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»Bismarck ist eine Natur, die das Leben verzehrt, aber die Ruhe tötet.«
Unter den alten Eichen im sommerlichen Park spielt ein Knabe. Er ist blond, stämmig, mit munteren, dunklen Augen; er ist vier Jahre, aber wenn er jetzt mit seinem Spaten in die Erde fährt, sie auf seinen Karren lädt und drüben ausschüttet beim Teich, wo er die Burg aus Erde und Steinen baut, so könnte man ihn für sechsjährig halten: so kräftig packt er die Sache an. Als ihn der Gärtner ins Haus zu Tische holt, wehrt er sich und wird böse.
Das ist ein simples Herrenhaus, eher das Haus eines heraufgekommenen Bauern, nur die fünffenstrige Mitte trägt ein Stockwerk, das andere läuft zur ebenen Erde, alles Fachwerk, nüchtern, ohne Schmuck. Wenn der Knabe aus seinem Fenster schaut, von oben, so dehnt sich flach das gelbe Korn, still, ohne Laut; nur wenn der Wind durch das Pommerland fährt, dann wiegen sich die schweren Köpfe der Ähren, und mitten im Felde wölben und senken sich Furchen und Hügel. »Das ist alles unser«, sagt der Vater, wenn er das Söhnchen mitnimmt zum Dorf, denn über 2000 Morgen hat er vor kurzem hier, in Kniephof, geerbt, darum ist er aus Sachsen, aus dem alten Schönhausen, nach Hinterpommern gezogen, eben, als der Knabe ein Jahr alt war.
Das ist alles unser, denkt das Kind, wenn es mitgehen darf, denn das Dorf und die Wirtschaft sind eins, es gibt keine Bauern, nur Tagelöhner, die zum Gute gehören und in ihren armen Hütten, unter dem Strohdach, mehr Leibeigene sind, als sie und die Herrschaft wahrhaben wollen. Da steht die Brennerei und dort die Schmiede, und wie er im Stall an die Kühe herankriecht, sagt der alte Kuhhirt Brand, der an die Neunzig ist: »Nehmt Euch in acht, Herr Junker! Die Kuh kann Euch mit dem Huf ins Auge treten, die Kuh merkt nichts und frißt ruhig weiter, aber Euer Auge ist futsch!« Herr Junker, sagt der uralte Mann, und er spricht plattdeutsch. Noch nach 70 Jahren wird Bismarck sich dieses Natur-Realisten erinnern, denn der hat ihm von König Friedrich Wilhelm dem Ersten erzählt, den hat der Hirt noch leibhaftig in Küstrin gesehn, und das war lange vor dem Großen Friedrich.
Auch der Vater weiß etwas zu berichten, wenn sie am Festtage den dreifenstrigen Saal betreten, denn dort hängen von den Vorfahren ein paar und blicken steif und würdig unter ihren Helmen, mit ihren Waffen, aus ihren verstaubten Rahmen herab. Zwar die meisten haben an der Elbe geherrscht, über fünfhundert Jahre zurück, und wenn der Vater seinem älteren Sohne davon erzählt, der mit seinen neun Jahren jetzt schon was verstehen mag, da hört der Kleine zu. Was hört er? Daß Vaters Väter alle Ritter waren, wie die im Saale drinnen, seit Jahrhunderten in Schloß und Herrenhaus lebten, Knechte hielten, die ihnen den Acker bestellten, Polizei- und Gerichtsherren, und seit unvordenklichen Zeiten Sonntags in der Kirche im eichenen Gestühle saßen, getrennt von Gemeinde und Gesinde, so wie sie selber noch heute und hier.
Vielleicht erzählt Herr Ferdinand von Bismarck auch einmal, daß sie alle recht trotzig und herrisch gewesen sind, diese Altmärker, keine Hofgänger, meistens Frondeure. Hat ihn nicht vor Urzeiten schon ein Kurfürst gezwungen, die schönsten Wälder ihm abzutreten und dafür Schönhausen zum schlechten Tausch gegeben? So hat auch vor hundert Jahren der Urgroßvater den Widerspruch der altmärkischen Ritterschaft angeführt, als der König ihre Lehen in eine Geldsteuer umzuwandeln wagte und gegen solche »Herabsetzung eines freyen Ritterstandes in einen kontribuablen und miserablen Etat« protestiert. Und ehe er starb, hat nun der König seinem Sohne, dem jungen Friedrich, unter den vier widerspenstigen Familien die Bismarcks aufgeschrieben, als die »vornehmeste und schlimmeste«.
Der Großvater des Knaben war ein starker Zecher und Jäger, er hat einmal in einem Jahre 154 Rothirsche geschossen, ihm sieht er am meisten ähnlich. Der Vater selber ist kein Ritter mehr, freilich war schon der Großvater aus der Art geschlagen und hat beim Tode seiner jungen Frau, dicht vor dem Werther, eine rührsame Totenklage publiziert, Ehe und Gattin überschwenglich schildernd. Dieser Schüler Rousseaus, der aus seinen Söhnen »nur vier ehrliche Leute« machen wollte, sie Freunde nannte und ihre wohlstilisierten Briefe mit Freuden registrierte, trug eine ganze Bibliothek gelehrter Bücher bei sich zusammen und vererbte die tatenlose Ruhe, den Mangel jeden Ehrgeizes auf die Söhne, die zwar alle in den Krieg, aber nicht an den Hof gingen: lauter Eigenbrötler.
Daher ist es kein Wunder, daß Ferdinand, der jetzt in Kniephof seine beiden Knaben erzieht, nach dem ersten Feldzug schon mit Dreiundzwanzig den Abschied nahm und seinen König dadurch so sehr erzürnte, daß er ihm den Rittmeister und die Uniform entzog und erst viel später wiedergab. Auch in der schlimmsten Zeit ist Bismarcks Vater nicht wieder Soldat geworden: im Sommer 1806, als Kaiser Franz die deutsche Kaiserkrone niederlegte, hat er geheiratet und weder bei Jena noch auch in den Freiheitskriegen seine Scholle wieder verlassen, den Degen gezogen, obwohl er gesund und damals erst um die Vierzig war.
Dieser unkriegerische Vater Bismarcks, riesig und humorig, stark und gefühlvoll wie der Sohn, war vom Alten Fritz als Knabe angesprochen worden: das war seine einzige preußische Anekdote. Von seinem aufgeklärten Vater ganz als Edelmann, doch ohne jedes Vorurteil erzogen, hat er sein inneres Gleichgewicht im Leben bewahrt, Herr im Hause, ohne viel zu fragen, sagt er zu seinen Söhnen noch Er, als sie klein sind; genießend, weichen Gemütes, so lebt er dahin, unbesorgt um seine Güter, die irgendein Inspektor in Grund und Boden wirtschaftet, am liebsten auf Jagd und beim Weine, denn Zecher sind sie alle gewesen, seit Jahrhunderten. Köstliche Briefe: »Heute ist Ottos Geburtstag. Die Nacht ist uns ein schöner Bock krepiert. Welch niederträchtiges Wetter ... Ich glaube, daß der Médoc und Rheinwein nicht mehr genug durchgreift, ich habe mich daher auf Portwein und Sherry gesetzt und hoffe, daß es sich nun bald bessern wird. Auch werde ich es nicht an starken Kaffee fehlen lassen (folgen Austern, Gänseleber usw.) ... Und trotz diesen schönen Mitteln habe ich es doch ins Kreuz gekricht, es ist nichts, wenn man alt wird.«
Die 17Jährige, die er mit 35 heimführte, war schön, aber die Nase zu lang, das Auge zu klug, die Schärfe dieser Züge, der wissende Blick hätte dem Werber anzeigen können, welche ihm fremden Elemente in ihr wohnten: kühler Verstand und brennender Ehrgeiz, beides trug sie im Blute, denn ihre Väter, die Menckens, durch ein Jahrhundert Rechts- und Geschichtsprofessoren, hatten ihren Vater als Blüte dieses Humanisten-Geschlechtes hervorgebracht. Unter Friedrich Kabinettsrat, dann Chef der Geheimen Kanzlei, dann in Ungnade im gleichen Jahre 1792 entlassen, in dem derselbe König Bismarcks Vater grollte: so stand Mencken erst 1800 wieder neben seinem dritten Herrn. Dort hat er Friedrichs des Großen Diktatur getadelt, Selbstbeschränkung des Monarchen, Verantwortlichkeit der Minister gefordert, und sich in allem so reformatorisch erwiesen, wie der Freiherr vom Stein, der ihn als stark liberalen Mann gerühmt hat. Verstand und Anschauungen vererbte er seiner Tochter. Alles an ihr war rational, sie liebte die Stadt, die Pracht, den Hof, und war in allem ihres Mannes Widerspiel. Der wollte nur leben und sein, sie wollte scheinen und gelten.
