richtig zu machen. Der Geometer in Ihrem linken Auge, der denkt: Ach, den Fall hab' ich ja schon hundertmal gerechnet, den weiß ich ja auswendig. Das ist eine Fernsicht in eine Gasse – spricht er – da, wo die Häuser niedriger werden, ist das fernere Ende. Der Geometer im rechten Auge ist auch zu bequem, um seinen vielleicht mürrischen Kollegen zu fragen, und sagt dasselbe. Doch sofort erwacht wieder das Pflichtgefühl der pünktlichen Beamten, sie rechnen wirklich und finden, daß alle Punkte des Bildes gleich weit, d. h. auf einem Blatt sind.
Was glauben Sie jetzt, die erste oder die zweite Aussage? Glauben Sie die erste, so sehen Sie deutlich eine Fernsicht, glauben Sie die zweite, so sehen Sie nichts als eine mit verzerrten Bildern bemalte Tafel.
Es scheint Ihnen Spaß, ein Bild zu betrachten und seine Perspektive zu verstehen. Und doch sind Jahrtausende vergangen, bevor die Menschheit diesen Spaß erlernt hat, und die meisten von Ihnen haben ihn erst durch die Erziehung erlernt.
Ich weiß mich sehr wohl zu erinnern, daß mir in einem Alter von etwa drei Jahren alle perspektivischen Zeichnungen als Zerrbilder der Gegenstände erschienen. Ich konnte nicht begreifen, warum der Maler den Tisch an der einen Seite so breit, an der andern so schmal dargestellt hat. Der wirkliche Tisch erschien mir ja am ferneren Ende ebenso breit als am nähern, weil mein Auge ohne mein Zutun rechnete. Daß aber das Bild des Tisches auf der Fläche nicht als bemalte Fläche zu sehen sei, sondern nur einen Tisch bedeute und ebenso in die Tiefe ausgelegt werden müsse, war ein Spaß, den ich nicht verstand. Ich tröste mich darüber, denn ganze Völker haben ihn auch nicht verstanden.
Es gibt naive Naturen, welche den Scheinmord auf der Bühne für einen wirklichen Mord, die Scheinhandlung für eine wirkliche Handlung halten, und welche den im Schauspiele Bedrängten entrüstet zu Hilfe eilen wollen. Andere können wieder nicht vergessen, daß die Kulissen nur gemalte Bäume sind, daß Richard III. bloß der Schauspieler M. ist, den sie schon öfter in Gesellschaft gesehen. Beide Fehler sind gleich groß.
Um ein Drama und ein Bild richtig zu betrachten, muß man wissen, daß beide Schein sind und etwas Wirkliches bedeuten. Es gehört dazu ein gewisses Übergewicht des geistigen inneren Lebens über das Sinnenleben, wobei das erstere durch den unmittelbaren Eindruck nicht mehr umgebracht wird. Es gehört dazu eine gewisse Freiheit, sich seinen Standpunkt selbst zu bestimmen, ein gewisser Humor, möchte ich sagen, der dem Kinde und jugendlichen Völkern entschieden fehlt.
Betrachten wir einige historische Tatsachen. Ich will nicht so gründlich sein, bei der Steinzeit zu beginnen, obgleich wir auch aus dieser Zeit Zeichnungen besitzen, die in der Perspektive sehr originell sind.
Wir betreten vielmehr die Grabhallen, und Tempelruinen des alten Ägypten, die mit ihren zahllosen Reliefs und mit ihrer Farbenpracht den Jahrtausenden getrotzt haben. Ein reiches, buntes Leben geht uns hier auf. Wir finden die Ägypter in allen Verhältnissen des Lebens dargestellt. Was uns an diesen Bildern sofort auffällt, ist die Feinheit der technischen Ausführung. Die Konturen sind äußerst zart und scharf. Dagegen finden sich nur wenige grelle Farben ohne Mischung und Übergang. Der Schatten fehlt vollständig. Die Flächen sind gleichmäßig angestrichen.
Schreckenerregend für das moderne Auge ist die Perspektive. Alle Figuren sind gleich groß, mit Ausnahme des Königs, der unverhältnismäßig vergrößert dargestellt wurde. Nahes und Fernes erscheint gleich groß. Eine perspektivische Verkürzung tritt nie ein. Ein Teich mit Wasservögeln wird in der Vertikalebene so dargestellt, als ob seine Wasserfläche wirklich vertikal wäre.
