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Fünftes Buch
Der Verbannte

»Warum soll ich harmonisch sein!«

 

I

»Mein Puls geht jetzt durchschnittlich in der Minute 15 Schläge mehr als unter der vorigen Regierung ... Wer weiß, was sie machen, wenn ich den Rücken kehre.« Mit diesem Bekenntnis zwischen Furcht und Fieber, mit diesem più moto, das zum letzten Satze der großen Symphonie hinüberleitet, gibt Bismarck die Grundstimmungen kund, in denen er die hundert Tage an der Seite des kranken Kaisers verbringt.

Ein Jahr hat er Zeit gehabt, der neuen Lage neue Mittel anzupassen, denn mit der Erklärung zum Moriturus war Friedrich zum Zwischenspiel, Prinz Wilhelm zum Objekt bismarckischer Kalküle geworden. Als er dann den sterbend heimkehrenden Kaiser zum erstenmal amtlich berät, sind es auf den Tag vierzig Jahre, seit er zum erstenmal einen König von Preußen beraten, noch immer ist es das kleine friderizianische Potsdam, in dem, März 48 wie März 88, Bismarck die Königswacht übt. Denkt er, in seinem historischen Fühlen heut, als der Wagen durch das Parktor fährt, vergangener Zeiten?

Damals war es kein Hofwagen, der ihn durch die Allee führte, und als ihn Augusta empfing, tat sie es heimlich, in einem Dienerzimmer, um sich nicht mit dem Junker aus Pommern sehn zu lassen, denn drüben in Berlin wurde noch geschossen; und hätte damals der Junker seine Hand zu ihrem Plane geboten, der 18jährige Friedrich wäre unter Rücktritt von Onkel und Vater wahrscheinlich König geworden. So aber hatte er sie gezwungen, Königin zu werden, Kaiserin, und sich selber die schärfste Feindin seiner Laufbahn als Herrin seines Herrn herangezogen. Der hier versteckte Prinz hat nun erst, hat in sagenhaftem Alter seine Bahn beendet, und jener Sohn, dessen rasche Heraufkunft des Junkers Veto damals hinderte, liegt nun, nach 40 durchwarteten Jahren, ein armer, nach Atem ringender Mensch, in seinem Stuhl, und wie sie den Cid und den toten Mahdi aufs Pferd gebunden haben, so haben sie gestern Friedrich den Dritten im Wagen dem Volke gezeigt.

Jetzt, da er die Treppe hinaufgestiegen, findet Bismarck Viktoria, die schon den gesunden Gatten beherrschte, heut vollends alles in Händen hält, nun aber, ohne die erträumte Macht, nach langen Vorgefechten sich mit dem mächtigen Feind und Diener stellen muß; denn bald wird sie als Witwe seine Hilfe gegen ihren zweiten Feind brauchen, den Sohn und künftigen Kaiser. Mit allen Künsten der Verführung weiß jetzt Mephisto die beiden Viktorien zu gewinnen, denn auch die Queen ist von England herüber gekommen und staunt über den Charme des gefürchteten Alten. Welch ein Hexenspiel in diesem verwunschenen Schlosse, wo alles auf leisen Sohlen huscht, um nicht den Kranken zu stören und nichts dem Sohn und Erben zu verraten, der seine Späher schon im Sterbehaus postiert hat; wo die Frauen regieren möchten, bis dann zuweilen aus Berlin der Gefürchtete kommt, der riesige, kuppelköpfige Greis mit dem graublauen Blick unter den buschigen Brauen, und in langsamen Sätzen als alleruntertänigsten Vorschlag den Frauen seinen unumstößlichen Willen zu Füßen legt.

Aber da ist noch eine dritte Viktoria, und wie in diesem Kaiserschlosse die Leidenschaften unhörbar aufeinanderschlagen, wie Machtwillen und Lebensdurst, Familienhaß und Hochmut ringen, fehlt auch nicht die Begehrlichkeit der alternden Frau, und eben diese führt die Gegensätze zur Krisis. Den Battenberger Prinzen, den neuen Prätendenten von Bulgarien, will man zum Schwiegersohne haben, aber da ruft der alte Zauberer: Zurück!, denn diese Weibergeschichte könnte ihm sein ganzes Netz zerstören.

»Der Battenberger, sagt er zu Busch, ist dem Zaren ... vielleicht die verhaßteste Persönlichkeit, die er kennt ... Die neue Kaiserin ist immer Engländerin gewesen, für ihre Zwecke, sie ist es in ihrer jetzigen Stellung noch mehr, und in dem Battenberger soll ein Werkzeug geschaffen werden. Er ist der Sohn eines Fräulein Hauke aus Polen, nicht grade empfehlenswerte Familie.« Und noch intimer zur Freundin Spitzemberg: »Die mittlere Vicky ist die schlimmste, sie ist eine wilde Frau; wenn ich ihr Bild ansehe, graut mir vor der ungebrochenen Sinnlichkeit, die aus ihren Augen spricht. Sie ist in den Battenberger verliebt und will ihn um sich haben, wie ihre Mutter seinen Bruder, die die Engländer the selfish old heart heißen, wer weiß, mit was für blutschänderischen Gedanken.«

Kabinettsfrage des Kanzlers. Der Kranke, der gegen die Heirat nichts hat, scheint für den Augenblick doch froh, durch Adressen aus Bismarcks Kreisen vor einem Wechsel gewarnt zu werden; Ehrgeiz und Feindschaft schwinden mit den Lebenskräften, seine Seele sucht Stille. Aber Bismarcks unversöhnliches Herz schlägt weiter im Takte des Kämpfers: »Sie treiben Landesverrat, so hatte er ein Jahr zuvor von Friedrich und Viktoria zu einem Fürsten gesagt. Keine Spur von deutscher Gesinnung, haben allen Boden im Volke verloren, stiften Zwietracht in der Familie.« Jetzt urteilt er: »Mein alter Herr war sich seiner Abhängigkeit bewußt, der sagte: Helfen Sie mir, Sie wissen ja, daß ich unter dem Pantoffel stehe. Dazu ist dieser zu stolz, aber er ist in einer Weise abhängig und unterwürfig, die nicht zu glauben ist, wie ein Hund.«

Immer steiniger wird seine Menschenverachtung, es ist, als ob sie petrifizierte, und so beginnt Bismarck am Ende die Schärfe des Seelenblickes zu verlieren, er trübt sich ihm, höher steigen Kälte und Mißtrauen, mit bösen Blicken sitzt der alte Löwe vor seiner Höhle, schlägt mit der großen Tatze nach Jedem, der zu nahe kommt, und wacht über seinem Schatz im Innern, dem Reich. Aber der alte Jugendfreund Keyserling fragt sich bei einem seltenen Besuche: »Was regt sich in seinem tiefsten Herzensgrunde? Nicht das stolze Bewußtsein, nicht das behagliche Gefühl gelungener großer Werke, nicht der Genuß in Ruhe und Frieden.«

Muß nicht ein so gehäufter Menschenhaß zu seinem Ausgang wiederkehren? Müssen nicht Mitarbeiter, Abgeordnete, muß die Nation die Kälte und Verachtung nicht spüren, die ihr Führer gegen sie hegt? »Er macht mir den Eindruck eines geistig nicht ganz gesunden Mannes,« notiert sich Hohenlohe. Im Reichstag, wo er seit 87 am Kartell der Konservativen und Nationalliberalen wieder eine kompakte Mehrheit hat, mit der er seine sozialen Gesetze und den Schutzzoll ausbauen kann, ist er dennoch persönlich in steigendem Maße verhaßt. »Ich habe, sagt er einmal aus der Sitzung heimkehrend, nach solchen Debatten einen Katzenjammer, als ob ich mich in einer schmutzigen Kneipe mit Gesindel gebalgt hätte.« Schon schließen sich in Hoffnung auf den jungen Kaiser aufs neue wie vor 15 Jahren die Vettern zusammen; in der Sofaecke eines Salons verständigt sich schon Holstein mit Windthorst für eine gefährliche Zukunft.

Da wandelt sich in Bismarcks Hirn die verklungene Epoche rasch zur Guten Alten Zeit, jetzt rühmt er seinen alten Herrn so oft, als er ihn bei Lebzeiten verklagte: »Ja, der alte Kaiser war ein zuverlässiger Kamerad, der einen nicht fallen ließ ... Er war zuerst oft auf dem falschen Wege, ließ sich aber immer zuletzt auf den richtigen bringen«; ja, im Anblick Viktorias beginnt er sogar Augusta zu verklären: »Die hat mir auch viel Not bereitet, aber sie blieb immer eine vornehme Frau voll Pflichtgefühl, was der neuen ganz und gar fehlt ... Sie möchte ihren fortschrittlichen Freunden ein Opfer bringen, Er ist ja willenlos. In solchen Lagen darf man sich aber nicht damit trösten, es sei schon recht, wenn alles schief ginge ... Ich werde mich fest an meinen Stuhl halten, und wenn man mir meinen Abschied ins Haus schickte, würde ich auch nicht gehen, weil ich ihn nicht gegengezeichnet habe! ... Es werden keine Monarchen mehr geboren. Von unserm jungen Herrn hoffe ich's, dem hat seine schwierige Jugend geholfen.«

Da sich Prinz Wilhelm zu Hause schlecht behandelt fühlte, hatte er sich in den letzten Jahren Bismarck entschieden genähert. Wenn der Vater über seines Sohnes »rasches und zur Übereilung neigendes Urteil, mangelnde Reife, verbunden mit seinem Hang zur Überhebung wie zur Überschätzung« schon im Jahre 86 dem Kanzler vorklagte, so konnte dergleichen auf den leidenschaftlichen Empfänger des Briefes eher sympathisch wirken, und wenn dieser nun versuchte, den Prinzen seiner Potsdamer Stumpfheit zu entheben, so trieb ihn das merkwürdige Vorgefühl von einer kurzen Regierung Friedrichs an, das er in dessen gesunden Jahren ausgesprochen hat. Feindschaft gegen die Eltern des Prinzen vereinigte anfangs Bismarck und Wilhelm.

Aber schon ein Jahr später rief dessen Eigenwille Reibungen hervor. Stöcker und Waldersee hatten ihn zur Bekämpfung des Sozialismus durch Frömmigkeit und milde Gaben beredet, Wilhelm entwarf Reiterfeste zur Unterstützung der Berliner Armen und erzürnte den Kanzler nicht nur durch so parteiliches Hervortreten, weit mehr durch den Dilettantismus, mit dem hier die soziale Frage auf dem Parkett und auf der Kanzel gelöst werden sollte, der der alte Kämpfer mit Gesetz und Schwert zu Leibe ging. In seiner Verteidigung versicherte der Prinz: »Ich ließe mir stückweis ein Glied nach dem andern für Sie abhauen, eher, als daß ich etwas unternähme, was Ihnen Schwierigkeiten machen ... würde.« Bismarck stutzte bei so übertriebenen Beteuerungen; noch mehr, als ihm bald darauf, in den letzten Monaten des alten Kaisers, der Prinz eine Mitteilung an alle Bundesfürsten im Entwurf übersandte, die er schon jetzt versiegelt auf den Gesandtschaften niederlegen wollte, »im Hinblick auf die nicht unmögliche Eventualität eines baldigen oder raschen Hinscheidens des Kaisers und meines Vaters,« worin er dem Inhalte nach »die alten Onkels warnt, sie sollten dem lieben jungen Neffen nicht Knüppel zwischen die Beine werfen«, wenn er Kaiser wäre.

Bismarcks Unruhe steigt: welches Fieber muß in diesem jungen Manne glühen, der vor dem Tode zweier Vordermänner schon Proklamationen entwirft und einem Dutzend Büros anvertrauen will! Und kennt der Prinz die Reichsverfassung nicht, daß er die Bundesfürsten von oben behandelt? In einem 8 Druckseiten füllenden eigenhändigen Briefe, der, wie er sagt, seine Schreibkraft weit überstieg, erklärt er nun dem Erben die Grundsätze dieses Reiches und gibt »ehrerbietig anheim (das Schriftstück) ohne Aufschub zu verbrennen«. Ein Stachel ins Herz des Prinzen! Sein erstes Wort als Kaiser, wenn auch vorweg genommen, war also unbrauchbar? Und dies ihm ins Gesicht gesagt, von diesem Kanzler, für den er schon so viel gelitten? Denn daß die egoistische Parteinahme des Prinzen gegen seine Eltern ein Opfer sei, das suggeriert er sich selber schon heut und wird nach Jahren noch den Dank des Alten einfordern.

Seine Antwort ist kühl, sie enthält die Drohung: »Wehe ihnen, wenn ich zu befehlen haben werde!« Geschrieben ist der Satz gegen andere Leute, aber den schneidenden Ton nimmt das feine Ohr des Lesers auf, er mag sich manches denken. Er weiß sehr wohl, warum er in jenem langen Schreiben dem Erben der Krone geraten hatte: »Die festeste Stütze der Monarchie suche ich ... in einem Königtum, dessen Träger entschlossen ist, nicht nur in ruhigen Zeiten arbeitsam mitzuwirken an den Regierungsgeschäften des Landes, sondern auch in kritischen lieber mit dem Degen in der Faust auf den Stufen des Thrones für sein Recht kämpfend zu fallen, als zu weichen. Einen solchen Herrn läßt kein deutscher Soldat im Stich.« Ist es Zufall, Menschenkenntnis oder ist es Seherkraft, daß Bismarck grade diesem Prinzen diese Mahnung schrieb, 30 Jahre, bevor derselbe Wilhelm auf dies Exempel die Probe zu machen vom Schicksal gedrängt, von seinem Charakter gehindert wurde?

Schon als er Kronprinz wird, beginnt sein Bleistift auf friderizianische Art die Akten mit Notizen zu übersäen; in einigen kann man den Dialog des jungen Wilhelm mit Bismarck lesen, wie dieser die Glossen des Prinzen mit Gegenglossen widerlegt, auf dem Gebiete der großen Politik. Denn immer weiter, immer allgemeiner werden Bismarcks Mitteilungen an seine Botschafter, deren Abschriften der Prinz jetzt lesen darf, aus Erlassen und Verfügungen werden Staatsschriften und Maximen, und man blickt auf diese auswärtigen Akten Bismarcks wie auf die Altersweisheit der Dichter oder die letzten Selbstbildnisse der großen Maler, und auch diese sind Selbstbildnisse. Als sich um ihn her die antirussische Stimmung verschärft, die Militärs zum Kriege drängen, schreibt er seinem Wiener Botschafter:

»Dies unzerstörbare Reich russischer Nation, stark durch sein Klima, durch seine Wüsten und seine Bedürfnislosigkeit ... würde nach seiner Niederlage unser geborener und revanchebedürftiger Gegner bleiben, genau wie das heutige Frankreich es im Westen ist. Dadurch wäre für die Zukunft eine Situation dauernder Spannung geschaffen, welche ... freiwillig herbeigeführt zu haben ich nicht auf meine Verantwortung nehmen möchte. Das ›Zertrümmern‹ einer Nationalität ist den starken Großmächten schon in betreff der viel schwächeren polnischen in hundert Jahren nicht gelungen ... Wir werden am besten tun, die russische wie eine elementarisch vorhandene Gefahr zu behandeln, gegen die wir Schutzdeiche unterhalten.«

Als er dies liest, schreibt Wilhelm neben den Gedanken neuer Gegnerschaft: »nicht mehr, wie es schon jetzt ist«. Bismarck neben dies Wort: »doch mehr!« Zum Revanchebedürfnis, Wilhelm: »bedürftig vielleicht, aber nicht in der Lage«. Bismarck: »aber bald wieder, wie Frankreich seit 12 Jahren längst wieder«. Zur Zertrümmerung der Nation, Wilhelm: »wohl aber ihrer Kampfesmittel!« Bismarck: »die sind in 5 Jahren ersetzt, vgl. Frankreich«.

In diesem kleinen geschriebenen Dialoge holt man schon Erfahrung mit Ungeduld, ein reifes mit einem vorlauten Urteil streiten. Aber noch will der Alte den Jungen erziehen, schreibt ihm auf diese flüchtigen Sätze hin einen großen Brief über russische Politik, warnt zugleich vor Glossen von solcher Tragweite, »da die Beamten, welche Kenntnis von Höchstdero Randbemerkungen haben, mich selbst nicht ausgeschlossen, sonst nicht imstande sein werden, das friedliche Verhalten der deutschen Politik bei einem erfolgenden Regierungswechsel mit derselben Sicherheit wie bisher ... in Aussicht zu stellen. Ich würde, soweit ich E. K. H. Marginalien verstehe, gegen meine Überzeugung sprechen müssen, und es ist für die Politik des deutschen Kaisertums der Ruf der Unaufrichtigkeit noch gefährlicher, als selbst die entschlossene ... Tendenz, Krieg führen zu wollen«.

So große Worte wählt Bismarck zur Warnung des Jünglings und erstaunt noch mehr, als dieser am nächsten Tage von »übertriebener Bedeutung« spricht, die man seinen Glossen beigelegt habe, er sei ja ganz friedlich. Hat also der junge Herr nur Launen? Kennt er die interne Wirkung solcher Äußerungen nicht? Er werde, fügt er bei, die Randbemerkungen unterlassen, »in teilweiser Anerkennung der von E. D. geltend gemachten Gründe,« behält sich aber vor, seine Ansichten anderweitig »mit aller Offenheit zur Kenntnis zu bringen«. So keck hätte der alte Herr niemals geschrieben: teilweise Anerkennung ist Bismarck neu. Freilich haben es junge Erben leicht, von Kriegen zu reden, die nötig werden können, sie kennen die Gefahren nicht, ihre Nächte sind nicht schlaflos von Sorgen, und der von kampflustigen Generalen umgebene Prinz würde erschrecken, wenn er die dunklen Zeilen läse, in denen Bismarck den Kriegsminister prophetisch warnt:

»Wenn wir nach Gottes Willen im nächsten Kriege unterliegen sollten, so halte ich für zweifellos, daß unsere siegreichen Gegner jedes Mittel anwenden würden, um zu verhindern, daß wir ... im nächsten Menschenalter wieder auf die Beine kommen ... Ich glaube nicht, daß man sich mit dem Elsaß begnügen würde, man würde weiteres am Rhein abwärts verlangen ... Wir würden dann nicht wie 1812 Rußlands, Östreichs und Englands Hilfe haben, nachdem diese Mächte gesehen haben, wie stark ein einiges Deutschland ist.« Zugleich sagt er voraus, Rußland sei viel radikaler als man annimmt, »Revolution und russische Republik sind Dinge, die auch sehr bald eintreten können. Viele Leute in Rußland hoffen nur auf den Moment eines unglücklichen Krieges, um die Dynastie loszuwerden.« Ja, seine nahe Sorge blitzt aus einem kurzen Satz am Rande eines Berichtes: »Bisher brauchen wir England, wenn der Friede noch etwas erhalten werden soll.«

So dunkel ist der Himmel Europas, als Friedrich stirbt. Er fühlt es wohl, am vorletzten Lebenstage läßt er den Kanzler rufen, streckt fiebernd, hochrot ihm die Hände entgegen, dann nimmt er die Hand der Kaiserin, legt sie in Bismarcks Rechte, beide drückt er zusammen. Ergreifend in seiner Stummheit, mahnt er beide und scheint das Walten Bismarcks im Tode zu segnen, das er im Leben bekämpfte.

Am andern Tage erreicht der Prinz sein Ziel: Wilhelm wird Herr.

II

Eine ausführlichere Darstellung der Entlassung findet sich in meiner Biographie Wilhelms II., da sie in dessen Leben stärker Epoche macht.

»Friedrich, Majestät, wäre wohl kaum der Große geworden, hätte er beim Beginn der Regierung einen Mann von Bismarcks Macht und Bedeutung vorgefunden und behalten.« Mit diesen Worten traf Waldersee den Kaiser ins Herz, denn der Große zu werden war das im Anfang aufrichtige Bestreben des 28Jährigen; das Waldersees war, Kanzler zu werden. Doch zu Anfang fürchtete sich der Herr noch vor dem Riesen und hüllte ihn in eine Wolke verehrender Worte ein. Zum Mittler schien Herbert, der 40 Jährige, geeignet.

Dieser schwierige, im Grunde unglückliche andre Bismarck sah das grausame Schicksal des Geniesohnes noch belastet durch des Vaters Absicht, ihn zum Nachfolger zu machen; grade in diesen Gefühlen eines Mannes, der mächtigen Vätern folgte, hätte er sich mit dem jungen Herrscher treffen, es hätte sich in verwandelter Gestalt jenes Verhältnis von Treue und Vertrauen erneuern können, das ihnen die Väter vorgespielt. Aber während Wilhelm der Erste und Bismarck der Erste zu dem formellen Abstand von Herrn und Diener schon durch den Unterschied zweier Jahrzehnte gedrängt oder doch darin gestützt wurden, sahen sich Wilhelm der Zweite und Bismarck der Zweite von Natur ins umgekehrte Verhältnis gesetzt, hier machten schon die Jahre den Diener überlegen, hier fielen jene Empfindungen weg, die Bismarck mit denen eines Sohnes verglichen hat, der einem zürnenden Vater nie ganz böse werden könne.

