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XIII.
Die ökonomische Natur der physikalischen Forschung.

Vortrag gehalten in der feierlichen Sitzung der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu Wien am 25. Mai 1882. – Vgl. »Erhaltung der Arbeit«, ferner »Mechanik« und Artikel I, insbesondere S. 16.

Wenn das Denken mit seinen begrenzten Mitteln versucht, das reiche Leben der Welt wiederzuspiegeln, von dem es selbst nur ein kleiner Teil ist, und das zu erschöpfen es niemals hoffen kann, so hat es alle Ursache, mit seinen Kräften sparsam umzugehen. Daher der Drang der Philosophie aller Zeiten, mit wenigen organisch gegliederten Gedanken die Grundzüge der Wirklichkeit zu umfassen. »Das Leben versteht den Tod nicht, und der Tod versteht das Leben nicht.« So spricht ein alter Philosoph. Gleichwohl war man, die Summe des Unbegreiflichen zu mindern, unablässig bemüht, den Tod durch das Leben und das Leben durch den Tod zu verstehen.

Von menschlich enpfindenden Dämonen erfüllt finden wir die Natur bei den alten Kulturvölkern. Die animistische Naturansicht, wie sie der Kulturforscher Tylor Die Anfänge der Kultur. Leipzig. Winter. 1873. treffend und bezeichnend genannt hat, teilt der Fetischneger des heutigen Afrika im wesentlichen mit den hochstehenden Völkern des Altertums. Nie hat sich diese Auffassung ganz verloren. Nicht der jüdische, nicht der christliche Monotheismus haben sie jemals vollständig überwunden. Sie nimmt sogar drohende pathologische Dimensionen an im Hexen- und Aberglauben des 16. und 17. Jahrhunderts, in der Zeit des Aufschwunges der Naturwissenschaft. Während Stevin, Kepler und Galilei bedächtig Stein an Stein fügen zu dem heutigen Bau der Naturwissenschaft, zieht man voll Grausamkeit und Entsetzen zu Felde, mit Folter und Feuerbrand, gegen die Teufel, die überall hervorlugen. Ja auch heute noch, abgesehen von allen Überlebseln aus jener Zeit, abgesehen von allen Spuren des Fetischismus in unseren physikalischen Begriffen, Tylor, a. a. O. leben diese Vorstellungen noch fort, wenn auch halb latent und verschüchtert in dem wüsten Treiben der modernen Spiritisten.

Neben dieser animistischen Anschauung erhebt sich zeitweilig in verschiedenen Formen, von Demokrit bis zur Gegenwart, mit dem gleichen Anspruch, die Welt allein zu begreifen, die Ansicht, die wir allgemeinverständlich die physikalisch-mechanische nennen wollen. Daß dieselbe heute die erste Stimme hat, daß sie die Ideale und den Charakter unserer Zeit bestimmt, kann nicht zweifelhaft sein. Es war eine große ernüchternde Kulturbewegung, durch welche die Menschheit im 18. Jahrhundert zur vollen Besinnung kam. Sie schuf das leuchtende Vorbild eines menschenwürdigen Daseins zur Überwindung der alten Barbarei auf praktischem Gebiete; sie schuf die Kritik der reinen Vernunft, welche die begrifflichen Truggestalten der alten Metaphysik ins Reich der Schatten verwies; sie drückte der physikalisch-mechanischen Naturansicht die Zügel in die Hand, die sie heute führt.

Wie ein begeisterter Toast auf die wissenschaftliche Arbeit des 18. Jahrhunderts klingen uns die oft angeführten Worte des großen Laplace Essai philosophiqne sur les probabilités. 6me ed. Paris 1840, p. 4. In dieser Formulierung fehlt die notwendige Berücksichtigung der Anfangsgeschwindigkeiten.: »Eine Intelligenz, welcher für einen Augenblick alle Kräfte der Natur und die gegenseitigen Lagen aller Massen gegeben würden, wenn sie im übrigen umfassend genug wäre, diese Angaben der Analyse zu unterwerfen, könnte mit derselben Formel die Bewegung der größten Massen und der kleinsten Atome begreifen; nichts wäre ungewiß für sie, die Zukunft und die Vergangenheit läge offen vor ihren Augen.« Laplace hat nachweislich bei seinen Worten auch an die Atome des Gehirns gedacht. Ausdrücklicher noch haben dies manche seiner Nachfolger getan, und im ganzen möchte das Laplacesche Ideal der überwiegenden Mehrzahl der heutigen Naturforscher kaum fremd sein.

Freudig gönnen wir dem Schöpfer der mécanique céleste das erhebende Gefühl, welches ihm die mächtig wachsende Aufklärung erregt, der auch wir unsere geistige Freiheit danken. Allein heute bei ruhigem Gemüt und vor neue Arbeit gestellt, ziemt es der physikalischen Forschung, sich durch Erkenntnis ihrer Natur vor Selbsttäuschung zu schützen, um dafür aber desto sicherer ihre wahren Ziele verfolgen zu können. Wenn ich nun in der folgenden Erörterung, für die ich mir Ihre geneigte Aufmerksamkeit erbitte, zuweilen die engeren Grenzen meines Faches überschreite und auf befreundetes Nachbargebiet übertrete, so wird es mir gewiß zur Entschuldigung dienen, daß der Stoff allen Gebieten gemeinsam, und scharfe unverrückbare Marksteine überhaupt nicht gelegt sind.

 

Der Glaube an geheime Zaubermächte in der Natur ist allmählich geschwunden; dafür hat sich aber ein neuer Glaube verbreitet, jener an die Zaubergewalt der Wissenschaft. Wirft doch diese, und nicht wie eine launische Fee nur dem Begünstigten, sondern der ganzen Menschheit, Schätze in den Schoß, wie sie kein Märchen erträumen konnte. Kein Wunder also, wenn ferner stehende Verehrer ihr zutrauen, daß sie im stande sei, unergründliche, unseren Sinnen unzugängliche Tiefen der Natur zu erschließen. Sie aber, die zur Erhellung in die Welt gekommen, kann jedes mystische Dunkel, jeden prunkvollen Schein, dessen sie zur Rechtfertigung ihrer Ziele und zum Schmucke ihrer offen daliegenden Leistungen nicht bedarf, ruhig von sich weisen.

