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Sechstes Kapitel.
Vor der Jury

Ferrars hatte sich nicht geirrt mit seiner Prophezeiung, die Leichenschau werde keine für die Aufklärung des Falles wichtigen Tatsachen zu Tage fördern.

Der blödsinnige Junge, Peter Kramer, beharrte trotz Ferrars Bemühungen, durch Süßigkeiten und kleinere Geldstücke weiteres aus ihm herauszulocken, bei seiner ersten Aussage, er habe den Lehrer am Indianerwall auf der Erde sitzend gesehen, aber keinen Schuß gehört. Und als man ihn fragte, ob er außer dem Lehrer noch jemand bemerkt habe, erhob er wie zum Schutz den Arm, indem er mit einem Ausdruck des Schreckens in den blöden Augen zitternd das Wort: »Einen Geist!« hervorstieß.

Frau Fry, Charles Brierly's Hauswirtin, berichtete über dessen Erscheinen am Frühstückstisch, doch stimmte ihr Zeugnis nicht mit dem ihrer kleinen Tochter.

»Meine Nellie hat sich geirrt,« erklärte sie auf Befragen Dr. Barnes. »Herr Brierly kam außergewöhnlich früh herunter, sah abgespannt aus und aß wenig. Es fiel mir auf und ich machte später eine Bemerkung darüber, die Nellie falsch verstanden hat. Nach dem Frühstück verließ Herr Brierly das Haus, aber er nahm keine Bücher mit und so dachte ich, er würde wiederkommen, sie zu holen und – –«

»Seine Pistole hatte er aber wohl schon bei sich, als er zum Frühstück kam?« unterbrach sie der Vorsitzende.

»Ja.«

Die Waffe, die man dicht neben dem Toten gefunden, wurde vorgezeigt; von den sechs Läufen waren nur zwei entladen.

Daß es sich nicht um einen Raubmord gehandelt hatte, ließ sich durch die Tatsache erweisen, daß weder die Uhr des Toten noch der Inhalt seiner Taschen fehlte.

Hilda Grant's Aussage gab ebenfalls keinen Anhaltspunkt. Sie hatte ihren Verlobten zuletzt am Abend vor seinem Ende gesehen. Seine Stimmung zeigte nichts Auffälliges; er war ruhig, heiter wie gewöhnlich. Auch seine Liebhaberei, manchmal vor dem Unterricht am Seeufer nach der Scheibe zu schießen, kannte sie. Kam es einmal vor, daß er um neun Uhr noch nicht in der Schule erschien, so wußte sie, daß er erst noch nach Hause gegangen war: deshalb hatte sie am gestrigen Morgen auch nicht zuerst nach dem Seeufer, sondern zur Frau Fry geschickt.

Auf Anordnung Dr. Barnes, der es vermeiden wollte, die Neugierigen anzulocken, hatte Doran dafür gesorgt, daß die Anwesenheit Robert Brierlys bis zur Stunde niemand bekannt war, eine Anordnung, die Ferrars sehr gelegen kam. »Eine ausgezeichnete Idee von Ihnen!« lobte der Detektiv. »Halten Sie Brierlys Identität auch bei der Leichenschau vorerst geheim und rufen Sie ihn ganz zuletzt auf die Zeugenbank.«

Nachdem auch Doran seine Aussagen gemacht hatte, kam die Reihe an Frau Jamieson.

Sie war in Begleitung einer Bekannten erschienen und saß in der Reihe der Geschworenen, etwas abseits von Hilda Grant, Frau Marcy und Frau Fry.

Brierly hatte seinen Platz neben Hilda einnehmen wollen, doch Ferrars verhinderte dies. »Man weiß hier noch nicht, daß Sie der Bruder des Verstorbenen sind,« gab er zur Erklärung, »und es soll auch noch Geheimnis bleiben. Nennen Sie es eine Laune von mir, aber ich wünsche durchaus, daß Sie vorerst noch Ihr Inkognito wahren.«

Natürlich gab Brierly diesem Verlangen nach, obgleich er die Notwendigkeit dieses Inkognitos nicht recht begriff.