Bismarck hat den Verstand von ihr überkommen, die scharfe und kalte Intelligenz der Mutter, dazu den unruhvollen Wunsch nach Macht, der keinen Bismarck vor ihm beseelt hat; an Gemüt und Charakter aber folgte er ganz dem Vater, und bestätigte so nach beiden Seiten Schopenhauers Theorie.
Als die Mutter, fünf Jahre nach dem ältesten Sohn, Otto von Bismarck zur Welt brachte, war eben der Kaiser Napoleon aus Elba zurückgekehrt, der Wiener Kongreß war aufgeflogen, Preußen schloß seinen neuen Bund mit Europa. Den 2. April 1815 erließ der Kaiser in Paris ein Manifest gegen den Bund; am selben Morgen konnten die Berliner in der Vossischen Zeitung von der Geburt eines Knaben lesen, die Herr von Bismarck auf Kniephof anzeigte. Sehr früh hat dieser Knabe die Mutter als Gegner empfunden, er war ihr schon als Kind entfremdet; das hat er trotz seines Sippengefühls später vor Fremden bekannt, nie ist, in Hunderten von Familien-Gesprächen, ein einziges gutes Wort für sie von seinen Lippen gefallen, bis ins Alter hat er sie schöngeistig und interesselos für Erziehung gescholten, immer »sehr bitter« von ihr gesprochen, sie habe »wenig von dem gehabt, was der Berliner Gemüt nennt ... und es schien mir oft, daß sie hart und kalt gegen mich sei«. Zwei Gründe des Grolls sind schon aus frühester Kindheit überliefert: wenn die Mutter im Winter in Berlin Gäste empfing, so mußte, um des engen Raumes willen, der Vater das Bett opfern, das hat ihr der Knabe nie verziehen; und als er einmal mit Stolz von dem Bilde eines väterlichen Ahnen sprach, hat die bürgerliche Mutter das Bild weggenommen, um seinen Adelsstolz zu brechen. Furchtbare Augenblicke für das Kind und von den schwersten Folgen!
In seinen frühesten Erinnerungen aus der Knabenzeit steckt schon der Stolz, der bestimmende Zug seines Charakters. Einmal lief er weg, als ihn sein Bruder schlecht behandelt hatte, und wurde erst Unter den Linden eingefangen; ein andres Mal hatte er sich bei einer Gesellschaft zu Hause auch einen Platz gesucht, in einer Ecke, und hörte mehrere Herren fragen: »C'est peut-être un fils de la maison ou une fille«; »da sagte ich ganz dreist: ›C'est un fils, monsieur‹, was sie nicht wenig in Erstaunen setzte.«
Nicht besser war die Erziehung der Schule. Auf die Jahre vom 8. bis zum 13., in der Plamannschen Anstalt in Berlin verbracht, hat er bis ins Alter feindlich zurückgeblickt: »Ich bin meinem elterlichen Hause in frühester Kindheit fremd und nie wieder völlig darin heimisch geworden, und meine Erziehung wurde von Hause her aus dem Gesichtspunkt geleitet, daß alles der Ausbildung des Verstandes und dem frühzeitigen Erwerb positiver Kenntnisse untergeordnet blieb.« Da er die Mutter als den bestimmenden Teil erkannte, machte er sie für alle Härten verantwortlich, die er im Internat erdulden mußte. Nie hat er aufgehört, dem harten Brot, der spartanischen Erziehung nachzugrollen, die ihn dort bedrückte, den leichten Jacken im Winter, der ganzen »widernatürlichen Dressur«, und daß man »mit einem Rapierstoß geweckt wurde«, erzählt er noch mit Achtzig.
Deutschtum und liberale Turnerei, Feindseligkeiten gegen den Adel, als dessen Träger er die Ausfälle der Lehrer zu ertragen hatte, steigerten schon in dem Zehnjährigen das eingeborene Rittergefühl zum Trotz und begründeten seinen Haß gegen liberale Ideen, die er zugleich in der Mutter wiederfand. »Niemals habe ich mich sattgegessen, ausgenommen, wenn ich einmal ausgebeten war, immer hat es elastisches Fleisch gegeben. Um halb sechs mußten wir aufstehen, von 6 bis 7 wurde schon gekritzelt. Wir wurden schlimmer als die Rekruten vom Unteroffizier behandelt, beim Stoßfechten gab es oft einen Hieb über den Arm, daß die Striemen noch tagelang zu sehen waren.« Nach Kniephof wollte der Junge zurück, hier ganz unten in der Wilhelmstraße war es öde; ja, wäre es noch oben gewesen, wo die langen Staatsgebäude standen und manchmal der König vorfuhr! Aber hier draußen vor der Stadt war alles langweilig und einsam, und »wenn ich aus dem Fenster ein Gespann Ochsen die Ackerfurche ziehen sah, mußte ich immer weinen, vor Sehnsucht nach Kniephof«. Und so hofft er das ganze Jahr auf die Ferien: da war ihnen ja die Heimreise versprochen.
Welche Gefühle mußten das Kind erschüttern, als nun plötzlich die Mutter schrieb, sie müßte im Juli ins Bad, und die Jungen blieben in Berlin! So ging es mehrere Sommer lang, durch Jahre sahen die Kinder Haus und Park, Gut, Scheunen und Ställe, Schmiede und Dorf nicht wieder. Später hat er das ein Zuchthausleben genannt. Alles, was von der Mutter kam, was sie forderte und lehrte, mußte dem Knaben böse erscheinen.
Als er größer wird, sieht er auch, daß Aktivität und Ehrgeiz der Mutter das Gut und das Geld des Hauses bedrohen, in Kniephof führt sie jedes Jahr neue Maschinen und Verfahren ein, um auf moderne Weise zu erhalten, was durch die altmodische Bequemlichkeit ihres Mannes niederging; dann nötigt sie ihn im Winter nach Berlin, sie wohnen am Opernplatz, wo sie nicht gesellig und elegant genug leben kann. So behält er im Herzen das Bild der geschmückten Frau, wie sie mit seinem Vater zur Soirée des Herrn Ministers fährt: »Ich weiß noch wie heut, sie hatte lange Handschuhe an, bis hierher, in einem Kleid mit kurzer Taille, aufgebauschte Locken auf beiden Seiten und auf dem Kopf eine große Straußenfeder.« Von ihr hört er zum erstenmal die Schlagworte der liberalen Opposition, als Halbwüchsiger muß er zu Josty laufen, um Pariser Blätter über die Juli-Revolution zu bekommen, und lernt schon um dieser Mittlerin willen dies alles verachten. »Wenn ich, schreibt er später, zu ihrem Geburtstage des Morgens durch den Jäger aus der Pension geholt wurde, das Zimmer meiner Mutter mit Maiblumen, die sie vorzüglich liebte, mit geschenkten Kleidern, Büchern und interessanten Nippes garniert fand; dann ein großes Diner mit viel jungen Offizieren ... und schlemmenden alten Herren mit Ordenssternen ..., dann nahm mich die Kammerjungfer in Empfang, um mir mit beiseite gebrachtem Kaviar, Baisers usw. den Magen gründlich zu verderben. Was stahlen doch alle diese Domestiken! ... Ich bin nicht richtig erzogen ... Meine Mutter ging gern in Gesellschaft und kümmerte sich nicht viel um uns ... Es wechseln gewöhnlich zwei Generationen miteinander ab, eine geprügelte und eine ungeprügelte, in meiner Familie wenigstens war es so. Ich gehörte zu der geprügelten Generation.«
Von Zwölf bis Siebzehn, als Gymnasiast des Grauen Klosters, sieht er den Haß gegen den Adel in der Schule sich noch verstärken, in dem das gebildete Bürgertum seine Söhne erzog; sein Adelstrotz muß sich vertiefen. Nun lebt er in der Berliner Wohnung, im Winter neben dem hastigen Treiben der Mutter, das der Vater gutmütig-langsam mitmacht, im Sommer bleibt er mit dem um fünf Jahre älteren Bruder, der Student wird und »ins physische Leben versinkt«, mit Hauslehrer und Magd allein; so entbehrt er jeder inneren Führung und sieht sich in den entscheidenden Jahren auf sich selbst gewiesen. Bismarck hat von Sieben bis Siebzehn niemand vor sich gesehen, dem er nacheifern, niemand neben sich, den er lieben konnte, außer dem Vater. Ist es ein Wunder, daß er früh zynisch wurde?