Die menschlichen Figuren sind so abgebildet, wie man sie nie sieht, die Beine von der Seite, das Gesicht im Profil. Die Brust liegt immer der ganzen Breite nach in der Zeichnungsebene. Der Kopf des Rindes erscheint im Profil, während die Hörner doch wieder in der Zeichnungsebene liegen. Das Prinzip, welches die Ägypter befolgten, ließe sich vielleicht am besten aussprechen, wenn man sagte: Die Figuren sind in die Zeichnungsebene gepreßt wie die Pflanzen in einem Herbarium.
Die Sache erklärt sich einfach. Wenn die Ägypter gewohnt waren, mit beiden Augen unbefangen die Dinge zu betrachten, so konnte ihnen die Auslegung eines perspektivischen Bildes in den Raum nicht geläufig sein. Sie sahen alle Arme, Beine an den wirklichen Menschen in der natürlichen Länge. Die in die Ebene gepreßten Figuren waren natürlich den Originalen in ihren Augen ähnlicher als perspektivische.
Man begreift dies noch besser, wenn man bedenkt, daß die Malerei aus dem Relief sich entwickelt hat. Die kleineren Unähnlichkeiten zwischen den gepreßten Figuren und den Originalen mußten nach und nach allerdings zur perspektivischen Zeichnung hindrängen. Physiologisch ist die ägyptische Malerei ebenso berechtigt, als die Zeichnungen unserer Kinder es sind.
Einen kleinen Fortschritt gegen Ägypten bietet schon Assyrien. Die Reliefs, welche aus den Trümmerhügeln von Nimrod bei Mossul gewonnen wurden, sind im ganzen den ägyptischen ähnlich. Sie sind uns vorzugsweise durch den verdienstvollen Layard bekannt geworden.
In eine neue Phase tritt die Malerei bei den Chinesen. Dieselben haben ein entschiedenes Gefühl für Perspektive und für richtige Schattierung, ohne jedoch hierin sehr konsequent zu sein. Sie haben auch hier, wie es scheint, den Anfang gemacht, ohne weit zu kommen. Dem entspricht ihre Sprache, welche, wie jene der Kinder, sich noch nicht bis zur Grammatik entwickelt hat, oder welche vielmehr, nach moderner Auffassung, noch nicht bis zur Grammatik verfallen ist. Dem entspricht ihre Musik, die sich mit einer fünftönigen Leiter begnügt.
Die Wandgemälde zu Herculanum und Pompeji zeichnen sich nächst der Anmut der Zeichnung durch ein ausgesprochenes Gefühl für Perspektive und richtige Beleuchtung aus, doch sind sie durchaus nicht ängstlich in der Konstruktion. Auch hier finden wir Verkürzungen noch vermieden, und die Glieder werden dafür mitunter in eine unnatürliche Stellung gebracht, in welcher sie in ihrer ganzen Länge erscheinen. Häufiger zeigen sich Verkürzungen an bekleideten als an unbekleideten Figuren.
Das Verständnis dieser Erscheinungen ist mir zuerst an einigen einfachen Experimenten aufgegangen, welche lehren, wie verschieden man denselben Gegenstand je nach der willkürlichen Auffassung sehen kann, wenn man einige Herrschaft über seine Sinne gewonnen hat.
Betrachten Sie die nebenstehende Zeichnung. Dieselbe kann ein geknicktes Blatt Papier vorstellen, welches Ihnen die hohle oder die erhabene Seite zukehrt. Sie können in dem einen und in dem andern Sinne die Zeichnung auffassen, und sie wird Ihnen in beiden Fällen verschieden erscheinen. Wenn Sie nun wirklich ein geknicktes Papier vor sich auf den Tisch stellen, mit der scharfen Kante Ihnen zugewandt, so können Sie bei der Betrachtung mit einem Auge das Blatt abwechselnd erhaben sehen, wie es wirklich ist, oder hohl. Dabei tritt nun eine merkwürdige Erscheinung auf. Wenn Sie das Blatt richtig sehen, hat weder die Beleuchtung noch die Form etwas Auffallendes. So wie es umgebrochen erscheint, sehen Sie es perspektivisch verzerrt, das Licht und der Schatten erscheint viel heller, beziehungsweise dunkler, wie dick mit grellen Farben aufgetragen. Licht und Schatten sind nun unmotiviert; sie passen nicht mehr zur Körperform und werden viel auffallender.
