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Neuntes Kapitel.
Eine Verabredung

Vier Tage nach dem traurigen Ereignis wurden Charles Brierlys sterbliche Überreste nach Chicago überführt, um an der Seite der Eltern in der Familiengruft zur letzten Ruhe bestattet zu werden.

Die Nachricht von dem Begräbnis war bald bekannt geworden und so hatten sich verschiedene Freunde des Verstorbenen eingefunden, dem so früh aus dem Leben Geschiedenen die letzte Ehre zu erweisen.

Dr. Barnes und Hilda Grant, der sich Frau Marcy angeschlossen hatte, begleiteten Brierly. Ferrars hingegen blieb in Glenville zurück, da er behauptete, seine Anwesenheit sei dort dringend nötig, auch wolle er keine Zeit verlieren, verschiedene ihm wichtige Bekanntschaften in dem Städtchen anzuknüpfen.

Drei Tage später kehrten Dr. Barnes und Hilda zurück. Robert Brierly war in Chicago geblieben.

»Er muß die Angelegenheiten seines Bruders ordnen und einen Detektiv engagieren,« belehrte Doran seinen Nachbar Jones.

»Das hätte er schon früher tun sollen,« meinte dieser. »Drei Tage hat er sich nicht gerührt – scheint keine Eile damit zu haben.«

»Na, Ihr wißt doch selbst, Jones,« verteidigte Doran den Abwesenden, »daß man an einen unglücklichen Zufall glaubte. Ich denke mir, er und der Doktor haben nach der Leichenschau die Wunde noch 'mal genauer untersuchen wollen.«

»Das kann wohl sein,« stimmte Jones bei. Doran, der mit ihm in der Nähe des Bahnhofs stand, wandte sich jetzt von ihm ab, denn er hatte Dr. Barnes erspäht, der, nachdem er Hilda und Mrs. Marcy in einen Wagen gesetzt, langsam den Weg zu seinem Hause einschlug. Doran gesellte sich zu ihm.

»War doch gut, Herr Doktor, daß ich den Wagen für Fräulein Grant an die Bahn schickte, nicht? Sie sieht noch recht angegriffen aus. Den Herrn Grant werden Sie aber so bald nicht sehen – wenigstens nicht vor Abend. Die hübsche Witwe im Glenville-Hotel scheint ihn gekapert zu haben,« fügte er mit pfiffigem Augenblinzeln hinzu, »sind heute mit meinen Grauschimmeln spazieren gefahren. Na, verdenken kann man's ihm am Ende nicht – sie ist so'ne hübsche, kleine Witwe.«

Dr. Barnes lachte hell auf. »Sehr gut gesagt, Doran! Hübsche, kleine Witwe! Ist sie das aber auch?«

»Im Hotel sagen sie's, Witwe und reich. Doch jetzt müssen Sie mich entschuldigen, Herr Doktor – ich hab' noch 'nen Gang zu machen.« Er grüßte höflich und Dr. Barnes setzte seinen Weg fort.

Wie Doran richtig prophezeit hatte, stellte sich Ferrars erst gegen Abend ein. Er ließ sich von Dr. Barnes über dessen Aufenthalt in Chicago sowie über Charles Brierlys Begräbnis berichten und erzählte dann von seinen eigenen Erlebnissen.

»Frau Jamieson und ich,« schloß er, »sind jetzt gute Freunde. Wenn man sie näher kennt, ist sie eine sehr interessante Frau, gerade die Sorte, deren Gesellschaft mir zuweilen besonders zusagt. In unserer Angelegenheit hat sich inzwischen nichts Neues ereignet. Nur möchte ich Fräulein Grant sprechen und heute abend muß ich auch noch mit Ihnen Rücksprache nehmen, Doktor, denn ich habe mich entschlossen, unseren Operationsplan zu ändern.«

Als Ferrars Hilda nach vorangegangener Anmeldung begrüßte, fand er sie so ruhig und gefaßt, daß er ihr ohne weitere Umschweife den Zweck seines Besuches erklärte. »Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen,« begann er, »doch erst müssen Sie mir sagen, ob Sie noch volles Vertrauen in mich setzen.«

»Ich vertraute Ihnen vom ersten Augenblick unserer Begegnung an,« erwiderte Hilda einfach, »und dieses Gefühl hat sich nicht geändert, sogar eher noch gesteigert.«

»Ich danke Ihnen für diese liebenswürdigen Worte,« entgegnete der Detektiv, wie ein Schulknabe errötend, »es soll mein ernstes Bestreben sein, Ihr Vertrauen in jeder Hinsicht zu rechtfertigen. Und nun lassen Sie mich Ihnen mein Anliegen vortragen. Ich glaube leichter und rascher zum Ziel zu gelangen, wenn Sie mir erlauben wollen, für unbestimmte Zeit die Rolle weiter zu spielen, die mir von anderer Seite zugeteilt wurde – das heißt, auch fernerhin in den Augen der Bewohner von Glenville als Ihr Vetter zu gelten.«