Zudem war der Vater, wie der Sohn berichtet, »kein Christ«, die Mutter eine Art Theosophin, beide gingen nie zur Kirche, gaben die Söhne in Schleiermachers Unterricht, der das Gebet sehr kritisch als einen Übergang ins Magische bezeichnete und nur noch um seiner läuternden Wirkung willen empfahl; die Mutter selbst hielt mit einer Schwärmerei, die, wie der Sohn bemerkt, »in seltsamem Widerspruch zu ihrer sonstigen kalten Verstandesklarheit stand ... viel von Swedenborg, der Seherin von Prevorst und Mesmerschen Theorien«. Sie behauptete, hellsehend zu sein, und nur ihr Mann, auf den sie herabsah, weil er mir und mich verwechselte, ließ sich nicht imponieren, denn er klagte mit seinem Humor einem Freunde, »daß sie bei aller clairevoyance doch nicht hätte vorhersehen können, daß die Wollpreise gegen Ende des Wollmarktes niedriger als zu Anfang desselben sein würden«.
Natürlich war der Vater immer, die Mutter nie zufrieden mit den Söhnen. Der Vater: »Mit eure Zeugnisse brüste ich mich noch immer, gestern waren Bülows ... hier, wo ich sie zeigte und meine recht innige Freude hatte, wie sie euch rühmten.« Die Mutter: »Sieh dich um, höre und prüfe das Urteil der Welt über gediegene Bildung, und du wirst eingestehen, daß viel dazugehört, ehe du an den Titel eines gebildeten Mannes Anspruch machen kannst.« Und als der 14Jährige einmal vom Pferde gefallen ist: »Der Vater meint, mein lieber Otto, dein Pferd würde wohl nicht so wild gewesen, nur der Reuter leicht gefallen sein, denn du säßest zu Pferde wie ein Bündel Flicken. Kannst du dich dagegen verantworten, so ist es dir erlaubt.« Das ist der Ton, mit dem sich ein Erzieher lächerlich macht oder verhaßt.
Stießen solche Verstimmungen mit eingeborenem Stolz zusammen, so mußte sich ein ungleicher, trotziger Junge entwickeln. Er war in nichts hervorragend als im Deutschen, nicht einmal in Geschichte, als 15. von 18 nach Prima versetzt, gelegentlich im Zeugnis getadelt »wegen anspruchsvoller Unbescheidenheit ... Auch scheint er überhaupt die seinen Lehrern schuldige Achtung aus den Augen setzen zu können.« Immer versucht er lange zu schlafen, wird überhaupt erst spät munter, behält diese Eigenheit nervöser Menschen durch sein Leben; Bismarck ist eine Abendnatur.
Belebt wird diese düstere Jugend nur durch Malwinchen, die spätgeborene Schwester, 12 Jahre jünger als Bismarck, Liebling der Eltern, Spielzeug der Brüder. »Malwinchen sieht jetzt ganz persönlich aus, schreibt er mit Vierzehn, und spricht Deutsch und Französisch, wie es ihr einfällt. Sie kennt Dich auch.« Von Fünfzehn ab darf er die Sommerferien zu Haus verbringen. Schon damals hat er sich auf einem Gute »einige Stunden mit der hübschen Frau divertiert«, mit Sechzehn sich im Postwagen einer »hübschen Gouvernante« angenommen, die unwohl und schwach wurde und ihm auf den Schoß fiel; auch soll der Bruder für ihn an eine Dame unter den Nachbarn »ein galantes Vielliebchen« anonym absenden. Wie sich der allgemeine Skeptizismus schon im 15Jährigen ausbreitet, zeigen briefliche Berichte vom Lande: »Am Freitag sind drei hoffnungsvolle junge Leute, ein Brandstifter, ein Straßenräuber und ein Dieb ... aus der Anstalt echappiert. Am Abend rückte die Kniephofer Reichsexekutions-Armee gegen die drei Ungeheuer aus, bestehend aus fünfundzwanzig Mann Landsturm ... Unser Militär war aber schrecklich in Furcht, wenn sich zwei Abteilungen begegneten, riefen sie einander an, aber vor Angst wagte niemand zu antworten.«
Aus solchen Stimmungen mußte sich im 17- und 18Jährigen ein völliger Nihilismus in Glauben und Denken entwickeln. Nur aus allgemeiner Skepsis entsprang sein erster, sehr kurzer politischer Glaube: als er – in den Tagen von Goethes Tod – mit Siebzehn die Schule verließ, war er, »wenn nicht Republikaner, doch mit der Überzeugung, daß die Republik die vernünftigste Staatsform sei, und mit Nachdenken über die Ursachen, welche Millionen von Menschen bestimmen könnten, Einem dauernd zu gehorchen ... Diese blieben im Stadium theoretischer Betrachtungen und waren nicht stark genug, um angeborene preußisch-monarchische Gefühle auszutilgen. Meine geschichtlichen Sympathien blieben auf Seiten der Autorität.« Harmodios und Brutus schienen ihm Verbrecher und Rebellen, jeder deutsche Fürst, der dem Kaiser widerstrebte, ärgerte ihn.
Diese unklaren Gedanken über den Staat verdichteten sich, soweit seine Erinnerung reicht, nur in zwei Fällen zur entschiedenen Parteinahme, beide sind vom Charakter bedingt und erhellen ihn: er empfand schon als Schüler gegen die antiken Reichtagsreden, nämlich ein »Mißbehagen bei Lesung der ungehobelten Schimpfreden, mit welchen ... die homerischen Helden sich vor dem Gefecht zu regalieren pflegten.« Und wie gegen die politische Phrase, so war er schon damals gegen die affektlose Tat, der er die leidenschaftliche entgegenhielt: er war gegen Teil: »Natürlicher und nobler wäre es nach meinen Begriffen gewesen, wenn er, statt auf den Jungen abzudrücken, den doch der beste Schütze statt des Apfels treffen konnte, lieber gleich den Landvogt erschossen hätte. Das wäre gerechter Zorn über eine grausame Zumutung gewesen. Das Verstecken und Auflauern gefällt mir nicht.«
Mit voller Klarheit stand er dem Glauben entgegen. Um die Zeit seiner Konfirmation, also etwa am 16. Geburtstage, war es, »daß ich nicht aus Gleichgültigkeit, sondern infolge reiflicher Überlegung aufhörte, jeden Abend, wie ich von Kindheit her gewohnt gewesen war, zu beten, weil mir das Gebet mit meiner Ansicht von dem Wesen Gottes in Widerspruch zu stehen schien, indem ich mir sagte, daß entweder Gott selbst nach seiner Allgegenwart alles, also auch jeden meiner Gedanken und Willen hervorbringe ... oder daß, wenn mein Wille ein von dem Gottes unabhängiger sei, es eine Vermessenheit enthalte ..., wenn man glaube, durch menschliche Bitten darauf Einfluß zu üben.«
Erstaunlich ist hier nur die Begründung: daß er glaubenslos erzogen und viel zu skeptisch war, um aus sich heraus gläubig zu werden, das liegt in ihm und in den Eltern; aber seine Beweisführung – und er gibt sie in jungen Jahren – zeigt schon den stolzen Realisten an, der einer übergeordneten Macht nur genau soviel einräumt, wie das Verhältnis fordert. Dieser Jüngling begründet seinen Nihilismus, indem er vermeidet, Gott durch offene Negierung zu beleidigen, schiebt, völlig wie ein Diplomat, ihm die Verantwortung dafür zu, daß man zu ihm nicht weiter beten könne; er gibt sich den Anschein einer Loyalität, unter der ein Hohn lauert, und stellt durch sein Entweder-Oder Gott vor eine Alternative, an die dieser kaum gewöhnt sein mag. Die überlieferte Verbeugung mindert das Selbstgefühl nicht.