Noch unglücklicher waren im zweiten Falle Gaben und Hemmungen verteilt. Der erste Wilhelm, der mit weniger Verstand, doch mit mehr Takt, Anstand und Zurückhaltung begabt war als der zweite, ließ sich von dem grundgenialen Manne allmählich willig leiten; der zweite, von einem nervösen Charakter zu Taten getrieben, die seinen persönlichen Mut überstiegen, sah neben sich einen zweiten Bismarck, den Bewunderung, Erziehung und ein heimliches Gefühl mangelnder Schöpferkraft zum Dienst am Vater mehr als zum Dienst am Vaterlande trieben. Hatte Wilhelm zuviel Selbstvertrauen in sich und zu wenig Ehrfurcht vor den Ahnen, so hatte Herbert eher zu wenig Selbstgefühl und eine solche Ehrfurcht vor dem Vater, die ihn an zeitgemäßen Wandel seiner Lehren gar nicht denken ließ. Zudem war Wilhelm lieblos, Herbert liebevoll erzogen und erntete, nachdem er in jenem Roman das große Opfer seiner Liebe, fast auch seiner Ehre gebracht, die Neigung, ja die Zärtlichkeit eines Vaters, der in seinem Sippengefühl mit steigenden Jahren auf die Nachfolgeschaft des Sohnes entschieden hinarbeitete.

Herbert, zum alleinigen Vertrauten des Vaters geworden, vom besten Lehrer Europas in die Staatskunst eingeführt, hätte ein Mann von so revolutionärem Geist wie dieser sein müssen, um irgendwo Kritik zu üben. Aber mit den Erkenntnissen und Künsten seines Vaters erfuhr und erbte er auch die Menschen Verachtung, aus der sie stammten, und steigerte sie in sich bis zur Unfruchtbarkeit. »Wo ich verachte, da haßt er, sagte der Vater. Ein sehr anständiges Gefühl, nur hält seine Hitze nicht immer lange vor.« Da ihm nun die Basis der Erfolge fehlte, die den Alten gefürchtet machten, nahm man seine kalte, ablehnende Haltung nur für Hochmut und schrieb vertraulich, alle Minister seien gegen ihn und ertrügen ihn nur noch um des Vaters willen. So sammelten sich um das schwankende Herz des Kaisers, der als Prinz mit Herbert befreundet war, viele Stimmen, um ihn herabzusetzen, ja zu verleumden, und diese Höflinge steigerten den Eindruck durch den listigen Hinweis, hier werde ein Hausmeiertum großgezogen, das Macht und Ruhm des Königshauses gefährde. Da jene Kreise von der Schmeichelei lebten, die beiden Bismarcks fremd war, trieb Herberts Tätigkeit als Staatssekretär den Kaiser von Sohn und Vater nur noch rascher fort.

Aber Wilhelm war schlau und ließ sich im Anfang nichts merken. »Es sind wahre Flitterwochen der Verehrung und Zuneigung«, schrieb der östreichische Botschafter nach Haus, und Bismarck ließ sich zuerst so sehr täuschen, daß er am Kaiser ›mehr Mut und Unabhängigkeit von Hofeinflüssen‹ als an seinen Vätern rühmte. Als er ihn in Friedrichsruh bis abends 11 erwartet, bedankt sich der junge Herr für diese Rücksicht, die ja ganz in Bismarcks Tageslauf paßte, und steht um seinetwillen erst um 9 Uhr auf. Auf seine Orientreise nimmt er ihn aber nicht mit, drahtet nur Grüße und beklagt sich bald beim Großherzog von Baden, der Alte erteile ihm Lektionen, spreche zu häufig von Erfahrung, und muß dem Oheim noch Schlimmeres gesagt haben, denn dieser äußert, der Kaiser habe beide Bismarcks »bis hierher«.

Als im schwierigen Jahre 89 der Kanzler seine Gunst zwischen Rußland und Östreich schwanken läßt, um nach altem Rezepte das Gleichgewicht zu halten, wünscht der Kaiser ein stetigeres, und an der Stelle dieses komplizierten, ein »einfaches« System. Im allgemeinen ist er antirussisch und kriegerisch, Bismarck schon deshalb prorussisch gesinnt, weil im nächsten Jahre bei Ablauf des Vertrages alles für die Erneuerung dieser Rückversicherung gestimmt sein muß, an der die Sicherheit seines Reiches hängt. Als dann der Zar zu Gaste kommt, den Kanzler seines Vertrauens versichert, den Kaiser, seinen Vetter, höflich kühl behandelt, lädt sich dieser selbst in Rußland zur Jagd ein, was der Zar nicht ablehnen kann. Nach der Abreise bittet Wilhelm den Kanzler in seinen Wagen, um mit ihm nachher im Amt zu konferieren. Auf der Fahrt erzählt er von seinem Einfall, den Zaren zu besuchen, findet Schweigen und ruft endlich gereizt: »Nun so loben Sie mich doch!«

In diesem einen Satz, der die Würde seiner Stellung so sehr verkennt wie den Charakter Bismarcks, zeigt sich der lechzende Wunsch des jungen Mannes. Der alte Menschenkenner aber, der des Zaren Abneigung gegen solche Temperamente herausspürt, ihn als dicken, bequemen Herrn kennt und von dem gemeinsamen Jagdvergnügen nur Trübung der schwankenden Freundschaft fürchtet, widerrät den Besuch. Muß nicht dem Jüngling eiskalt werden? Im Kernpunkt seines Wesens, in seiner Eitelkeit, fühlt er sich getroffen, setzt den Kanzler vor dessen Hause ab, grüßt kurz und kommt nicht mit ihm.

Auf dieser Wagenfahrt wurde der Bruch erzeugt; die Szene gleicht der Krisis unter Liebenden beim ersten verweigerten Kusse. Rasch greifen die Hyänen ein, nun ist es leicht, den Groll des Herrn zu steigern. Hatte der Alte nicht aus bösem Willen den Kaiser gezwungen, schwere Vorwürfe gegen seine Eltern amtlich zu dulden, als man neulich das Kriegstagebuch des Kronprinzen Friedrich unbefugt herausgab? Bismarcks Absicht war, die Legende von einem liberalen Hohenzollern zu zerstören, der angeblich aus diesen Blättern sprach, damit sich nicht bei den nächsten Wahlen die Demokratie auf den letzten Kaiser berufe. Da rühren sich wieder die »faktiösen Vettern«, suchen für die Wahlen das Kartell und mit ihm Bismarck selber in die Luft zu sprengen, und wieder, wie in den siebziger Jahren, nimmt dieser den Kampf unter Staatsräson, geht gegen die Kreuzzeitung im Reichsanzeiger vor, – und sieht nicht, was Lucius sieht, daß dies heut gefährlicher ist als einst, »weil Bismarck dem jungen Monarchen gegenüber nicht entfernt mehr die einflußreiche Stellung hat, wie unter dem alten Herrn«.

Auch im inneren Bau knistert es gewaltig. Einen Streik in den Bergwerken will der Kaiser idealistisch, der Kanzler mit Blut und Eisen bekämpfen: indem er aufs neue Sinn und Zwang der sozialistischen Bewegung verkennt, setzt sich Bismarck auch vor der Geschichte ins Unrecht, will diesen Streik, wie damals das Attentat, zur Wahlbewegung gegen die Roten benutzen, bis »unerwartet und sporenklirrend« der Kaiser in der Kabinettssitzung erscheint, die Schuld den Arbeitgebern zuschiebt, erklärt, er habe ihnen befohlen, bessere Löhne zu geben, sonst zöge er seine Truppen zurück. So fürchtet der Junge die Revolution und will ihr durch Reformen begegnen, der Alte sucht sie, um sie niederzuschießen. Man tut, als wäre man einig. All dies, im Grundsatz richtig, in der Praxis nicht plötzlich und nicht auf diesem Wege anwendbar, hat der Kaiser von ein paar Höflingen gelernt, die ihm die Rolle des roi des gueux zuschmeicheln wollen: Hinzpeter, sein Lehrer, den er gegen Bismarck nicht laut genug rühmen kann, in seinen eigenen Memoiren aber später fallen läßt, Douglas, ein Spekulant in Montanwerten, reich und amüsant, in Wirtschaftszahlen plätschernd, rasch zum Grafen erhoben, von Heyden, Maler und Bergdirektor, der einen alten Arbeiter aus dem Osten Berlins als Propheten malt und von diesem die sozialen Nöte erfährt.

Und nun geschieht, was nie in Bismarcks Leben -geschah: er unterschätzt den Feind, überschätzt die eigene Stellung, und er, noch eben gesonnen, gegen eine ganze Klasse zu kämpfen, läßt ein paar Höflinge gewähren. Von Mai 89 bis Januar 90: acht Monate mit kurzer Unterbrechung lebt er in Friedrichsruh und wird über des Kaisers wiederholter Mahnung, sich immer weiter zu erholen, nicht stutzig. Wenn schon ein alter Gatte Fahrten und Sprüngen seiner allzu jungen Frau nicht immer folgen kann, so sucht er doch mit ihr zu leben; hier überläßt ein großer Kenner dies Geschöpf seinen jungen, heiteren, abenteuernden Verehrern und sieht nicht, mit wie leichter Mühe sie ihn betrügen können. Selbstgefühl und Menschenverachtung strömen zusammen, um Bismarck mit Blindheit zu schlagen.

Dabei wird er gewarnt. Schlägt er in Friedrichsruh die Blätter auf, so findet er alle Parteien gegen sich gerichtet: »Wie eine Lähmung geht es durch das öffentliche Leben«, schreibt der eine. »Es gelingt nichts mehr«, überschreibt die Germania einen Aufsatz, die Kreuzzeitung ist voll Bosheit, liberale Blätter voll Jubel über des Kaisers soziale Wünsche, die Sozialisten bekämpfen den Kanzler wie immer. Er aber wundert sich, daß der Zar ihn fragt, ob er im Amte bleiben werde, und als ihn Bötticher vor fortgesetztem Fernsein warnt, erwidert er gelassen: »Bei meiner Vergangenheit und Stellung ist keine Gefahr, vom Kaiser entfernt zu werden.« Das ist Danton, der auf jede Warnung erwiderte: sie werden es nicht wagen!

Und doch ist seine Kritik wach wie immer. Er tadelt das unstete Leben des Kaisers, »daß die Minister die Momente oft für die wichtigsten Vorträge erhaschen müssen, wobei sie häufig nicht die nötige Aufmerksamkeit finden«. Eine Kundgebung zugunsten der Volkszeitung führt er »auf erbliche Anlage zur Verrücktheit« zurück; zugleich schreibt allerdings auch der russische Botschafter nach Hause, man frage sich, ob der Kaiser normal sei.

Aber da ist ein Pfand, das hat der Kaiser in die Hände des Alten gelegt, und wie ein Gleichnis des Konfliktes steht auch am Ende dieses Lebens ein Hund. »Ein abscheulicher schwarzer Köter, mit riesigem Kopfe, triefenden Augen, dürrer Brust, ganz ohne Rasse«, Geschenk des Kaisers, lebt jetzt beim Fürsten, und er sagt: »Das kommt davon, wenn man Fürstendiener ist: meinen schönen Tyras habe ich zum Förster getan, um diesen Köter zu behalten. Ich könnte ihn ja vergiften lassen, aber er hat so gute treue Augen, deshalb kann ich mich nicht entschließen.« Da sitzt er, Bismarck, schon ein Halbverbannter, und während er den Herrn in der Hauptstadt unbewacht läßt, duldet er draußen im Walde den Hund des Herrn und läßt sich von ihm bewachen. Tyras, Begleiter seiner Tage, »das Liebste auf der Welt«, erwartet ihn nicht mehr am Morgen wie seit Jahren, man muß ihn beim Förster anketten, damit er nicht plötzlich losrast und den kaiserlichen Eindringling totheißt, und wenn der Alte geht und reitet, läuft neben ihm ein fremdes, häßliches Tier, legt am Kamin den unförmigen Kopf auf seine Knie und will gestreichelt sein. Das kommt davon, wenn man ein Fürstendiener ist, so ironisiert er sich und tut es doch.

Es ist, als trotzte er sich in seine Unabsetzbarkeit hinein, als wollte er vor seinem Stolz auf dies Exempel die Probe machen. Im Dezember sagt er der Freundin: »Er ist für mich der zuvorkommendste Herr und hat noch nie gewagt, in politischen Dingen mir entgegenzutreten ... Wäre ich jünger und könnte immer um ihn sein, ich würde ihn um den Finger wickeln ... Den Reichstag kann man dreimal auflösen, zuletzt muß man doch die Töpfe zerschlagen, diese Fragen, wie die Sozialdemokratie, werden ohne Bluttaufe nicht gelöst, wie die deutsche auch. Und da dem jungen Herrn Gewaltmaßnahmen lose im Nacken sitzen ..« Er vollendete den Satz nicht, zeigte aber zur Genüge, wie sehr er Wilhelm verkannte.

III

Am 23. Januar 90 wird Bismarck endlich durch Draht nach Berlin gerufen, morgen sei Kronrat über die soziale Frage. Er reist am Freitag, was er sonst vermeidet, trifft abgespannt in der Hauptstadt ein, hält Kabinettssitzung, schlägt vor, sich abwartend dem Kaiser gegenüber zu verhalten. Da erhebt sich Bötticher, seit einem Jahrzehnt Bismarcks Vertrauter, Freund der Familie, jetzt Favorit des Kaisers unter den Ministern, doch erst seit kurzem Bismarck verdächtig, und meint, man müsse Direktiven geben, damit etwas zustande komme. Schon neulich hat er dem Fürsten versichert, der Kaiser wolle durchaus soziale Taten tun, doch da saß man zu zweien in Friedrichsruh beim Weine; jetzt aber wiederholt er's vor den Kollegen, und nun geschieht das Unerwartete: alle stimmen ihm bei.

Furchtbarer Augenblick, seit 25 Jahren nicht erlebt! Bismarck sieht sich von seinen Leuten verlassen, in diesen acht Monaten haben sie gelernt, einem andern zu folgen. Jetzt sieht er, «was er versäumt hat, jetzt nimmt sich der Erzürnte die Minister vor, ergeht sich animos über schlechte Geschäftsführung und spricht, um Widerspruch hervorzurufen, von seinem Abgang. Großes Schweigen. »In sehr gespannter Stimmung« wird die Sitzung geschlossen, Bismarck fährt zum Kaiser, den er seit jener Wagenfahrt nicht mehr gesehn. »Ich will das Sozialistengesetz zu Falle bringen, weil ich ein schärferes brauche«, sagt der Alte, und der Junge erschrickt. Hierauf Kronrat, in dem der Kaiser seinen Willen zum Arbeiterschutz kundgibt: der drohenden Revolte vorbeugen, einen Kongreß berufen, »in begeisterter Sprache« zu seinem Geburtstage durch Erlaß zum Volke sprechen, das ist sein Traum.

»Mit steigendem Erstaunen, schreibt Lucius, saßen wir dabei, wer ihm diese Ideen eingeblasen habe.« Doch da nennt der Kaiser schon seine Berater, es sind die oben genannten. Hierauf muß Bötticher die Denkschrift vorlesen, Bismarck wird als erster um Äußerung ersucht, rät, scheinbar ruhig, Aufschub an, warnt vor der Wirkung auf die Wahlen, da die Besitzenden verärgert, die Arbeiter ermuntert würden. Höflich erwidert der Kaiser, wünscht vor allem Abschwächung des Sozialisten-Gesetzes, fügt aber nun an, königs- und regierungstreue Männer hätten ihm das geraten. Da grollt Bismarck auf: »Ich kann nicht beweisen, daß diese Nachgiebigkeit E. M. verhängnisvolle Folgen haben werde, glaube es aber nach langjähriger Erfahrung. Gibt man jetzt nach, so kann man später den Reichstag nicht auflösen, muß ernstere Anlässe abwarten. Bleibt aber das Gesetz unerledigt, so tritt ein Vakuum ein, und dann mag es zu Zusammenstößen kommen!«

Kaiser, gereizt: »Ich will ohne äußerste Not solchen Katastrophen vorbeugen, anstatt meine ersten Regierungsjahre mit dem Blute meiner Untertanen zu färben!«

Bismarck: »Das würde die Schuld der Revolutionäre sein, ohne Blut wird es nicht abgehn. Das wäre Kapitulation! Es ist meine Pflicht, auf Grund meiner Sachkenntnis abzuraten. Wir blicken seit meinem Eintritt in die Regierung auf eine fortwährend gesteigerte Königsmacht zurück ... Dieser freiwillige Rückzug wäre der erste Schritt heraus in der Richtung einer im Augenblick bequemen, aber gefährlichen Parlamentsgewalt. Wenn E. M. kein Gewicht auf meinen Rat legen, so weiß ich nicht, ob ich auf meinem Platze bleiben kann.«

Kaiser, halblaut zu Bötticher: »Dadurch werde ich in eine Zwangslage versetzt«; wodurch ihre Intimität gegen Bismarck erwiesen wird. Darauf sollen sich alle Herren äußern, alle fühlen den Bruch, doch keiner wagt es, offen zum Kaiser zu treten: hier, wo sie mitten im Duell optieren sollen, ist Bismarcks Gewalt noch stark genug, um ihm formell ziemlich deutliche Zustimmungen einzutragen, aber er hört die Panik durch, Augen und Mienen sieht er an, daß hier nur noch sein Zwang, nicht mehr sein Einfluß regiert.

Gestärkt durch Mitteilung dieses Streites, den noch am selben Abend die konservativen Führer erfahren, bringen sie am nächsten das verewigte Sozialisten-Gesetz, wie es Bismarck beantragt, zu Falle, zerstören also schon vor den Wahlen das Kartell, auf das er sich drei Jahre lang stützte, nehmen Bismarck die Mehrheit. Am selben Tage wütet der Kaiser, indem er dem Kriegsminister mit der Faust droht: »Sie sind ja nicht meine Minister mehr, sondern die Minister des Fürsten Bismarck! Sie sahen ja alle verprügelt aus! Er hat mir den Stuhl vor die Türe gesetzt!« In derselben Stunde liegt Bismarck, gebrochen, im Schlafrock auf dem Sofa, er sagt zum Chef der Reichskanzlei: »Er ist mir völlig entfremdet, hört Leute wie Douglas. Meine Kollegen haben mich verlassen.« Doch nur sein Sohn Bill wagt es, ihm sofortigen Abgang zu raten, und sagt einem Freunde: »Es ist nicht mehr der alte Hammerschlag meines Vaters.«

Er ist es nicht. Denn nun beginnt ein Schwanken und Schweben und dauert bis zum Ende, 7 Wochen, wie es der stählerne Wille, der biegsame Intellekt dieses Kenners sonst nie ermöglicht hat; alles scheint er an die Wahlen zu hängen, die er wünscht und fürchtet. Schon andern Tages begegnet er den erstaunten Kollegen in der Sitzung versöhnlich und liebenswürdig, er sagt: »Launen eines Monarchen sind wie gut und schlecht Wetter, man nimmt einen Regenschirm und wird doch naß ... Ich verehre im Kaiser den Sohn seiner Vorfahren und meinen Souverän und bedaure seine Haltung. Kamarilla dürfen wir nicht dulden ... Ich denke, wir machen mit.« Zugleich tritt er als Handelsminister zurück, läßt einen Günstling des Kaisers dazu ernennen, trägt Bötticher Entwurf der gewünschten Erlasse auf, kündigt an, er werde sich bald auf das Altenteil des Auswärtigen, höchstens noch auf den Reichskanzler zurückziehen. Am Geburtstag des Kaisers: Versöhnung, Beteuerung.

Aber nun, im Februar, einem Monat der Spannung und Intrigen, wechselt die Stimmung des Alten, bald läßt er sich wieder gehen, sucht die Kollegen gegen jene sozialen Erlasse zu stimmen, und als Bötticher den Höflingseinwand macht, ein abweisender Beschluß würde dem Kaiser mißfallen, fährt er ihn in der Sitzung an: »Ich muß es Übergang zum Landesverrat nennen, wenn verantwortliche Minister den Souverän auf staatsgefährlichen Wegen sehen und das nicht offen aussprechen ... Will man lediglich des Kaisers Willen ausführen, so wären 8 Subalterne ebensogut am Platze wie das jetzige Ministerium.« Schließlich kommen die Erlasse doch zustande, als aber Bismarck in Audienz die Stimmung sondieren will: »Ich fürchte, daß ich E. M. im Wege bin«, widerspricht der Kaiser nicht mehr, sondern schweigt. Doch selbst auf dieses Zeichen geht Bismarck noch nicht! Vergebens sucht er vielmehr seinen Kollegen Proteste zu entlocken: bei seiner Ankündigung, einen Teil der Ämter abzugeben, schweigen auch diese, und er sagt nachher zu seinem Sohne: »Bei dem Gedanken, mich loszuwerden, sagen sie alle erleichtert Uff!«

Da, wie er diese Schadenfreude seiner Kollegen erkennt, gibt Bismarck aus Trotz, wie er selbst erklärt, die Absicht auf, seine Ämter zu trennen, erzürnt dadurch vollends den Kaiser, der schon hoffte, und nun beginnt ein Wettlauf beider Gegner mit der Aufgabe: wer läuft am langsamsten? Beide fühlen, es geht nicht weiter, doch jeder will dem andern die Verantwortung zuschieben: der Kaiser wagt es nicht, den Alten wegzujagen, der wieder will sich nur jagen lassen, will seinem Herrn den Gefallen freiwilligen Rücktritts nicht leisten, am liebsten aber bleiben. So lernen sich beide hassen, zwischen Bleiben und Gehen, wie in gespannten Ehen, deren Trennung ein Teil wünscht, der andre fürchtet, und keiner wagt.