Mit vollkommener Selbstbeherrschung erschien Frau Jamieson auf der Zeugenbank. Unter den Anwesenden entstand eine leichte Bewegung. Die meisten waren der hübschen Frau wohl begegnet, wenn sie ihre Spazierfahrten machte, aber keiner hatte ihr Gesicht deutlich gesehen, denn sie verhüllte es stets mit dichten weißen oder schwarzen Schleiern. Heute jedoch hatte sie zu der schwarzseidenen Toilette ein kleines Kapottehütchen gewählt, dessen feiner Tüllschleier weder das üppige, aschblonde Haar noch das hübsche Gesicht verbarg.

Während sie über ihre Spazierfahrt am gestrigen Tage berichtete, schob Ferrars dem Doktor unbemerkt ein engbeschriebenes Kärtchen zu, das die Überschrift trug: »Stellen Sie nachfolgende Fragen aufs Geratewohl.«

Dr. Barnes ging sofort darauf ein und als Frau Jamieson erzählte, sie habe in der Nähe des Indianerwalles einen Mann gesehen, fragte der Arzt: »Können Sie denselben näher beschreiben?«

Sie verneinte. »Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, war auch zu sehr mit dem überaus unruhigen Pferd beschäftigt. Zudem lag kein Grund für mich vor, einen wildfremden Menschen, dem ich zufällig begegnete, genauer zu betrachten. So viel ich mich aber erinnere, war es ein großer, blondhaariger Mann.«

»Um welche Stunde trafen Sie ihn?«

»Ich glaube gegen acht Uhr. Auf die Minute kann ich es nicht sagen.«

Sie erzählte dann von ihrer Begegnung mit Doran und ihrer Unterredung mit Hilda Grant.

»Kannten Sie die Dame?« fragte Dr. Barnes.

»Nicht persönlich. Ich hatte sie nur in der Kirche und auf der Straße gesehen.«

»Und Charles Brierly? Kannten Sie ihn?«

»Nur von Ansehen. Außer den Mitbewohnern des Glenvillehotels kenne ich nur wenige Leute hier.«

»Wie weit fuhren Sie gestern in den Wald?«

»Bis zur alten Mühle, da wo der Weg sich dem See nähert.«

»Dann konnten Sie auch auf eine ziemliche Strecke hin das Ufer übersehen?«

»Ja.«

»Bemerkten Sie dort niemand?«

»Nein. Hingegen erinnere ich mich, an jener Stelle ein Boot gesehen zu haben.«

»Mit Rudern?«

»Nein, es waren keine darin.«

Hier endete das Verhör und Frau Jamieson machte einigen Schulknaben Platz, die berichteten, wie sie, nachdem der Körper des Lehrers gefunden worden war, eine Stunde vor den älteren Männern aufgebrochen seien, um den Wald zu durchsuchen. Dabei hätten sie am Seeufer ein Boot entdeckt. Diese Entdeckung teilten sie Doran mit, der in Begleitung anderer die Sache näher untersuchte. Das noch feuchte Boot, in dem sich zwei Ruder befanden, war anscheinend hastig ans Land gezogen worden, denn es war nicht mit der Kette befestigt.

Während diese Aussagen zu Protokoll genommen wurden, wechselte Frau Jamieson leise einige Worte mit ihrer Begleiterin. Von der Stelle aus, wo sie saßen, hatten sie durch die offene Türe einen ungehinderten Blick in das Nebenzimmer und auf den dort aufgebahrten Körper des Ermordeten.

»Es ist zu peinlich,« flüsterte Frau Jamieson ihrer Bekannten, einer Frau Arthur, zu, »daß wir hier sitzen müssen und mit solch' einem Anblick. Ich bin schon ganz nervös geworden.«

»Es wird ja nicht mehr lange dauern,« beschwichtigte sie die andere. »Mich interessiert die Geschichte – weil's mal etwas ganz Neues ist.«

Frau Jamieson wandte sich von ihr ab, denn der Vorsitzende nahm jetzt das Wort.