So steht Bismarck zum erstenmal vor einem König.
Langsam schreitet über den Marktplatz mit affektierter Feierlichkeit ein junger Mann, den seine Überschlankheit vollends auffällig macht, mit hellem Schlafrock angetan und seltsam konstruierter Mütze, er dreht sein Stöckchen in der Hand, lange Pfeife im Munde, und wenn er Ariel ruft, drängt sich an sein Knie eine große gelbe Dogge. So nähert er sich der Hochschule von Göttingen, um dort vor den Richter zu treten, der den Studenten wegen auffälliger Haltung und Kleidung vorgeladen hatte. Ein paar Kommilitonen, die in normaler Tracht mit Couleurmütze vorübergehen, fangen an zu lachen: sofort fordert sie der Fuchs, ihr Senior legt die Sache bei, der Schneid dieses ersten Semesters hat imponiert, man lädt ihn ein, schlägt, ihm den Eintritt vor, und nach der ersten Mensur wird er aktiv im Corps.
Denn aufzufallen war Bismarcks erste Absicht, als er nach Göttingen kam, und alles, was sein neuer Freund, der Amerikaner, in einem Studentenroman über »Otto von Rabenmarck« bald berichten wird, ist von Bismarck abgeschrieben, leibhaftig sieht und hört man ihn darin: dünn wie eine Stricknadel, struppiges Haar, rotumränderte Augen, vier Sprachen, Klavier, immer Händel suchend, wunderlich angezogen; nur wenn sie allein sind, spricht er vernünftig. »Durch solches Auftreten, Beleidigungen usw. will ich mich ins feinste Corps einführen, aber das ist alles Kinderei, ich habe Zeit, meine Kameraden hier will ich führen, wie später die Leute im Leben.« Vor 19 Jahren 9 Monaten, schwört er, kann er nicht sterben. Überlebt er den Punkt, so hat er noch 12 Jahre vor sich. »Stoff zu einem Helden, der hier verdampft«, so nennt ihn der junge Romancier gleich nach diesen Semestern, ein Jahrzehnt, bevor das Urbild zum erstenmal aus seiner Höhle treten wird.
Alles an diesem Fuchs ist auffallend unter den harmlosen Studenten: Mut und Hochmut, Völlerei und Eleganz, das Gewaltsame und das Gutmütige. Kindskopf, Kassube und Achilleus sind seine Biernamen: das Närrische, das Östliche und das Unverwundbare stach gleichermaßen an ihm hervor. Wenn er im apfelgrünen Frack mit langen Schößen oder im Samtrock mit Perlmutterknöpfen eine »ungewöhnlich reich ausgestattete Garderobe« zeigt, statt nur mit Plaid und Mütze zu gehen; wenn er, nach sehr viel Rheinwein und Madeira, aus der Kneipe nach dem Flusse wandert, um nachts kalt zu baden; wenn er wegen unbefugten Rauchens und Schlagens immer neue Verweise erhält, die Collegia noch stärker verachtet als seine Kameraden, des Nachts immer nackt schläft, weil jedes Stück Leinen ihn irritiert, so hütet man sich doch bald, ihn zu verulken, denn er fordert sofort und siegt immer: 25mal angetreten in den drei ersten Semestern, und nur ein einziges Mal touchiert: das imponiert den bemoosten Häuptern, und so erreicht er rasch, was er erstrebt: man fürchtet ihn.
An dem Mittagstisch, den er bevorzugt, werden fünf Sprachen gesprochen, und der Pommersche Junker verkehrt fast nur mit dem Ausland. Zugleich gewinnt er zwei Freunde, die hält er fürs Leben fest, denn mit diesen kann er sich künftighin nicht um der Politik willen entzweien, wie mit den wenigen anderen, die ihm in der Jugend nahegestanden. Motley, der Amerikaner, heiter, fein und ohne Vorurteil, und Graf Keyserling, der Kurländer, reif und entsagend, sind bis ins Greisenalter Bismarcks einzige Freunde geblieben. Motley, nur in der Jugend Autor, später Historiker und Diplomat, während Keyserling, der Naturforscher, nur nebenbei öffentlich wirkte. Beide sind älter, beide gefaßter, einheitlicher gewesen als Bismarck, der bei ihnen ein Selbstgenügen fand, das ihm, und eine Freiheit, die den Deutschen um ihn her fehlte; beide waren nicht aktiv im Corps.
Die Rechte, die er angeblich studierte, sollten in ihm den Diplomaten vorbereiten; Macht und Stellung ihres Vaters im Sohne wiederzubeleben, das war der Wunsch der ehrgeizigen Mutter, ein ganz bürgerlich Menckenscher Gedanke, denn unter den Bismarcks war er neu: noch nie hatte einer anders als mit dem Degen seinem Könige gedient. Auch in diesem Punkte hatte die Mutter bei dem Sohne keine Neigung zu verdrängen, zum Offizier hatte er noch weniger Lust, und man hätte, in diesen dumpfen und wüsten Jahren von 17 bis 20, ihn zu allem bringen können, denn sein Wille hatte keine Richtung.
Auch politisch war er zu gleichgültig, um seinen ersten Neigungen zu folgen: die Burschenschaften, die auf Kaiser und Reich tranken und sangen, mied er nach den ersten flüchtigen Besuchen, »weil sie mensur- und bierscheu waren« und ihnen die Formen der guten Gesellschaft fehlten; aus Gründen des Temperamentes und der Manieren entzog er sich deshalb den Kreisen, die damals allein Träger des Reichsgedankens auf den Hochschulen waren. Wenn man aber am Tische sich über die Preußen mokierte, die hier in Hannover selten studierten, dann forderte er zugleich sechs Kommilitonen, und er verteidigt Blüchers Entscheidung bei Waterloo mit einem Eifer, daß jemand äußert: »Der Fuchs redet ja wie zur Zeit des Alten Fritzen!« Die nationalen Probleme, scheint es, gehen ihn nichts an, nicht einmal den berühmtesten Professor hört er in diesem Fache. Mit seinen Amerikanern besäuft er sich lieber zu Ehren der Freiheit am Unabhängigkeitstage; als aber einer von Deutschlands Zerrissenheit spricht, wettet Bismarck auf Deutschlands Einigung in 25 Jahren um 25 Flaschen Champagner: wer verliert, kommt übers Meer, um sie gemeinsam zu leeren. Er hatte sich um 13 Jahre geirrt.