Am besten werden die bescheidenen Anfänge der Wissenschaft uns deren einfaches, sich stets gleich bleibendes Wesen enthüllen. Halbbewußt und unwillkürlich erwirbt der Mensch seine ersten Naturerkenntnisse, indem er instinktiv die Tatsachen in Gedanken nachbildet und vorbildet, indem er die trägere Erfahrung durch den schnelleren beweglichen Gedanken ergänzt, zunächst nur zu seinem materiellen Vorteile. Er konstruiert wie das Tier zum Geräusch im Gestrüppe den Feind, den er fürchtet, zur Schale den Kern der Frucht, welchen er sucht, nicht anders als wir zur Spektrallinie den Stoff, zur Reibung des Glases den elektrischen Funken in Gedanken vorbilden. Die Kenntnis der Kausalität in dieser Form reicht gewiß tief unter die Stufe, welche Schopenhauers Lieblingshund einnimmt, dem er diese Kenntnis zuschrieb. Sie reicht wohl durch die ganze Tierwelt und bestätigt das Wort des kräftigen Denkers von dem Willen, der sich den Intellekt für seine Zwecke schuf. Diese ersten psychischen Funktionen wurzeln in der Ökonomie des Organismus nicht minder fest als Bewegung und Verdauung. Daß wir in denselben auch die elementare Macht einer längst geübten logischen und physiologischen Handlung fühlen, die wir als Erbstück von unseren Vorfahren überkommen haben, wer wollte das leugnen?

Diese ersten Erkenntnisakte bilden auch heute noch die stärkste Grundlage alles wissenschaftlichen Denkens. Unsere instinktiven Kenntnisse, wie wir sie kurz nennen wollen, treten uns eben vermöge der Überzeugung, daß wir bewußt und willkürlich nichts zu denselben beigetragen haben, mit einer Autorität und logischen Gewalt entgegen, die bewußt und willkürlich erworbene Kenntnisse aus wohlbekannter Quelle und von leicht erprobter Fehlbarkeit niemals erreichen. Alle sogenannten Axiome sind solche instinktive Erkenntnisse. Nicht das mit Bewußtsein Erworbene allein, sondern der stärkste intellektuelle Instinkt, verbunden mit bedeutender begrifflicher Kraft, machen den großen Forscher aus. Die wichtigsten Fortschritte haben sich stets ergeben, wenn es gelang, instinktiv längst Erkanntes in klare begriffliche, also mitteilbare Form zu bringen, und so dem bleibenden Eigentume der Menschheit hinzuzulegen. Durch Newtons Satz der Gleichheit von Druck und Gegendruck, dessen Giltigkeit jeder gefühlt, den aber vor ihm niemand begrifflich gefaßt hat, wurde die Mechanik mit einemmal auf eine höhere Stufe gehoben. Leicht ließe sich die Behauptung noch an den wissenschaftlichen Taten von Stevin, S. Carnot, Faradav, J. R. Mayer u. a. historisch rechtfertigen.

Was wir besprochen, betrifft den Boden, dem die Wissenschaft entsprießt. Ihre eigentlichen Anfänge treten erst auf in der Gesellschaft, und besonders im Handwerk, mit der Notwendigkeit der Mitteilung von Erfahrung. Erst da, wie dies mancher Autor schon empfunden, ergibt sich der Zwang, die wichtigen und wesentlichen Züge einer Erfahrung zum Zwecke der Bezeichnung und Übertragung sich klar zum Bewußtsein zu bringen. Was wir Unterricht nennen, bezweckt lediglich Ersparnis an Erfahrung eines Menschen durch jene eines anderen.

Die wunderbarste Ökonomie der Mitteilung liegt in der Sprache. Dem gegossenen Letternsatze vergleichbar, welcher, die Wiederholung der Schriftzüge ersparend, den verschiedensten Zwecken dient, den wenigen Lauten ähnlich, aus denen die verschiedensten Worte sich bilden, sind die Worte selbst. Mosaikartig setzt die Sprache und das mit ihr in Wechselbeziehung stehende begriffliche Denken das Wichtigste fixierend, das Gleichgiltige übersehend, die starren Bilder der flüssigen Welt zusammen, mit einem Opfer an Genauigkeit und Treue zwar, dafür aber mit Ersparnis an Mitteln und Arbeit. Wie der Klavierspieler mit einmal vorbereiteten Tönen, erregt der Redner im Hörer einmal für viele Fälle vorbereitete Gedanken, die mit großer Geläufigkeit und geringer Mühe dem Rufe folgen.

Die Grundsätze, welche der ausgezeichnete Wirtschaftsforscher E. Herrmann für die Ökonomie der Technik als giltig betrachtet, sie finden auch volle Anwendung auf dem Gebiete der gemeinen und der wissenschaftlichen Begriffe. Gesteigert ist natürlich die Ökonomie der Sprache in der wissenschaftlichen Terminologie. Und was die Ökonomie der schriftlichen Mitteilung betrifft, so ist kaum zu zweifeln, daß eben die Wissenschaft den schönen alten Traum der Philosophen von einer internationalen Universalbegriffsschrift verwirklichen wird. Nicht mehr allzuferne liegt diese Zeit. Die Zahlenzeichen, die Zeichen der mathematischen Analyse, die chemischen Symbole, die musikalische Notenschrift, der sich eine entsprechende Farbenschrift leicht zur Seite stellen ließe, die Brücksche phonetische Schrift sind wichtige Anfänge. Sie werden, konsequent erweitert und verbunden mit dem, was die schon vorhandene chinesische Begriffsschrift lehrt, jedes besondere Erfinden und Dekretieren einer Universalschrift überflüssig machen. Es versteht sich, daß die Ausführung des Leibnibschen Gedankens einer Pasigraphie oder allgemeinen Ideographie ein hinreichend klares und bestimmtes Begriffsystem von genügender Entwicklung zur Voraussetzung hat. Darin besteht eben die größte Schwierigkeit. In dem Maße als sich mit dem Wachstum der Wissenschaft diese Voraussetzung erfüllt, wird die Pasigraphie ausführbar. Und in der Tat hat G. Peano in Turin für das Gebiet der Mathematik eine Ideographie begründet. Vgl. hierüber den Bericht von L. Couturat im Bulletin des Sciences Mathematiques – 1902

Die wissenschaftliche Mitteilung enthält stets die Beschreibung d. i. die Nachbildung einer Erfahrung in Gedanken, welche Erfahrung ersetzen und demnach ersparen soll. Die Arbeit des Unterrichts und des Lernens selbst wieder zu sparen, entsteht die zusammenfassende Beschreibung. Nichts anderes sind die Naturgesetze. Wenn wir uns etwa den Wert der Schwerebeschleunigung und das Galileische Fallgesetz merken, so besitzen wir eine sehr einfache und kompendiöse Anweisung, alle vorkommenden Fallbewegungen in Gedanken nachzubilden. Eine solche Formel ist ein vollständiger Ersatz für eine noch so ausgedehnte Tabelle, die vermöge der Formel jeden Augenblick in leichtester Weise hergestellt werden kann, ohne das Gedächtnis im geringsten zu belasten.

