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»Haben Sie nachher ein paar Minuten Zeit für mich, Doktor?« fragte Ferrars, der, nach seiner Unterredung mit Hilda Grant, noch lange mit Brierly und Dr. Barnes über den Fall verhandelt hatte. Der Arzt nickte zustimmend und während er seinen Gast nach dessen Schlafzimmer führte, ergriff Ferrars die auf dem Tisch stehende Lampe, trat an die Bahre des Toten und schlug die verhüllende Decke zurück. »Nein,« murmelte er, das stille Antlitz betrachtend, »du hast nicht solch ein Schicksal verdient, denn du warst ein guter, ehrlicher Mensch. Und doch – –« Er wandte sich rasch nach der Türe um, durch die soeben Dr. Barnes eintrat. »Ah, Doktor,« rief Ferrars ihm entgegen, »kommen Sie hierher und sagen Sie mir, wie Sie mit Ihrer Menschenkenntnis diesen Mann beurteilen, der jetzt so still hier liegt mit jenem rätselhaften Blick, den alle diejenigen haben, vor deren Augen sich der Schleier des Jenseits lüftet. Was für ein Mann war er?«
Dr. Barnes trat dicht neben die Bahre und schaute bewegt auf den Toten. »Er war ein guter Mensch, ein edler Christ; vielleicht zu bescheiden, um in dieser gierigen, hastenden Welt die ihm gebührende Anerkennung zu finden. Daß er von der Hand eines Mörders gefallen sein soll, erscheint unglaublich und doch –« Er beugte sich nieder, die Decke über den Toten zu breiten.
»Und doch?« wiederholte Ferrars, »glauben Sie dennoch, daß er ermordet worden ist?«
Der Arzt legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ferrars, morgen werden Sie gewiß den Waldweg, das Seeufer und den Wall besichtigen, und dann sagen Sie mir, ob Sie es für möglich halten, daß einer, – und sei er noch so ungeschickt im Zielen – an dieser Stelle aus Versehen einen Menschen niederschießen kann. Die Bäume stehen gerade dort so weit von einander, das Gebüsch ist so niedrig und der Ausblick so offen und unbehindert, daß niemand hätte schießen können ohne Charles Brierly zu sehen. Es ist ganz unmöglich! Hier kann nur ein Mord vorliegen.«
»Halten Sie unbedingt an dieser Meinung fest?«
»Jedenfalls so lange, bis ich durch unumstößliche Beweise vom Gegenteil überzeugt werde.«
Ferrars erwiderte nichts und erst nachdem sie sich wieder ins Nebenzimmer begeben hatten, fragte Dr. Barnes: »Haben Sie noch irgend welche Vorschläge bezüglich der Leichenschau zu machen?«
»Hm – ich dachte an den blödsinnigen Jungen, der Brierly im Walde gesehen hat. Könnten wir den nicht vorher noch einmal ausfragen? Sie kennen ihn ja wohl?«
»Natürlich. Viel werden wir ihm nicht entlocken, aber trotzdem will ich ihn kommen lassen.«
»Schön. Und die Dame im Ponywagen? Wird sie nicht auch vorgeladen?«
»Gewiß.«
»Dann ist alles in Ordnung. Es wäre mir lieb, wenn Sie mich morgen vor dem Frühstück nach dem Schauplatz des Unglücks fahren wollen. Sie brauchen dort nicht auf mich zu warten, ich finde mich ganz gut wieder zurück. Gute Nacht!«
Die beiden Männer trennten sich. Das für den Detektiv bestimmte Schlafzimmer lag dem Robert Brierlys gegenüber; der Arzt selbst hatte sich ein Lager in seinem Sprechzimmer hergerichtet.
Eine halbe Stunde später verließ Ferrars geräuschlos durch eine Seitentüre das Haus. Wenn er einen besonderen Fall – und er interessierte sich nur für solche – gefunden zu haben glaubte, so begab er sich nie zur Ruhe, ohne vorher einen Operationsplan auszudenken und alle Möglichkeiten ins Auge zu fassen.
