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Zwölftes Kapitel.
Ein treues Herz

Francis Ferrars saß in seinem Arbeitskabinett, das ihm gleichzeitig als Empfangszimmer diente, da er öfter Geschäftsbesuche erhielt. Seit er vor fünf Jahren nach Amerika gekommen war, um die Erbin Sir Hillary Massingers zu suchen, hatte er noch manches Rätsel gelöst und so wurde seine Hilfe vielfach in Anspruch genommen, wenn es galt, das undurchdringliche Geheimnis eines Verbrechens aufzuklären. Allerdings gab er sich nur mit solchen ab, die ihn durch ihre außergewöhnliche Art besonders anzogen und interessierten.

Vor ihm lagen zwei Briefe, die er mit nachdenklicher Miene studierte. »Möchte wissen, was Dr. Barnes mit seiner Bemerkung meint,« sagte er halblaut vor sich hin, indem er nochmals den Schlußsatz des Briefes überflog. Derselbe lautete:

»Frau Jamieson hat Sie nicht vergessen. Sie erkundigt sich manchmal nach Ihnen, wenn wir uns begegnen und läßt Sie grüßen. Ich finde, sie sieht nicht wohl aus; mir scheint auch, sie langweilt sich jetzt in Glenville.«

Ferrars machte ein undefinierbares Gesicht. »Möchte wetten, daß sie nicht öfter an mich denkt als ich an sie,« murmelte er. »Ah, wenn sie wüßte, wie sehr es mich verlangt, vor ihr zu stehen und in ihre schillernden, blaugrünen Augen zu schauen. Was für eigentümlich schöne Augen sie hat! Und zu denken – – – Mich wundert, wie diese Augen dann wohl aussehen werden? Dr. Barnes schrieb mir da auch von einem Landstreicher, der, wie Doran herausgebracht hat, an jenem Morgen in der Nähe des Bootes gesehen worden ist. Wahrscheinlich ein Helfershelfer des Mörders, für den er Wache stand, während dieser sich durch den Wald an sein Opfer heranschlich. Möglicherweise auch hat der Mann am Seeufer durch die Waldlichtung auf den ahnungslosen Brierly geschossen. Es war ja so leicht auszuführen und selbst wenn sein Opfer ihn gesehen hätte – – Tote reden nicht.«

Er faltete den Brief zusammen und griff nach dem zweiten, der mit dem Namen Hilda Grant unterschrieben war. Es hieß darin:

»Frau Jamieson beklagt sich über die Langeweile unseres Ortes, trotzdem sie den Besuch ihres Schwagers, Herrn Carl Jamieson, hatte. Allerdings blieb er nicht lange und ich habe ihn nur einmal gesehen. Er hinkt, leidet an Rheumatismus und hat eben eine Badekur beendet. Dem Äußeren nach gleicht er einem Engländer; er hat dunkle Augen, die, wenn ich mich darauf verstehe, keinen guten Charakter verraten. Ich habe Ihnen dies alles so genau geschrieben, weil ich weiß, wie sehr Sie sich für die kleine blonde Dame interessieren.«

»Interessieren?« wiederholte Ferrars, als er den Passus halblaut gelesen hatte. »Das will ich meinen! Doppelt, weil sonst so wenig Interessantes da ist, denn – –« er hielt plötzlich inne, indem er sich rasch umdrehte. Sein Aufwärter hatte die Türe mit der Meldung geöffnet: »Eine Dame wünscht Sie zu sprechen.« Ferrars erhob sich, um den ungewöhnlichen Besuch zu empfangen. Vor ihm stand eine schlanke Brünette von so strahlender Schönheit, mit so klarem, offenen Blick, daß der sonst sehr redegewandte Detektiv im ersten Moment keine Worte fand.

Sie wartete seine Anrede auch nicht ab, sondern begann mit wohlklingender Stimme: »Herr Ferrars, ich bin Ruth Glidden. Der Zweck meines Besuches ist, von Ihnen Näheres über den Tod meines Freundes Charles Brierly zu erfahren. Vorher jedoch will ich Ihnen mein Verhältnis zu den Brierlys erklären.« Ferrars verbeugte sich, schob ihr einen Sessel hin und nahm ihr gegenüber Platz.