Bismarck sucht weder Gesten noch Größe, er sucht nach seiner trotzigen Art den Konflikt, und da er diesmal nicht siegen kann, so sucht er doch die moralische Niederlage des Gegners. Mit Haß und Eifersucht wacht er zugleich bis ins kleinste über seinen Rechten, wütet, weil der Unterstaatssekretär die Einladung zum Staatsrat unterschrieben, statt sie ihm hinzulegen, forscht jedem Schleichweg nach, den seine Feinde gehn, sieht Intrigen auch dort, wo sie nicht sind, hält Viktoria für den Inspirator von Hinzpeter, »den Revolver, den die ihm geistig weit überlegene Viktoria ladet und der dann beim Kaiser losgeht«. Doch zugleich demütigt er sich, wie nie im Leben: dieselbe Viktoria besucht er, klagt ihr vor, er passe nicht mehr in die Zeit, erwartet vergebens ihren Widerspruch, und als sie fragt, was sie für ihn tun könne, erwidert er: »Ich bitte nur um etwas Mitgefühl«. Wüßte man nichts aus diesen Tagen als dieses Wort, man müßte die Furcht eines alten Mannes erkennen, dem man das Brot seines Lebens vor dem Munde wegzieht.

Und wieder zugleich bewacht der alte Realist das Ganze: in denselben Februar-Tagen läßt er schon seine Pensionsansprüche feststellen. Jeder Gesandte kommt ihm gelegen, furchtbare Wahrheiten mitzunehmen, nach Haus zu schreiben und an denselben Hof und Kaiser zurückzuleiten, den er doch immer noch zurückzugewinnen trachtet. »Schließlich – sagt er zum sächsischen Gesandten – fragt der Kaiser irgendeinen Husarenoffizier, wie er die soziale Frage lösen soll, und will mir dann dessen Meinung aufzwingen ... Er hat ein Bedürfnis nach körperlichem und psychischem Hurraschreien, ist aber bei den Besitzenden nicht populär, das hat er sich durch Parteinahme für die Arbeiter verscherzt ... Ich glaube, die Zeit ist nicht mehr ferne, wo auch auf die Armee kein Verlaß ist, und dann wird das Schicksal Deutschlands besiegelt sein.« So Großes und so Kleines mischt sein Geist in diesen schwankenden Wochen.

Der Wahltag bringt die Entscheidung. Während die Garnison, vom Kriegsherrn alarmiert, mit formidablem Lärm nach dem Tempelhofer Felde zieht, marschieren die Arbeiter-Bataillone schweigend zur Urne. An diesem Tage rächt sich das gewaltsame Jahrzehnt, nun wird wahr, was Liebknecht vor kurzem prophezeite: »Was haben Sie nach 11 Jahren erreicht? ... Auf dem Kongreß in Paris haben alle anerkannt, die deutsche Sozialdemokratie ist die stärkste, am besten organisierte in der Welt. Sie wollten uns erwürgen und haben uns gestärkt ... Was ist Deutschland ohne seine Arbeiter! ... Es ist eine neue Idee in die Welt gekommen, eine neue Revolution ... Entscheiden Sie gegen den Geist der Zeit, dann kommt die Katastrophe!«

Heut hat sich die Partei verdreifacht, von 7 Millionen Stimmen sind 1½ Millionen Zettel rot gewesen, im ganzen sind 4½ gegen Bismarck. Daß hierzu die verschwommenen Erlasse des Kaisers mitgewirkt haben, darf Bismarck betonen; daß ohne sie die Wahlen wie vor drei Jahren ausgefallen wären, behauptet er zu Unrecht. Doch seine Hoffnungen steigen: neuen Kampf, einen neuen Konflikt wittert er, die Schwäche weicht aus ihm, er strafft sich wieder, er sieht den Staat bedroht, die alte Macht gerüstet: verschärftes Sozialisten-Gesetz und große Militär-Vorlage, das sind seine Waffen. »Es werden ein bis zwei Auflösungen nötig sein, sagt er dem Kaiser, schlimmstenfalls werden wir die Bundesfürsten nach Berlin berufen, das Wahlrecht ändern, dann werden die Massen, von Streik und Wahlen erregt, die Sache nicht ruhig annehmen, vielleicht zu Ausständen schreiten: das wäre der Augenblick, um den Machtkampf mit der Sozialdemokratie auszufechten ... Jetzt ist es noch möglich, ich persönlich habe noch Kraft und Kredit dazu. Später wird es unmöglich sein. No surrender!«

So spricht der alte Kämpfer, wieder wie vor dreißig Jahren will er den Zeitgeist niederhauen, aber der Jüngere, der auch kein Volksfreund, aber kein Kämpfer ist, erwidert: – Das ist ein unmöglicher Rat an einen jungen Fürsten!

»Zum Kampf kommt es doch, je eher, desto besser! Man wird die Sozialdemokratie nicht totreformieren können, aber eines Tages gezwungen sein, sie totzuschießen.« So treibt er's denn noch einmal auf die Spitze, so sicher fühlt er sich in dieser Stunde wieder, daß er widrigenfalls um seinen Abschied bittet, dem Kaiser also die Lage erleichtert. Der aber träumt von jenen 80 000 Mann, die ihm der Alte noch im Reichstage durchzubringen versprochen, ergreift seine Hand und endet mit der theatralischen Wiederholung: – No surrender!

In doppeltem Hochgefühle kommt Bismarck in die Sitzung: »Der Kaiser ist bereit zu fechten, dann kann ich an seiner Seite bleiben!« Alles schweigt bedrückt, nur er, gestärkt, greift nun die Zügel fester, schon ist er entschlossen, seine Kollegen vom Kaiser abzusperren: er bringt ihnen eine alte Kabinettsordre in Erinnerung, die den direkten Verkehr der Ressortminister mit dem König untersagt. Zu spät: längst haben sich alle verschworen, Minister, Hof, Militärs, konservative Führer, alles umflüstert den Herrn, an diesen Wahlen trage Bismarck Schuld. Sogleich gibt Wilhelm unversehens jene Kampfansage auf und droht auf einem Bankett in öffentlicher Rede: »Die aber, welche sich mir in meiner Arbeit entgegenstellen, zerschmettre ich!« Bis in den Wortlaut die Drohung des Prinzen im Jugendbrief an Bismarck. Zugleich steigt Böttichers Stern, und als Bismarck ihn gegen den Kaiser getadelt hat, erhält jener von diesem am selben Abend den Schwarzen Adlerorden, den Bismarck für Schleswig und Holstein erhielt. Jetzt, bei der Nachricht, zitiert er nur die Worte: »Du hast's erreicht, Octavio!«

Ihn kümmert nichts als eine neue Mehrheit. Während der alte Fels der Königsmacht sich langsam unter ihm zu bewegen scheint, blickt er schon aus, nach einem neuen Halt. »So klammert sich der Schiffer endlich noch am Felsen fest, an dem er scheitern sollte.«

IV

Eine Mehrheit zu sammeln, mit der Scheinmacht dieses lange verachteten Reichstages des Königs Zorn zu begegnen, scheint ihm der letzte Ausweg: mit einer Mehrheit bringt er dem Kaiser 80 000 Soldaten, und daß nur er sie noch bringen kann, glaubt er mit Recht. Wollten nicht seine feindlichen Vettern ihn mit dem Zentrum betrügen? Hat man nicht Monate vor den Wahlen mit Windthorst intrigiert, um ihn zu stürzen? Wie, wenn er selbst das Prävenire spielte! Herauf aus der Unterwelt, Feind und Verschwörer! Juden und Jesuiten gehören zusammen: man spricht mit Bleichröder, läßt Windthorst winken, erscheint selber überrascht: dann setzt man sich zusammen und macht Geschäfte wie in alten Zeiten.

Da sitzt die kleine Exzellenz, heute zum ersten Male seit zehn Jahren darf er wieder fordern: schon früher war er zu haben, aber da schien der Preis dem Kanzler zu hoch. Heut wird er, in der höchsten Not, sicher alles akzeptieren: Aufhebung der schlimmsten Stücke des Jesuiten-Gesetzes und christliche Volksschule. Man spricht und erwägt zum hundertsten Male gibt sich Bismarck den Schein der Müdigkeit: diesmal weiß Windthorst besser als der andere, daß die alte Phrase nach dreißigjährigem Mißbrauch plötzlich Wahrheit werden könnte. Doch grade jetzt sieht der Katholik mit Schrecken auf die rote Flut, er fühlt und glaubt, nur der alte Zauberer könne sie noch beschwören, und so entwickelt sich's bis zu der Ironie: Windthorst beschwört Bismarck zu bleiben! Nachdem sie einander jahrzehntelang Tod oder mindestens Pension gewünscht, nun, da sie bevorsteht, bittet der eine den andern, ja nicht zu weichen. Das Geschäft selber bleibt in der Schwebe, Windthorst aber sagt am Abend zu den Freunden: »Ich komme vom politischen Sterbebett eines großen Mannes.«

Doch der will leben. Jetzt läßt er den Führer der Konservativen bitten, um seine Forderungen zu hören. Aber da sitzen die Vettern, Agrarier und Barone, nach wenigen Stunden wußten sie schon von Bismarcks letztem Plane, nun schließen sie aufs neue die Reihen gegen den bösen Sprossen ihrer Klasse, verweigern das Bündnis mit und unter ihm, das sie ohne und gegen ihn ausgedacht hatten: sie lehnen einfach ab, zum Kanzler zu kommen, erklären andern Tages öffentliche Absage an Windthorst, damit es der Kaiser auch amtlich erfahre, unter welcher einzigen Bedingung die Stützen des Thrones ihn stützen würden. Zugleich geht Graf Limburg-Stirum zu Bötticher, stellt sich zur Verfügung, um Fühlung zwischen Partei und Regierung zu nehmen, und fügt hinzu: »Mit dem Fürsten Bismarck kann man nicht mehr verhandeln.«

Das ist das Antlitz der Gorgonen, in das der greise Kämpfer an diesem Tag zu blicken hat: Heut rächt sich die Verachtung seiner Geschöpfe, daß sie nun gegen ihn ihr Haupt erheben. So muß er denn am Schluß erleben, daß ihn seine Klasse, statt ihn bei diesem Todesritte schützend zu umgeben, moralisch tötet: mitten im Amte wird der Diktator von den Seinen schmählich übergangen. Es war der Stoß nach seinem Herzen, es war kein Heldenstück, Octavio! Und während alles den scheidenden Bismarck verläßt, steht zu ihm nur der alte Feind, das Zentrum. Deutschland rächt sich für seine Diktatur, es rächt sich an seiner Größe.

So schlagen entschlossene Fäuste der alten Rieseneiche zu gleicher Zeit ihre Äste weg; diesmal ist niemand da, den dürren Wipfel wegzuschießen, um den harten Förster zu täuschen.

Der hat nun leichte Arbeit. Tagelang hat er seinen Mut an den Artikeln aller Blätter, am grollenden oder betretenen Auftritt aller Minister und Höflinge gestählt und sich zuletzt noch einen Stoß gegeben, indem er sich eine Leidenschaft gegen das Zentrum, besonders gegen den Führer eingeredet hat. Nun wagt er's und meldet sich beim Kanzler zur Aussprache an. Ein Zufall läßt die Meldung abends uneröffnet, und so tritt der Alte, früh vor neun geweckt, schroff und erstaunt seinem Herrn entgegen. Der wittert seine große Stunde, setzt sich während des ganzen Gespräches nicht, so daß auch der früh stets ermüdete Bismarck stehen muß. Nach ein paar Worten fährt schon der Kaiser los, ob er denn Windthorst nicht abgewiesen habe. In Wahrheit ist auf seinen Befehl das Kanzlerhaus wie eine Falschmünze seit Wochen von Polizei umstellt, und jeder, der darin verkehrt, wird aufnotiert. Jetzt fordert der Kaiser des Kanzlers Anfrage vor wichtigen Empfängen.

Da bricht der Groll aus dem alten Gemüte: böse und stechend erklärt er seinem Herrn die Pflichten des Ministers, die Grenzen des Königs, die Unwürdigkeit jeder Kontrolle, die er ihm nicht einräumen könne.

– Auch dann nicht, wenn Ihr Souverän es Ihnen befiehlt?

»Auch dann nicht, Majestät.«

Nie hat Bismarck, der »drei Könige nackt gesehn«, von den Lippen eines seiner Herren das Wort Befehl vernommen; nur in amtlichen Erlassen stand es nach altem Brauch. Sogar dem jungen Gesandten aus Schönhausen hatte sein erster König erklärt, er wolle seinen Abgang nach Wien nicht befehlen, sondern darum gebeten sein. In welchem Tone Wilhelm der Erste durch 26 Jahre zu seinem Minister sprach, zeigen noch die erzürntesten seiner Briefe. Das war die große, ungeschriebene Bedingung, unter der dieser zum Herrschen geborene Charakter allein dienen mochte, fuhr man ihn an, so war's um die Treue geschehn. Bismarcks ganze Laufbahn war unmöglich, wenn, jenseits devoter Floskeln, nicht gleichberechtigt Ehre neben Ehre stand. Jetzt aber, bei dieser neudeutsch geschnarrten Frage, krachte der ganze Bau zusammen, und nur ein Edelmann stand noch dem anderen gegenüber.

Die furchtbare Erfahrung dieses Augenblickes hat Wilhelm um den präparierten Mut, muß aber Bismarck einige Minuten um seine Fassung gebracht haben, denn während jener, sich entschuldigend, davon spricht, es handele sich natürlich nur um Wünsche, nicht um Befehle, indessen könne des Kanzlers Absicht solche Verwirrung des Volkes nicht sein, ruft Bismarck zornig: »Grade dies! Es muß im Lande eine solche Verwirrung herrschen, daß kein Mensch mehr weiß, wo der Kaiser mit seiner Politik hinaus will!«

Der junge Herr, erschreckt und nicht gewohnt, Auge in Auge zu kämpfen, bleibt zunächst ruhiger als der Alte, spricht von Kürzung der Militärvorlage, um mit dem neuen Reichstag auszukommen, und legt mit solchem Rückzug vor dem Volke dem alten Kämpfer nochmals nahe, empört zu sein und zu gehen. Der aber wird bei diesem Spiele wieder kalt, bemerkt die Falle und erklärt aufs neue, er würde gehen, wenn der Kaiser es wünscht: noch immer schiebt einer dem anderen die Verantwortung zu. In großen Wellen flutet in der Tiefe, unter der Fläche des erregten Dialoges, der letzte Machtkampf hin und wider; fast lautlos. Da fängt es der Kaiser am anderen Ende an:

– Ich bekomme gar keine mündlichen Berichte mehr von meinen Ministern. Sie sollen ihnen verboten haben, mir ohne Ihre Zustimmung zu berichten, und sich dabei auf alte, vergilbte Verordnungen stützen, die niemand mehr kannte. – Bismarck, wieder ruhiger, erklärt ihm nun die Kabinettsordre vom Jahre 52, das Recht des Königs, nach gemeinsamem Vortrag noch immer gegen den Premier und für das Ressort zu entscheiden; er könne sie nicht aufheben, sie sei unentbehrlich.

Ist also jeder Zugang zur Macht versperrt? Der Kaiser versucht es von der dritten Seite: jetzt bittet er den Alten im Ton eines Kronprinzen, ihn mehr an den Geschäften zu beteiligen, vor wichtigen Entschließungen einzuweihen, ihn vorher zu hören. Kennt er den Mann so wenig, der vor ihm steht? Der lehnt brüsk ab, weist, da es ihm grade paßt, auf die Konstitution, spricht vom Verkehr mit dem alten Kaiser und erklärt kurz: »Wenn ich zu E. M. komme, müssen meine Entschlüsse schon gefaßt sein.«

Ein Felsenufer und kein Hafen! Er hält die Macht in starken Händen und gibt nichts ab! Du bleibst ein Schattenfürst, wenn er regiert!

Aber dem Alten ist es nicht genug, seinen unbotmäßigen Herrn zurückzuweisen, jetzt will er ihn kränken: Rache für die Beleidigungen der letzten Zeit, ein Pfeil ins Herz des Kaisers! Dort liegt eine Mappe, man braucht sie nur zu öffnen, sie wird die Büchse der Pandora sein. Und ohne Nötigung bringt er die Rede auf jenen geplanten Besuch beim Zaren, nimmt ein Papier aus der Mappe, blickt stehend auf ihn nieder:

»Die Reise wird sich kaum empfehlen. Da ist in diesen Tagen ein Bericht aus London eingetroffen, in dem der Botschafter recht ungünstige Äußerungen des Zaren vermerkt, die dieser privat über E. M. getan haben soll.« Mit der langsamen Geste des geübten Schauspielers nimmt er das Blatt in die Hand. Der Kaiser beißt die Lippe: soll er sich fürchten? – Bitte, lesen Sie vor!

Nun spielt Mephisto den Erschreckten: »Unmöglich! Diese Äußerungen eignen sich nicht zum Vortrag.« Lockend wägt er das Blatt in Händen. Der Kaiser zittert: nur jetzt nicht schwach werden! – Geben Sie her! Und er nimmt dem Kanzler das Blatt aus der Hand, liest, wird rot und bleich; dann bricht er ab, um wortlos zu gehen. Er hatte unter anderem als des Zaren Urteil über ihn gelesen: »Il est fou. C'est un garçon mal élevé!« Jetzt fühlt er sich gepeitscht, von Bismarck mehr als vom Zaren, erst als Schuljunge behandelt, dann beleidigt. Ist es möglich, nach diesem Affront ihm noch die Hand zu reichen? Und er tut es beim Gehen ganz oberflächlich, nachdem er den Helm in die Rechte genommen. Rasch die Treppe hinunter, aus diesem Hause fort, in den Wagen, zu den Freunden! Langsam dröhnt ihm der schwere Schritt des Alten nach, der sich am Haustor verneigt.

Was Bismarck in diesen Augenblicken getan, war ohne Beispiel. Jener Rebell, der fünfzig Jahre zuvor über Adel und Fürsten mit Bosheit paradiert hat, ist wieder in ihm aufgetaucht, heut hat er den König gezüchtigt. So klug ging er zu Werke, daß er ihm seine Meinung durch einen Dritten sagen ließ, und dieses Dritten, des Zaren, Meinung zurückhielt, bis jener sie ihm entwandte. War ihm erlaubt, dem Kaiser ein Blatt zu verweigern, nach dem dieser griff? Und warum griff er denn danach, wenn er eben gewarnt worden? »So kann man blondes Haar und blaue Augen haben, und doch so falsch sein wie ein Punier?«

V

Andern Tages stehen zwei alte Männer in einem halbdunklen Räume und ordnen Papiere, der eine hebt aus Koffern und Mappen Kuverts heraus, der andre liest die Überschriften, nimmt und schichtet sie auf. Es ist Bismarck und Busch, den er kommen ließ. »Ich will jetzt meine Memoiren schreiben, und Sie sollen mir helfen. Ich gehe nämlich. Sie sehen, ich bin schon beim Packen. Meine Papiere sollen gleich fort, denn wenn sie noch lange hier bleiben, legt man mir am Ende Beschlag darauf ... Es handelt sich noch um drei Tage, vielleicht um drei Wochen, aber ich gehe bestimmt, es ist nicht mehr zum Aushalten ... Mir ist nur zweifelhaft, wie ich die Papiere sicher fortbringen kann, sie könnten ja zu Ihnen geschafft werden, aber wie?«

– Ich könnte sie paketweise wegbringen, Durchlaucht, und zu Hehn tragen.

»Wer ist Hehn?«

– Vollkommen zuverlässig.

»Ich könnte sie auch nach Schönhausen schaffen, wo Sie sie dann abholen könnten. Lassen Sie die wichtigsten abschreiben und behalten Sie bis auf weiteres die Kopien ... Hier sind meine Briefe an Kaiser Wilhelm. Hier ist Friedrich Wilhelms Empfehlungsbrief für mich nach Wien ... Wie alt sind Sie eigentlich?«

– 69.

»Na, 80 würde ich mir draußen auf dem Lande auch gefallen lassen.«

Nach zwei Tagen kommt Busch mit Abschriften. »Nehmen Sie's wieder mit, sagt Bismarck. Nein, lieber nicht. Wenn man Sie mit einem großen Kuvert kommen und gehen sieht? Lieber so –, kommen Sie.« Und sie verstauen die Papiere in einen Koffer zwischen Karten, damit sie unbemerkt bleiben.

So verläßt Bismarck das Haus, in dem er 28 Jahre das Land regiert und ein Kaiserreich erdacht hat, wie ein Verschwörer, der sich umstellt fühlt und seinen letzten Schatz wegschafft, seine Papiere, aus denen er in der Verbannung Geschosse gegen seine Feinde machen will. Im ganzen Amt umher nicht Ein Vertrauter! Niemand, dem er den Schutz seines Eigentums übergeben könnte! Verstecke vor Spionen, der Gedanke an Schönhausen, weil selbst Friedrichsruh ihm unsicher vorkommt: so taucht nach Jahrzehnten zum ersten Male der Name der Heimat wieder empor. Ein Journalist von draußen, der ihm privatim manches abgerungen hat, weil er ihm schaden konnte: wie zwei erfahrene Kameraden reichen die beiden weißbärtigen Männer einander diese kostbaren Kuverts, der eine denkt dabei an seine heimlichen Aufzeichnungen, der andere denkt vielleicht an Arnim, den er wegen Verweigerung von Papieren ins Zuchthaus brachte.

In dieses Halbdunkel geheimer Handgriffe tritt kalt und klar ein schöner General, Chef des Militär-Kabinetts, um im Allerhöchsten Auftrage anzufragen, wann auf Aufhebung der Kabinetts-Ordre des hochseligen Königs Friedrich Wilhelms IV. vom Jahre 1852 zu rechnen sei. Bismarck lehnt kurz ab: die Ordre bleibt. So will er den Kaiser zwingen, ihn fortzujagen.