Er war dem Rufe nur gefolgt, weil derselbe von Dr. Barnes ausging. Als er jedoch die näheren Umstände des tragischen Ereignisses gehört, in Hilda Grants trauervolle Augen geblickt und den Bruder des Toten gesprochen hatte, begann ihn der Fall zu interessieren.
Mit wirklicher Teilnahme hatte er das feine Gesicht des jungen Lehrers betrachtet, das auch im Tode noch den Ausdruck der Milde und Sanftmut zeigte. Bei diesem Manne – sagte sich Ferrars – war jeder Gedanke an einen Selbstmord ausgeschlossen, und so erschien es ihm als eine Pflicht, den feigen Verbrecher, der einer solchen Tat fähig gewesen, ausfindig zu machen, um ihn dem Arm der Gerechtigkeit zu überliefern.
Daß ein so harmloser Mensch wie Charles Brierly an einem so stillen Orte von Mörderhand fallen konnte, war für Ferrars ein Rätsel, und da er über dergleichen, seiner Gewohnheit nach, am besten auf einem ruhigen Spaziergang nachdenken konnte, so begab er sich am Abend seiner Ankunft in Glenville nicht zur Ruhe, sondern trat durch die Seitentüre des Hauses auf die menschenleere Straße hinaus. Vorüber an den kleinen, um diese Zeit längst geschlossenen Kaufläden, vorüber an der neuen Kirche, an den Hotels, den Villen und dem Park. Es war eine stille, balsamische Nacht mit hellem Mondschein und prächtigem Sternengefunkel.
Gemächlich schritt Ferrars an den Landhäusern entlang, in deren Gärten das silberne Mondlicht hineinflutete, Sträucher und Blumen mit zauberhaftem Schimmer umhüllend. Und dann erreichte der einsame Wanderer das Häuschen, in dem Hilda Grant wohnte, deren Herz wohl jetzt in der stillen Nacht schmerzzerrissen von unendlichem Weh nach Trost und Fassung rang. – »Ist es das Schicksal oder ist's die Vorsehung, die uns oft zu vernunftlosen Handlungen treibt?« murmelte Ferrars vor sich hin, als er eine Stunde später in sein Zimmer zurückkehrte. »Ich kann mich irren, allein mir ist, als hätte ich den ersten Anhaltspunkt gefunden.«
Und doch hatte er auf seinem Gang durch die öden Straßen nichts gehört; nur den Schatten eines Weibes hatte er an einem Fenster gesehen, eines Weibes, das ruhelos hin und her ging und ab und zu die Arme erhob. Geschah es in Verzweiflung oder im Triumph? – – – –
Mit dem ersten Sonnenstrahl erwachte Ferrars. Als er die unteren Räume betrat, fand er Dr. Barnes bereits seiner wartend. Nur wenige Worte miteinander wechselnd, fuhren sie dem Seeufer zu und nachdem sich Ferrars genügend orientiert hatte, bat er seinen Begleiter, ihn allein zu lassen, indem er versprach, sich zum Frühstück einzufinden.