Bei alledem pflegt er von vornherein die Formen. »Schreibe nicht zu grob nach Hause, mahnt er den älteren Bruder-Leutnant, der Kniephofer Hof ist für diplomatische List und Lüge zugänglicher als für die grobe Soldateska.« Auftreten, Kleidung, Anspruch kosten viel Geld, und nach einem Jahre kommt es zu »sehr unangenehmen Szenen zwischen mir und meinem Alten, der sich weigert, meine Schulden zu bezahlen ... Der Mangel ist so arg noch nicht, weil ich ungeheuren Kredit habe, welches mir Gelegenheit gibt, liederlich zu leben; die Folge davon ist, daß ich blaß und krank aussehe, welches mein Alter, wenn ich Weihnachten nach Hause komme, natürlich meinem Mangel an Subsistenzmitteln zuschreiben wird. Dann werde ich kräftig auftreten, ihm sagen, daß ich lieber Mohammedaner werden als länger Hunger leiden wolle, und so wird sich die Sache schon machen.« Ist der Student, der dies schreibt, zum Diplomaten nicht geboren? Menschenbehandlung, Abwägung der Motive, Ausnutzung der momentanen Lage, Ablehnung jeder Schuld und wiederum die Kunst, den Gegner verantwortlich zu machen: lauter Elemente der Staatskunst sind darin, und die Mutter, die sich darüber kränkt, weiß gar nicht, ein wie sicherer Instinkt ihren Ehrgeiz leitet.
Als nun der 18Jährige, krank, blasiert und ohne Streben, wie der junge Goethe, nach Hause gekommen ist, sich mit Landkost und Ruhe wieder heraufgebracht hat und in Berlin seine Studien fortsetzen soll, scheint ihn die Mutter schon halb aufgegeben zu haben: »Mutter würde es jetzt, glaube ich, gern sehen, wenn ich auch den blauen Rock anzöge und vor dem Hallischen Tor das Vaterland verteidigte. Sie sagte mir heut, als ich spät aufstand, ich schiene ihr doch gar keine Neigung zum Studieren zu haben.« Die hat er freilich, nicht, aber zum blauen Rock noch weniger; er verkehrt mit einem Vetter Blanckenburg und dem jungen Roon, die er beide in entscheidenden Lagen wiedertreffen soll, lebt aber am liebsten mit Keyserling und Motley, mit diesem wohnt er auch zusammen, und wenn der Amerikaner mit seinem Byronkragen und seinem bißchen Deutsch den Faust übersetzt oder die hoch aufs Fensterbrett gestemmten Beine hebt, daß die Leute unten seine roten Morgenschuhe sehen, dann ist Bismarck zufrieden und wird nur wütend, wenn nach durchphilosophierter Mitternacht der Freund gleich früh wieder anfängt zu disputieren, »ob Byron mit Goethe in Vergleich zu setzen sei«. Was den Deutschen an Motley fesselte, so berichtet er später, war seine Schönheit, die großen Augen, Witz und Liebenswürdigkeit. So hat ihn auch am Grafen Keyserling der Geist weniger angezogen als Schönheit, Form des Weltmannes und sein Klavierspiel, denn er konnte stundenlang Beethoven spielen, und einzig Beethoven ergriff noch den blasierten Studenten.
Dem, scheint es, ist nicht mehr zu helfen: nichts entgeht seinem Spott, am wenigsten er selber. »En attendant, schreibt er einem Kameraden, lebe ich hier wie ein Gentleman, gewöhne mir ein geziertes Wesen an, spreche viel Französisch, bringe den größten Teil meiner Zeit mit Anziehen, den übrigen mit Visitenmachen und bei meiner alten Freundin, der Flasche, zu; des Abends betrage ich mich im ersten Range der Oper so flegelhaft als möglich ... dabei langweile ich mich mit leidlichem Anstände ... Aus Göttingen ist noch hier ... das Faultier Sch., und der schlanke Freiheitsbaum der Aristokratie, dem zum Menschen alles, zum Kammerherrn nichts fehlt, als ein Schloß vors Maul. Er lebt hier in seliger Gemeinschaft mit dreißig Vettern, denen er allen nichts vorzuwerfen hat ... Sie essen nicht, sie trinken nicht, was tun sie denn? Sie zählen ihre Ahnen.«
Kann man die Menschenverachtung höhertreiben? Klasse und Umgang, Müßiggang und Affektation verachtet er an sich und an den Nächsten, scheint nicht geneigt, es abzustellen, nur heimlich traurig über solche Schwäche. Was bleibt da übrig? Auf die Klitsche und heiraten! »Ich werde daher wohl, schreibt er vom väterlichen Gute, das Portefeuille des Auswärtigen ausschlagen, mich einige Jahre mit der rekrutendressierenden Fuchtelklinge amüsieren, dann ein Weib nehmen, Kinder zeugen, das Land bauen und die Sitten meiner Bauern durch unmäßige Branntweinfabrikation untergraben. Wenn Du also in 10 Jahren einmal in die hiesige Gegend kommen solltest, ... so wirst Du einen fettgemästeten Landwehroffizier finden, einen Schnurrbart, der schwört und flucht, daß die Erde zittert, einen großen Abscheu vor Franzosen hegt, und Hunde und Bediente auf das brutalste prügelt, wenn er von seiner Frau tyrannisiert worden. Ich werde lederne Hosen tragen, mich zum Wollmarkt in Stettin auslachen lassen, und wenn man mich Herr Baron nennt, werde ich mir gutmütig den Schnurrbart streichen und um zwei Taler wohlfeiler verkaufen; zu Königs Geburtstag werde ich mich besaufen und Vivat schreien, übrigens mich häufig anreißen, und mein drittes Wort wird sein: Auf Ähre! Superbes Pferd!« Vor dieser Form der Zukunft schützt ihn zunächst eine gewisse Ehescheu, die durch wiederholte Verlobungen nicht widerlegt, vielmehr durch deren Ablauf grade bestätigt wird. Während er, wie Motley berichtet, »in der Liebe dem Naturtriebe ohne große Skrupel folgte,« ist er gleichzeitig »fortwährend exzessiv verliebt« und gesteht daher selber, er würde »vielleicht sehr bald einige Versuche zur Eheschließung machen, wenn bei mir irgendeine leidenschaftliche Aufregung von Dauer wäre. Das beste dabei ist aber, daß ich ... immer für den kaltblütigsten Weiberverächter gelte: so täuschen sich die Leute.«
Als er mit Zwanzig, vom Einpauker zugeritten, seine Prüfung als Auskultator bestanden hat, und nun am Stadtgericht in Berlin eine Weile Akten schreibt, steigt sein Verdruß über solchen Stumpfsinn, und er bleibt zunächst nur, um nicht statt dessen gar Soldat werden zu müssen, wogegen er »dem zuletzt ziemlich kategorischen Drängen meiner Eltern ... mit siegreicher Festigkeit widerstanden hatte.« So widerwärtig ist diesem als Schwimmer und Fechter Unübertroffenen der Drill des Militärs. Dagegen gibt er im Punkte des Hofes nach: »Ich habe keine große Neigung dazu, aber meine Alten wünschen es, und sie haben auch wohl recht dabei, indem es doch für mein Fortkommen von Nutzen sein kann.« Auf dem Hofball wird er in der Tat vom Prinzen von Preußen angesprochen, der damals, fast doppelt so alt, über das Gardemaß des jüngsten Juristen staunt:
– Warum sind Sie nicht Soldat geworden?
»Zu schlechte Aussichten, Königliche Hoheit.«
– Nun, in der Juristerei sind sie wohl auch nicht besser.
Schon in diesem ersten Dialog zwischen Wilhelm und Bismarck zeigt sich, in der Zerstreutheit des Ballgespräches, der Unterschied der Naturen: jener ist ganz Soldat, dieser gar nicht, und wenn der Prinz erstaunt, daß jemand solche Körperlänge nicht für den schönsten Beruf der Welt benutzt, so lügt ihm der Junker etwas vor von Beförderungen, und wird ihm nach Jahrzehnten noch oft die wahren Gründe verschweigen, um sein preußisches Offiziersgefühl zu schonen.