Im gewöhnlichen Leben verwenden wir die Perspektive und Beleuchtung der gesehenen Gegenstände, um ihre Form und Lage zu erkennen. Wir bemerken dementsprechend die Lichter, Schatten und Verzerrungen nicht. Sie treten erst mit Macht ins Bewußtsein, wenn wir eine andere als die gewöhnliche räumliche Auslegung anwenden. Wenn man das ebene Bild einer Camera obscura betrachtet, erstaunt man über die Fülle der Lichter und die Tiefe der Schatten, die man beide an den wirklichen Gegenständen kaum bemerkt.
In meiner frühesten Jugend erschienen mir alle Schatten und Lichter auf Bildern als unmotivierte Flecke. Als ich in früher Jugend zu zeichnen begann, hielt ich das Schattieren für eine bloße Manier. Ich porträtierte einmal den Herrn Pfarrer, einen Freund des Hauses, und schraffierte nicht aus Bedürfnis, sondern weil ich es an andern Bildern so gesehen hatte, die Hälfte seines Gesichts ganz schwarz. Darob hatte ich eine harte Kritik von meiner Mutter zu bestehen, und mein tief verletzter Künstlerstolz ist wohl der Grund, daß mir diese Tatsachen so im Gedächtnis geblieben sind.
Sie sehen also, nicht bloß im Leben des Einzelnen auch im Leben der Menschheit, in der Kulturgeschichte, erklärt sich manches aus der einfachen Tatsache, daß der Mensch zwei Augen hat.
Verändern Sie das Auge des Menschen, und Sie verändern seine Weltanschauung. Nachdem wir unsere nähern Verwandten, die Ägypter, Chinesen und Pfahlbauer besucht, sollen auch unsere fernen Verwandten, die Affen und andere Tiere nicht leer ausgehen. Wie ganz anders muß die Natur den Tieren erscheinen, welche mit wesentlich andern Augen versehen sind als der Mensch, etwa den Insekten. Aber dies zur Anschauung zu bringen, darauf muß die Wissenschaft vorläufig verzichten, da wir die Wirkungsweise dieser Organe noch zu wenig kennen. Uns ist es schon ein Rätsel, wie den Menschen verwandteren Tieren die Natur entgegentritt, etwa den Vögeln, welche fast kein Ding mit beiden Augen zugleich sehen, die im Gegenteil, weil die Augen zu beiden Seiten des Kopfes stehen, für jedes ein besonderes Gesichtsfeld haben. Joh. Müller, vergleichende Physiologie des Gesichtssinnes. Leipzig 1826. S. 99 u. ff.
Die Menschenseele ist eingesperrt in ihr Haus, in den Kopf; sie betrachtet sich die Natur durch ihre beiden Fenster, durch die Augen. Sie möchte nun gerne auch wissen, wie sich die Natur durch andere Fenster ansieht. Das scheint unerreichbar. Aber die Liebe zur Natur ist erfinderisch. Auch darin ist schon manches gelungen. Wenn ich einen Winkelspiegel vor mich hinstelle, welcher aus zwei wenig gegen einander geneigten ebenen Spiegeln besteht, so sehe ich mein Gesicht zweimal. Im rechten Spiegel habe ich eine Ansicht von der rechten, im linken Spiegel eine Ansicht von der linken Seite. So sehe ich auch das Gesicht einer vor mir stehenden Person mit dem rechten Auge mehr von rechts, mit dem linken mehr von links. Um aber von einem Gesicht so sehr verschiedene Ansichten zu erhalten wie in dem Winkelspiegel, müßten meine beiden Augen viel, viel weiter von einander entfernt sein, als sie es wirklich sind. Es wird hierbei angenommen, daß der Spiegel mir die hohle Seite zukehrt.Wenn ich nun mit dem rechten Auge auf das Bild im rechten Spiegel, mit dem linken auf das Bild im linken Spiegel schiele, so verhalte ich mich wie ein Riese mit ungeheurem Kopf und weit abstehenden Augen. Dementsprechend ist der Eindruck, den mir mein Gesicht macht. Ich sehe es dann einfach und körperlich. Bei längerer Betrachtung wächst von Sekunde zu Sekunde das Relief, die Augenbrauen treten weit vor die Augen, die Nase scheint zu Schuhlänge anzuwachsen, der Schnurrbart tritt springbrunnartig aus der Lippe hervor, die Zähne erscheinen unerreichbar weit hinter den Lippen. Das Schrecklichste bei der Erscheinung ist die Nase. Ich gedenke auf diesen einfachen Apparat ein Privilegium zu nehmen und ihn der spanischen Regierung zur Verwendung in ihren Bureaux zu empfehlen.