Die verschiedenen Fälle der Lichtbrechung könnte kein Gedächtnis fassen. Merken wir uns aber die Brechungsexponenten für die vorkommenden Paare von Medien und das bekannte Sinusgesetz, so können wir jeden beliebigen Fall der Brechung ohne Schwierigkeit in Gedanken nachbilden oder ergänzen. Der Vorteil besteht in der Entlastung des Gedächtnisses, welche noch durch schriftliche Aufbewahrung der Konstanten unterstützt wird. Mehr als den umfassenden und verdichteten Bericht über Tatsachen enthält ein solches Naturgesetz nicht. Ja, es enthält im Gegenteil immer weniger als die Tatsache selbst, weil dasselbe nicht die ganze Tatsache, sondern nur die für uns wichtige Seite derselben nachbildet, indem absichtlich oder notgedrungen von Vollständigkeit abgesehen wird. Die Naturgesetze sind intellektuellen, teils beweglichen, teils stereotypen Letternsätzen höherer Ordnung vergleichbar, welche letztere bei neuen Auflagen von Erfahrung oft auch hinderlich werden können.

Wenn wir ein Gebiet von Tatsachen zum erstenmal überschauen, erscheint es uns mannigfaltig, ungleichförmig, verworren und widerspruchsvoll. Es gelingt zunächst nur, jede einzelne Tatsache ohne Zusammenhang mit den übrigen festzuhalten. Das Gebiet ist uns, wie wir sagen, unklar. Nach und nach finden wir die einfachen sich gleich bleibenden Elemente der Mosaik, aus welchen sich das ganze Gebiet in Gedanken zusammensetzen läßt. Sind wir nun soweit gelangt, überall in der Mannigfaltigkeit dieselben Tatsachen wieder zu erkennen, so fühlen wir uns in dem Gebiete nicht mehr fremd, wir überschauen es ohne Anstrengung, es ist für uns erklärt.

Erlauben Sie mir eine Erläuterung durch ein Beispiel. Kaum haben wir die geradlinige Fortpflanzung des Lichtes erfaßt, stößt sich der gewohnte Lauf der Gedanken an der Brechung und Beugung. Kaum glauben wir mit einem Brechungsexponenten auszukommen, so sehen wir, daß für jede Farbe ein besonderer nötig ist. Haben wir uns daran gewöhnt, daß Licht zu Licht gefügt die Helligkeit vergrößert, bemerken wir plötzlich einen Fall der Verdunkelung. Schließlich erkennt man aber in der überwältigenden Mannigfaltigkeit der Lichterscheinungen überall die Tatsache der räumlichen und zeitlichen Periodicität des Lichtes und dessen von dem Stoffe und der Periode abhängige Fortpflanzungsgeschwindigkeit. Dieses Ziel, ein Gebiet mit dem geringsten Aufwand zu überschauen und alle Tatsachen durch einen Gedankenprozeß nachzubilden, kann mit vollem Recht ein ökonomisches genannt werden.

Am meisten ausgebildet ist die Gedankenökonomie in jener Wissenschaft, welche die höchste formelle Entwicklung erlangt hat, welche auch die Naturwissenschaft so häufig zur Hilfe heranzieht, in der Mathematik. So sonderbar es klingen mag, die Stärke der Mathematik beruht auf der Vermeidung aller unnötigen Gedanken, auf der größten Sparsamkeit der Denkoperationen. Schon die Ordnungszeichen, welche wir Zahlen nennen, bilden ein System von wunderbarer Einfachheit und Sparsamkeit. Wenn wir beim Multiplizieren einer mehrstelligen Zahl durch Benützung des Einmaleins die Resultate schon ausgeführter Zähloperationen verwenden, statt sie jedesmal zu wiederholen, wenn wir bei Gebrauch von Logarithmentafeln neu auszuführende Zähloperationen durch längst ausgeführte ersetzen und ersparen, wenn wir Determinanten verwenden, statt die Lösung eines Gleichungssystems immer von neuem zu beginnen, wenn wir neue Integralausdrücke in altbekannte zerlegen, so sehen wir hierin nur ein schwaches Abbild der geistigen Tätigkeit eines Lagrange oder Cauchy, der mit dem Scharfblick eines Feldherrn für neu auszuführende Operationen ganze Scharen schon ausgeführter eintreten läßt. Man wird keinen Widerspruch erheben, wenn wir sagen, die elementarste wie die höchste Mathematik sei ökonomisch geordnete, für den Gebrauch bereit liegende Zählerfahrung.

In der Algebra führen wir so weit als möglich formgleiche Zähloperationen ein für allemal aus, so daß nur ein Rest von Arbeit für jeden besonderen Fall übrig bleibt. Die Verwendung der algebraischen und analytischen Zeichen, die nur Symbole von auszuführenden Operationen sind, entsteht durch die Bemerkung, daß man den Kopf entlasten, für wichtigere, schwierigere Funktionen sparen, und einen Teil der sich mechanisch wiederholenden Arbeit der Hand übertragen kann. Nur eine Konsequenz dieser Methode, welche den ökonomischen Charakter derselben bezeichnet, ist die Konstruktion von Rechenmaschinen. Der Erfinder einer solchen, der Mathematiker Babbage, war wohl der erste, der dies Verhältnis klar erkannt und, wenn auch nur flüchtig, in seinem Werke über Maschinen- und Fabrikenwesen berührt hat.