Indessen beginnt Berlin und das Amt, der Anblick mitstrebender Juristen, Hof und Gedanke an Laufbahn den jungen Beamten zuweilen aus seiner Negation zu locken, er sieht, was man dennoch erreichen könnte, jedenfalls läßt er um diese Zeit zum erstenmal einen und den andern Freund etwas von dem verschwiegenen Ehrgeiz erkennen, der hinter allem Zynismus früh in ihm resignierte. Solche Gespräche muß es mit Keyserling gegeben haben, der ihm 20 Jahre später Bismarcks Worte in Erinnerung bringen kann: »Konstitution unvermeidlich, auf diesem Wege zu äußeren Ehren, außerdem muß man innerlich fromm sein?« und lächelnd hinzufügt: »Ich wollte die besternte Exzellenz als weiser Pilger dann besuchen.«
Also doch? und gleich die Mittel hat der 20Jährige vorausgesehen, ohne die man in Preußen heutzutage nichts mehr erreichen kann? Verfassung, die man im Herzen verabscheut, und eine Frömmigkeit, die man, bei Gott, nicht hat! Wie sehr erkennt man die innere Wahrheit dieser Erinnerungen; daß sich dieser Keyserling schon damals als den weisen Pilger bezeichnet, der er wurde, zeigt, wie der heimlich ehrgeizige Freund, wenn auch nicht von Orden, doch von jener Macht geträumt hat, die sie bezeichnen. Aber: außerdem muß man innerlich fromm sein, d. h., man müßte, und da man es doch nicht ist, so ist das »all nonsense« – und wir füllen die Gläser!
Will man erkennen, wer in Bismarcks Herzen damals schon Feind seines Ehrgeizes war: will man den unbeugsamen Stolz am Werke sehn, wie er mit diesem Ehrgeiz kämpft, so mag man ihn nur im schriftlichen Zwiegespräch mit einem dritten Göttinger Freunde, Scharlach, hören, dem er selten, aber sehr offen schrieb, und dem er damals, als Auskultator, anvertraut, »daß mein Ehrgeiz, welcher früher minder heftig und anders gerichtet war, mich zu einem in meinem bisherigen Leben beispiellosen Fleiß veranlaßt, sowie zur Ergreifung aller andern Mittel, welche mir irgend zur Beförderung ... zweckdienlich scheinen. Ich weiß nicht, ob Du noch in der Stimmung bist, über eine solche Torheit hinter einem guten Glase Scharlachberger mitleidig zu lächeln, eine Stimmung, die ich nicht umhin kann, höchst glücklich zu nennen, ohne sie grade zurückzuwünschen; vielmehr bin ich meinesteils zurzeit so verblendet, daß ich ein reines Vergnügen ohne Nutzen für Zeitverlust halte.«
Doch gleich darauf erscheint ihm das alles lächerlich, denn er fährt fort: »Mein Leben ist wirklich etwas kläglich, bei Licht besehen; am Tage treibe ich Studien, die mich nicht ansprechen, abends affektiere ich in den Gesellschaften des Hofes und der Beamten ein Vergnügen, welches ich nicht Sch. genug bin zu empfinden oder zu suchen. Ich glaube schwerlich, daß mich die vollkommenste Erreichung des erstrebten Zieles, der längste Titel und der breiteste Orden in Deutschland, die staunenswerteste Vornehmheit entschädigen wird, für die körperlich und geistig eingeschrumpfte Brust, welche das Resultat dieses Lebens sein wird, öfters regt sich noch der Wunsch, die Feder mit dem Pfluge und die Mappe mit der Jagdtasche zu vertauschen; doch das bleibt mir ja immer noch übrig.«
So kämpft der eingeborene Stolz, Erbteil der Väter, das eingeborene Erbteil seiner Mutter, den Ehrgeiz, nieder, scheucht ihn in den Winkel, und da sein Selbstgefühl am Erfolge eines einmal begonnenen Unternehmens nicht zweifeln kann, so konstatiert er von vornherein den inneren Unwert dieses Erfolges.
Und dennoch sucht er jetzt den Erfolg, berechnet, wo es am schnellsten geht, meldet sich deshalb an den Rhein, setzt sich zum erstenmal im Leben einige Monate lang, den ganzen Sommer über, zu Hause hin, um zwei Prüfungsarbeiten zum Referendar zu schreiben, beide fast ohne persönliche Gedanken, aber doch redlich ersessen, – und all das nur, weil er die Stadt verlassen hat und endlich in der Stille zu hausen beginnt.
Da sitzt er nun, der 21jährige Junker, in Schönhausen, wohin sein Vater jetzt wieder gezogen, »mit einigen dreißig Zimmern, wovon zwei möbliert, prächtigen Damasttapeten, deren Farbe an wenigen Fetzen noch zu erkennen ist, Ratten in Masse, Kamine, in denen der Wind heult, kurz, in meiner Väter altem Schloß, wo sich alles vereint, was geeignet ist, einen tüchtigen Spleen zu unterhalten ... von einer vertrockneten Haushälterin, der Spielgefährtin und Wärterin meines 65jährigen Vaters gefüttert und gepflegt. Ich bereite mich zum Examen vor, höre die Nachtigallen, schieße nach der Scheibe, lese Voltaire und Spinozas Ethicum ... Die Bauern sagen ›use arm junge Hehr, wat maak em wull sin!‹, wie mir meine alte Mamsell mitgeteilt hat. Dabei bin ich nie so zufrieden gewesen wie hier, ich schlafe nur 6 Stunden und finde große Freude am Studieren, zwei Dinge, die ich lange Zeit für unmöglich hielt. Ich glaube, der Grund oder besser die Ursache von alledem ist der Umstand, daß ich den Winter über heftig verliebt war ... Es ist mir doch fatal, daß ich mich so aus meiner philosophischen Ruhe und Ironie habe bringen lassen ... Aha, wirst du sagen – unglückliche Liebe – Einsamkeit – Melancholie usw. Der Zusammenhang ist möglich, doch bin ich jetzt schon wieder unbefangen und analysiere nach spinozistischen Grundsätzen die Ursachen der Liebe, um es künftig mit mehr Kaltblütigkeit zu treiben.«
Unter den großen Linden, den alten Eichen, unter den liebenden Blicken des guten Vaters, in der vernünftigen Pflege einer Bäuerin, im Gleichmaß einer engen Arbeit, hat Bismarcks ruheloses Herz für ein paar Wochen zum erstenmal eine Art von Sammlung gefunden; der Humor ist nicht mehr zynisch, er ist heiter, zu allem gibt Spinoza seinen alttestamentarischen Segen und braucht den geborenen Analytiker nur die Formen der Analyse zu lehren.
Mit sehr gutem Zeugnis, mit den günstigsten Empfehlungen, fährt der Junker nach Aachen: dorthin hat ihn die Klugheit der Mutter gewiesen, der Präsident dieser neuen preußischen Kolonie ist ein altmärkischer Arnim. Nur noch zwei Jahre, und der Enkel kann die Bahn des alten Mencken betreten.
Ein Weltbad an der Grenze dreier Länder, erfüllt von Fremden, die Zeit und Geld verschwenden, war damals Aachen: wie soll da ein toller Junker von 21 Jahren im Regierungsgebäude Akten schreiben! Sehr vornehm und englisch im Wesen, hatte Graf Arnim den Landsmann wie eine Art Erbprinzen empfangen, ihm nach dem Diner Privatlektion erteilt, einen besonderen Plan gemacht, um ihn rasch durch die Abteilungen zum Assessor vorzutreiben: dann sollte der junge Diplomat seine Bahn beginnen, »wo es mir dann vor der Hand gleichgültig sein wird, ob man mir Petersburg oder Rio Janeiro zum Aufenthalt anweist.«
Aber der hochmütige Junker, dem die Eltern mit vieler Mühe die Chance eröffnet hatten, verschmäht den Steigbügel, den man ihm hinhält, reitet lieber mit jungen Engländerinnen, stürzt vom Pferde, kramt mit halbgebrochnen Gliedern seinen Lebensüberdruß von neuem aus, liest im Krankenbett Ciceros Pflichtenbuch und seinen geliebten Spinoza, Richard den Dritten und Hamlet. Dann steht er auf, läßt die Regierung links liegen und stürzt sich nur noch toller in die elegante Welt, blufft eine Tafelrunde durch Verzehrung von 150 Austern, demonstriert auch, wie man sie brät. »Meine jetzige Tischgesellschaft besteht aus siebzehn Engländern, zwei Franzosen und meiner Wenigkeit, oben am aristokratischen Ende sitzen wir, d. h. Duke und Duchess of Cl(eveland), dessen Nichte, Miß Russel, hinreißend liebenswürdig.« Jung, schön und elegant, Engländerin und Herzogstochter: diese Laura ist sein Geschmack. Als sie abreist, sind sie heimlich verlobt.