»Unsere Familien waren eng befreundet,« erzählte sie, »und Robert wie Charles meine Jugendgespielen. Später trennte uns das Schicksal, ich verbrachte ein Jahr in Europa, kehrte vor ungefähr einer Woche zurück und erfuhr sowohl von Charles traurigem Ende als von dem Überfall, der Robert beinahe das Leben gekostet hatte. Herr und Frau Meyers sind meine Freunde. Ich habe mich mit ihnen offen ausgesprochen, ihnen meine Wünsche und Absichten kundgegeben und daraufhin hat mir Herr Meyers geraten, mich vertrauensvoll an Sie zu wenden.«

»Ich stehe gern zu Ihrer Verfügung, mein Fräulein. Kann ich Ihnen in irgend einer Weise dienlich sein?«

Ruth Glidden schwieg einen Augenblick, als müsse sie erst ihre Worte überlegen, dann sagte sie in ernstem Ton: »So weit ich von dem tragischen Ereignis Kenntnis habe, weiß ich, daß Anhaltspunkte – wenn auch nur unzusammenhängende – vorhanden sind; daß Sie, mein Herr, wissen, was zu tun wäre, um das Geheimnis aufzuklären, daß aber ein zur Zeit unüberwindliches Hindernis im Wege liegt. Ich hörte, Sie seien Robert Brierlys Freund. Wollen Sie mir das Hindernis nennen? Ich habe ein Recht, es zu erfahren,« fügte sie mit eigentümlicher Betonung hinzu.

Ferrars stand eben im Begriff zu antworten, als der Aufwärter ihm einen Eilbrief brachte. Er war von John Meyers.

»Mein lieber Freund! Im Laufe des Tages werden Sie jedenfalls den Besuch von Fräulein Glidden erhalten. Ich kann Ihnen natürlich keine Vorschriften machen, dennoch möchte ich nicht versäumen, Ihnen zu sagen, daß Fräulein Glidden ein Recht hat, die volle Wahrheit zu erfahren, und daß sie sowohl den Willen als die Macht besitzt, helfend einzugreifen. Von ihrer Fähigkeit, ein Geheimnis zu hüten, mögen Sie sich selbst überzeugen.

Ihr ergebener
John Meyers.«

Schweigend überreichte Ferrars der jungen Dame das Schreiben, das sie hastig überflog.

»Ich war vorher schon geneigt, Ihrem Wunsche zu entsprechen,« sagte der Detektiv, nachdem Ruth ihm den Brief zurückgegeben hatte.

»Allerdings wollte ich erst noch eine Frage an Sie richten. Doch nun ich dies gelesen, bin ich bereit, Ihnen alles zu berichten, was ich weiß.«

»Doch Ihre Frage?« warf sie ein.

»Ich will Sie Ihnen stellen, bestehe aber nicht auf einer Antwort. Haben Sie außer dem begreiflichen Verlangen, näheres über den Tod Charles Brierlys zu hören, noch einen anderen Grund, weshalb Sie mich aufsuchen?«

Sie beugte sich ein wenig vor, indem sie Ferrars voll ins Auge schaute. »Glauben Sie wirklich, ich sei nur gekommen, Näheres zu hören? Nein – ich will Ihnen den wahren Grund angeben. So viel ich erfahren, wird Robert Brierly eine zeitlang unfähig sein, für sich zu handeln.«

»Leider ja.«

»Und hat das Einfluß auf den Fortgang Ihrer Bemühungen?«

»Es ist mir allerdings sehr ungelegen,« gab Ferrars zu, »denn die Dinge haben einen Punkt erreicht, der ein rasches Vorgehen fordert, zu dem ich mich jedoch nicht ohne besondere Ermächtigung entschließen kann. Es müssen jetzt geschickt ausgeführte, vielleicht wochenlang dauernde Nachforschungen angestellt, weite Reisen unternommen werden; außerdem sind geschulte Kräfte zu einer systematischen Überwachung nötig.«

»Und das –« unterbrach sie ihn rasch, »beansprucht große Ausgaben, nicht wahr?«

Ferrars verbeugte sich zustimmend.