Wer Mathematik treibt, den kann zuweilen das unbehagliche Gefühl überkommen, als ob seine Wissenschaft, ja sein Schreibstift, ihn selbst an Klugheit überträfe, ein Eindruck, dessen selbst der große Euler nach seinem Geständnisse sich nicht immer erwehren konnte. Eine gewisse Berechtigung hat dieses Gefühl, wenn wir bedenken, mit wie vielen fremden oft vor Jahrhunderten gefaßten Gedanken wir in geläufigster Weise operieren. Es ist wirklich teilweise eine fremde Intelligenz, die uns in der Wissenschaft gegenübersteht. Mit der Erkenntnis dieses Sachverhaltes erlischt aber wieder das Mystische und Magische des Eindruckes, zumal wir jeden der fremden Gedanken, sobald wir nur wollen, nachzudenken vermögen.

Physik ist ökonomisch geordnete Erfahrung. Nicht nur die Übersicht des schon Erworbenen wird durch diese Ordnung ermöglicht, auch die Lücken und wünschenswerten Ergänzungen treten wie in einer guten Wirtschaft klar hervor. Die Physik teilt mit der Mathematik die zusammenfassende Beschreibung, die kurze kompendiöse, doch jede Verwechslung ausschließende Bezeichnung der Begriffe, deren mancher wieder viele andere enthält, ohne daß unser Kopf dadurch belästigt erscheint. Jeden Augenblick aber kann der reiche Inhalt hervorgeholt, und bis zu voller sinnlicher Klarheit entwickelt werden. Welche Menge geordneter, zum Gebrauch bereit liegender Gedanken faßt z. B. der Begriff Potential in sich. Kein Wunder also, daß mit Begriffen, die so viele fertige Arbeit schon enthalten, schließlich einfach zu operieren ist.

Aus der Ökonomie der Selbsterhaltung wachsen also die ersten Erkenntnisse hervor. Die Mitteilung häuft die Erfahrungen vieler Individuen, die aber irgend einmal wirklich gemacht werden mußten, in einem auf. Sowohl die Mitteilung als das Bedürfnis des Einzelnen, seine Erfahrungssumme mit dem kleinsten Gedankenaufwand zu beherrschen, zwingt zu ökonomischer Ordnung. Hiermit ist aber auch die ganze rätselhafte Macht der Wissenschaft erschöpft. Im einzelnen vermag sie uns nichts zu bieten, was nicht jeder in genügend langer Zeit auch ohne alle Methode finden könnte. Jede mathematische Aufgabe könnte durch direktes Zählen gelöst werden. Es gibt aber Zähloperationen, die gegenwärtig in wenigen Minuten vollführt werden, welche aber ohne Methode vorzunehmen die Lebensdauer eines Menschen bei weitem nicht reichen würde. So wie ein Mensch allein auf seine Arbeit angewiesen, niemals ein merkliches Vermögen sammeln würde, sondern die Ansammlung der Arbeit vieler Menschen in einer Hand die Bedingung von Reichtum und Macht ist, so kann auch in endlicher Zeit und bei endlicher Kraft nur durch ausgesuchte Sparsamkeit in Gedanken, durch Häufung der ökonomisch geordneten Erfahrung Tausender in einem Kopfe ein nennenswertes Wissen erlangt werden. So ist also alles, was Zauberei scheinen könnte, wie es ja genügend oft im bürgerlichen Leben auch vorkommt, nichts als vortreffliche Wirtschaft. Die Wirtschaft der Wissenschaft hat aber vor jeder andern das voraus, daß durch Häufung ihrer Reichtümer niemand den geringsten Verlust erleidet. Darin liegt ihr Segen, ihre befreiende, erlösende Kraft.


Die Erkenntnis der ökonomischen Natur der Wissenschaft im allgemeinen mag uns nun behilflich sein, einige physikalische Begriffe leichter zu würdigen.

Was wir Ursache und Wirkung nennen, sind hervorstechende Merkmale einer Erfahrung, die für unsere Gedankennachbildung wichtig sind. Ihre Bedeutung blaßt ab, und geht auf andere neue Merkmale über, sobald eine Erfahrung geläufig wird. Tritt uns die Verbindung solcher Merkmale mit dem Eindruck der Notwendigkeit entgegen, so liegt dies nur daran, daß uns die Einschaltung längst bekannter Zwischenglieder, die also eine höhere Autorität für uns haben, oft gelungen ist. Die fertige Erfahrung im Setzen der Gedankenmosaik, mit welcher wir jedem neuen Fall entgegenkommen, hat Kant einen angeborenen Verstandesbegriff genannt.

Die imposantesten Sätze der Physik, lösen wir sie in ihre Elemente auf, unterscheiden sich in nichts von den beschreibenden Sätzen des Naturhistorikers. Die Frage nach dem »warum«, die überall zweckmäßig ist, wo es sich um Aufklärung eines Widerspruchs handelt, kann wie jede zweckmäßige Gewohnheit auch über den Zweck hinausgehen, und gestellt werden, wo nichts mehr zu verstehen ist.

Wollten wir der Natur die Eigenschaft zuschreiben, unter gleichen Umständen gleiche Erfolge hervorzubringen, so wüßten wir diese gleichen Umstände nicht zu finden. Die Natur ist nur einmal da. Nur unser schematisches Nachbilden erzeugt gleiche Fälle. Nur in diesem existiert also die Abhängigkeit gewisser Merkmale von einander.

Alle unsere Bemühungen, die Welt in Gedanken abzuspiegeln wären fruchtlos, wenn es nicht gelänge, in dem bunten Wechsel Bleibendes zu finden. Daher das Drängen nach dem Substanzbegriff, dessen Quelle von jener der modernen Ideen über die Erhaltung der Energie nicht verschieden ist. Die Geschichte der Physik liefert für diesen Trieb auf fast allen Gebieten zahlreiche Beispiele, und die liebenswürdigen Äußerungen derselben lassen sich bis in die Kinderstube verfolgen. »Wo kommt das Licht hin, wenn es gelöscht wird und nicht mehr in der Stube ist?« So fragt das Kind. Das plötzliche Schrumpfen eines Wasserstoffballons ist dem Kinde unfaßbar; es sucht überall nach dem großen Körper, der eben noch da war. »Wo kommt die Wärme her?« »Wo kommt die Wärme hin?« Solche Kinderfragen im Munde reifer Männer bestimmen Charakter des Jahrhunderts.