Interessant in dieser Richtung ist das von Helmholtz angegebene Telestereoskop. Man betrachtet eine Gegend, indem man mit dem rechten Auge durch den Spiegel a in den Spiegel A und mit dem linken durch b in den Spiegel B sieht. Die Spiegel A und B stehen weit von einander ab. Man sieht wieder wie mit den weit abstehenden Augen eines Riesen. Alles erscheint verkleinert und genähert. Die fernen Berge sehen aus wie mit Moos bewachsene Steine, die zu Ihren Füßen liegen. Dazwischen finden Sie das verkleinerte Modell einer Stadt, ein wahres Liliput. Sie möchten fast über den zarten Wald und die Stadt mit der Hand hinstreichen, wenn Sie nicht fürchten würden, daß Sie sich an den feinen nadelscharfen Turmspitzen stechen, oder daß dieselben knisternd abbrechen. Liliput ist keine Fabel, man braucht nur Swifts Augen, um dasselbe zu sehen, d. i. das Telestereoskop.
Denken Sie sich den umgekehrten Fall! Wir wären so klein, daß wir in einem Walde von Moos spazieren gehen könnten und unsere Augen wären entsprechend nahe aneinander. Die Moose würden uns baumartig erscheinen. Darauf kröche ungeheures, unförmliches, zuvor nie gesehenes Getier herum. Die Äste der Eiche aber, an deren Fuß der Mooswald liegt, den wir durchwandeln, erscheinen uns als unbewegliche, dunkle, verzweigte Wolken hoch an den Himmel gemalt, sowie etwa die Saturnusbewohner ihren Ring sehen mögen. An den Stämmen des Mooswaldes finden wir mächtige durchsichtige, glänzende Kugeln von einigen Fuß im Durchmesser, die eigentümlich langsam im Winde wogen. Wir nähern uns neugierig und finden, daß diese Kugeln, in denen sich lustig einige Tiere herumtummeln, daß sie flüssig, daß sie Wasser sind. Noch eine unvorsichtige Berührung und – o weh! – schon zieht eine unsichtbare Gewalt meinen Arm mächtig ins Innere der Kugel und hält mich unerbittlich fest! – Da hat einmal der Tautropfen mittelst Kapillarität ein Menschlein aufgesogen, aus Rache dafür, daß der Mensch so viele Tropfen zum Frühstück aufsaugt. Du hättest auch wissen sollen, du kleines Naturforscherlein, daß bei der lumpig kleinen Masse, die du heute hast, mit der Kapillarität nicht zu spaßen ist. Vgl. Artikel X. Der Schreck bei der Sache bringt mich zur Besinnung. Ich merke, daß ich zu idyllisch geworden bin. Sie müssen mir verzeihen! Ein Stück Rasen, Moos- oder Erikawald mit seiner kleinen Bevölkerung hat für mich ungleich mehr Interesse als manches Stück Litteratur mit seiner Vergötterung des Menschlichen. Hätte ich das Talent, Novellen zu schreiben, darin würde sicher nicht Hans und nicht Grethe vorkommen. Auch an den Nil und in die Pharaonenzeit des alten Ägypten würde ich mein Paar nicht versetzen, obwohl schon eher als in die Gegenwart. Denn ich muß aufrichtig gestehen, ich hasse den historischen Schund, so interessant er als bloße Erscheinung ist, weil man ihn nicht bloß betrachten kann, weil man ihn auch fühlen muß, weil er uns mit höhnender Arroganz und unüberwunden entgegentritt.