Am nächsten Vormittage tritt Schuwalow bei ihm ein, eben aus Petersburg gekommen, die Vollmacht des Zaren zur Erneuerung des Vertrages in der Tasche, und zwar auf sechs Jahre, nicht bloß auf drei. Das war es, worauf Bismarck seine Politik seit einem Jahr gerichtet hatte: im Juni würde der alte Vertrag ablaufen, die Sicherheit des Reiches hing an der Rückversicherung nach Osten, der junge Kaiser war dafür gewonnen, und der Zar hatte mit voller Einsicht an den Rand eines Aktenstückes geschrieben, »daß für Bismarck unsere Entente eine Art Garantie bildet, daß kein schriftliches Abkommen zwischen uns und Frankreich existiert, und das ist sehr wichtig für Deutschland.« Jetzt aber muß Bismarck die Achseln zucken, er bestätigt dem erschreckten Russen die Gerüchte, bittet mit dem unbekannten Nachfolger abzuschließen. In diesem Augenblick ereignet sich die erste, zugleich die schwerste Folge von Bismarcks Sturz: Depeschenwechsel mit Petersburg, Mißtrauen mit dem deutschen Kurs, aus dem der Hauptakteur geschleudert wurde, Ablehnung des Zaren.

Der Russe hatte an diesem Vormittag das Kanzlerhaus kaum verlassen, als es der General Hahnke zum zweiten Male betrat, um im Allerhöchsten Auftrage die Aufhebung der alten Ordre zu verlangen, andernfalls – und der General versucht seine Stimme zu meistern – »erwarten Seine Majestät ein sofortiges Abschiedsgesuch und E. D. persönlich um 2 Uhr im Schlosse, um Ihren Abschied entgegenzunehmen.«

Il mondo casca! hatte der Kardinal im Vatikan nach Königgrätz ausgerufen; Bismarck denkt nicht einmal dieses Wort. Was er denkt, wird er später erzählen. Jetzt erwidert er ruhig: »Ich bin nicht wohl genug, um auszugehn. Ich werde schreiben.« Hahnke sieht in roter Wolke einen Revolutionär vor sich und verschwindet. Gleich darauf empfängt der Fürst durch die Büros ein offenes Handbillet des Kaisers, von diesem Wortlaut: »Die Berichte (eines deutschen Konsuls in Rußland) lassen auf das klarste erkennen, daß die Russen in vollstem strategischen Aufmarsch sind, um zum Kriege zu schreiten – und muß ich es sehr bedauern, daß ich so wenig von den Berichten erhalten habe. Sie hätten mich schon längst auf die furchtbar drohende Gefahr aufmerksam machen können! Es ist die höchste Zeit, die Östreicher zu warnen und Gegenmaßregeln zu treffen ... W.«

Sachlich war diese Beschuldigung falsch, die Gefahr nicht vorhanden; persönlich war es die Rache für jenen Zarenbrief, mit dessen Zuspielung der Diener den Herrn tödlich getroffen hatte. Und doch kann Bismarck heute nichts gelegener kommen als dies beleidigende Billet ohne Kuvert und Überschrift. Zunächst wehrt er sich schriftlich gegen diesen »Vorwurf des Landesverrates«, der Kaiser schickt seine Antwort ohne Notiz zurück; zugleich aber kann Bismarck nun seinen Sturz mit weltpolitischen Gedanken begründen, in denen ihm noch keine Partei opponiert hat. So erklärt er am Nachmittage seinem Kabinett die Genesis des Streites und schließt mit einem großen Epiloge:

»Trotz des Vertrauens, das ich in den Dreibund setze, hatte ich doch niemals die Möglichkeit aus den Augen verloren, daß dieser einmal versagen könne, weil in Italien die Monarchie nicht stark genug und weil das Verhältnis zwischen Italien und Östreich durch die Irredenta bedroht wird ... Mein Streben war daher stets, die Brücke zwischen uns und Rußland nicht gänzlich abzubrechen ... Da ich zu den friedlichen Absichten des Zaren Vertrauen habe, kann ich die Maßregel nicht decken, die S. M. mir befohlen hat ... Die Arbeiterschutzfrage ist mir keine Kabinettsfrage; wenn ich aber in den auswärtigen Dingen nicht mehr die Leitung haben soll, so muß ich gehen und weiß, daß es dem Kaiser recht ist.« Darauf betont er seine Gesundheit, Arbeitslust und stabiliert als einzigen Grund seines Abgangs den Willen eines Königs, der selber regieren wolle.

Noch einmal wartet er: merkt niemand, was es heißt, diesen Chef auch im Auswärtigen zu verlassen? Werden sie sich nicht in dieser Sitzung alle erheben, durch Demission auf den Kaiser drücken? So hätten sie den jungen Herrn zumindest für die Zukunft gewarnt, zudem vor der Geschichte ein Schauspiel gegeben. Aber man hört nichts als ein paar gestammelte Phrasen, und nur einer, Maybach, spricht das Wort der Stunde aus: »Der Rücktritt wird ein nationales Unglück werden, für Deutschland und Europa. Wir müssen ihn verhindern, wir alle müssen gehen, ich jedenfalls werde es tun.« Die Debatte will einen Augenblick herzlicher werden, man scheidet unter Protesten; abends aber treffen sich die Kollegen und »verzichten auf den Gesamt-Rücktritt, der der preußischen Tradition widerspräche.«

Bismarck bestellt nach der Sitzung sein Pferd und reitet aus, was in dieser Epoche und dieser Jahreszeit nicht seine Gewohnheit ist; er tut's, um dem Kaiser sein »Unwohlsein« zu beweisen, vielleicht auch, um die Berliner zu versuchen, aber niemand jubelt ihm zu. Als er heimkommt, hat Jupiter schon einen zweiten Boten entsandt: Lucanus, Chef des Zivil-Kabinetts, tritt mit ängstlicher Miene am Abend ein, im Allerhöchsten Auftrage anzufragen, warum das Gesuch noch nicht eingelaufen sei. Schlägt der Alte jetzt mit der Faust auf den Tisch? Keineswegs, er sagt höflich: »Der Kaiser kann mich jeden Augenblick entlassen, ... ich erkläre mich bereit, meine schlichte Entlassung sofort gegenzuzeichnen. Dagegen gedenke ich nicht, dem Kaiser die Verantwortung für meinen Rücktritt abzunehmen, werde vielmehr in öffentlicher Klarstellung die Genesis festlegen. Nach 28jähriger Amtstätigkeit, die für Preußen und für das Reich nicht ohne Einfluß geblieben ist, brauche ich Zeit, um mich in einem Abschiedsgesuch auch vor der Geschichte zu rechtfertigen.« In dem kurzen Gespräch, das folgt, ist er im Begriffe, seinen Gleichmut zu verlieren. Dann diktiert er sein Abschiedsgesuch, überarbeitet es am nächsten Morgen, schickt es ins Schloß; er schildert darin die Punkte des Konfliktes und schließt mit den Meistersätzen:

»Es ist mir bei meiner Anhänglichkeit an den Dienst des Kgl. Hauses und an E. M., und bei der langjährigen Einlebung in Verhältnisse, welche ich bisher für dauernd gehalten hatte, sehr schmerzlich, aus den gewohnten Beziehungen zu Allerhöchstdenselben und zu der Gesamtpolitik des Reiches und Preußens auszuscheiden, aber nach gewissenhafter Erwägung der Allerhöchsten Intentionen, zu deren Ausführung ich bereit sein müßte, wenn ich im Dienst bliebe, kann ich nicht anders, als E. M. alleruntertänigst bitten, mich aus dem Amt des Reichskanzlers, des Ministerpräsidenten und des Preußischen Ministers der Auswärtigen Angelegenheiten in Gnaden und mit der gesetzlichen Pension entlassen zu wollen. Nach meinen Eindrücken in den letzten Wochen ... darf ich in Ehrfurcht annehmen, daß ich mit diesem meinem Entlassungsgesuch den Wünschen E. M. entgegenkomme und also auf eine huldreiche Bewilligung mit Sicherheit rechnen darf. Ich würde die Bitte um Entlassung aus meinen Ämtern schon vor Jahr und Tag E. M. unterbreitet haben, wenn ich nicht den Eindruck gehabt hätte, daß es E. M. erwünscht wäre, die Erfahrungen und die Fähigkeiten eines treuen Dieners Ihrer Vorfahren zu benutzen. Nachdem ich sicher bin, daß E. M. derselben nicht bedürfen, darf ich aus dem politischen Leben zurücktreten, ohne zu befürchten, daß mein Entschluß von der öffentlichen Meinung als unzeitig verurteilt wird. v. Bismarck.«

Trotz seines Einspruches wird der Kanzler vom Kaiser zum Herzog von Lauenburg erhoben, woran jener schon Friedrich III. gehindert hatte, und kann nur durch energischen Einspruch eine geplante Dotation abwehren und mit der Gratifikation vergleichen, die strebsame Postbeamte beim Abschied zu erhalten pflegen. Der Kaiser läßt seine Dankerlasse, nicht aber Bismarcks Gesuch publizieren, um die Lüge der erschütterten Gesundheit als Grund des Rücktrittes zu verbreiten, und so siegt er zunächst vor der Nation durch einfache Befehlsgewalt. Zugleich versucht er Herbert zu halten, ja, er schickt zum Vater, daß dieser darauf hinwirke; der aber zitiert zum zweiten Male Wallenstein: »Mein Sohn ist mündig.« Privatim gibt er die furchtbare Begründung: »Wenn man fühlt und weiß, das Schiff wird sinken, so vertraut man ihm nicht den Sohn an.«

Verdoppelt tritt Herberts tragische Lage aus diesen Tagen hervor: hätte er den Vater im Amt und in Gnaden überlebt, er wäre vielleicht doch selbständiger Staatsmann geworden; jetzt muß er mit ihm scheiden und will es auch: das Ehrgefühl des Vaters hat er geerbt. Heut abend meldet er dem Kaiser den russischen Bescheid, man hört das Diktat des Alten: »Nachdem Graf Schuwalow gestern abend erfahren habe, daß E. M. keinen Anstand nehmen würden, die Entlassung des Fürsten Bismarck zu vollziehen, würde der Kaiser Alexander auf die Verlängerung des geheimen Vertrages verzichten, da eine so geheime Angelegenheit mit dem neuen Reichskanzler nicht verhandelt werden könne.« Wilhelms Notiz am Kopf des Bogens: »Einverstanden mit Erneuerung des Vertrages.« Am Schlüsse nur ein Wort: »Warum?« Folgt deutlichere Erklärung Herberts, ein zweites Billett, ein zweites: »Warum?«

Nirgends erkennt man klarer als in diesem einen Fragezeichen des Kaisers Mißverständnis über den Namen Bismarck in Europa. Aber nun ist er doch erschrocken, nachts um eins läßt er Schuwalow wecken, er möge morgen früh um acht erscheinen, versichert ihn dann seines Wunsches zum Abschluß, worauf der Russe alles in Bewegung setzt, um nach Bismarcks letztem Willen die Vollmacht des Zaren auch für eine so verwandelte Lage zu gewinnen.

Wenn er in diesen Tagen die Zeitungen aufschlägt, findet der Kaiser Beifall bei allen Parteien, aus allen Schichten: »Die Nation ist ruhig; nicht ohne Bewegung, aber ohne Furcht sieht das deutsche Volk den gewaltigen Mann aus der Machtfülle scheiden, in der er für die innere Entwicklung seit Jahren ein unüberwindliches Hindernis geworden war ... Die Nation wird den 18. März 1890 bald zu den Tagen zählen, deren man mit Freude gedenkt.« Das preußische Abgeordnetenhaus verharrt bei der amtlichen Mitteilung in Schweigen, Hof und Militär sind glücklich, von einem General berichtet Hohenlohe, »er war froh wie ein Schneekönig, daß er jetzt offen reden konnte ... Dies behagliche Gefühl ist vorherrschend. Während früher unter dem vorwiegenden Einflüsse des Fürsten die Individuen eingeschrumpft und gedrückt waren, sind sie jetzt alle aufgegangen wie Schwämme, die man ins Wasser gelegt hat.« Eine solche Erleichterung hat die Nation seit hundert Jahren nicht mehr empfunden; zuletzt, als Friedrich der Große starb.

Niemand weiß in Deutschland, was in diesen Tagen von drei Männern, im Grunde von Einem über Deutschland entschieden wird. Denn als Schuwalow die neue Vollmacht des Zaren durchgesetzt hat, findet er, fünf Tage nach Bismarcks Entlassung, plötzlich eine verwandelte Stimmung vor. Um den Vertrag vor Berliner Intrigen zu retten, hat Bismarck durch seinen Sohn Petersburg zum Orte des Abschlusses angeraten; als aber Herbert aus der Geheimen Registratur den Vertrag holen will, ist er fort: Holstein ist ihm zuvorgekommen. Außer sich fährt der Staatssekretär erst den Registratur an, dann den Baron: »Sie konnten diese Dummheit verhindern! Sie scheinen mich etwas früh für einen toten Mann zu halten.« Holstein hält ihn für einen gefährlichen, denn warum sonst hetzte er jetzt alles mit Leidenschaft gegen Rußland? »Etwas Greifbares ist (von dem Vertrage) nicht zu erwarten, und wenn es herauskommt, sind wir als falsche Kerle blamiert ... Wird die Vereinbarung perfekt, so hängt unser guter Ruf und unsere gesellschaftliche Stellung von der Diskretion Rußlands ab. Das Interesse Rußlands geht dahin, indiskret zu sein, denn sobald diese Sache nur geahnt wird, trennt sich alle Welt ..., es kann uns dann seine Bedingungen für den ferneren Umgang machen. Die erste würde sein: ich will mit dem bisherigen Geschäftsfreund B. verkehren, und zwar nur mit ihm. Verstehen Sie jetzt die Lage?«

Das Sachliche in diesen Motiven ist falsch, denn wie Bismarck dem Grafen Schuwalow seinen ersten Defensiv-Vertrag gegen Rußland gezeigt hatte, so war er jederzeit bereit, diesen zweiten den Östreichern zu zeigen; ja, er hatte dies nur auf des Zaren Wunsch unterlassen. Aber Holsteins Gnomennatur und die halbdunklen Finessen der Epigonen begriffen nicht, wie Mut und Schlauheit zusammen gehen könnten, hier wie in der Natur, ihre Pseudomoral verdunstete in diesen Geheimrats-Hirnen, und nur eine gespielte Treuherzigkeit machte den beschränkten Sinnen etwas Wind vor. Unter allem aber schwelte der verdeckte Haß des einst verletzten Holsteinschen Stolzes: jede Beweisführung hätte er erfunden, nur um die Wiederkehr des endlich Gestürzten zu verhindern, gegen den er mit Waldersee und seinem Kreise seit Jahren intrigierte. Die »Rückkehr der Firma Bismarck« mußte unmöglich werden.

Zugleich bekundeten die Nachfolger offen ihre Unfähigkeit zu den Ämtern, die sie übernahmen. Marschall sagt: »Ein so großer Mann wie Bismarck kann auch mit solchen komplizierten Instrumenten arbeiten, ich als einfacher Mensch bin dazu außerstande.« Caprivi aber meidet während des Aufbruchs aus dem Palais seinen Vorgänger, kommt, en suite zu Tische geladen, nur einmal, weil er nicht nochmals »solche Dinge über seinen Souverän« vernehmen dürfe, und als ihn der sorgenvolle Alte schließlich auf einem Spaziergang durch den Kanzlergarten nach dem russischen Vertrage fragt, erwidert der General: »Ein Mann wie Sie kann mit fünf Bällen gleichzeitig spielen, während andere Leute gut tun, sich auf einen oder zwei zu beschränken.« Dann setzen sich die Berater zusammen und konstatieren in ihrem, von Holstein abgeleiteten Gutachten, in diesem Vertrage kämen die Vorteile nur Rußland zugute, das durch ihn zur Eröffnung der Orientkrise ermuntert, worauf Frankreich auf uns losschlagen würde.

Mit diesen Argumenten der Schwäche und Kurzsicht, aus Motiven des Hasses und der Intrige, wird in drei Tagen eine Grundmauer von Bismarcks Werk eingestoßen, daß gleich der ganze Bau ins Wanken kommt. Auch mündlich bearbeitet Holstein einige mitentscheidende Männer, und als dann Caprivi unter seiner Suggestion und in dem natürlichen Wunsche, lieber etwas Neues zu bringen, seinen jungen Herrn von dem diesem verhaßten Zaren lieber loszureißen, die Bedenken der Fachmänner vorträgt: da ist der Kaiser froh, statt des gefährlichen Fuchses endlich einen Berater zu haben, der »ruhig, klar und offen, ohne diplomatische Wagnisse« vorgeht, er fühlt sich urpreußisch dabei, grade und schlicht, und sagt, wie Holstein berichtet, nach dem Vortrag: »Nun, dann geht es nicht, so leid es mir tut.«

Zehn Worte, leicht hingesprochen, in einem kleinen Zimmer des Schlosses, von einem jungen Herrn, den dreißig Jahre vorher das Schicksal in diesem Schlosse zur Welt kommen ließ. Zehn Worte, geboren aus einem Nebel von Wunsch, Haß, Eifersucht, von Ehrgeiz, Fieber, Furcht, von Ungeduld und Laune, aus einem unentwirrbaren Netz von Reizen, deren sich niemand bewußt war, am wenigsten der Herr dieser Seele; zehn Worte, deren Folgen niemand berechnen konnte, als der Mann, den man nicht mehr fragte. Sie erschütterten die Sicherheit des Deutschen Reiches: sie führten zum frankorussischen Bündnis.

In diesen letzten Berliner Tagen nimmt Bismarcks Stimmung an Festigkeit zu, seinen Groll verschweigt er nicht, aber ein böser Humor hält diese sonst leicht feuchten Augen trocken, es ist ihm daran gelegen, nur Weltmann zu scheinen. Den feindlichen Kollegen macht er nichts vor, zu Bötticher, der ihm zum Abschied die Hand küßt, sagt er: »Sie sind ja auch nicht unschuldig an dieser Trennung«, und vor einem gespenstigen Abschiedsessen, das er den Ministern in halbgeräumten Zimmern gibt, reicht er ihm beim Kommen nicht die Hand: tödlich, da er Wirt, und da er bekannt für seine gastlichen Formen ist. Dann lehnt er bei Tafel ein Diner der Kollegen ab, mit weit vernehmbarer Stimme: »Bei den Reichsbeamten sehe ich doch nur vergnügte Gesichter. Im übrigen sind Sie ja schuld, daß ich heut nicht mehr Kanzler bin.« In solchen Augenblicken steigen die alten Lustgefühle des Hasses und der Rache aus diesem heidnisch alten Herzen, da wird er Hagen Tronje ähnlich, das ist nicht Kleinlichkeit, das alles ist Groll, Mut und die Abwehr eines verwundeten Löwen.

Wer ihn besucht, bekommt Wahrheiten an den Kopf geworfen. Dem östreichischen Botschafter, der ein zierliches Schreiben seines Souveräns überbringt, schiebt er die darin zitierten Krankheitsgründe weg, desavouiert also offiziell seinen Kaiser, rühmt sich zum erstenmal im Amt seiner prächtigen Gesundheit, »in ruhigem, wenngleich eine tiefe Kränkung und einen stechenden Seelenschmerz bekundenden Tone, der nur hie und da in eine gewisse Bitterkeit ausartete«. Dem Sultan läßt er durch den Botschafter sagen, er sei herausgeworfen worden. Zum bayrischen Gesandten sagt er, der Kaiser habe kein Herz und bezeichnet ihn gradezu als »sicheren Verderber des Reiches«. Auf den Karten, die er bei den Botschaftern abgeben läßt, streicht er den Titel Reichskanzler mit Bleistift durch, und über seinen neuen Rang äußert er, »man soll mir gefälligst den Namen Bismarck lassen, den Herzogstitel werde ich höchstens führen, wenn ich einmal inkognito reisen will«. Den Großherzog von Baden beschuldigt er ins Gesicht der Intrige, bis dieser zornig fortgeht.

Dem Kaiser sagt er bei seiner »Abmeldung« die Wahrheit über seine Verantwortung, schneidet ihm die gespielte Teilnahme an seiner Gesundheit mit den Worten ab: »Die ist gut, Majestät«, setzt aber Publikation seines Entlassungsgesuches auch mündlich nicht durch. Zurückgekehrt, sagt er, bei diesem Besuche hätten sich ihm »psychiatrische Fragen aufgedrängt«. Zugleich sieht er sich gezwungen, 300 Kisten und 13 000 Flaschen Wein so überstürzt einpacken zu lassen, daß kostbare Stücke zerbrochen werden, weil sein Nachfolger nebenan schon amtiert, und er selber, wie er sagt, mit eintägiger Kündigung entlassen ist. Augusta ist tot, aber Viktoria, die andere Feindin, setzt alle Mittel ein, um ihn bei ihrem großen Siege mit Artigkeiten zu überschütten.