Wenn wir in Gedanken einen Körper lostrennen von der wechselnden Umgebung, in welcher sich derselbe bewegt, so scheiden wir eigentlich nur eine Empfindungsgruppe von verhältnismäßig größerer Beständigkeit, an welche wir unser Denken anklammern, aus dem Gewoge der Empfindungen aus. Eine absolute Unveränderlichkeit hat diese Gruppe nicht. Bald dieses, bald jenes Glied derselben verschwindet und kommt, erscheint verändert, und kehrt eigentlich in voller Gleichheit niemals wieder. Doch ist die Summe der bleibenden Glieder gegenüber den veränderlichen, namentlich wenn wir auf die Stetigkeit des Übergangs achten, immer so groß, daß sie uns zur Anerkennung des Körpers als desselben vorerst genügend erscheint. Weil wir aus der Gruppe jedes einzelne Glied ausscheiden können, ohne daß der Körper aufhört, für uns derselbe zu sein, können wir leicht glauben, daß auch bei Ausscheidung aller noch etwas übrig bliebe, außer jenen Gliedern. So kann es kommen, daß wir den Gedanken einer von ihren Merkmalen verschiedenen Substanz, eines »Dinges an sich«, fassen, für dessen Eigenschaften die Empfindungen Symbole sein sollen. Umgekehrt müssen wir vielmehr sagen, daß Körper oder Dinge abkürzende Gedankensymbole für Gruppen von Empfindungen sind, Symbole, die außerhalb unseres Denkens nicht existieren. So wird auch jeder Kaufmann die Etiquette einer Kiste als Symbol des Wareninhaltes betrachten und nicht umgekehrt. Er wird dem Inhalt, nicht aber der Etiquette realen Wert beilegen. Dieselbe Sparsamkeit, die uns veranlaßt, eine Gruppe aufzulösen und für deren auch in andern Gruppen enthaltene Bestandteile besondere Symbole zu setzen, kann uns auch treiben, durch ein Symbol die ganze Gruppe zu bezeichnen.

Auf den alten ägyptischen Monumenten sehen wir Abbildungen, die nicht einer Gesichtswahrnehmung entsprechen, sondern aus verschiedenen Wahrnehmungen zusammengesetzt sind. Die Köpfe und die Beine der Figuren erscheinen im Profil, die Kopfbedeckung und die Brust von vorn gesehen u. s. w. Es ist sozusagen ein mittlerer Anblick, in welchem der Künstler das ihm Wichtige festgehalten, das Gleichgiltige vernachlässigt hat. Wir können den auf den Tempelwänden versteinerten Vorgang bei den Zeichnungen unserer Kinder lebendig wahrnehmen und das Analogon desselben bei der Begriffsbildung in unseren Köpfen beobachten. Nur in dieser Geläufigkeit des Übersehens dürfen wir von einem Körper sprechen. Sagen wir von einem Würfel, wir hätten dessen Ecken abgestutzt, obgleich er nun kein Würfel mehr ist, so beruht dies auf der natürlichen Sparsamkeit, welche es vorzieht, der fertigen geläufigen Vorstellung eine Korrektur hinzuzufügen, statt eine gänzlich neue zu bilden. Alles Urteilen beruht auf diesem Vorgang.

Die Malerei der Ägypter und Kinder kann dem kritischen Blicke nicht standhalten. Dasselbe begegnet der rohen Vorstellung eines Körpers. Der Physiker, welcher einen Körper sich biegen, ausdehnen, schmelzen und verdampfen sieht, zerlegt ihn in kleinere bleibende Teile, der Chemiker spaltet ihn in Elemente. Allein auch ein solches Element, wie das Natrium, ist nicht unveränderlich. Aus der weichen, silberglänzenden Masse wird bei Erwärmung eine flüssige, die bei größerer Hitze unter Luftabschluß in einen vor der Natriumlampe violetten Dampf sich verwandelt, und bei weiterer Erwärmung selbst mit gelbem Licht glüht. Wenn immer noch der Name Natrium festgehalten wird, so geschieht dies wegen der Stetigkeit des Überganges und aus notwendiger Sparsamkeit. Der Dampf kann sich kondensieren, und das weiße Metall ist wieder da. Ja, sogar nachdem das Metall, auf Wasser gelegt, in Natriumhydroxid übergegangen, können bei geeigneter Behandlung die gänzlich verschwundenen Eigenschaften wieder zum Vorschein kommen, wie ein Körper, der bei der Bewegung eine Zeitlang hinter einer Säule verborgen war, wieder sichtbar werden kann. Es ist nun ohne Zweifel sehr zweckmäßig, den Namen und Gedanken für eine Gruppe von Eigenschaften, wo dieselben hervortreten können, stets bereit zu halten. Mehr als ein ökonomisch abkürzendes Symbol für alle jene Erscheinungen ist aber dieser Name und Gedanke nicht. Es wäre ein leeres Wort für jenen, dem er nicht eine ganze Reihe wohlgeordneter sinnlicher Eindrücke wachriefe. Und Ähnliches gilt von den Molekülen und Atomen, in welche das chemische Element noch zerlegt wird.

Zwar pflegt man die Erhaltung des Gewichtes oder genauer die Erhaltung der Masse als einen direkten Nachweis der Beständigkeit der Materie anzusehen. Allein dieser Nachweis verflüchtigt sich, wenn wir auf den Grund gehen, in eine solche Menge von instrumentalen und intellektuellen Operationen, daß er gewissermaßen nur eine Gleichung konstatiert, welcher unsere Vorstellungen, Tatsachen nachbildend, zu genügen haben. Den dunklen Klumpen, den wir unwillkürlich hinzudenken, suchen wir vergebens außerhalb unseres Denkens. Unter dem Schlagwort: »Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus« wurden später verwandte Gedanken von W. Ostwald dargelegt.