»Unsere Zeugen widersprechen sich noch in einem Punkte,« sagte er, »und das ist betreffs der Stimmung des Verstorbenen während der letzten vierundzwanzig Stunden vor seinem Tode. Wir rufen daher noch einen weiteren Zeugen auf, seinen Bruder, Herrn Robert Brierly.«

Als der junge Mann aus seinem etwas versteckten Platz hervortrat, richteten sich aller Augen auf ihn. Die große Ähnlichkeit mit Charles Brierly ließ keinen Zweifel über die Verwandtschaft der Beiden aufkommen. Es war dasselbe Gesicht, wenn auch energischer im Ausdruck, dieselbe hohe, kräftige Gestalt. – Als Brierly vor den Geschworenen stand, fiel sein Blick zufällig auf die in der gleichen Reihe sitzenden beiden Damen.

Rasch wandte er sich zu Dr. Barnes. »Man bedarf Ihrer Hilfe, Herr Doktor!« rief er ihm zu. »Eine Dame ist ohnmächtig geworden.«

In der Tat, Frau Jamieson lehnte bewußtlos mit geschlossenen Augen an der Schulter ihrer Gefährtin, die, auf die Totenbahre im Nebenzimmer deutend, erklärte, Frau Jamieson habe den schauerlichen Anblick nicht ertragen können.

Brierly war herbeigeeilt, die Ohnmächtige zu stützen, doch Ferrars winkte ihm, sich zurückzuziehen und trug die leichte Gestalt zusammen mit Dr. Barnes in ein auf der anderen Seite des Hauses gelegenes Zimmer, wo es ihren vereinten Bemühungen bald gelang, sie wieder zu sich zu bringen.

Dr. Barnes ließ durch Doran einen Wagen besorgen und Ferrars selbst geleitete die noch mit großer Schwäche Kämpfende in ihr Hotel zurück.

Als er sie dort in den kleinen Empfangssalon geführt hatte, reichte sie ihm die Hand. »Ich danke Ihnen für Ihren freundlichen Beistand,« sagte sie leise, »möchte Sie aber jetzt nicht länger bemühen. Nur hätte ich gern,« fügte sie zögernd hinzu, »das Resultat erfahren.«

»Wenn Sie gestatten,« erwiderte Ferrars, »werde ich mich nach Ihrem Befinden erkundigen und Ihnen dann mitteilen, was ich gehört habe.«

Er wollte sich verabschieden, doch sie hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. »Fräulein Grant, das arme Mädchen,« hauchte sie, »ich bedaure sie so sehr! Kennen Sie sie genauer?«

»Sie ist meine Kusine.«

»Ah! Ich hätte sie gern besucht. Wollen Sie bei ihr anfragen, ob es ihr angenehm wäre. Und bitte – kommen Sie morgen zu mir.« – –

Inzwischen hatte Robert Brierly der Jury alles erzählt, was er von seinem Bruder wußte; auch sprach er seine Überzeugung aus, daß derselbe das Opfer eines Verbrechens geworden sei, das heißt möglicherweise eine Verwechselung mit einem anderen, denn sein Leben sei ein offenes Buch gewesen – er habe keine Feinde besessen.

Unter dem Eindruck dieser Erklärung fällte die Jury, nachdem sie einig geworden war, daß Charles Brierly nicht selbst Hand an sich gelegt haben könne, das Urteil, er sei von Unbekannten aus Versehen durch einen Schuß getötet worden.

»Ich werde nicht ruhen, bis die Wahrheit ans Tageslicht gekommen ist,« sagte Brierly, als er mit Ferrars allein war. »Ein reicher Mann bin ich nicht, aber alles was ich besitze, will ich freudig für den Zweck opfern. Ich bin es meinem armen Bruder, meinen Eltern schuldig.«

Und als er spät am Abend, am Fenster seines Zimmers stehend, zu den Sternen aufschaute, die wie blitzende Kugeln den nächtlichen Horizont bestrahlten, da murmelte er tief aufseufzend: »Ach Ruth, Ruth, wir waren schon so weit auseinander, doch nun – Es war gut, daß ich Dir die Freiheit ließ, denn die Kluft erweitert sich immer mehr und wer weiß, wie bald sie unübersteigbar sein wird!«

Und wieder seufzte er wie ein Mann, der gewaltsam die Tränen zurückgedrängt, die ein bitterer Herzenskummer ihm in die Augen treibt.

*

 


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