Am vorletzten Tage fährt er ins Mausoleum, und wie ein Dichter legt er auf dem Grabe seines alten Herrn drei Rosen nieder. Dann hält er Abendmahlfeier in seinem Hause; als aber über das Wort gepredigt wird, Liebe deine Feinde, fährt Johanna, die diese Feier bestellt hatte, auf und erklärt dem erschreckten Geistlichen, er solle aufhören. Nachher läßt Bismarck, auf dem Diwan liegend, die 20 Jahre dieses Hauses vorüberziehn: »Ich habe viel Gutes genossen, mit 75 keine Frau und kein Kind begraben, das ist eine große Gnade Gottes. Ich hatte immer gedacht, ich würde im Dienste sterben. Aber nun habe ich gar nichts mehr zu tun. Meine Arbeit hat 28 Jahre lang in gesunden und kranken Zeiten in der Post des Tages bestanden, die ich empfangen und erledigt habe. Das hört jetzt auf. Da weiß ich nicht, was ich tun soll, und fühle mich doch so gesund wie nicht seit Jahren.«

Hier ist der tragische Punkt: sein Tagewerk hat man dem Greis genommen. Nicht von Plänen spricht Bismarck an diesem letzten Abend, nicht von dem Reich, das er geschaffen hat und heute schon bedroht fühlt, er spricht von der täglichen Post. Und so ist auch der letzte, dem er die Hand drückt, kein Staatssekretär, kein Botschafter oder Fürst, es ist eine Hand, die er sicher noch nie gefaßt hat, aus der er aber seit zwanzig Jahren täglich sein Material empfing. Es ist der Küchenjunge dieses großen Kochs: Leverström, genannt der Schwarze Reiter, Bismarcks Depeschenbote. Der hat sich heute Mut gefaßt, drei Stunden vor der Abfahrt hat er sich beim Fürsten melden lassen, wird auch gleich vorgelassen, und dieses ist das einzige Gespräch, in dem der Alte am Schlusse die Fassung verliert.

Da steigt, als der Mann eintritt, der erste Tag des Reiches wieder vor seinen Sinnen auf, es ist Versailles, wo er den Mann zuerst gesehn und eingestellt hat, und nun fragt er ihn, ob er sich dort wohl jetzt noch zurecht fände: »Ich sehe noch genau das Zimmer, wo Sie mir damals als Wachtmeister Ihre erste dienstliche Meldung machten.« Nun dankt er ihm für seine treuen Dienste, wozu ihm im ganzen Reiche sonst niemand Gelegenheit geboten hat, und tut, was er nie getan: er schenkt. Er greift nach dem nächsten von seinen vielen Bechern, nimmt einen silber-goldenen Pokal und gibt ihn dem Manne, »als Zeichen meines Dankes, und daß Sie mich nicht vergessen«.

VI

In der Dorfschule von Varzin steht Bismarck an der Tafel und zeigt mit einem großen Stock auf die Karte. Heut erklärt er den Kindern, wie Deutschland zusammengesetzt ist, auch wie es früher aussah, fragt einen Buben und wird gleich böse, wenn er nichts weiß. Mit einigem Zittern steht der Schullehrer dabei, der hat auch Angst, gefragt zu werden.

Denn in den ersten Monaten macht der Verbannte den Versuch, nach 40 Jahren Staatsdienstes die Rolle des Landedelmannes wieder aufzunehmen, läßt Inspektoren, Fabrikanten, Förster, auch den Schäfer läßt er kommen und fängt es nun im Kleinen an: so ist er auch zweimal die Woche in die Schule hinübergegangen, um seine hinterpommerschen Dorfkinder zu lehren, was die Berliner Stadtkinder nicht mehr von ihm lernen wollten. Noch eben hatte er mit dem Neide des ewig Unbehausten einem zurückgezogenen Bekannten geschrieben: »Es war das Ideal meiner jungen Jahre, mich als Greis im Garten mit dem Okuliermesser sorgenfrei vorzustellen.« War das nicht der Wunsch seines Herzens gewesen, seit zwanzig Jahren und länger? Er weiß es längst, jetzt aber wird ihm wieder fühlbar, wie seinem unbequemen Naturell »die gegenwärtige Station immer unbehaglicher erscheint als alle früheren«.

Denn auf die Dauer ist es nichts mit dem Okulieren, auch nichts mit Schulkindern, Förster und Papierfabrik; weder Zeit noch Freiheit von amtlichen Gedanken, die er so lange ersehnt hat, führen ihn jetzt zur Verwaltung seines großen Grundbesitzes und Vermögens. Selbst was er liest, fesselt ihn nur im Vergleich mit dem eigenen Schicksal, in Napoleons Memoiren spiegelt er sich, von Zola interessiert ihn nur das Débacle, Julius Cäsar findet er »merkwürdig passend auf unsere Zeit, mit nationalliberalem Brutus.«

Wie still ist Johanna geworden. Oft hat sie Atemnot und Schmerzen, in die Bäder reisen mag sie nicht mehr, von ihrem Gefährten sich zu trennen traut sie sich nicht; nur wenn die Rede auf die Entlassung kommt, und das ist nur zu oft, wird sie wild und braucht die ärgsten Schimpfworte. Was soll aus dem Sohne werden? Da sitzt er bei den Alten, mit Anfang Vierzig unvermählt, aus seiner Bahn gerissen, zur Landwirtschaft weder geneigt noch tauglich, doppelten Groll im Innern, zum zweiten Male hat ihm die Existenz des Vaters sein Leben zerfetzt, und wenn dieser ihm einen Botschafterposten wünscht, so müssen beide rasch erkennen, daß selbst ein solcher Schritt, die Stufenleiter abwärts, ihm nicht gewährt wird. Nicht einmal einen Erben im Mannesstamme hat dieser sippenstarke Mann an die Achtzig, und wenn er von Bills Töchtern spricht, so sagt er auf seine Art: »Diese Jöre. Wenn ich nur jetzt schon wüßte, was für ein Lump die einmal heiratet und mein Geld durchbringt!«

Auch mit den alten Knochen geht es schlecht. Zwar, Ohren, Zähne und Magen sind imstande, auch das Auge braucht nur ein mittelscharfes Glas, aber wenn er zu Pferde steigen will, braucht er ein paar Stufen, und der Diener muß das linke Bein hinüberlegen helfen. Aber, noch heut kann er keinen Überlegenen vertragen, und wie er als Student mit jedem Händel suchte, der neben ihm zu excellieren schien, so sagt noch der Greis zu einem baumlangen Baron, dem der geliehene Pelz zu kurz ist: »Eigentlich habe ich nicht gern, wenn meine Gäste größer sind als ich.«

Die Nerven werden im letzten Jahrzehnt noch anfälliger: »Ich bin ganz Nerv, Selbstbeherrschung ist die einzige Aufgabe meines Lebens gewesen«, sagt er einem Maler, der ihn fragt, ob er wirklich der Eiserne Kanzler sei. Am schönsten hat diese körperliche Abhängigkeit des Greises von seinen Stimmungen ein Dichter erkannt, Wilbrandt sieht ihn bei seinem Besuch zuerst durch die Tür auf dem Sofa, ganz allein, »tief in sich zusammengesunken, die rötliche Gesichtsfarbe verblaßt, alte, welke Züge, so schien er auf den Trümmern zu sitzen und über dies scheidende Jahr, das seinen Sturz erlebt, und den Undank des Lebens nachzudenken ... Doch nun erhob er sich, und lässig aufgereckt, in behaglicher Würde, stand die volle, hohe Gestalt vor mir ... Wenige Augenblicke hatten ihn verjüngt, ... mit dem ruhigen wartenden Blick der vordringenden Augen, der zwischen seinem durchbohrenden Nahblick und seinem Denker-Fernblick gleichsam in der Mitte schwebt.«

Der Fernblick ist es, der in diesen Zeiten immer wiederkehrt, denn aus seinem Nahblick haben sich die Objekte zurückgezogen, und wie die alte Kämpferfaust fast ohne Waffen geblieben, das Hirn nicht mehr die Stätte blitzschneller Erleuchtungen ist, die nur der tätige Wille erzeugt, so ist auch dem Auge die Fülle der tausend geschriebenen Sätze genommen, in denen es wühlen und wählen konnte. Die Forderung des Tages ist verstummt, der Mann, der sich in tätigem Drang immer wieder Muße gewünscht hat, um doch einmal wieder seit den Jahren der Jugend still in den Wäldern zu atmen, trägt jetzt nur leidend die erträumte Epoche.

Denn wüstenhaft lagert sich um den Verbannten die Einsamkeit. Der große Menschenfresser bleibt beinahe allein, und ihm, der über die nimmermüde Tür seines Arbeitszimmers dreißig Jahre lang gestöhnt hat, entfährt nun die Klage, daß sie zuweilen eine Woche niemand öffne. »Zeitungen habe ich, aber keine lebenden Menschen ... Ich habe Millionen zu Freunden und kaum einen Freund.« Zuweilen – so erzählt ein Franzose gleich nach dem Sturz – fährt er plötzlich in die Höhe und sagt wie aus dem Traum erwachend: »Ich vergesse, daß ich nichts mehr zu tun habe.« Kommt einmal von der alten Garde einer, so schildert er den Fürsten »eines Hörers bedürftig«, und wenn der letzte Freund, wenn Keyserling, den der Mächtige ein Jahrzehnt nicht eingeladen, nun zu dem Entmachteten eilt, so schreibt ihm Johanna, da er nach zehn Tagen fort will: »Sie tun das beste Werk an uns Armen, die den Glauben an fast alle Menschen verloren und solchen Himmels- und Herzenstrost an Ihrer geliebten Liebe haben und sich aufrichten an der übermächtigen Liebe, mit der wir an Ihnen hängen ... Telegraphieren Sie ab, zur übermächtigen Wonne Ihrer alten Freundin.« Noch immer der übertriebene Pietisten-Stil, noch immer der Selbstbetrug, als hätten sie die Menschen vergebens an ihr Herz gezogen, aber dazwischen die grausame Wahrheit, daß sie allein sind.

So groß ist der Boykott, daß anfangs beinah nur Ausländer zu Gast oder auch zur Information kommen, und wenn ein fremder Eisenbahnmagnat kommt, Amerikaner, den Bismarck noch nie gesehn, so hört er, während er sich in seinem Zimmer den Reisestaub abwäscht, zu seinem Schrecken den schweren Tritt des Wirtes die Treppe heraufkommen, nun tritt er ein, setzt sich zu dem Toilette machenden Fremden und erklärt: »Sie sind der einzige Gast in dieser Woche. Ich lebe unter förmlichem Boykott. Keiner will mit mir zu tun haben, aus Furcht, dem jungen Herrn auf dem Thron zu mißfallen, aus Angst, er könnte als mein Gast in der Zeitung stehn. Täglich kommen Menschen durch Friedrichsruh gefahren, die das noch vor einem Monat ebensowenig gewagt hätten, wie in Berliner Straßen ohne Gruß an mir vorüberzugehn. Die Hunde folgen dem, der sie füttert.« Eine ganze Reihe von Männern, und nicht nur die jungen, an denen sich alte Leute gern festhalten, berichtet, daß er sie beim Abschied küßte. Das Volk in Pommern aber fühlt besser als die Berliner Gehirne, was hier geschieht, und ein Varziner Bauer sagt zum Verwalter: »Lat em hierher komm, up uns kann he sich verlaten!«

Bald sollen auch Keyserling und Bucher sterben, beide von ihrem Bismarck betrauert, denn beide waren selbstlos und treu; zuweilen kommt die kluge Frau von Spitzemberg oder eine hübsche Gutsnachbarin herüber, Lenbach und Schweninger sind weniger um ihrer Künste als um der Anekdoten willen wohlgelitten, die man von ihnen erwartet, und das Wissen um diese Behandlung hat den einzigen Mann, der Bismarck hätte malen können, hat Max Liebermann zurückgehalten, einer Anregung nach Friedrichsruh zu folgen. Aber außer Frau, Schwester und Kindern ist niemand auf der Welt, dessen Leben für Bismarck noch einen Wert bedeutet. Sogar die Treusten sterben um ihn aus und werden nicht ersetzt; Tyras der Zweite stirbt vor Altersschwäche, und sein 80jähriger Herr fühlt sich noch stark genug zu der Erwägung, er wolle keinen Hund mehr halten, weil er keinen mehr begraben mag.

So verläßt Bismarck am Schlusse die Hunde, nachdem ihn die Menschen verlassen.

VII

Doch neue Lebenskraft zieht er aus seinem Haß, und keine Leidenschaft des Verbannten wird so gereizt wie diese. Wenn je die Welt sich am Charakter eines Mannes rächte, der sie durch ihn unterworfen, so war es Deutschland nach Bismarcks Sturz: in großen Wellen kehrt nun die Flut des Hasses an den Strand zurück, von dem sie hinausgeströmt war. Am schmählichsten hielt sich auch diesmal seine eigene Klasse und sein Stand: die hohen Beamten, die Junker, die Fürsten.

Wenn ein Fest oder eine Tagung Depeschen nach Friedrichsruh schicken wollte, so verhinderte es der Regierungs-Präsident mit dem Begründen, es könnte ihn die Stellung kosten. Keiner von Bismarcks Kollegen wagt sich blicken zu lassen, Waldersee fragt erst in Berlin an, ob er ihn von Hamburg aus besuchen dürfe; Caprivis Namen liest der Fürst nur unter einem Schreiben, in dem die Reichsregierung nach 40 Dienstjahren den Gehalt vom 20. bis 31. März 90 zurückfordert, weil er damals schon in Pension gewesen wäre. Zugleich läßt Caprivi durch seine Vertreter amtlich alle fremden Regierungen wissen, daß »den Anschauungen des Fürsten Bismarck ein aktueller Wert nicht beigelegt werde«.

»Fürst Bismarck, sagt öffentlich ein Zentrumsführer, soll die Hände lassen vom Ruhm deutscher Macht und Herrlichkeit! ... Schmach und Schande, daß es in unserem Vaterlande solche Menschen gibt!« Sybel werden die Akten zur Fortsetzung seines Werkes entzogen, weil er darin Bismarck stärker verherrliche als Wilhelm. Der Berliner Hofadel – Kardorff und wenige ausgenommen – meidet auf Verabredung in corpore den Gestürzten, so daß er äußert, er werde mehr gemieden als ein Hamburger Cholerafall. »Die Schurkerei ist ein einträgliches Handwerk ... Was soll ich dazu sagen, wenn ein Lumpenhund wie August Dönhoff einen großen Umweg auf der Straße macht, um Herbert nicht zu begegnen!«

Der Großherzog zankt seinen Bürgermeister von Baden-Baden aus, weil diese Stadt den Fürsten zum Ehrenbürger machen will. Die Kaiserin Friedrich erklärt Hohenlohe, nur seinem alten Herrn habe Bismarck alle Erfolge zu danken. Franz Josef findet es »traurig, daß ein solcher Mann so tief sinken kann«. Der Kaiser läßt Friedrichsruh bewachen, und dem Auge seiner Späher entgehen nur die verschämten Besucher, die in Station Buchen aussteigen, um mit einem unbeachteten Lokalzug anzukommen; Briefe und Depeschen an den Fürsten läßt er erbrechen, lädt ihn als Ritter des Schwarzen Adlers zur Ordensfeier nicht ein und erklärt einem Franzosen, er beabsichtige nicht, »durch Eingreifen des Reichsgerichtes mit Gewalt zu erzwingen, was der Herzog mir nicht mit Liebe gewähren will;« denn er, der diesen Titel verliehen, bleibt der einzige, der ihn verwendet. Nur Ein Souverän trauert dem Kanzler nach, freilich der klügste, der Herr der einst am tiefsten verfeindeten Macht: »Mi manca Bismarck«, sagt Leo XIII.

Auch unter seinen Beamten ist es der Gegner von einst, der ihm am treusten anhängt: der einzige, der sich absetzen läßt, weil er offen zu seinem Chef hält, ist Schlözer. Das sind nun dreißig Jahre, seit sie in Petersburg um ihre Ehre kämpften, und als ihn nun die Neuberliner seiner wichtigen Vertrauensstellung am Vatikan entreißen, kommt Schlözer nach Friedrichsruh »zur Abmeldung« und umhegt, selber bald Siebzig, den Fürsten mit der Zuvorkommenheit eines Sohnes, bringt ihm den bequemeren Stuhl, achtet auf seine Pfeife und zeigt noch einmal, was es heißt, sich messen, sich versöhnen.

Aber wie man in den Sachsenwald ruft, so schallt es aus ihm zurück. Da ist keiner unter den Abgefallenen, dem der Alte nicht quittierte, jeden umwettert sein Spott. Die Schnitzer seines Nachfolgers nennt er Capriviolen, und er vernichtet ihn mit der Anerkennung: »Ein vorzüglicher General.« Oder er sagt von Miquel: »Der beste deutsche Redner; die Herrschaft der Phrase ist ja die Signatur unserer Zeit.« Mit Behagen erlebt er noch den Sturz seiner Feinde Waldersee, Caprivi, Bötticher, und wenn er sich auch nach der Berliner Gesellschaft erkundigt, die ihn ausgestoßen hat, so muß man ihn doch an der Spitze einer Festtafel sehen, wie er das altmodische Lorgnon mit goldenem Rande nimmt, seine Gäste betrachtet und leise fragt: »Wie heißt doch der badische Diplomat dort unten?« Es war, erzählt der Gefragte, als ob ein Löwe eine Fliege ansähe.

Dem Kaiser nimmt er die äußere Ehre nicht. Sein lebensgroßes Bild läßt er im Speisesaal hängen, und am Geburtstag erhebt er sich und sagt: »Ich trinke auf das Wohl S. M. des Kaisers und Königs.« Vernichtend dringt die Kälte dieser Worte durch den Raum, stärker kann er die Fremdheit nicht bezeichnen. Doch alle, die es hören wollen, Ausländer, Journalisten, erfahren Bismarcks erbarmungslose Wahrheiten über den Kaiser und über den Sturz. »Cato war ein vornehmer Mensch, sein Tod ist mir immer höchst anständig vorgekommen, Cäsars Gnade hätte ich an seiner Stelle auch nicht angerufen. Diese Leute hatten doch mehr Selbstachtung, als heute der Modezuschnitt verlangt.« So spricht er in gemessener Stimmung.

Grollender schon zu Friedjung: er habe neulich nachts in den Räubern die Stelle gefunden, wo Franz Moor dem Alten sagt: Willst du denn ewig leben? »Und da stand mir mein Schicksal vor Augen.« »Diese Worte, berichtet der Hörer, wurden mit einer leisen Bewegung der Stimme, aber ohne Veränderung in dem tiefgefurchten Antlitz gesprochen, ... worauf der Fürst eine längere Pause machte und mit seinem Stocke gedankenvoll Figuren in das feuchte Erdreich zeichnete. Endlich erwachte er aus seinem Sinnen und zerstörte hastig die Linien: ›Sie müssen indessen nicht glauben, daß ich mich durch die Erfahrungen der letzten Jahre ergriffen fühle. Ich bin, wenn Sie wollen, zu hochmütig, um nach allem, was ich geschaffen habe, mich durch meine Erlebnisse erschüttern zu lassen.‹«

Den ganzen Zorn des Beleidigten aber hört man erst aus seinen Geständnissen zur Freundin Spitzemberg; es ist ein volles Jahr vergangen seit dem Wetter, und noch immer donnert es nach: »Wie Hausdiebe sind wir auf die Straße gesetzt worden ... Wie einen Bedienten hat mich der Kaiser weggejagt. Ich habe zeitlebens einen Edelmann in mir gespürt, den man nicht ungestraft beleidigt. Vom Kaiser kann ich keine Genugtuung fordern ... All diesen Leuten gegenüber habe ich nur das Gefühl des Götz von Berlichingen am Fenster, auch den Kaiser nehme ich nicht aus ... Das furchtbar Gefährliche in seinem Charakter ist, daß er dauernd keinem, momentan jedem Einfluß zugängig ist ... Aber ich tue ihm nicht den Gefallen zu sterben, ... und je mehr sie mir drohen, desto mehr sollen sie sehen, mit wem sie es zu tun haben ... Und wenn ich mein Leben mit einem tragischen Abschluß beendigen könnte ...!«

So feuert und sprüht, so glüht und funkelt der Wille zur Rache, der Anspruch seiner überlegenen Natur aus allen Poren, aber die angestammten Blutsgefühle fahren dazwischen und die Gewohnheit eines halben Jahrhunderts läßt auch noch den Rebellen seinen König außer Gefecht stellen.

Der sucht, je mehr sich die Nation von ihm zu seinem Gegner neigt, ihm etwas wegzupaschen und findet nach drei Jahren der Feindschaft, als Bismarck erkrankt, den Anschluß wieder, den der Alte fernzuhalten verstanden: er bietet ein Schloß zur Erholung an, erhält drahtlich sofort einen Korb, schickt dann einen alten Wein, den Bismarck aus Ranküne mit Harden austrinkt, dem stärksten der Kaiserfeinde. »Majestät unterschätzen mich, sagt er zu Freunden, er rät mir täglich ein Likörglas an, ich brauche aber mindestens 6 solche Flaschen, um zu gesunden.« Doch nach zwei solchen Anknüpfungen kann er kaum anders, als seinen mündlichen Dank anmelden; täte er es nicht, so setzte er sich ins Unrecht vor der folgsamen Nation von Untertanen, die einen Spalt zwischen Kaiser und Kanzler nur peinlich empfinden und lieber zudecken, als die Erschütterung des Bodens auf ihre Gründe untersuchen und beheben wollen. Auch scheint der Alte seinen Feinden in Berlin einen Schrecken einjagen zu wollen. Jedenfalls läßt er vor dem Besuch einen Offizier kommen, um sich in Uniformfragen Rats zu holen, und stellt dabei die köstliche Frage: »Und wie faßt man den Säbel des neuen Kurses an?«

In Berlin ist freilich alles Uniform und Säbel, der Kaiser will sich und den andern einreden, er empfange einen Generalobersten, und hat, von der Ehrenschwadron rings um die Staatskarosse bis auf die Ehrenkompanie auf dem Schloßplatz, alles so angeordnet, als käme der alte Moltke zu Besuch. Nun muß er die Hurras ertragen, die seinem großen Feind entgegendonnern, einmal muß er's erleben, daß der Beifall der Straße einem andern gilt.