Der Held meiner Novelle müßte ein Maikäfer sein, der sich im fünften Lebensjahre mit den neugewachsenen Flügeln zum ersten Male frei in die Lüfte schwingt. Der Dichter der Maikäfer hat sich einstweilen gefunden. Vgl. J. V. Widmann's reizende »Maikäferkomödie«. 1897. Es könnte in der Tat nicht schaden, wenn der Mensch seiner angeborenen und anerzogenen Beschränktheit dadurch zu Leibe ginge, daß er sich mit der Weltanschauung verwandter Wesen vertraut zu machen suchte. Er müßte dabei noch entschieden mehr gewinnen als der Kleinstädter, der, zum Weltumsegler geworden, die Anschauungen fremder Völker gelernt hat.
Ich habe Sie nun auf mancherlei Wegen und Stegen so recht über Stock und Stein geführt, um Ihnen zu zeigen, wohin man überall durch konsequente Verfolgung einer einzigen naturwissenschaftlichen Tatsache gelangen kann. Die genauere Betrachtung der beiden Augen des Menschen hat uns nicht nur in das Kindesalter der Menschheit, sie hat uns auch über den Menschen hinausgeleitet.
Es ist Ihnen gewiß schon oft aufgefallen, daß man die Wissenschaften in zwei Klassen teilt, daß man die sogenannten humanistischen, zur sogenannten »höhern Bildung« gehörigen den Naturwissenschaften schroff gegenüberstellt.
Ich muß gestehen, ich glaube nicht an dieses Zweierlei der Wissenschaft. Ich glaube, daß diese Ansicht einer gereiftern Zeit ebenso naiv erscheinen wird wie uns die Perspektivlosigkeit der ägyptischen Malerei. Sollte man wirklich aus einigen alten Töpfen und Pergamenten, die doch nur ein winziges Stückchen Natur sind, allein die »höhere Bildung« schöpfen, aus ihnen allein mehr lernen können als aus der ganzen übrigen Natur? Ich glaube, daß beide Wissenschaften nur Stücke derselben Wissenschaft sind, die an verschiedenen Enden begonnen haben. Wenn auch beide Enden noch als Montecchi und Capuletti sich geberden, wenn sogar deren Diener aufeinander loshauen, so glaube ich, sie tun nur so spröde. Hier ist doch ein Romeo und dort eine Julie, welche hoffentlich mit minder tragischem Ausgang die beiden Häuser vereinigen werden.
Die Philologie hat mit der unbedingten Verehrung und Vergötterung der Griechen begonnen. Schon zieht sie andere Sprachen, andere Völker und deren Geschichte in den Bereich ihrer Untersuchungen; schon schließt sie, wenn auch noch vorsichtig, durch Vermittelung der vergleichenden Sprachforschung Freundschaft mit der Physiologie.
Die Naturwissenschaft hat in der Hexenküche begonnen. Schon erstreckt sie sich über die organische und unorganische Welt, schon ragt sie mit der Physiologie der Sprachlaute, mit der Theorie der Sinne, wenn auch noch etwas naseweis, in das Gebiet des Geistigen hinein.
Kurz gesagt, wir lernen manches in uns nur verstehen durch den Blick nach außen, und umgekehrt. Jedes Objekt gehört beiden Wissenschaften an. Sie, meine Damen, sind gewiß sehr interessante und schwierige Probleme für den Psychologen. Sie sind aber auch recht hübsche Naturerscheinungen. Kirche und Staat sind Objekte des Historikers, nicht minder aber Naturerscheinungen, und zwar zum Teil recht sonderbare.
Wenn schon die historischen Wissenschaften den Blick erweitern, indem sie uns die Anschauungen verschiedener Völker vorführen, so tun dies in gewissem Sinne noch mehr die Naturwissenschaften. Indem sie den Menschen in dem All geradezu verschwinden lassen, geradezu vernichten, zwingen sie ihn, seinen unbefangenen Standpunkt außer sich zu nehmen, mit anderem als kleinbürgerlich menschlichem Maße zu messen.
Wenn Sie mich aber jetzt fragen würden: Wozu hat der Mensch zwei Augen? so müßte ich antworten:
Damit er sich die Natur recht genau ansehe, damit er begreifen lerne, daß er selbst mit seinen richtigen und unrichtigen Ansichten, mit seiner haute politique bloß ein vergängliches Stück Naturerscheinung, daß er, mit Mephisto zu sprechen, ein Teil des Teils sei, und daß es gänzlich unbegründet,
Wenn sich der Mensch, die kleine Narrenwelt,
Gewöhnlich für ein Ganzes hält.