So ist es also überall der rohe Substanzbegriff, der sich unbemerkt in die Wissenschaft einschleicht, der sich immer als unzulänglich erweist und sich auf immer kleinere Teile der Welt zurückziehen muß. Die niedere Stufe wird eben nicht entbehrlich durch die höhere, welche auf dieselbe gebaut ist, sowie durch die großartigsten Transportmittel die einfachste Lokomotion, das Gehen, nicht überflüssig geworden ist. Dem Physiker muß der Körper als eine durch Raumempfindungen verknüpfte Summe von Licht- und Tastempfindungen, wenn er nach demselben greifen will, so geläufig sein als dem Tiere, welches seine Beute hascht. Der Jünger der Erkenntnistheorie darf aber, wie der Geologe und Astronom von den Bildungen, die vor seinen Augen vorgehen, zurückschließen auf jene, die er fertig vorfindet.

Alle physikalischen Sätze und Begriffe sind gekürzte Anweisungen, die oft selbst wieder andere Anweisungen eingeschlossen enthalten, auf ökonomisch geordnete, zum Gebrauch bereit liegende Erfahrungen. Die Kürze kann solchen Anweisungen, deren Inhalt nur selten vollkommen hervorgeholt wird, zuweilen den Anschein von selbständigen Wesen geben. Mit den poetischen Mythen, wie sie z. B. über die alles gebärende und alles wieder verschlingende Zeit bestehen, wollen wir uns hier natürlich nicht beschäftigen. Wir wollen uns nur erinnern, daß Newton noch von einer absoluten, von allen Erscheinungen unabhängigen Zeit, wie auch von einem absoluten Raum spricht, über welche Anschauungen selbst Kant nicht hinausgekommen ist, und die heute noch zuweilen ernstlich erörtert werden. Für den Naturforscher ist jede zeitliche Bestimmung die abgekürzte Bezeichnung der Abhängigkeit einer Erscheinung von einer andern, und durchaus nichts weiter. Wenn wir sagen, die Beschleunigung eines frei fallenden Körpers betrage 9,810 Meter in der Sekunde, so heißt das, die Geschwindigkeit des Körpers gegen den Erdmittelpunkt ist um 9,810 Meter größer, wenn die Erde 1/ 86400 ihrer Umdrehung mehr vollführt hat, was selbst wieder nur durch ihre Beziehung zu andern Himmelskörpern erkannt werden kann. In der Geschwindigkeit liegt wieder nur eine Beziehung der Lage des Körpers zur Lage der Erde. Es wird hierdurch klar, daß alle sogenannten Elementargesetze doch immer eine Beziehung auf das Ganze enthalten. Wir können alle Erscheinungen statt auf die Erde auf eine Uhr oder selbst auf unsere innere Zeitempfindung beziehen. Weil nun ein Zusammenhang aller besteht, und jede das Maß der übrigen sein kann, entsteht leicht die Täuschung, als ob die Zeit unabhängig von allen noch einen Sinn hätte. Würde man einwenden, daß wir es bemerken könnten, und das Zeitmaß nicht verlieren müßten, sondern etwa die Schwingungsdauer der Natriumlichtwellen an die Stelle setzen könnten, wenn die Rotationsgeschwindigkeit der Erde Schwankungen unterläge, so wäre damit nur dargetan, daß wir aus praktischen Gründen diejenige Erscheinung wählen, welche als einfachstes gemeinschaftliches Maß der übrigen dienen kann.

Unser Forschen geht nach den Gleichungen, welche zwischen den Elementen der Erscheinungen bestehen. Die Gleichung der Ellipse drückt die allgemeinere denkbare Beziehung zwischen den Koordinaten aus, von welchen nur die reellen Werte einen geometrischen Sinn haben. So drücken auch die Gleichungen zwischen den Erscheinungselementen eine allgemeinere mathematisch denkbare Beziehung aus; allein nur ein bestimmter Sinn der Änderung mancher Werte ist physikalisch zulässig. So wie in der Ellipse nur gewisse der Gleichung entsprechende Werte, so kommen in der Welt nur gewisse Wertänderungen vor. Die Körper werden stets gegen die Erde beschleunigt, die Temperaturdifferenzen werden, sich selbst überlassen, stets kleiner u. s. w. Auch in Bezug auf den uns gegebenen Raum haben bekanntlich mathematische und physiologische Untersuchungen gelehrt, daß derselbe ein wirklicher unter vielen denkbaren Fällen ist, über dessen Eigentümlichkeiten nur die Erfahrung aus belehren kann. Die aufklärende Kraft dieses Gedankens kann nicht in Abrede gestellt werden, so monströs auch die Anwendungen sein mögen, die von demselben gemacht worden sind.

Versuchen wir nun die Ergebnisse unserer Umschau zusammenzufassen. In dem ökonomischen Schematisieren der Wissenschaft liegt die Stärke, aber auch der Mangel derselben. Die Tatsachen werden immer mit einem Opfer an Vollständigkeit dargestellt, nicht genauer, als dies unsern augenblicklichen Bedürfnissen entspricht. Die Inkongruenz zwischen Denken und Erfahrung wird also fortbestehen, so lange beide nebeneinander hergehen; sie wird nur stetig vermindert.

In Wirklichkeit handelt es sich immer nur um die Ergänzung einer teilweise vorliegenden Erfahrung, um Ableitung eines Erscheinungsteiles aus einem andern. Unsere Vorstellungen müssen sich hierbei direkt auf Empfindungen stützen. Wir nennen dies Messen. So wie die Entstehung, so ist auch die Anwendung der Wissenschaft an eine große Beständigkeit unserer Umgebung gebunden. Was sie uns lehrt, ist gegenseitige Abhängigkeit. Absolute Prophezeiungen haben also keinen wissenschaftlichen Sinn. Mit großen Veränderungen im Himmelsraum würden wir unser Raum- und Zeitkoordinatensystem zugleich verlieren.

Wenn der Geometer die Form einer Kurve erfassen will, so zerlegt er sie zuvor in kleine geradlinige Elemente. Er weiß aber wohl, daß dieselben nur ein vorübergehendes willkürliches Mittel sind, stückweise zu erfassen, was auf einmal nicht gelingen will. Ist das Gesetz der Kurve gefunden, denkt er nicht mehr an ihre Elemente. So würde es auch der Naturwissenschaft nicht ziemen, in ihren selbstgeschaffenen veränderlichen ökonomischen Mitteln, den Molekülen und Atomen, Reali-* * täten hinter den Erscheinungen zu sehen, vergessend der jüngst erworbenen weisen Besonnenheit ihrer kühneren Schwester, der Philosophie, eine mechanische Mythologie zu setzen an die Stelle der animistischen oder metaphysischen, und damit vermeintliche Probleme zu schaffen. Das Atom mag immerhin ein Mittel bleiben, die Erscheinungen darzustellen, wie die Funktionen der Mathematik. Allmählich aber mit dem Wachsen der intellektuellen Erziehung an ihrem Stoff, verläßt die Naturwissenschaft das Mosaikspiel mit Steinchen und sucht die Grenzen und Formen des Bettes zu erfassen, in welchem der lebendige Strom der Erscheinungen fließt. Den sparsamsten, einfachsten begrifflichen Ausdruck der Tatsachen erkennt sie als ihr Ziel.