Bismarck genießt ihn nicht: wie ein Geist – so erzählen die Künstler, die ihn sahen – sitzt er, mit weißer Haut und weißem Rock, im Wagen, mit Blicken wie ein Gespenst, abwesend, weit, fern. Zwischen Ironie und Verachtung mag es sein Herz durchströmen, und wenn er historisch gestimmt ist, so fällt ihm ein, daß keine seiner produktiven Fahrten in dies Schloß von solchem Jubel begleitet war wie heute die zwecklose Komödie. Und wenn er sich durch vierzig Jahre die Suggestion des gottgesandten Königs wiederholen mußte, um überhaupt den Rücken zu beugen, wie muß er auf dieser Fahrt die Hohlheit dieser Suggestion empfinden, da sein ganzes Wesen den Mann verachtet, dem er eben huldigen soll! Daß ihm der Kaiser huldigt, muß er sich sagen, damit der ungeheure Stolz die Stunde überlebt.

Kaum hat er die wohlbekannte Schloßtreppe erreicht, kaum sieht er nach vier Jahren wieder die alten Gesichter, so bricht aufs neue die souveräne Ironie hervor, er ärgert sie schon, indem er gegen die Abrede Herbert mitbringt, und als sich jetzt ein Oberst bei ihm meldet, sagt er nur: »Kessel? Mir scheint, Sie sind kleiner geworden seit damals.« Alle in diesem Vorzimmer haben es gehört, alle waren gemeint, alle schweigen. Drinnen, als er allein beim Kaiser eintritt, fühlt er sich in seiner Verbeugung aufgehoben und von zwei Lippen, die er haßt, geküßt. Ein paar Minuten, dann kommen die Prinzen, deren Kinderton die Spannung löst. Frühstück zu viert und die Mahnung, sich nach den Strapazen zu schonen.

Abends, beim Diner mit Gefolge, meldet sich Bill, uneingeladen wie Herbert, und so, flankiert von seinen leiblichen Söhnen, fühlt sich der älteste Bismarck sicherer, gleichsam auch als Vater dem jungen Hohenzoller überlegen. Und doch vermehrt die Gegenwart der Söhne den Haß dieser Stunde, Spannung liegt über allen, auch wenn der Alte Geschichten erzählt, niemand fühlt Sicherheit an dieser Tafel. Wird sich nicht, wie in germanischen Legenden, vom Weine gerötet, jetzt einer ein scharfes Wort entschlüpfen lassen? Der andere zieht den Degen, und Bismarcks Söhne kämpfen mit des Kaisers Paladinen? Da wüßte auch der Vater schnell, wie man den Säbel des alten Kurses anfaßt! Doch all dies wogt nur durch die Phantasie, niemand denkt es zu Ende, am wenigsten der junge Kaiser, der nur nervös an der Pendüle die Viertelstunden zählt, wann dieser böse Gast Schloß und Hauptstadt verlassen wird. Denn Furcht haben alle an dieser Tafel vor ihm, Ehrfurcht keiner, und doch sollten sie die Männer der Macht vor dem Entmachteten fühlen.

Endlich löst ein Diener die Spannung des Gespenstermahles, er meldet den Wagen, und in die Nacht hinaus begleitet der Kaiser den Feind, damit er um Mitternacht wieder in seiner Verbannung lande.

Beim Gegenbesuch in Friedrichsruh führt der Kaiser seinem Generalobersten die neue Gepäck-Ausrüstung vor und bittet den ersten Staatsmann des Jahrhunderts um Rat in einer Tornisterfrage; als andern Tages ganz Deutschland wartet, von welchen Gesprächen der Bericht erzählen werde, liest man in Bismarcks Blatt, sichtlich nach seinem Diktat, die höfische Bosheit: »Der Kaiser hatte die Gnade, den Fürsten Bismarck über die wichtige Frage der Gepäckverminderung des feldmarschmäßig bepackten Infanterie-Soldaten näher zu informieren durch Vorstellung von zwei Grenadieren ... Dasselbe System der Entlastung verfolgt die Änderung des Kragens, der zum Umklappen eingerichtet ist.« Mit so untadeligen Berichten macht der Alte den Jungen vor halb Deutschland lächerlich.

Auch sonst läßt er gegen ihn und seine Regierung schreiben, was er mag, denn »meine Verbindlichkeit geht nicht so weit, daß ich mich der freien Meinung enthielte, wie gewisse Leute in Berlin erwarten ... Ich würde mich, sagen sie, in der Geschichte besser ausnehmen und eine vornehmere Erscheinung sein, wenn ich stillschwiege.« Wie unversöhnt beide geblieben sind, zeigen die Schwankungen der letzten vier Jahre: zum 80. Geburtstag kommt der Kaiser mit Lärm und Aufzügen, aber der goldene Ehrenpallasch, den er mit glänzender Rede übergibt, bleibt ohne Antwortrede. Dann wieder wird der Nordostsee-Kanal, Bismarcks persönliches Werk, ohne seine Erwähnung eingeweiht, 96, beim Reichsjubiläum, meldet der Draht wieder unauslöschliche Dankbarkeit, während 97 bei der Zentenarfeier amtlich nur von Handlangern Wilhelms I. gesprochen wird.

Einmal werden ihm Schiffsmodelle geschickt, ein anderes Mal muß irgendein Graf den eingeladenen Herbert wieder ausladen, weil der Kaiser sonst nicht zu einer Hochzeit kommen will.

So folgt der Seismograph der kaiserlichen Huld und Ungnade genau den Erschütterungen, die Bismarcks öffentliches Wirken auf die Regierung übt.

VIII

Denn keineswegs war er geneigt, zu schweigen. In die Gegenwart rief er seine Kritik durch die Presse; seinen Rat für die Zukunft, sein Bild der Vergangenheit aber schrieb er in ein Buch. Wenn er im letzten Jahrzehnt von dieser Arbeit für die Zeit seiner Muße gesprochen, so hatte ihn nicht der formende Wille getrieben, alles blieb Theorie, er wünschte ja nichts anderes, als nie zu dieser Muße zu gelangen. Auch jetzt trieb ihn, neben Cottas Angebot, das inmitten des Boykotts eine deutsche Verlegertat war, nicht rückschauende Weisheit, kaum der Wunsch zu lehren, nur Klugheit und Rachedurst. Seit Jahrzehnten hatte er seine Taten durch befreundete Federn und in eigenen Erzählungen stilisiert, Risse und Löcher in seiner Geschichte rasch wie ein Dekorateur verputzt; nun galt es eine letzte Abrechnung.

Aber da zeigte sich, wie unplatonisch Bismarcks Geist, wie ganz zum gegenwärtigen Wirken er berufen war. Dieser Künstler seiner Sprache, der in so vielen Reden und Akten, vor allem in sämtlichen Briefen und Gesprächen ein Deutsch geschaffen hat, wie niemand seit Goethe, dieser Meisterstilist, der ohne eine einzige Tat allein mit den »Gesammelten Werken« in die Unsterblichkeit einzöge, gibt in den Erinnerungen kein Kunstwerk, nur einen großartigen Torso. Nicht weil er zu alt, zu verärgert gewesen wäre: wo es die Gegenwart gilt, da diktiert er noch heut erleuchtende Artikel, vernichtende Polemiken, und die wenigen letzten Briefe zeigen beinah die gleiche Mischung von männlichem Humor und unpathetischer Melancholie wie einst. Aber sie alle verfolgten Zwecke oder skizzierten Stimmungen, und auch wenn er wie ein Patriarch von alten Zeiten erzählte, war es das Auge des Hörers, der Blick auf das Weinglas, die Nähe des Hundes, es war der Augenblick, der ihn beschwingte und seiner Darstellung den Rhythmus gab.

Nun aber saß er da und sollte die ganze Bahn im Geiste noch einmal durchlaufen, vor wem, für wen? Was war die Nation? Konnte man sie greifen, hatte sie ein Gesicht? Dem König, auch dem Reichstage konnte er schreibend und redend in prachtvollen Abrissen Stücke seiner Geschichte demonstrieren, um auf sie zu wirken; einer unbekannten Menge aber das Kunstwerk seiner Taten im Abbild, das Modell nach vollendetem Bau hinzustellen, dazu fehlten ihm Geduld, Harmonie, Entsagung. Darum lehnte sein Stilgefühl es ab, Memoiren zu schreiben, er nannte seine Aufzeichnungen anfangs »Erinnerung und Gedanke«, sammelte sich leichter in dieser lockeren Form und verzichtete bei der unbestechlichen Sachlichkeit seines Stiles auf alle Übergänge. So gleicht das herrliche Buch, das er den Deutschen hinterließ, keinem Diadem, nicht einmal für das eigene Haupt, eher einer Sammlung kaum verbundener, ungefaßter, aber wohlgeschliffener Edelsteine.

In diesem Buch erreicht ein Merkmal seines Stiles seine Höhe: die überfüllten Sätze, in deren jeden Bismarck zusammenpackt, was andere in einem halben Dutzend ausbreiten, dieser Wegfall jeder Floskel, die kalte Nadel, mit der er radiert, machen seine Darstellung zur konzentrierten Chronik. Wie er dabei alle Gefühle, sogar den Haß hinter die Sache versteckt, grade dadurch seine Feinde mühelos hinstreckt, zugleich durch parteiische Auswahl des Stoffes alle Kritik von sich fernhält, ohne sich jemals zu loben: diese Künste des Politikers, dies großartige Spiel zwischen Vergangenheit und Nachwelt verdoppelt dem Kenner seines Wesens den Genuß. Die Menge sollte es sehen um eines Deutsch willen lesen, das weder klassisch noch modern, aber vollendet ist.

Als historische Urquelle ist es nur soweit tauglich wie Napoleons Memoiren, weniger als Cäsars, und die Forscher haben eine Menge von Irrtümern nachgewiesen, die, bis auf einen, nur deshalb keine Fälschungen sind, weil der Autor keinen Anspruch auf Vollkommenheit erhebt. Wenn er über den Kulturkampf das Wichtigste, wenn er alles über Sozialistengesetz und Wirtschaftspolitik verschweigt, so ist damit über Bismarck viel, nichts über die Probleme gesagt, und wenn er, ganz antimarxistisch, das Wirken der Persönlichkeit allein entscheiden läßt, so trübt er diese heroische Erkenntnis nur dadurch, daß – außer Augusta – keine zweite Figur in seiner Darstellung entscheidend gegen die seine tritt.

Denn die drei Dämonen, die an Bismarcks Wiege standen, Stolz, Mut und Haß, bestimmen auch noch diese Rückblicke des Greises und machen auch dies Bekenntnis zum Abbild einer problematischen Seele. Auf diesen 800 Seiten wird beinah niemand gerühmt: weder Erzieher noch Vorgesetzte, weder Fürsten noch Abgeordnete, weder Kollegen noch Beamte werden ohne Einschränkung gelobt, selbst bei Roon, dem Treusten der Getreuen, werden Abzüge gemacht, und nur Nebenfiguren, wie Stephan, Holnstein, Schweninger können passieren; wo aber Haß und Ironie diktieren, da wird ihm alles plastisch. Seinen alten Herrn gegen den jungen herauszustreichen, ist der natürliche Zweck seiner Charakteristik, aber selbst in dieser Färbung spart er den Groll nicht ganz; wie es den andern ergeht, großen und kleinen Feinden, wird durch kein Beispiel deutlicher als durch die Seite, auf der er einen völlig unbekannten deutschen Arzt vernichtet, der ihn in Petersburg durch falsche Behandlung schwer geschädigt hat: hier tötet seine Rache nach dreißig Jahren nicht bloß den Arzt, auch die zweimal boshaft erwähnte Großherzogin, die diesen unfähigen Arzt ihm und dem Petersburger Hof empfohlen hatte.

In Bruchstücken, eruptiv, bald langhin hallend, bald stoßweise unterbrochen, hat er Bucher bis zu dessen Tode im Jahre 92 die Kapitel der drei Bände in den Grundzügen diktiert, dann aber noch vieles verändert, erweitert. Mit Leidenschaft war er bei dieser Arbeit nie, oft fand Schweninger beim Eintreten dieses Bild: »Bucher stumm, verstimmt, ›muksch‹, mit leerem Blatt, gespitzten Ohren und gespitztem Bleistift am Tisch, der Fürst auf der Chaiselongue liegend, in Zeitungen vertieft, sprach kein Wort, Bucher noch weniger, und die Blätter blieben leer.« Dann hilft der Arzt, wohl auch ein Artikel oder die Frage eines Besuchers ihn anzuregen, und nun diktiert er ein Stück.

Bucher, begabt mit viel weniger Leidenschaft, aber noch mehr Gedächtnis als Bismarck, klagt, der Alte »erzählt vieles mehrmals und dann fast immer anders ... Er bricht an den wichtigsten Stellen ab, gibt Wiederholungen und Widersprüche ... Bei nichts, was mißlungen ist, will er beteiligt gewesen sein. Fast niemand läßt er neben sich gelten ... Er verleugnete den Brief an Prim (im Jahre 70), bis ich ihn erinnerte, daß ich ihn selbst dem General in Madrid überreicht hatte ... Er könnte dabei an die Geschichte denken, an ein Vermächtnis für die Zukunft, ... er denkt aber an die Gegenwart und will auf sie einwirken.«

So, ohne Akten, in dem Wunsch, sich an vielem zu rächen und selber gut wegzukommen, wird er vollends durch den Widerspruch seiner privaten und öffentlichen Anschauungen über die Königsmacht beunruhigt: »Ich habe von 1847 an immer das monarchische Prinzip vertreten und hochgehalten wie eine Fahne, und nun habe ich drei Könige nackt gesehen, und da nahmen sich die hohen Herren oft nicht grade sehr königlich aus. Das aller Welt zu sagen ... wäre ja gegen das Prinzip. Aber es feig verschweigen, oder gar das Gegenteil, – das dürfte ich ebensowenig.« So rächt sich am Ende seine Doppelwelt an diesem großen Schauspieler, und der bis heut nur hinter der Szene Wahrheiten gesprochen, soll nun zum erstenmal im Rampenlichte die Wahrheit sagen. Aber auch diesmal ist sein Groll stärker als die politische Erwägung, und so schreibt der ci-devant-Royalist das berühmte Kapitel über Wilhelm IL, tödlich nicht bloß für diesen, zugleich eine fürchterliche Musterung, die er in der Ahnengalerie der Hohenzollern abhält. Niemals ist ein besseres Werbestück gegen die Monarchie geschrieben worden. Mit vollem Bewußtsein dieser Wirkung hatte Bismarck die Herausgabe des ganzen Werkes für den Zeitpunkt seines Todes bestimmt. Seine Erben glaubten auf Grund angeblich mündlicher Andeutungen, statt ihres Vaters, der aus dem Grabe sich endlich verteidigen wollte, lieber den Kaiser schützen zu müssen; sie hielten den dritten Band nicht bloß im Jahre 98 zurück, sie stellten sich sogar noch 1918, nach der Flucht des Kaisers, schützend vor diesen: sie haben »gegen die alsbaldige Veröffentlichung Einspruch erhoben« und den Prozeß des Kaisers gegen den Verleger unterstützt, anstatt mit allen Mitteln dies moralische Testament ihres Ahnherrn endlich ins Licht der Nation zu stellen.

IX

»Die Pflicht zu reden zielt in meinem Gewissen wie mit einer Pistole auf mich. Wenn ich glaube, daß das Vaterland mit seiner Politik vor einem Sumpf steht, der besser vermieden wird, und ich kenne den Sumpf, und die andern irren sich über die Beschaffenheit des Terrains, so ist es fast Verrat, wenn ich schweige ... Meine teuren Freunde fordern, ich soll ein lebendiger Toter sein, versteckt, verstummt, bewegungslos ... Ich kann aber fortfahren, in der Zurückgezogenheit meinem Vaterlande zu dienen ... In mancher Beziehung habe ich jetzt freiere Hand, im Auslande kann ich ohne amtliche Beschränkungen die Friedens-Propaganda befördern, mein Ziel seit zwanzig Jahren.«

So strömt die Sorge für sein Werk mit der Feindschaft gegen die Nachfolger, mit der Rache gegen die Beleidiger zusammen, und der Verbannte gewinnt im letzten Jahrzehnt eine Macht, die er im vorletzten über die öffentliche Meinung verloren hatte. Dafür ist ihm jedes Mittel recht, und wenn er wichtige Briefe des alten Kaisers durch Vertraute in die Presse lanciert, so schützt er sich gegen einen »Fall Arnim« durch den Wink, man solle im Notfall sagen, der Brief habe unter den Gästen in Friedrichsruh zirkuliert und sei abgeschrieben worden; auch seine Privatbriefe an den König erklärt er für sein geistiges Eigentum; »daß die Konzepte sich in den Akten befinden, gibt ihnen noch keinen amtlichen Charakter.« Andere Enthüllungen gibt er an Harden, den er, nach Lektüre seiner Aufsätze, spontan zu sich bitten läßt und jahrelang ins Vertrauen zieht.

Nicht reich, wie man glauben sollte, anfangs ist Bismarck äußerst arm an weißem Zeitungspapier, die meisten deutschen Blätter fürchten, sich durch seinen Umgang zu schaden, und so empfängt er in den ersten Monaten nur ausländische Journalisten. Die »Hamburger Nachrichten« allein geben ihm ihre Spalten frei und werden dadurch auf Jahre hinaus das interessanteste deutsche Blatt. Manches diktiert er dafür, vieles regt er an, rasch gewöhnt man sich, in dieser Zeitung den Moniteur von Friedrichsruh zu sehen, der auch in den zwei oder drei großen Krisen dieser Jahre gleichberechtigt gegen den Reichsanzeiger auftritt.

Denn zwei Jahre nach der Verbannung wartet auf Bismarck noch ein grundstürzendes Erlebnis.

Schon die Entlassung hatte einen Teil der längst entfremdeten Nation zu ihm zurückgeführt; ihre Form, die er bald bekannt werden ließ, erregte in manchen Kreisen Murren und Mitgefühl, man zählte in den ersten Tagen über 6000 Depeschen der Zustimmung, glänzend nahm das freie Hamburg den neuen Nachbar auf, und als auf der Fahrt durch die festlichen Straßen ein englischer Matrose neben dem Wagen herlief und rief: »I want to shake hands with you,« da war es zum erstenmal im Leben, daß Bismarck die Hand des Volkes drückte. Auch hat er bis heute nie einen Bauer an seinem Tische bewirtet; jetzt lädt er zwei, die aus Begeisterung von Schönhausen gekommen sind, zum Frühstück ein, und wie er von ihrer Verehrung gerührt ist, findet Herbert die schönen Worte: »Du bist ihr Palladium, und das mit Recht.« Aber es war kein Chor, und noch nach zwei Jahren, Ende Mai 92, durfte der Verbannte sagen: »Worin ich mich getäuscht habe, das ist das deutsche Volk, ... daß es nicht erkennen kann, daß, was mich zur Kritik treibt, keine Mißstimmung, Rache oder gar der Versuch, wieder zur Macht zu gelangen, ist, sondern die schwere Sorge, die mir die Nachtruhe raubt, um die Zukunft des Reiches.«

Zwei Wochen später hätte er nicht mehr so gesprochen. Den vereinsamten Sohn hat er zur Ehe bewogen, mit einer reichen ausländischen Erbin verlobt, und, im Begriff zur Hochzeit nach Wien zu fahren, hat er bei Franz Joseph um Audienz ersucht; er war willkommen. Aber Wilhelm und die Seinigen fürchteten dunkle Absichten, die Pygmäen der Wilhelmstraße huschten zusammen, sie witterten Gewitterwind, warnend hoben sie ihre Finger, und der eine Kaiser schrieb an den andern: »Bismarck wird Ende des Monats in Wien eintreffen, ... um sich von seinen Bewunderern bestellte Ovationen bereiten zu lassen ... Du weißt auch, daß ein Hauptstück von ihm der geheime Vertrag à double fonds mit Rußland war, der, hinter Deinem Rücken geschlossen, von Mir aufgehoben wurde. Seit der Zeit seines Rücktritts hat der Fürst in der perfidesten Manier gegen Mich, Caprivi, Meine Minister Krieg geführt ... Er versucht mit aller List und Kunst, es so zu drehen, daß ich als der Entgegenkommende vor der Welt dastehen soll. Als Hauptstück seines Programms in dieser Angelegenheit hat er sich eine Audienz bei Dir ausgedacht. Ich möchte Dich daher bitten, Mir Meine Lage im Lande nicht zu erschweren, indem Du den ungehorsamen Untertan empfängst, ehe er sich Mir genähert und peccavi gesagt hat.«

Zugleich mit diesem schamlosen Schreiben ging ein zweites nach Wien, entworfen von Holstein, gezeichnet von Caprivi, gerichtet an den deutschen Botschafter, einen Prinzen Reuß: »Falls der Fürst oder seine Familie sich E. D. Hause nähern sollte, ersuche ich Sie, sich auf die Erwiderung der konventionellen Formen zu beschränken, einer etwaigen Einladung zur Hochzeit aber auszuweichen. Diese Verhaltungsmaßregeln gelten auch für das Botschaftspersonal. Ich füge hinzu, daß S. M. von der Hochzeit keine Notiz nehmen werden ... E. D. sind beauftragt, in der Ihnen geeignet erscheinenden Weise sofort hiervon dem (Minister) Grafen Kalnoky Mitteilung zu machen.« So wurde Bismarck amtlich als ein Mann bezeichnet, den man nicht empfängt, der Minister des Äußern wurde vor ihm gewarnt.