Wie nun Geld verdienen, um sie zu heiraten? An den Spieltisch, wo sich, wie in den Romanen, seine Schulden häufen.
Zugleich hört er über die Familie Dinge, die ihn stutzig machen. Gleich darauf fängt er eine Liebschaft an mit einer Dame, schwierig in den Dreißig, zugleich neuer Anlauf zum Arbeiten, dazwischen Heimweh, grollende Eltern, Zynismus, Schulden, Jagden, neue Vorsätze: »Ich habe gesehen, daß ich mich in acht nehmen muß; ich habe auch noch zu viel Romantik im Leibe.« Der eine Satz aus diesen Zeiten eröffnet tiefe Blicke ins Wogen der entfesselten Gefühle. Bismarcks Briefe aus jener Zeit an seinen Bruder, die Erich Marcks 1909 noch lesen durfte, nachdem Herbert Bismarck sie nicht vernichtet hatte, sind später eigenmächtig von dessen Witwe vernichtet worden. Die Prüderie einer Erbin ist für diesen nationalen Verlust kostbarer Dokumente verantwortlich. Die Verlobung löst sich von selber auf.
Den nächsten Sommer zieht ihn eine zweite Engländerin an, Isabelle Loraine, nicht so vornehm wie Laura, aber noch schöner, Tochter eines Reverend, sehr blond und schlank. Dieser folgt er mit zweiwöchigem Urlaub und Hinterlassung großer Schulden nach Wiesbaden, dort trifft er Laura wieder, die Isabellas Freundin ist, findet die Lage »höchst pikant«, wird Liebhaber der zweiten Braut, schreibt dem Freunde: »Ich zeige Dir nur vorläufig an, daß ich versprochen bin, und gleich Dir in den heiligen Stand usw. zu treten gedenke, und zwar mit einer jungen Britin von blondem Haar und seltener Schönheit, die bis dato noch kein Wort Deutsch versteht. Ich reise im Augenblick mit der Familie nach der Schweiz und werde sie in Mailand verlassen, um ... zu meinen Eltern zu eilen, die ich seit fast zwei Jahren nicht gesehen ... Sonst mußt Du mit mir nach England, um mich springen zu sehen, welcher Aktus im Frühjahr vor sich gehen wird.«
Ganz Herrensohn und Anti-Beamter, entschließt sich der Abenteurer erst nach zwei Monaten, dem ihm persönlich gewogenen Chef nach Aachen das erste Wort zu schreiben: er möge ihn entschuldigen, Umstände, »die für mich persönlich von Wichtigkeit waren,« haben ihn abgehalten, er bittet nachträglich um Urlaub, »werde auch bald offiziell um Entlassung bitten.« Immer ferner rückt ihm die Heimat, der Vater verweigert weiteres Geld, die kranke Mutter ist außer sich, und als er endlich bankrott heimkehrt, ist er Gast im Wagen eines Fremden, den er verabscheut. Was war geschehen?
»Ich hatte sehr günstige Aussichten für das, was man eine glänzende Karriere nennt; und vielleicht hätte der Ehrgeiz, der damals mein Lotse war, noch länger und für immer mein Steuer geführt, wenn nicht eine bildschöne Engländerin mich verleitet hätte, den Kurs zu ändern und 6 Monate ohne den geringsten Urlaub auf ausländischen Meeren in ihrem Kielwasser zu fahren. Ich nötigte sie endlich zum Beilegen, sie strich die Flagge, doch nach zweimonatlichem Besitz ward mir die Prise von einem einarmigen Obristen mit 50 Jahren, 4 Pferden, 15 000 Talern Revenuen wieder abgejagt. Arm im Beutel, krank am Herzen kehrte ich nach Pommern heim ... von einer schwerfälligen und verdrießlichen Gallione geschleppt.«
Krank wie das erstemal – so nervös, daß er sich in den Jugendbriefen oft verschreibt –, nun auch entgleist: so wird der Sohn von den schwerenttäuschten Eltern auf dem Gut empfangen, die kranke Mutter, doppelt beängstigt durch den Anblick der zurückgehenden Wirtschaft, rafft ihren letzten Mut zusammen, um dem Sohn die Laufbahn dennoch und aufs neue zu eröffnen, erwirkt ihm Aufnahme bei der Potsdamer Regierung, nachdem Arnim aus Aachen den ironischen Abschied erteilt hat, der junge Baron habe »nach einer angestrengteren Tätigkeit ... bei den gesellschaftlichen Verhältnissen in Aachen vergeblich gestrebt«. Offiziell ist seine Behörde weniger liebenswürdig, kurzerhand meldet sie nach Potsdam, der Wirt, bei dem der Herr Baron monatelang gegessen, und andere hätten mehrere hundert Taler zu fordern, Bismarck sei aus Aachen um dieser Schulden willen verschwunden.
Hochfahrend tritt ihnen der Beschuldigte entgegen, er »beabsichtige nicht, der Königlichen Regierung in Aachen, Abteilung des Innern, über seine persönlichen Angelegenheiten Rede zu stehen«, und werde sich über einen so »wenig rücksichtsvollen ... Eingriff in meine Privatrechte beschweren«. Auch der Vater, an den man sich wegen der Schulden wendet, wird heftig, verbittet sich am Ende gar Fortsetzung des Briefwechsels: so unabhängig stellen sich diese Junker, gestärkt durch eine Tradition von Jahrhunderten, gegen die Behörden einer Regierung auf, die sie mit souveräner Geste beiseiteschieben und wieder suchen, wie es ihr Vorteil will. Man läßt ihn zur Regierung in Potsdam bei starker Protektion doch noch zu, unter der schriftlich fixierten Bedingung, daß er mit Fleiß und Eifer ordnungsmäßig arbeiten solle.
Hier aber hält es der Trotzige erst recht nicht aus: kleinstädtische Ressorts, komischer Stammtisch, pedantische Vorgesetzte, genaue Dienststunden: nach drei Monaten ist der Junker ausgeblieben, ohne Abschied zu nehmen. Immer näher rückt der Zusammenbruch der väterlichen Güter. Die Mutter leidet, aber niemand will es recht ernst nehmen, weil sie, sich immer schon um sich und wohl nur um sich gesorgt hat. Der Vater kann auf seine alten Tage nicht plötzlich das Arbeiten lernen. Verpachten, sagt der Vater, Zuckerfabrik, rät die Mutter. In Berlin stellt der Arzt Krebs bei ihr fest. Sie bleibt zur Behandlung, der Sohn ist oft bei ihr; aber noch in späten Tagen grollt er ihr übers Grab hinaus, weil sie ihn zwang, an ihrem Krankenbett mystische Bücher vorzulesen.