Nun stellen wir uns noch die Frage, ob dieselbe Methode der Forschung, welche wir bisher stillschweigend als auf die physikalische Welt beschränkt angesehen haben, auch an das Gebiet des Psychischen hinanreicht. Dem Naturforscher erscheint diese Frage unnötig. Die physikalischen und die psychologischen Lehren entspringen in ganz gleicher Weise instinktiven Erkenntnissen. Wir lesen aus den Handlungen und Mienen der Menschen ihre Gedanken ab, ohne zu wissen wie. So wie wir das Benehmen einer Magnetnadel dem Strom gegenüber vorbilden, indem wir uns den Ampèreschen Schwimmer in demselben denken, so bilden wir die Handlungen der Menschen in Gedanken vor, indem wir mit ihrem Körper verbunden Empfindungen, Gefühle und Willen ähnlich den unsrigen annehmen. Was wir da instinktiv treiben, müßte uns als der feinste wissenschaftliche Kunstgriff erscheinen, welcher an Bedeutung und genialer Konzeption die Ampèresche Schwimmerregel weit hinter sich ließe, wenn nicht jedes Kind unbewußt ihn finden würde. Es kann sich also nur darum handeln, wissenschaftlich d. h. begrifflich zu fassen, was uns ohnehin geläufig ist. Und darin ist allerdings sehr viel zu tun. Eine ganze Kette von Tatsachen ist zu enthüllen zwischen der Physik der Miene und Bewegung einerseits, der Empfindung und dem Gedanken anderseits.

»Wie sollte es aber möglich sein, aus den Atombewegungen des Hirns die Empfindung zu erklären?« So hören wir fragen. Gewiß wird dies nie gelingen, so wenig als aus dem Brechungsgesetz jemals das Leuchten und Wärmen des Lichtes folgen wird. Wir brauchen eben das Fehlen einer sinnreichen Antwort auf solche Fragen nicht zu bedauern. Es liegt gar kein Problem vor. Mit Erstaunen bemerkt das Kind, welches über die Brüstung der Stadtmauer in den tiefen Wallgraben hinabblickt, unten die Menschen, und den verbindenden Torweg nicht kennend, begreift es nicht, wie sie von der hohen Mauer da herabkommen konnten. So ist es auch mit den physikalischen Begriffen. An unsern Abstraktionen können wir in die Psychologie zwar nicht hinauf – wohl aber hinunterklettern.

Sehen wir uns den Sachverhalt unbefangen an. Die Welt besteht aus Farben, Tönen, Wärmen, Drücken, Räumen, Zeiten u. s. w., die wir jetzt nicht Empfindungen und nicht Erscheinungen nennen wollen, weil in beiden Namen schon eine einseitige, willkürliche Theorie liegt. Wir nennen sie einfach Elemente. Die Erfassung des Flusses dieser Elemente, ob mittelbar oder unmittelbar, ist das eigentliche Ziel der Naturwissenschaft. So lange wir uns, den eigenen Körper nicht beachtend, mit der gegenseitigen Abhängigkeit jener Gruppen von Elementen beschäftigen, welche die fremden Körper, Menschen und Tiere eingeschlossen, ausmachen, bleiben wir Physiker. Wir untersuchen z. B. die Änderung der roten Farbe eines Körpers durch Änderung der Beleuchtung. Sobald wir aber den besonderen Einfluß jener Elemente auf dieses Rot betrachten, welche unsern Körper ausmachen, der sich durch die bekannte Perspektive mit unsichtbarem Kopf auszeichnet, sind wir im Gebiete der physiologischen Psychologie. Wir schließen die Augen, und das Rot mit der ganzen sichtbaren Welt ist weg. So liegt in dem Wahrnehmungsfelde eines jeden Sinnes ein Teil, welcher auf alle übrigen einen anderen und stärkeren Einfluß übt, als jene aufeinander. Hiermit ist aber auch alles gesagt. Mit Rücksicht darauf bezeichnen wir alle Elemente, sofern wir sie als abhängig von jenem besondern Teil (unserem Körper) betrachten, als Empfindungen. Daß die Welt unsere Empfindung sei, ist in diesem Sinne nicht zweifelhaft. Außer dieser vorübergehenden Auffassung aber ein System fürs Leben zu machen, dessen Sklaven wir bleiben, werden wir so wenig nötig haben, als der Mathematiker, wenn er eine vorher konstant gesetzte Reihe von Variablen einer Funktion nun variabel werden läßt, oder wenn er die unabhängig Variablen tauscht, obgleich ihm dies mitunter überraschende Ansichten verschafft. Den hier dargelegten Standpunkt nehme ich seit etwa 2 Dezennien ein, und habe ihn in verschiedenen Schriften (»Erhaltung der Arbeit, 1872«, »Gestalten der Flüssigkeit, 1872«, »Bewegungsempfindungen, 1875«) festgehalten. Er liegt nicht den Philosophen, wohl aber der Mehrzahl der Naturforscher recht fern. Umsomehr bedaure ich, daß Titel und Verfasser einer kleinen Schrift, welche mit meinen Ansichten sogar in vielen Einzelnheiten zusammentraf, und die ich in einer Zeit stürmischer Beschäftigung (1879–1880) flüchtig gesehen zu haben glaube, meinem Gedächtnis so entschwunden sind, daß alle Versuche, sie wieder zu ermitteln, bisher erfolglos blieben.