»In Glenville? Warum?«

»Als Dr. Barnes mich hierherrief, indem er mir riet, mich für Ihren Vetter auszugeben, tat er es, weil er fürchtete, es könne ein Hindernis für die Lösung des Geheimnisses sein, wenn es bekannt würde, daß ich Detektiv bin. Ich kann es Ihnen nicht erklären weshalb, aber ich bin fest überzeugt, daß ich meine beste Waffe verlöre, müßte ich jetzt mein Inkognito preisgeben. Nur unter diesem Schutz darf ich hoffen, daß es mir möglich sein wird, ein Verbrechen aufzuklären, welches von langer Hand vorbereitet war und dessen Ursache wir uns alle nicht träumen lassen.«

»Ihre Begründung genügt mir vollkommen,« entgegnete Hilda ernst. »Handeln Sie ganz nach eigenem Ermessen; nur beweisen Sie der Welt, daß Charles Brierly, vor Gott mein Gatte, ebenso starb wie er lebte – ein Edelmann und ein Märtyrer. Nicht ein Selbstmörder oder das Opfer einer gerechten Vergeltung, wie die Meisten glauben werden, wenn die Wahrheit nicht ans Tageslicht gebracht wird.«

»Verstehen Sie mich wohl,« unterbrach Ferrars sie, »falls Sie einwilligen, müssen wir beide eine aktive Rolle in dem Drama spielen, das nun beginnt. Es wird Ihre Aufgabe sein, wochen-, vielleicht monatelang Verstellung zu üben und nur nach meinen Anordnungen zu handeln.«

»Heißt das, Sie bedürfen meiner Mithilfe?« fragte Hilda gespannt.

»Ja, ich bedarf Ihrer Mithilfe.«

Wie von einem Bann erlöst, richtete sie sich auf. »O, Sie wissen nicht,« rief sie mit einem Aufleuchten der Augen, »welche Wohltat Sie mir erweisen! Tätig zu sein, mitzuhelfen, anstatt still zu sitzen und mich in Gram und Herzeleid zu verzehren! O welche Wohltat! Kein Freund, kein Verwandter könnte mir einen größeren Dienst erweisen.« Impulsiv streckte sie ihm beide Hände entgegen. Als er ihre schlanken Finger umschloß und ihr in das erregte Gesicht blickte, da erkannte er zum ersten Mal, welche Willenskraft und Seelenstärke dieses zarte, sanfte Wesen in sich barg.

»Ich danke Ihnen für Ihre Bereitwilligkeit,« sagte er, ihre Hände freigebend, »weiß ich doch, daß ich mich zu jeder Zeit auf Sie verlassen kann. Sie besitzen Energie; wird es Ihnen aber nicht an Geduld fehlen? Augenblicklich kann ich Ihnen noch nicht viel mitteilen; Sie müssen mir vertrauen auch ohne Erklärungen meinerseits.«

»Das habe ich erwartet.«

»Sehen Sie – ich halte unbeugsam daran fest, den Namen einer verdächtigen Person nicht eher zu nennen, als bis ich genügend Schuldbeweise in Händen habe, um nötigenfalls eine Verhaftung vornehmen zu können. Immerhin haben Sie ein Recht, das zu erfahren, was ich verraten darf, und wenn Sie eine Frage an mich richten möchten, so will ich sie, so gut ich es vermag, beantworten.«

»Ich danke Ihnen für diese Erlaubnis,« entgegnete Hilda warm. »Ja, ich habe eine Frage, die sich mir immer von neuem aufdrängt. Weder das Leben noch der Tod meines armen Charley barg eine Schuld – wo liegt nun das Motiv zu der unseligen Tat?«

»Das Motiv? Ja, wenn wir das erst wissen, so haben wir auch den Schlüssel zu dem Geheimnis. Setzen Sie sich, Fräulein Grant, ich will Ihnen den Fall darlegen, wie ich ihn zur Zeit beurteile.«

Schweigend sank sie auf einen Stuhl, mit verschlungenen Händen zuhörend.

»Was die Ausführung des Mordes anbelangt,« begann Ferrars, »so bin ich zu folgendem Schluß gekommen: Jemand, der Herrn Brierly haßte oder fürchtete, machte sich erst mit seinen Gewohnheiten vertraut und orientierte sich dann aufs genaueste in der Gegend, besonders am Seeufer und im Wald. Herr Brierly übte sich seit einiger Zeit im Scheibenschießen. Wissen Sie, ob er dies aus einem besonderen Beweggrund tat?«

»Nein.«

»Es ist auch nur eine Nebenfrage. Auf alle Fälle ist das Verbrechen lange vorher geplant und sorgfältig vorbereitet worden. Ich habe mich genau überzeugt, daß der Mörder, von Süden her kommend, den ganzen Wall entlang ging, um sich zu versichern, daß niemand in der Nähe sei und um die Stelle zu erreichen, von wo aus er den tödlichen Schuß abfeuern konnte.«

»Mein Gott!« seufzte Hilda leise auf.