Sie senkte einen Moment den Blick, dann fuhr sie mit leicht vibrierender Stimme fort: »Herr Ferrars, ich rede jetzt zu Ihnen, wie selten ein Weib zu einem Manne spricht; allein ich vertraue Ihnen und es ist durchaus notwendig, daß wir einander verstehen. Vor zwei Jahren, als ich zu meiner Tante zog, kam Robert Brierly zu mir, um Abschied zu nehmen. Ich habe jedes seiner Worte behalten. ›Ruth,‹ sagte er, ›wir waren zehn Jahre Gespielen und fast ebensolang gute Freunde. Jetzt bin ich ein Mann – aber arm, Du ein erblühendes Weib und eine reiche Erbin. Ich wäre ein Schurke, wollte ich Dich heute durch ein Versprechen binden, deshalb gebe ich Dich frei, damit Du erst die Welt und Dein eigenes Herz kennen lernst. Zwar besitze ich kein Vermögen, aber durch eisernen Fleiß hoffe ich es so weit zu bringen, Dir eines Tages ein freundliches Heim bieten zu können, denn ich liebe Dich und werde Dich ewig lieben. Ruth, über alles möchte ich Dich glücklich sehen. Darum gehe hinaus in die Welt und wenn Du einen guten Mann findest, den Du lieben kannst, so will ich zufrieden sein. Vergiß aber nicht, so lange Du Ruth Glidden heißt, werde ich nicht aufhören zu hoffen, Dich zu erringen; doch zuerst muß ich mich selbst erproben, muß fühlen, daß ich mich emporarbeiten kann, um unabhängig von Deinem Reichtum bleiben zu können.‹«

Sie machte eine Pause, wie von der Erinnerung überwältigt, dann fuhr sie leiser fort: »Er ließ mich gar nicht zu Worte kommen, denn er wußte, daß ich ihn gern hatte; aber eben deshalb widerstrebte es ihm, aus meiner Unerfahrenheit Vorteil zu ziehen. Um dieser Ehrenhaftigkeit willen liebte ich ihn doppelt und von dieser Stunde an betrachtete ich mich als seine Braut. Als solche habe ich sicher ein Recht, ihm in seinem Bemühen, den Tod seines Bruders zu rächen, behilflich zu sein. Ich bin jetzt meine eigene Herrin und besitze ein großes Vermögen. Ziehen Sie mich ins Vertrauen, Herr Ferrars, machen Sie mich zu Ihrem Bankier, fordern Sie, was Sie brauchen, um die Sache zu fördern. Charles Brierly war mir wie ein Bruder, niemand stand ihm und Robert in der Jugendzeit näher als ich und deshalb habe ich ein Recht, ihre Angelegenheit zu der meinigen zu machen.«

»Niemand wird Ihnen dieses Recht bestreiten,« versicherte Ferrars. »Robert Brierlys Zustand ist zwar ernst, er könnte sogar – – –«

»Sterben?« fiel Ruth ein. »Das glaube ich nicht. Auf jeden Fall dürfen Sie die Sache nicht fallen lassen – das an Charlie begangene Verbrechen soll und muß seine Sühne finden. Und nun noch eins: Herr Meyers sprach von einer jungen Dame, Charles Braut. Wie heißt sie? Ich möchte ihr schreiben, sie kennen lernen.«

»Das wäre sehr liebenswürdig von Ihnen,« entgegnete Ferrars erfreut, »denn das arme Mädchen ist eine Waise und steht ganz allein in der Welt. Es heißt Hilda Grant.«

»Hilda Grant? O, das ist ja eine Schulfreundin von mir! Sie verkehrte später nicht mehr mit mir, weil sie arm war, und ich erfuhr nur, daß sie irgendwo auf dem Lande Lehrerin geworden sei. Doch jetzt soll sie zu mir kommen.«

»Ich glaube kaum, daß sie sich vorerst bewegen ließe, Glenville zu verlassen.«

»Nun, wir werden uns schon sehen,« entgegnete Ruth zuversichtlich. »Also Herr Ferrars,« fügte sie hinzu. »Sie nehmen mich zum stillen Bundesgenossen?«

»Da Herr Meyers diese Allianz befürwortet,« gab Ferrars lächelnd zurück, »so willige ich natürlich ein. Wenn Sie aber meine Ideen und Pläne kennen gelernt haben, werden Sie vielleicht nicht so rasch bereit sein, ein kleines Vermögen zu opfern, denn was ich Ihnen zu berichten habe, klingt augenblicklich etwas phantastisch, zumal ich Ihnen noch nichts über die Personen sagen kann, deren Spur ich verfolgen muß, und auch die Anhaltspunkte noch so unklar und geringfügig sind, daß sie vor keiner Jury als beweiskräftig gelten würden.«

»Mir werden sie genügen,« lautete die einfache Antwort, »um Ihnen die energische Fortsetzung Ihrer begonnenen Nachforschungen ans Herz zu legen. Sagen Sie mir alles – ich stimme Ihren Plänen im voraus zu.«

*

 


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