Sieht man die Sache so naiv an, so erscheint es nicht zweifelhaft, daß die Methode der psychologischen Physiologie nur die physikalische sein kann, ja daß diese Wissenschaft selbst zu einem Teil der Physik wird. Der Stoff dieser Wissenschaft ist von jenem der Physik nicht verschieden. Sie wird die Beziehung der Empfindungen zur Physik unseres Körpers zweifellos ermitteln. Schon haben wir durch ein Mitglied dieser Akademie erfahren, daß der sechsfachen Mannigfaltigkeit der Farbenempfindungen aller Wahrscheinlichkeit nach eine sechsfache Mannigfaltigkeit des chemischen Prozesses der Sehsinnsubstanz, der dreifachen Mannigfaltigkeit der Raumempfindungen eine dreifache Mannigfaltigkeit des physiologischen Prozesses entspricht.« Die Bahnen der Reflexe und des Willens werden verfolgt und aufgedeckt: welche Gegend des Hirns der Sprache, welche der Lokomotion dient, wird ermittelt. Was dann noch an unserm Körper hängt, die Gedanken, wird schon eine prinzipiell neue Schwierigkeit nicht mehr schaffen. Wird einmal die Erfahrung diese Tatsachen klargelegt und die Wissenschaft sie ökonomisch übersichtlich geordnet haben, dann ist nicht zu zweifeln, daß wir sie auch verstehen werden. Denn ein anderes Verstehen, als Beherrschung des Tatsächlichen in Gedanken hat es nie gegeben. Die Wissenschaft schafft nicht eine Tatsache aus der andern, sie ordnet aber die bekannten.

Betrachten wir nun noch etwas näher die psychologisch-physiologische Forschung. Wir haben eine ganz klare Vorstellung davon, wie ein Körper sich im Raume seiner Umgebung bewegt. Unser optisches Gesichtsfeld ist uns sehr geläufig. Wir wissen aber gewöhnlich nicht anzugeben, wie wir zu einem Gedanken gekommen, aus welcher Ecke des intellektuellen Gesichtsfeldes er hereingebrochen, noch durch welche Stelle der Impuls zu einer Bewegung hinausgesendet worden. Dieses geistige Gesichtsfeld werden wir auch durch Selbstbeobachtung allein nie kennen lernen. Die Selbstbeobachtung im Verein mit der physiologischen Forschung, welche den physikalischen Zusammenhängen nachgeht, kann dieses Gesichtsfeld klar vor uns legen, und wird damit unsern innern Menschen erst eigentlich offenbaren.

Die Naturwissenschaft oder die Physik im weitesten Sinne lehrt uns die stärksten Zusammenhänge von Gruppen von Elementen kennen. Auf die einzelnen Bestandteile dieser Gruppen dürfen wir vorerst nicht zuviel achten, wenn wir ein faßbares Ganzes behalten wollen. Die Physik gibt, weil ihr dies leichter wird, statt der Gleichungen zwischen den Urvariablen, Gleichungen zwischen Funktionen derselben. Die psychologische Physiologie lehrt von dem Körper das Sichtbare, Hörbare, Tastbare absondern, wobei sie, von der Physik kräftig unterstützt, dieses wieder reichlich vergilt, wie schon aus der Einteilung der physikalischen Kapitel zu ersehen ist. Das Sichtbare löst die Physiologie weiter in Licht- und Raumempfindungen, erstere wieder in die Farben, letztere ebenfalls in ihre Bestandteile; die Geräusche löst sie in Klänge, diese in Töne auf u. s. w. Ohne Zweifel kann diese Analyse noch sehr viel weiter geführt werden, als es schon geschehen ist. Es wird schließlich sogar möglich sein, das Gemeinsame, welches sehr abstrakten und doch bestimmten logischen Handlungen von gleicher Form zu Grunde liegt, das der scharfsinnige Jurist und Mathematiker mit solcher Sicherheit herausfühlt, wo der Unkundige nur leere Worte hört, ebenfalls aufzuweisen. Die Physiologie wird uns mit einem Worte die eigentlichen realen Elemente der Welt aufschließen. Die physiologische Psychologie verhält sich also zur Physik im weitesten Sinne ähnlich wie die Chemie zur Physik im engeren Sinne. Weitaus größer als die gegenseitige Unterstützung der Physik und Chemie wird jene sein, welche Naturwissenschaft und Psychologie sich leisten werden, und die aus diesem Wechselverkehr sich ergebenden Aufschlüsse werden jene der heutigen mechanischen Physik wohl weit hinter sich lassen.

Mit welchen Begriffen wir die Welt umfassen werden, wenn der geschlossene Ring der physikalischen und psychologischen Tatsachen vor uns liegen wird, von dem wir gegenwärtig nur zwei getrennte Stücke sehen, läßt sich zu Anfang der Arbeit natürlich nicht sagen. Die Männer werden sich finden, die das Recht erkennen, und den Mut haben werden, statt die verschlungenen Pfade des logischen historischen Zufalls nachzuwandeln, die geraden Wege zu den Höhen einzuschlagen, von welchen aus der ganze Strom der Tatsachen sich überschauen läßt. Ob dann der Begriff, den wir heute Materie nennen, über den gewöhnlichen Handgebrauch hinaus noch eine wissenschaftliche Bedeutung haben wird, wissen wir nicht. Gewiß wird man sich aber wundern, wie uns Farben und Töne, die uns doch am nächsten liegen, in unserer physikalischen Welt von Atomen plötzlich abhanden kommen konnten, wie wir auf einmal erstaunt sein konnten, daß das, was da draußen so trocken klappert und pocht, drinnen im Kopfe leuchtet und singt, wie wir fragen konnten, wieso die Materie empfinden kann, d. h. also, wieso ein Gedankensymbol für eine Gruppe von Empfindungen empfindet?

In scharfen Linien vermögen wir die Wissenschaft der Zukunft nicht zu zeichnen. Allein ahnen können wir, daß dann die harte Scheidewand zwischen dem Menschen und der Welt allmählich verschwinden wird, daß die Menschen nicht nur sich, sondern der ganzen organischen und auch der sogenannten leblosen Natur mit weniger Selbstsucht und einem wärmeren Gefühl gegenüberstehen werden. Eine solche Ahnung mochte wohl vor 2000 Jahren den großen chinesischen Philosophen Licius ergreifen, als er auf altes menschliches Gebein deutend, in dem durch die Begriffsschrift diktierten Lapidarstil zu seinen Schülern die Worte sprach: »Nur diese und ich haben die Erkenntnis, daß wir weder leben noch tot sind.«


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