»Es war ein kühnes Wagnis, immerhin aber nicht so gefährlich, wie es den Anschein hat. Ich fand, man kann sich auf halber Höhe des Walles recht gut verbergen, sodaß man vom Seeufer ungesehen bleibt, selbst aber den Weg eine gute Strecke weit zu übersehen vermag. Gerade an dieser Stelle befindet sich ein kleines Gehölz von jungen Bäumen und Buschwerk, genügend dicht, um sich darin zu verstecken, falls durch eine Störung Gefahr drohte. Dies alles hat der Mörder gut erwogen und ich glaube, schon fünf Minuten nach der Tat hatte er einen Punkt erreicht, wo ihn ein Helfershelfer erwartete, um ihn auf irgendeine Weise rasch in Sicherheit zu bringen.«

»Mit Hilfe des Bootes?« warf Hilda fragend ein.

»Ja. Möglicherweise wurde es aber nur an die Stelle gebracht, wo man es später fand, um die Polizei irre zu führen. Doran hat heute erfahren, daß der Knecht eines Bauernhofes, der das Vieh zur Tränke führte, an jenem Morgen gegen sieben Uhr einen Mann bemerkte, der in einem Boot nach Glenville zu ruderte.«

»Haben Sie die Spur dieses Menschen?« unterbrach ihn Hilda erregt. »Kann man ihn verfolgen?«

»Ich hoffe es. Wir haben aber noch weitere Anhaltspunkte. Bei der Leichenschau wurden die Aussagen einzelner Zeugen absichtlich nicht scharf geprüft.«

»Aus welchem Grunde?«

»Weil irgendwo hier in der Nähe jemand den Verlauf der Sache beobachtet hat und uns vielleicht ohne sein Wollen einen Fingerzeig geben kann, sobald er nur erst glaubt, wir hätten die Spur verloren. Sie könnten mir nun in einer Beziehung sehr dienlich sein, Fräulein Grant, das heißt, sobald Sie sich stark genug fühlen.«

»Wenn es gilt, Ihnen zu helfen, fühle ich mich stark genug,« erwiderte Hilda entschlossen. »Was wünschen Sie von mir?«

»Erinnern Sie sich des geistesschwachen Jungen und seiner Furcht beim Verhör?«

»Gewiß.«

»Nun, könnten Sie als seine Lehrerin es nicht fertigbringen, ihm diese Furcht auszureden? Der Junge hat nicht alles gesagt, was er weiß.«

»Es wird nicht leicht sein, denn er ist sehr stumpfsinnig. Er sprach beständig von einem Geist, den er gesehen habe.«

»Ganz recht. Wir müssen zu erfahren suchen, was für ein Geist das war und weshalb derselbe ihm eine solche Furcht eingejagt hat.«

»Ich werde mein Möglichstes tun, dies zu ergründen,« versprach Hilda.

»Und nun noch eins!« fuhr der Detektiv fort. »Man hat mir gesagt, daß, wenn Fremde hierherkommen, sie meist im Glenville-Hotel absteigen. Aus Rücksicht auf unsere Angelegenheit interessiert es mich natürlich zu wissen, wer in letzter Zeit dort verkehrte. Durch Frau Jamieson, die gesellschaftlich eine Rolle in dem Hause spielt, habe ich auch schon verschiedene Personen kennen gelernt. Sie hat mir den Wunsch geäußert, Sie besuchen zu dürfen und wenn Sie dies gestatten und auch den Besuch der Dame erwidern wollten, so würden Sie mir einen Dienst damit erweisen.«

Hilda antwortete nicht gleich und als sie es endlich tat, zeigte sie durchaus nicht mehr die frühere Bereitwilligkeit. »Ich werde natürlich Ihrem Wunsche entsprechen, Herr Ferrars,« sagte sie zögernd, »obgleich ich nicht einmal an die Frau denken kann, ohne an unsere erste Begegnung erinnert zu werden und an das furchtbare Weh, das mir ihre Botschaft verursachte.«

»Es ist ihr auch nahe gegangen,« versicherte Ferrars, »denn sie hat wirklich Gefühl. Ihre Freundin erzählte mir, sie sei damals ganz krank nach Hause gekommen.«

»Das glaube ich gerne,« entgegnete Hilda etwas besänftigt, »sie sah schon elend aus, als sie zu mir kam. Frau Jamieson ist sicher gutherzig und dabei eine gebildete Dame. Weshalb sollten wir uns also nicht befreunden? Ich werde sie gern empfangen.«

»Schön!« nickte der Detektiv zufrieden. »Und bitte, vergessen Sie nicht, daß ich gegenwärtig nicht Francis Ferrars sondern Ferris-Grant heiße. Sie werden Ihre Rolle gut spielen?«

»Nach bestem Können,« versprach Hilda und als er sich verabschiedet hatte, murmelte sie mit traurigem Lächeln: »Ein Detektiv ist schließlich auch nur ein Mensch und diese hübsche blonde Frau mag es wohl verstehen, einen starken, großherzigen Mann wie Francis Ferrars zu bestricken.« –

*

 


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