Zwei Stunden später tauchte Ferrars wieder auf. Er erwähnte seinen Ausflug mit keiner Silbe; dennoch entdeckte das scharfe Auge des Arztes, daß seine Gedanken lebhaft beschäftigt waren. Nach beendetem Frühstück zündeten sich die Herren ihre Zigarren an. »Wo wohnt die Dame, die gestern in Herrn Dorans Ponywagen spazieren fuhr?« wandte sich Ferrars zu Dr. Barnes. »In einem Hotel?«
»Ja,« entgegnete Dr. Barnes, »in einer vornehmen Familienpension, dem Glenvillehotel. Sie heißt Frau Jamieson.«
Kennen Sie die Dame persönlich?«
»Ja. Sie schickte kürzlich einmal nach mir wegen eines geringfügigen Unwohlseins.«
»Wird sie vorgeladen?«
»Selbstverständlich.«
»Wie ist's, Doktor?« fragte Ferrars weiter, »wenn sich jemand von der Südseite des Weges her dem Wall genähert hätte, so würde die Dame den Betreffenden doch wohl gesehen haben. Auch ein Boot auf dem See hätte sie bemerken können, nicht wahr?«
»Gewiß,« lautete die Antwort. »Zwei Meilen weit ist der See vom Waldweg aus sichtbar. Ah, da kommt der wackere Doran mit dem Konstabler!«
In der Tat erschienen diese, gefolgt von einigen anderen Männern; für jeden hatte Dr. Barnes einen Auftrag und nachdem sie sich entfernt, begab er sich zu Hilda Grant. Da Brierly ihn begleitete, so blieb Ferrars für eine Weile allein, was ihm durchaus nicht unangenehm war. Lange jedoch sollte er sich des Stillebens mit seiner Zigarre nicht erfreuen. Er hatte sich eben behaglich in den Schaukelstuhl zurückgelehnt, bereit, sich einem ernsten Nachdenken hinzugeben, als das Gartentor geöffnet wurde und eine kleine, in Trauer gekleidete Dame eintrat, die sich Ferrars mit raschen Schritten näherte.
Als sie sein Gesicht erkennen konnte, blieb sie stehen.
»Entschuldigen Sie, mein Herr,« sagte sie kurz angebunden, »ich habe mich geirrt. Ich wollte Dr. Barnes sprechen.«
»Er ist ausgegangen,« erklärte Ferrars, »kehrt aber bald zurück. Wollen Sie Platz nehmen und auf ihn warten?«
Sie trat unschlüssig einen Schritt näher. »Ich muß es wohl, es sei denn, Sie könnten mir sagen, was ich zu wissen wünsche.« Ferrars zuckte bedauernd die Achsel. »Wenn es sich um eine ärztliche Frage handelt, fürchte ich – –«
»O nein,« unterbrach sie ihn rasch, »ich kam wegen der gerichtlichen Untersuchung über den Tod des armen jungen Mannes, der – doch Sie wissen es sicher.«
»Ja, ich habe davon gehört. Die Leichenschau findet um ein Uhr statt.«
»Ah! Und wissen Sie auch, ob die Zeugen bereits geladen sind?«
»Dr. Barnes hat vor einer Stunde die Aufforderungen ergehen lassen,« erwiderte Ferrars.
»Wirklich?« Ein flüchtiger Schatten huschte über das Gesicht der Dame. »Ich werde lieber nicht warten,« sagte sie, wie einem plötzlichen Entschluß folgend. »Vielleicht haben Sie die Güte, etwas für mich auszurichten, mein Herr?«
»Sehr gern.«
»Ich fuhr nämlich gestern zufällig durch den Wald, als die Leiche des jungen Mannes gefunden wurde. Man sagte mir, ich würde deshalb als Zeugin gebraucht, obgleich ich die Notwendigkeit nicht einsehen kann.«
»Es ist möglicherweise nur eine Form, läßt sich aber nicht umgehen.«
»Ich wollte mich gerade heute an einer Segelpartie beteiligen,« fuhr die Dame fort, »aber bevor ich absage, möchte ich wissen, ob mein Erscheinen gefordert wird. Ich heiße Frau Jamieson und –«
»O, dann kann ich Ihnen die Mitteilung machen,« fiel Ferrars ein, »daß Dr. Barnes eine Vorladung für Sie nach dem Glenvillehotel geschickt hat.«
»Wenn das der Fall ist, muß ich allerdings Folge leisten,« erwiderte die Dame, sich mit kurzem Gruß zum Gehen wendend.
Sobald sie außer Sicht war, zündete der Detektiv seine Zigarre von neuem an, indem er die nicht eben berufsmäßige Äußerung tat: »Ich liebe nicht, eine hübsche Frau aus dem Gesichtskreis zu verlieren, bis ich nicht genau die Farbe ihrer Augen kenne.«
Und doch galt Francis Ferrars durchaus nicht für einen Mann, der dem schönen Geschlecht huldigte.
*