Bismarcks erster Gedanke, als er vertraulich davon erfährt, ist, Caprivi zu fordern: »Ich hatte mir schon meine Kartellträger ausgesucht, ich habe noch eine recht sichere Hand und hätte mich auch noch etwas eingeschossen. Aber dann überlegte ich, ich bin Offizier, man wird die Geschichte vor ein Ehrengericht von alten Generalen bringen, ... vor die Pistole hätte ich ihn ja doch nicht gekriegt.« So tritt noch einmal im 77. Jahre der Riese vor mit seinem Löwenmute, Namen, Rang und Ehre auf Tod und Leben will er mit der Waffe verteidigen, wie zuletzt vor über 40 Jahren. Nicht den Sohn schickt er vor, selber will er schießen, immer von dem dramatischen Wunsche belebt, seine beleidigte Existenz tragisch zu endigen.

Aber er tut das Klügere, privatim nennt er diesen »Uriasbrief« eine Unverschämtheit, öffentlich läßt er in seinem Blatte drucken: »Die Mittel, die benutzt worden sind, um dem Kaiser von Östreich den ursprünglich von ihm beabsichtigten Empfang des Fürsten zu verleiden, machen den Eindruck einer Geringschätzung und Schädigung der gesellschaftlichen Stellung des Fürsten, die notwendig als persönliche Kränkung wirken mußte ... Wir können in dem Vorleben des Fürsten nichts finden, was eine so beleidigende Klassifizierung verdient hätte.« Mit Getöse explodierte dieses Geschoß, die Stücke flogen bis über Deutschlands Grenze.

Noch nie, solange Preußen stand, war es einem König gelungen, dies Volk in Wallung gegen sich zu bringen, denn selbst im Jahre 48 ging es nicht eigentlich gegen den schwachen König. Jetzt stand halb Deutschland auf. Selbst in Berlin, das die Bismarcks passierten, brachen die Massen zum Bahnsteig vor und forderten von dem Alten eine Rede, aber der Kluge schwieg, er hatte seinen Racheplan sorgsam entworfen. In Wien zeigte der Adel peinliche Gesichter, wandte sich weg, der Botschafter hat sich, angeblich krank, ins Bett gelegt, während seine Frau, eine Prinzessin Weimar, tapfer für den Beleidigten kämpfte. Unter diesen Erschütterungen des Alten feiert Herbert seine Hochzeit mit der Gräfin Hoyos, zehn Jahre, nachdem er sie um ähnlicher Erschütterungen willen mit Elisabeth Hatzfeldt nicht hatte feiern dürfen.

Bismarck aber scheint sich in diesem Kugelregen feindlicher Blicke nur zu verjüngen, er denkt wie einst: A corsaire corsaire et demi!, bittet den Herausgeber der »Neuen Freien Presse« zu sich und mundiert selber ein Interview, indem er zum erstenmal seit 44 Jahren die Regierung offen angreift. Damals warf er dem König Feigheit vor dem Volke vor, jetzt der Regierung Dummheit: »Natürlich hat Östreich die Schwäche und Unzulänglichkeit unsrer Unterhändler beim Handelsvertrag ausgenutzt. Dies Resultat schreibt sich daher, daß bei uns Männer in den Vordergrund getreten sind, die ich früher im Dunkeln hielt, weil eben alles geändert und gewendet werden mußte ... Allerdings habe ich gar keine persönlichen Verpflichtungen mehr gegen die jetzigen Persönlichkeiten und gegen meinen Nachfolger. Alle Brücken sind abgebrochen ... Der Draht ist abgerissen, der uns mit Rußland verbunden hat. In Berlin fehlt die persönliche Autorität und das Vertrauen.«

In Berlin fängt man an zu zittern; gelang es nicht, den alten Schwätzer privatim zu diffamieren, so muß man es öffentlich tun. Und die beiden Moniteurs beginnen vor dem aufgewühlten Deutschland, vor dem lachenden Europa ihr Duell, jeder Hieb der Regierung geht fehl, jeder Gegenhieb sitzt:

»Wir erinnern uns, läßt Caprivi schreiben, keines ähnlichen Verhaltens eines abgetretenen Staatsmannes in der Geschichte anderer Reiche, geschweige denn in Deutschland. Es scheint Sache des Fürsten zu sein, die schwierige Lenkung des Reichswagens durch gewaltsam erregtes Mißtrauen mit allen Kräften zu gefährden. Ob dies wohl patriotisch ist? Seine Erinnerungen fangen an, sich völlig zu verwirren ... Niemand kann den Umfang des Schadens ermessen, den der Fürst dem eigenen Vaterlande zuzufügen gewillt ist.«

Andern Tags erweist sich Bismarck als genialer Journalist, indem er in seinem Blatte die Fiktion aufstellt, jener Artikel sei vom Redakteur geschrieben, und so kann er mit ironischem Anstand auf den Rücken der anonymen Regierung trommeln: »So erfahrene und wohlerzogene Männer wie die jetzigen Staatsleiter können hinter dem dummdreisten Artikel nicht stecken, ihnen die Verantwortung zuzuschieben wäre eine Beleidigung ... Der Fürst findet, daß es einen lächerlichen Eindruck machen muß, wenn der Redakteur Pindter sich auf das Katheder setzt und ihn abkanzelt ... Gern würde er gerichtlich belangt werden, und hätte nichts gegen einen dramatischen Abschluß seiner politischen Laufbahn.«

Nach dieser Antwort ist die deutsche Empörung im Begriffe, sich in behagliches Schmunzeln zu entspannen; aber die Herren in Berlin haben den Rest ihrer Fassung verloren, sie wagen es, den Kampf nicht bloß mit Bismarck, auch mit der halben Nation aufzunehmen, publizieren die feigen Erlasse nachträglich, im Reichsanzeiger, – und nun, da jeder Deutsche in seiner Zeitung lesen kann, wie der neue Kanzler den alten beleidigt, strömt allen das Blut zu Haupt und Herzen. Anfangs hatten Hunderttausende Bismarcks Entlassung als eine kühne, aber rettende Tat betrachtet, wofern der Kaiser nur Genie und Takt bewiese; jetzt sehen alle, daß ihm auch der zweite fehlt, und so geschieht es, daß die letzten feindlichen Rufe im Lande von einem Brausen übertönt werden, wie es in Deutschland einem Mann ohne Krone und ohne Uniform noch nie entgegenwuchs.

An die Achtzig mußte er werden, bevor Bismarck das deutsche Volk eroberte. Volksfeind als Abgeordneter, Volksbekämpfer als preußischer Minister, Reichstagsfeind als Kanzler, in seinem Haus, auf seinen Gütern immer nur von seiner Klasse umgeben, außer aller Fühlung mit dem Bürgertum, auch mit dem geistigen, fremd allen Lehrern und Professoren, allen Gewerben und Künsten: so hat er 60 Jahre lang nur mit Politikern oder Adligen gelebt und höchstens in den beiden Kriegen oder als Herr auf seinem Hofe von diesem Volk einen Hauch verspürt, für dessen Gedeihen als Nation er doch ein Menschenalter arbeitete.

Heut strömen an allen Orten, die der Alte auf der Fahrt von Wien nach Kissingen passiert, die Menschen zusammen, die Städte bitten um die Huld, ihn empfangen zu dürfen, und grade jene Stämme, die er geschlagen oder bedrängt hat, Sachsen und Süddeutsche sind es, die ihm nun huldigen. Europa spottet, als es die Verbote der preußischen Regierung an die Städte Halle und Magdeburg liest, sie dürften nicht mittun, und als in Kolberg die Regimentskapelle, die schon trommeln und pfeifen will, wieder abzieht, um den Landesfeind nicht zu feiern. Deutschland aber jubelt, als es den Tag von Jena beschrieben liest.

Da drängen Stadt und Hochschule, Bürger und Bauern der Umgebung, Lehrer, Kinder, Frauen auf den alten Markt, im Lutherhaus empfängt der Rektor den Fürsten, und als sie heraustreten auf den Platz, auf dem vor neunzig Jahren die Wachtfeuer der Franzosen brannten, da ist an langen Tischen bei Wein und Bier, mit Liedern und Kapellen die deutsche Kleinstadt versammelt, mit ihrer Romantik, Neugier, Schwärmerei. Da schreitet er, immer noch der Längste, im schwarzen Rock auf den rumpligen Steinen zwischen den Gruppen umher, hält neun Reden, und keine enthält eine Phrase. Da weist er auf das Denkmal des Götz von Berlichingen und zitiert dessen Worte bei Goethe, als er einen Beleidiger niederschlagen will: »Trügest du nicht das Ebenbild des Kaisers, das ich in dem besudeltsten Konterfei verehre, du solltest mir den Räuber fressen und daran erwürgen!« Und noch toller schallt ihm der Beifall entgegen, als er die erste Hälfte jenes groben Götz-Wortes nennt, das er sein Lebenlang im Munde führte, um dann zu schließen: »Man kann ein treuer Anhänger seiner Dynastie, seines Königs und Kaisers sein, ohne von der Weisheit aller Maßregeln seiner Kommissare überzeugt zu sein, Ich bin es nicht und werde auch in Zukunft diese meine Überzeugung keineswegs zurückhalten!«

Das ist der Ton, die Deutschen zu entzücken, wenn sie am Sommerabend beim Wein auf dem Platze sitzen und keine Verantwortung tragen. Hier und im Wagen, der nicht vorwärts kommt, suchen Hunderte die Hand zu erhaschen, vor deren Schwere sich alle ein Menschenalter lang gefürchtet haben, und allen reicht sie der Alte. Für ein paar Stunden oder Wochen schweigt seine eingeborene Skepsis still, und er fragt sich, ob aus diesen Quellen nicht echtere, tiefere Töne dringen als aus seiner Klasse, die ihn in der Macht beneidet, dann verraten, zuletzt gestürzt hat. Bei den Empfängen, Kommersen, Fackelzügen, die seine Reise durch Süddeutschland zu einer Via Triumphalis machen, drängt ihn der Eindruck solcher Nähe und Wärme immer heftiger vor die Frage, ob einem solchen Volke nicht mehr Macht zu gewähren war. So spät und nur unter dem Drucke persönlicher Unbill erkennt Bismarck das große Versäumnis, und in diesen ersten Volksreden seines Lebens, gesprochen in Stadthäusern und Braukellern, auf Balkonen und freien Plätzen, von Dresden bis München, häuft der Greis seine verspäteten Warnungen:

»Das Wesen der konstitutionellen Monarchie, unter der wir leben, ist eben das Zusammenwirken des monarchischen Willens mit der Überzeugung des regierten Volkes. Vielleicht habe ich selbst unbewußt dazu beigetragen, den Einfluß des Parlamentes auf sein jetziges Niveau herabzudrücken. Ich wünsche nicht, daß er auf die Dauer auf demselben bleibt. Ich möchte, daß das Parlament wieder zu einer konstanten Majorität gelangt: ohne die wird es die Autorität nicht haben, die es braucht ... Es bleibt die Pflicht der Volksvertretung, daß sie die Regierung kritisiert, kontrolliert, warnt, unter Umständen führt ... Ohne einen solchen Reichstag bin ich in Sorgen für die Dauer und die Solidität unserer nationalen Entwicklung ... Früher war mein ganzes Bestreben dahin gerichtet, das monarchische Gefühl im Volke zu heben, an den Höfen und in der offiziellen Welt wurde ich gefeiert und mit Dankbarkeit überhäuft; das Volk wollte mich steinigen. Heut jubelt mir das Volk zu, während die andern Kreise mich ängstlich meiden. Ich glaube, man nennt das Ironie des Schicksals.«

So elegant vermag der große Stilist diese schwierigste Kurve seiner Laufbahn zu nehmen, wenn es die Wirkung auf Tausende gilt. In Wahrheit ist es eine tragische Ironie. Er weiß es, und eben aus dieser allzu späten Umkehr erstehen ihm die Sorgen seiner Nächte. Auf sich gestellt, von sich gesehen, in sich zurückgeführt blieb dieses Staatsdenken ein Leben lang: nicht um zu glänzen – ein solcher Grad von Menschenverachtung schützt vor Eitelkeit –, auch nicht, weil nur von oben her die Macht zu halten und zu stützen war; der tiefste Grund von Bismarcks Volksfeindschaft lag im Selbstgefühl eines Menschen, der sich von Geistes wegen als autochthones Genie, vom Blut her aber immer als Sprosse der obersten Klasse fühlte und mit ihr nur regieren wollte, weil sie die seine, wenn auch vor seiner Kritik keineswegs die beste war. König und Ritter, das war das Fundament des Staates, und wenn man dem Volke das gleiche Wahlrecht gab, so war das ein unwilliges Zugeständnis an den Geist einer dunkel heranrollenden Zeit; das Parlament zu schwächen, immer unter die Königsgewalt zu ducken, war ja der Grundgedanke dieses Staatengründers gewesen, dann seine Praxis durch die Jahrzehnte.

Aber das starke Königtum, auf das er vor Landtag und Reichstag immer wieder pochte, war in Wahrheit doch nur eine Schattenmacht wie jene englische, deren Vorbild er bekämpfte: nur war die Gestalt, in deren Schatten sie auftrat, nicht das Volk, sondern der Kanzler. Der kannte die große Täuschung, in die er das Volk versetzte, und ließ von jenem Diktatorenspiele zwischen Kaiser und Kanzler draußen nichts merken. Es war Sein Reich, er allein hatte darin zu befehlen: nur so konnte dies unerhörte Selbstgefühl im Werke Genüge finden. Bis das Unmögliche geschah: das Königtum, dessen Stärke er dreißig Jahre lang im Kampf mit den Volksvertretern verkündet hatte, war nun mit einem Mal in einen neuen Leib gefahren, mit seiner Macht trat es plötzlich hervor und stürzte seinen Meister. Da stand er eine Weile einsam, ohne Fürsten neben dem Volke.

Nun aber, als es sich endlich für ihn gegen jene erhob, erkannte der alte Bismarck den Fehler in seiner Rechnung und ging aus den gleichen Motiven eingeborener Leidenschaft zum Volke über, die ihn früher beim Königtum festgehalten hatten. Für seinen Stolz, der niemals widerrief, war es das äußerste, wenn er sich vor seinen Landsleuten, vor Europa das Geständnis abrang: »Vielleicht habe ich selbst unbewußt dazu beigetragen, den Einfluß des Parlamentes auf sein jetziges Niveau herabzudrücken.«

Als ihn in diesen Wochen die Münchener Künstler zu einem Fest empfingen, sollte Lenbach einen riesigen Innungsbecher mit Münchener Bier auf den Ehrengast erheben, doch wie er ihn aufhob, fand er ihn zu schwer, und, in Gefahr ihn fallen zu lassen, stellte er ihn nieder. Da überkam ihn der Geist, und er rief durch den Saal, daß es allen durch Mark und Bein ging: »Wer ihn nicht halten kann, der setzt ihn ab!«

In diesem Einfall faßte der Maler den Konflikt zusammen. Bismarck aber sagte: »Wenn ich in der Nähe einer Station beim langsamen Einfahren des Zuges das Rufen und Singen der erwartenden Menge höre, da ergreift es mein Herz mit Freude, daß ich in Deutschland nicht vergessen bin.«

X

Bismarcks Horoskop bringt ebensoviel Bestätigungen seines Wesens wie seine Handschrift. Der unter dem Löwen geborene Typus repräsentiert die Macht. Daß die Sonne zugleich im Widder steht, bedeutet Mut, daß sie unter Mars-Herrschaft steht, noch einmal Mut. Außerdem steht sie im Trigon zum Uranus, der die Berufung für eine Mission anzeigt. So hält er alle drei Feuerzeichen besetzt.

Die Handschrift (siehe Tafel XXI) zeigt Verstand stärker als Phantasie, zeigt Willen, Kraft, Selbstgefühl, aber auch Selbstbeherrschung, dazu Haltung, Formgefühl. Sie ist stolz, hartnäckig, unkonventionell trotz der Ordnung, voll von den Überraschungen eines den Nerven unterworfenen Menschen. Der Duktus ist groß, ohne Größe im mindesten zu affektieren. In der Mitte des Lebens ist sie am regelmäßigsten, ganz fehlen Pathos, Überfluß, im Alter wird sie noch geschmeidiger, großzügiger; bedeutungsvoll, wie sie durch fünfzig Jahre sich im Grunde gleichbleibt; nicht anders als der Charakter.

Kämpfer ist der Greis vor allem geblieben. Als Keyserling ihm zur Aufgabe stellt, nun eine harmonische Persönlichkeit zu werden, erwidert er in großartigem Trotze: »Warum soll ich harmonisch sein?« Und als am 80. Geburtstage die Pilgerzüge einen ruhenden Greis erwarten, hören sie ihn vom Balkon seines Schlosses die Feuerworte rufen: »Aus Kämpfen besteht das Leben in der Schöpfung. Von den Pflanzen über die Insekten bis zu den Vögeln, von den Raubvögeln bis zu den Menschen aufwärts: kein Leben ohne Kampf!« In dieser Stimmung läßt er sich in den Reichstag wählen, ernstlich denkt er daran, »einmal die Gesichter zu sehen, die sie am Regierungstische machen werden, wenn ich unten sitze ... Ich bin ein chemischer Tropfen, der alles zersetzt, wenn man ihn in eine Debatte hineingießt.« Und als man die Zufriedenheit rühmt, sagt er: »Was könnte es Unglückseligeres geben, als ein tausendjähriges Reich allgemeiner Zufriedenheit, das den Ehrgeiz tötet, den Fortschritt lähmt, zur moralischen Stagnation führt.«

Sein Christentum war längst formal geworden, jetzt ist es ganz vorbei, am Ende wie am Anfang stellt ein Skeptizismus, aus dem er zuweilen zu einer Art heidnischer Mystik sich erhebt. Der einzige, der ihn befragen durfte, der Jugendfreund, gibt auch dafür eine milde Erklärung: »Seine Religiosität, schreibt Keyserling nach dem letzten Besuch, scheint ... Ebbe und Flut durchgemacht zu haben ... Mit dem Alter schliefen die erotischen Triebe und vielleicht auch die Aspiration zu einem menschlich fühlenden Gotte ein. Der tiefe Zusammenhang zwischen Liebe und Religion wird dadurch erläutert,« und er berichtet als Bismarcks letztes Geständnis: »Leider bin ich während der Kämpfe der letzten Jahrzehnte Gott ferngerückt, grade jetzt, in dieser schweren Zeit empfinde ich diese Ferne schmerzlich.«

Fängt er aber religiös zu spekulieren an, so mag die fromme alte Frau es mit der Angst bekommen. Mitten im Zeitunglesen läßt er das Blatt fallen und spricht vor einem Gaste: »Ich möchte wohl wissen, ob der Dualismus, der durch unser ganzes Dasein geht, sich auch bis auf das höchste Wesen erstreckt. Bei uns ist alles zweiteilig, der Mensch besteht aus Geist und Körper, der Staat aus Regierung und Volksvertretung, und die Existenz des ganzen Menschengeschlechtes basiert auf dem gegenseitigen Verhältnis von Mann und Frau. Ja, dieser Dualismus erstreckt sich bis auf ganze Völkerschaften ... Ohne mich einer Gotteslästerung schuldig zu machen, möchte ich wohl wissen, ob nicht auch unser Gott ein Wesen zur Seite hat, das ihn so ergänzt, wie uns die Frau.« Schüchtern erinnert Johanna an die Dreieinigkeit. Die sei unfaßbar, sagt er ablehnend, und fährt in ernstem Tone fort, sich laut zu fragen: »Ob es zwischen uns und Gott nicht noch Stufen gibt, und ob Gott ... nicht noch Wesen zur Verfügung hat, auf die er sich bei der Verwaltung des unermeßlichen Weltsystemes stützen kann? Wenn ich z. B. hier in den Zeitungen immer wieder lesen muß, ... wie erbärmlich es bei uns zugeht und wie ungerecht Glück und Unglück verteilt sind, dann muß ich immer daran denken, ob wir für unsere kleine Erde nicht grade einen Oberpräsidenten erwischt haben, der den Willen unseres allgütigen Gottes nicht immer erfüllt!«

In solchem Naturalismus zucken die letzten dogmatischen Funken auf, um zu erlöschen. Er kann die Welt nur noch als Staat betrachten, und wenn er den obersten Monarchen trotz aller Mißstände für vollkommen halten soll, so konstruiert er sich einen Oberpräsidenten, der, wie er ein andermal sagt, die Gesetze falsch auslegt und anwendet. Zu germanischen Vorstellungen kehrt er im höchsten Alter resolut zurück, die er heimlich nie verlassen. Schon weil sie eine Furcht ist, wendet sich Bismarck in seinen trotzigen Stunden gegen die Gottesfurcht; in der gefahrbringenden Kraft der Sonne in den Tropen sieht er den Grund für die Sonnenanbetung, während der Germane deshalb Blitz und Donner verehre, und verächtlich fügt er hinzu: »Auch hierin zeigt sich die Hundenatur der Menschen: sie lieben und verehren den, vor dem sie sich fürchten.«

Einem Konsul, der von seiner Rettung vor den Negern berichtet, sagt er: »Wir stehen alle in Gottes Hand, und in solcher Lage ist der beste Trost ein guter Revolver, damit man die Reise wenigstens nicht allein anzutreten braucht.«

Aber das Mysticum ist ihm nicht fremd, der Aberglaube wächst, »ich achte gern auf solche Zeichen der stummen Natur, sie ist oft gescheiter als wir.« Auch spricht er wiederholt von der kabbalistischen Zahl, die er sich aus der Periodik seines Lebens für den Tod herausgerechnet hat, und sagt, da er im Jahre 83 nicht gestorben sei, das Jahr 98 für seinen Tod richtig voraus: »Alles ist unerklärlich in seinem tiefsten Grunde, das Licht, der Baum, unser eigenes Leben; warum sollte es also nicht Dinge geben, die der logische Verstand leugnet? ... Montaigne ließ auf seinen Grabstein schreiben: Peut-être. Ich möchte darauf schreiben: Nous verrons.«

Glaubt der Alte an den Bestand seines Werkes? Der Ruf seines Volkes besticht ihn nicht, Ruhm hat ihn nie geblendet. Was mag er denken, wenn nun der Vizekönig von China zu ihm kommt, um Rat, wie er sich gegen die Hofintrigen von Peking halten soll, oder wenn die Araber schreiben, sein Name sei dort wohl bekannt, Bi-Smark heißt Schnellfeuer, kühnes Handeln. Aber die Deutschen? »Sie sind alle klein und eng, keiner wirkt für das Ganze, jeder stopft an seiner eigenen Fraktions-Matratze ... Wir waren stets höchst unverträglich untereinander ... Es stört mir den Schlaf, wenn ich denke, daß sie das Gebäude, an dem ich gebaut und gebosselt, wieder zerbröckeln. Dann kommt die Gedankenjagd des Nachts.« So, gequält vom alten Mißtrauen gegen die Zwietracht der Nation, vom neuen gegen ihren Herrn, blickt er in die Zukunft mit Sorgen, die sich nach dem 80. Jahre steigern.

An seinem Geburtstag, umrauscht von Huldigungen aller deutschen Stämme, mißachtet nur vom alten Feinde, dem Reichstag, der ihm den Glückwunsch verweigert, steht er auf dem Balkon und mahnt die Jugend: »Geben Sie sich dem Bedürfnis der Kritik nicht zu sehr hin. Akzeptieren Sie, was uns Gott gegeben hat, und was wir mühsam, unter dem drohenden Gewehranschlag der übrigen Europäer, ins Trockne brachten. Es war nicht so ganz leicht.« So zart vermag er in festlicher Stunde seine Sorge zu verschleiern, noch immer hat er den verführerischen Stil einer eleganten Hand, die das Schwierige lockert, und die Studenten blicken zu dem alten Magier, vom Fackellichte unheimlich umweht, empor, ohne ihn recht zu fassen.

So umwölkt ist sein Blick nach vorwärts; nach rückwärts fürchtet er nichts. Wenn Memoiren oder Briefe erscheinen, wird er angeregt, und wenn ein Bankhaus seine Briefe an Manteuffel aufkauft, so hat er »keine Ahnung mehr, was da drin steht, aber ich glaube, daß ich nie einen Brief geschrieben habe, dessen Veröffentlichung ich zu scheuen brauche«. Das ist nur richtig, weil er keinen Wechsel der Ansicht und Partei verbergen, weil er sich nie auf Grundsätze stilisieren will. Daß er jetzt Roons Briefe über sich gedruckt lesen und so als sein eigener Spion durch die Geschichte laufen kann, macht ihm Vergnügen, auch sammelt er Karikaturen und liest behaglich seinen Gästen vor, von Bismarcks grausamem Mund, bösen Augen, wilden Augenbrauen. Wenn man ihm aber das Modell seines Denkmals als Student bringt, so vertieft sich der Physiognom in seine Züge und stellt, Rassenmensch und Diplomat in einem, als Fehler fest: seine Unterlippe sei stets stärker gewesen, sie drücke Beharrlichkeit aus, nur die schmalere Oberlippe Herrschsucht.

Wenn aber die realistischen Anlässe zu Streit und Spott fehlen, oder er sitzt allein und in der Ferne hört er's klirren wie vom Getümmel seiner Bahn, da rühmt er sich nie genialer Voraussicht, da erschrickt er nur über seine Wagnisse und sagt: »Mein ganzes Leben war ein hohes Spiel mit fremdem Gelde, ich konnte nie sicher voraussagen, ob meine Pläne gelingen würden. Dies Wirtschaften mit fremdem Vermögen hat ungeheuer auf meinem Verantwortungsgefühl gelastet ... Noch jetzt habe ich Nächte, wo ich nicht schlafen kann, wenn ich denke, wie anders alles hätte kommen können.«

Rascher verdunkelt sich sein Herz in Johannas letzter Krankheit. Mit ihr gemeinsam zu sterben, das wäre sein Wunsch, »ich möchte meiner Frau nicht wegsterben, sonst – ... Aber wenn sie abgerufen wird, möchte ich nicht hierbleiben.« Halb gebrochen bringt er sie auf ihren Wunsch nach Varzin, dort sitzt sie still, von Atemnot geplagt, und er, der nur noch sehr wenige Briefe diktiert und keinen selber schreibt, sendet nach des Bruders Tode diese ergreifenden Zeilen eigenhändig an die Schwester: »Johannas Melancholie darf ich nicht durch Zusatz von meinem Trübsinn steigern, ihre Lebensfähigkeit ist ohnehin gering und von psychischen Eindrücken abhängig; vom armen Bill haben wir heut betrübende Nachricht ... über neuen Gichtanfall ... Früher war ich stets freudig erregt, wenn ich nach Varzin reisen konnte; heut würde ich ohne Johanna kaum mehr den Entschluß dazu fassen. Mich verlangt nach einem Wohnraum, den ich nur im Sarge zu verlassen brauche, und nach Einsamkeit ... Dein etwas lebensmüder, aber gottergebener einziger Bruder v. B.«

Im Herbst verlöscht die Frau mit ihren 70 Jahren, abends hat er sie noch bei Tische gesprochen, morgens, als er ins Zimmer tritt, liegt sie still. Da sitzt der gewaltige Mann, im Schlafrock mit nackten Füßen, und weint wie ein Kind. Das Unersetzliche ist ihm weggenommen, und wie sehr paßt es zu seinem Doppelleben, daß er am selben Abend das Ende der Macht und das Ende der Treue vergleicht: »Dies ist doch ein größerer Abschluß wie 1890, und es greift tiefer in die Gestaltung meines Lebens ein ... Wäre ich jetzt noch im Dienst, so würde ich fest arbeiten. Der Trost ist mir versagt.« Andern Tages nimmt er aus einem Kranz eine weiße Rose, geht zu den Büchern, holt einen Band Deutsche Geschichte heraus und sagt: »Das soll mich auf andere Gedanken bringen.«

Aber der Platz bleibt leer, niemand wird ihm den stillen, gläubigen Blick ersetzen, in den er immer wieder tauchen konnte, um Kampf und Kränkungen minutenweise zu vergessen. Jetzt klagt er der Schwester, warum sie fern von ihm wohne: »Das gleiche ist der Fall mit meinen Söhnen, die ... außerhalb des Schattens des väterlichen Hauses ihre Selbständigkeit gesucht haben. Marie ist bei mir als liebende Tochter, aber doch auch nur als entliehen ... Was mir blieb, war Johanna, der Verkehr mit ihr, die tägliche Frage ihres Behagens, die Betätigung der Dankbarkeit, mit der ich auf 48 Jahre zurückblicke. Und heut alles öde und leer. Das Gefühl ist ungerecht, aber I cannot help it. Ich schelte mich undankbar gegen so viele Liebe und Anerkennung, die mir im Volke über Verdienst geworden ist, ich habe mich vier Jahre darüber gefreut, weil sie sich auch freute. Heute aber ist auch diese Kohle in mir verglimmt, hoffentlich nicht für immer, falls mir Gott noch Leben beschert ... Verzeih, mein Schwesterherz, daß ich mich anklage, aus noch lange nicht.«

In seiner Einsamkeit tauchen die frühsten Tage wieder auf, und plötzlich erzählt er, was er nie erzählte: »Mit 6 Jahren habe ich den Tod Napoleons erfahren. Ein Magnetiseur, der meine Mutter behandelte, brachte die Kunde, er sagte ein italienisches Gedicht, dessen Anfang war: Egli fù – er war!« So taucht am Ende des Jahrhunderts der Anfang auf, man hört aus seinem Munde vergangene Dinge wieder auferstehn, es ist, als hielte er mit Manzonis Gedichte sich selber den Nachruf: er war. Leise fällt einmal der Name Kniephof von den uralten Lippen, und er schreibt seinem Schwager:

»Lieber Oskar, wir sind beide so alt geworden, daß wir lange nicht mehr leben werden. Können wir uns nicht noch einmal sehen und sprechen, ehe wir abgehn? Es ist 66 oder 67 Jahre her, daß wir auf dem Gymnasium den ersten Tropfen Bier zusammen aus der Flasche tranken. Es war auf der Treppe neben der Obertertia. Wollen wir nicht den letzten trinken, ehe es zu spät wird? ... Ich habe das Verlangen, Deine Stimme noch einmal zu hören, ehe ich –. Du steigst doch in die Bahn, wenn Du Berlin verläßt; warum nicht in die Hamburger statt in die Stettiner?« Wegen eines Tintenfleckes bleiben diese Zeilen liegen und werden erst später befördert. Wie sich der Verlassene um einen Mann bewirbt, den er sein Leben lang im Grunde übersehen hat, wie er sich an die letzte Freundesstimme hält, da alle tot und die Söhne oft fern sind! Aber auch jetzt bleibt er noch sachlich, rechnet die Jahre aus und zeigt die Stelle in der Schule an, doch man fühlt, er lacht nicht mehr darüber.

Schläft nun in so viel Verdrossenheit sein Geeist? Hat er das Reich vergessen?

Nicht einmal seine Feinde, die Regierer. Als er im Herbst 96 noch die Folgen des zerstörten russischen Vertrages erlebt, der Zar in Paris, Frankreich vom Russentaumel voll ist, als er in deutschen Blättern lesen muß, er trage Schuld, daß der Draht zerrissen, da grollt es noch einmal auf in ihm, und weil er die Zerstörer seiner Vorsicht kennt, will er bei lebendem Leibe nicht selbst Zerstörer heißen. Noch einmal zieht er zu tödlichem Streich vom Leder, nun rollt er vor dem deutschen Volke die Schuldfrage an der deutschen Vereinsamung auf und läßt in seiner Zeitung schreiben:

»Bis 1890 waren beide Reiche im vollen Einverständnis darüber, daß, wenn einer von ihnen angegriffen würde, der andere wohlwollend neutral bleiben sollte. Dies Einverständnis ist nach dem Ausscheiden des Fürsten Bismarck nicht erneuert worden, und wenn wir über die Vorgänge in Berlin recht unterrichtet sind, so war es nicht etwa Rußland, in Verstimmung über den Kanzlerwechsel, sondern Graf Caprivi war es, der die Fortsetzung jener gegenseitigen Assekuranz ablehnte, während Rußland dazu bereit war ... So entstand Kronstadt mit der Marseillaise; die erste Annäherung zwischen dem absoluten Zarentum und der französischen Republik wurde unserer Einsicht nach ausschließlich durch die Mißgriffe der Caprivischen Politik herbeigeführt.«

Europa horcht auf, die Deutschen murren, furchtbarer konnte der alte Kämpfer den Kaiser nicht treffen. Stammelnd entgegnet der Reichsanzeiger:

»Diplomatische Vorgänge der ... erwähnten Art gehören zu den strengsten Staatsgeheimnissen; sie gewissenhaft zu wahren, beruht auf einer internationalen Pflicht, deren Verletzung eine Schädigung wichtiger Staatsinteressen bedingen würde.« Andere schreiben: Landesverrat, Schloß und Riegel, Zuchthaus. Wilhelm aber drahtet triumphierend an Franz Joseph: »Und wirst Du sowohl wie die Welt nunmehr in dem Verständnis bekräftigt, weshalb ich den Fürsten entließ.«

Und doch schickt derselbe Kaiser im nächsten Sommer Tirpitz zum Fürsten, um ihm ein gutes Wort für die Flotte herauszulocken. Der bleibt verstockt und spricht statt dessen »so schonungslos« über den Kaiser, daß der Zuhörer auf seine Uniform weist. »Sagen Sie dem Kaiser, schließt Bismarck, ich wünsche nichts als allein gelassen zu werden und in Frieden zu sterben.« Aber der junge Herr läßt ihn nicht allein, trotz aller Beleidigungen, die er von ihm erfährt, zieht es ihn immer wieder zu dem verzauberten Alten, und ein halbes Jahr vor dessen Tode kommt er noch einmal uneingeladen mit großer Suite in sein Haus.

Da sitzt der Alte im Rollstuhl vor seiner Tür, läßt alle defilieren; als aber Lucanus ihm die Hand reichen will, mit der er ihm den blauen Brief gereicht hat, da bleibt der Fürst »wie eine Statue, kein Muskel rührte sich, er sah ein Loch in die Luft, und vor ihm zappelte Lucanus, bis er begriff und sieh entfernte.« Doch nachher, bei Tische denkt der Wirt, wie er wohl seinen Gast und Gegner, den er nicht wiedersehen wird, noch einmal warnen könnte: da gibt er seinem uralten Stolz einen Stoß und fängt zum ersten Male nach sieben Jahren an, dem Kaiser von Weltpolitik zu reden. Der Herr erwidert mit einem Witz. Nochmals. Ein zweiter Witz. Selbst die Hofgeneräle erschauern, der jüngere Moltke flüstert: »Es ist furchtbar.«

Da wird Bismarck zum Seher: die Stunde fühlt er verrinnen, mit ihr sein Leben, nie mehr wird er den Jüngling vor sich sehn, der ihm sein Reich zerpflückt, sein Lebenswerk. Einst wird er Land und Krone verlieren, bald oder spät, man muß es ihm sagen, vielleicht kann ihn die Stimme eines Sterbenden erschüttern, und plötzlich sagt Bismarck »mit scheinbarer Nonchalance«, doch so laut, daß es die Tafelrunde hört: »Majestät! Solange Sie dies Offizierkorps haben, können Sie sich freilich alles erlauben. Sollte dies nicht mehr der Fall sein, so ist es ganz anders.« Der Kaiser ist taub, er plaudert, er geht.

Aber der Alte häuft im vertrauten Kreise seine Warnungen und Prophezeiungen. Jede ist eingetroffen:

»Wenn gut regiert wird, kann der nächste Krieg vermieden werden, wenn schlecht regiert wird, kann es ein siebenjähriger werden ... Die zukünftigen Kriege werden durch Artillerie entschieden, Truppen lassen sich zur Not ersetzen, Kanonen muß man im Frieden gießen ... In Rußland ist die Republik vielleicht näher, als jemand glaubt ... In dem Kampf zwischen Arbeit und Kapital hat die Arbeit die meisten Siege errungen, und das wird überall der Fall sein, wo der Arbeiter eine Wahlstimme hat. Wenn es einmal zu einem endgültigen Siege kommt, so wird er auf Seite der Arbeiter sein.«

Ebenso kühn sind alle Mahnungen an Deutschland, denn seine Geisteshelle steigert sich zuletzt zur Selbstanklage: »Mein pflichtmäßiges Vorgehen ist vielleicht die Ursache für den bedauerlichen Mangel an Rückgrat in Deutschland und für das Heranwachsen des Typus des Strebers und Mantelträgers, auch um den Preis der Selbstachtung ... Alles kommt darauf an, den Reichstag zu stärken; das kann aber nur dadurch geschehn, daß man ganz unabhängige Männer hineinwählt, ... er ist ins Rutschen gekommen, es ist ja das reine Wettkriechen ... Geht das so fort, so sehe ich in eine düstere Zukunft ... Ich halte dafür, daß die Krisen um so gefährlicher werden, je später sie eintreten ... Es ist mir immer wertvoller gewesen, niemand zu gehorchen, als anderen zu befehlen: also, wenn Sie wollen, ich hatte eine republikanische Auffassung ... Es kann sein, daß Gott für Deutschland noch eine zweite Zeit des Zerfalles und darauf eine neue Ruhmeszeit vorhat: dann freilich auf der Basis der Republik.«

XI

Der Wald, aus dem er hervorgegangen, ist Bismarcks letzter Aufenthalt. Frau und Freunde sind hin, tot alle Hunde und Pferde, die er liebte, weder auf Kinder noch auf Enkel steht noch sein Sinn. Macht und selbst der Groll über Ohnmacht sind verklungen, Schmerzen ziehen durch die Glieder, Greisenbrand wühlt in ihnen, und er, der noch mit Achtzig erzählend alles im Banne gehalten, indessen die andern schwiegen, sitzt am Ende schweigend, kaum noch trinkend, im Rollstuhl an der Spitze und hört die Jüngeren plaudern. Bei Tafel sitzt nur noch sein Schatten.

Doch hoch in dunklem Grün steht auch im letzten Lebensjahre seines Herrn der Wald, und noch immer fährt er hinaus, schweigend, Bismarck, der 83jährige. »Ich habe nur noch ein Zufluchtsmittel, das ist der Wald.« Die Felder kümmern ihn nicht mehr, es zieht ihn zu den Douglas-Tannen, die er vor Jahrzehnten gepflanzt hat, weiter zu den jungen Schonungen, dann in die ältesten Teile, wo die Hundertjährigen rauschen. Als sich die Stare hinterm Haus versammeln, sagt er: »Sie halten heut eine Volksversammlung, vermutlich wegen des nahen Frühlings«, und wenn er sie abends über der Bank erwartet, kennt er jeden Star: »Es sind erst fünf, es müssen aber sieben sein, der Anführer kommt zuletzt. Sie gehen schlafen und stehen auf, ohne Schmerzen.« Dann fährt er zum Teich und überlegt, wie man Schwäne, Enten und Ratten in ihrem ewigen Streit auseinanderhalten könne. Als ein Gast mit Zylinder ausfahren will, gibt er ihm seinen Schlapphut und sagt: »Erlassen Sie meinen Bäumen diesen Anblick.«

Denn er liebt sie mehr als den Gast, ja mehr als Deutschland liebt Bismarck die Bäume, sie sind Ahnen, hat er einst gesagt; nun möchte er sie sogar zur Ruhestätte wählen. Zwei Riesentannen hat er herausgefunden, die zeigt er vertrauten Gästen und sagt: »Dort, zwischen diesen Bäumen, hoch in der freien Luft möchte ich meine Ruhe finden, wo das Sonnenlicht und der frische Hauch des Windes mich erreichen. Der Gedanke an die enge Schachtel da unten ist mir gräßlich.« Und wenn er nun von den alten Germanen spricht und von den Indianern, die ihre Toten in die Wipfel hängten, so weiß er zwar, seine Gruft ist bestimmt, ein fürstliches Mausoleum, auch die Grabschrift ist aufgeschrieben, aber sein altes Herz schlägt auf zu den Riesen des Waldes, und ginge es ganz nach seinem Gefühl, er brauchte weder Schrift noch Gruft, er möchte den Wind und die Sonne haben.

So endet Bismarck, wie er begonnen: ein Pantheist und Heide, ein echter Revolutionär, mit jedem vertraulichen Worte tut er's kund; und doch wählt er jetzt wie einst die Formen des Christengottes und den adligen Sarg, in den man sein Wappen graben wird, und auf der Grabplatte wird er sich des Königs treuen Diener nennen, der Mann, der niemand dienen konnte und vierzig Jahre befahl. Warum verließ er seine Wälder, in denen er mit Licht und Gott allein war, ein König seines Ackers? Warum wandte er dem Bauer, dem Wild, den hundertjährigen Eichen der Heimat seinen Rücken, unter denen der Knabe spielte, zu denen der Jüngling emporsah, in deren Schatten der ermüdete Staatsmann floh, und die er noch als Greis im Rauschewind des Sachsenwaldes hört? Was hat sein Herz auf dieser Wanderschaft gewonnen?

Befriedigung nicht. Enttäuscht steht in erzwungener Entsagung der reisige Alte und sucht, wenn er es überdenkt, vergebens nach Stunden hohen Glücksgefühles durch die Tat. Keine Vollendung, kein Ruhm noch Glanz hat ihn berauscht, kein Sieg, kaum die Rache. Gefährdet durch die Torheit, berannt vom Leichtsinn seiner Erben sieht er sein Werk ins neue Jahrhundert schwanken, geschwächt, was er baute, in Frage gestellt, worauf er sich verschwor, und zwischen alledem sein eigenes Staatsdenken erschüttert: der König nicht mehr oberste Macht, das Volk nicht mehr verächtlich. So steht er, aus der Bahn gerissen, aufgewühlt, im Helldunkel seiner Sphäre und findet die Fragen seiner nihilistischen Jugend noch immer ohne Antwort auf dem Wege, den er als Knabe ritt, den er als Greis durchfährt, schweigend, mitten im Walde.

Aber nach dreißig Jahren stehen die Deutschen an seiner Gruft und senken die Fahne. So einfach und stark ist sein Werk gewesen, daß es die Prophetie des Meisters überdauert hat. In die Schatten schwanden alle deutschen Fürsten, auf die er das Reich gebaut, keiner zog das Schwert, das der Fürst von Friedrichsruh achtzigjährig noch gezogen hätte. Dennoch hielt das Reich zusammen, mitten in den Verführungen Europas. Jene nicht befragten Stämme, dieses kaum zum Jawort zugelassene Volk der Deutschen, vordem ein Jahrtausend ungeeinigt, hielt sich mitten im Erdbeben fest aneinander, überlebte die stürzenden Formen und verlor mit seinen Königen die Einheit nicht.

Deutschland lebt. Die Fürsten haben es in der Not verlassen; aber das Volk, das er zu spät erkannte, hat ausgehalten und Bismarcks Werk gerettet.


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