Wenn man nur vom Militärdienst freikäme! »Ein letzter Versuch, schreibt der 23Jährige dem Vater, in Berlin freizukommen, ist fehlgeschlagen ... Doch hat man mir Hoffnung gemacht, nach kürzerer Dienstzeit loszukommen, und zwar auf Grund einer Muskelschwäche, die ich infolge eines Hiebes unter dem rechten Arm beim Aufheben des letzteren zu spüren behaupte, leider ist es nicht tief genug ... Gleichviel, ob ich vierzehn Tage oder drei Monate vorher eintrete, muß die Dressur bis zum Manöver fertig sein. Ich werde daher so spät wie möglich, etwa im März, eintreten.« So heftig wehrt sich Bismarck, gesund und jung, gegen das Soldatsein, markiert eine Muskelschwäche, die er nie gehabt, um sich zu drücken: so unerträglich ist einem Meister im Reiten, Fechten, Schießen jeder Zwang, ihm, der durch sein ganzes Leben immer neue Proben des Mutes und der persönlichen Tapferkeit gab. Sein Stolz mag sich nicht beugen; als er schließlich bei den Garde Jägern eintreten muß, gibt es gleich Streit mit dem Vorgesetzten. »Ich werde nie Vorgesetzte ertragen können.«
Zugleich geht es auf den Gütern rapide abwärts, die kranke und verwöhnte Frau, beide Söhne, dienend und nicht verdienend, brauchen Geld, der Vater kann es nicht schaffen, für geborgtes Geld müssen sie 12 und mehr Prozent zahlen: alles läuft einer Krisis zu. Ob es in diesem Moment zuerst die sterbende Mutter war oder der besorgte Vater, der tüchtigere Bruder draußen, der immer noch studiert, oder der verbummelte, der zu nichts mehr Lust hat: gewiß ist, daß sich alle, ratlos wie sie waren, in dem einfachen Gedanken finden: die Söhne müssen aufs Land, um die Familie vor dem Bankerott zu retten. Sicher hat Bismarcks verzweifelter Nihilismus die Krise zur Reife gebracht: er geht zur Mutter und sagt, es muß etwas geschehen. »Welchen Ekel Otto für die ganze Beschäftigung bei der Regierung hätte – schreibt der Vater an den älteren Sohn –, daß er dadurch sein Leben ganz überdrüssig wäre, und wenn er sich fast sein ganzes Leben gequält hätte, dann würde er vielleicht zuletzt Präsident mit 2000 Talern Einkommen, von Glück wäre aber nie etwas zu hoffen. Er hat die Mutter sehr dringend gebeten, ihm eine andere Stellung zu geben, ... wenn wir noch eine Zuckerfabrik anlegten, die Fabrikation in Magdeburg zu erlernen, und die Fabrik alsdann in Kniephof zu dirigieren. Da es mich doch sehr nahe geht, daß er sich so sehr unglücklich fühlt und ich ... in Kniephof gesehen, welch großes Interesse die Landwirtschaft für dich (Bernhard) hat, ... und da ich einsehe, wenn ich hier in Berlin bleiben muß, daß wir sämtlich zugrunde gehen müssen, so habe ich mich entschlossen, euch beiden die dortigen Güter als Eigentum zu übergeben, und meine Subsistenz mit allein auf Schönhausen zu beschränken.« Indessen sollten die Brüder für alle Fälle noch ihre Examina machen.
Dieser Entschluß kann der Nonchalance eines herzensguten, bald siebzigjährigen Vaters nicht schwer gefallen sein; daß ihn die Mutter genehmigte, läßt auf die Nähe des Zusammenbruches, freilich auch auf ihre Schwäche schließen, und ergriffen scheidet man von der Gestalt dieser ehrgeizigen Frau, die wenige Monate nach diesem Entschlusse im 50. Jahre starb, kaum betrauert, enttäuscht in allen Hoffnungen, die sie auf ihre Söhne im Rückblick auf ihren Vater setzte, – und die sich doch ein Menschenalter später in unerhörtem Maß erfüllen sollten.
Die fernere Familie, keineswegs bereit zu helfen, fühlte sich jedoch berufen zu klagen, und so verdankt man dem warnenden Briefe irgendeiner Kusine eine Antwort Bismarcks, die in ihrer Breite und Offenheit die schärfste Selbstanalyse seines ganzen Lebens darstellt. Vor ein paar Jahren war er in sie verliebt gewesen, daher der Entschluß, grade dieser Frau sich rechtfertigend zu eröffnen; das hat er selbst empfunden, denn er hat das Konzept aufbewahrt und noch ein Jahrzehnt später als Aktenstück zu seiner Biographie der Braut geschickt:
»Daß mir von Hause aus die Natur der Geschäfte und der dienstlichen Stellung ... nicht zusagt, daß ich es nicht unbedingt für ein Glück halte, Beamter und selbst Minister zu sein, daß es mir ebenso respektabel und unter Umständen nützlicher zu sein scheint, Korn zu bauen, als administrative Verfügungen zu schreiben, daß mein Ehrgeiz mehr danach strebt, nicht zu gehorchen als zu befehlen: das sind Fakta, für die ich außer meinem Geschmack keine Ursache anzuführen weiß ... Der preußische Beamte gleicht dem einzelnen im Orchester; mag er die erste Violine oder den Triangel spielen, ohne Übersicht und Einfluß auf das Ganze, muß er sein Bruchstück abspielen, wie es ihm gesetzt ist ... Ich will aber Musik machen, wie ich sie für gut erkenne, oder gar keine ..
»Für wenige berühmte Staatsmänner, namentlich in Ländern mit absoluter Verfassung, war übrigens wohl Vaterlandsliebe die Triebfeder, welche sie in den Dienst führte; viel häufiger Ehrgeiz, der Wunsch zu befehlen, bewundert und berühmt zu werden. Ich muß gestehen, daß ich von dieser Leidenschaft nicht frei bin, und manche Auszeichnungen, wie die eines Soldaten im Kriege, eines Staatsmannes bei freier Verfassung, wie Peel, O'Connel, Mirabeau usw., eines Mitspielers bei energischen politischen Bewegungen würden auf mich eine, jede Überlegung ausschließende Anziehungskraft üben, wie das Licht auf die Mücke.
»Weniger reizen mich dagegen die Erfolge, welche ich auf dem breitgetretenen Wege durch Examen, Konnexionen, Aktenstudium, Anciennität, Wohlwollen meiner Vorgesetzten zu erreichen vermag. Dennoch gibt es Augenblicke, wo ich nicht ohne schmerzliche regrets an alle die Befriedigungen der Eitelkeit denken kann, welche mich im Dienst erwarteten; die Genugtuung, seine Brauchbarkeit durch schnelle Beförderung ... amtlich anerkannt zu sehen ... die selbstgefällige Betrachtung, für einen fähigen und nützlichen Menschen gehalten ... zu werden; die ganze wirkliche geheime Glorie, welche zuletzt mich und meine Familie umstrahlen würde, das hat alles viel Blendendes für mich, wenn ich eine Flasche Wein getrunken habe, und ich bedarf einer nüchternen und unbefangenen Reflexion, um mir zu sagen, daß dies Hirngespinste einer törichten Eitelkeit sind, in eine Kategorie gehörig mit dem Stolz des Dandy auf seinen Rock und des Bankiers auf sein Geld; daß es unweise und fruchtlos ist, sein Glück in der Meinung anderer zu suchen, und daß ein vernünftiger Mensch sich selbst und dem, was er für recht und wahr erkannt, leben soll, nicht aber dem Eindruck, den er auf andere macht, und dem Gerede, welches vor oder nach seinem Tode über ihn gehen mag.
»Kurz, ich bin nicht frei von Ehrgeiz, halte ihn aber für eine ebenso schlechte Leidenschaft als jede andere und noch etwas törichter, weil er, wenn ich mich ihm hingebe, das Opfer meiner ganzen Kraft und Unabhängigkeit fordert, ohne mir auch bei dem glücklichsten Erfolge eine dauernde Befriedigung und Sättigung zu gewähren ... Ein Gehalt, mit dem ich bei meinen Bedürfnissen heiraten und in der Stadt einen Hausstand bilden könnte, würde ich, bei der besten zu erwartenden Karriere, im 40. Jahre etwa als Präsident und dergleichen haben, wenn ich trocken von Aktenstaub, hypochonder, brust- und unterleibskrank vom Sitzen geworden sein werde und einer Frau zur Krankenpflege bedarf.
»Für diesen mäßigen Vorteil, für den Kitzel, mich Herr Präsident nennen zu lassen, für das Bewußtsein, dem Lande selten soviel zu nützen als ich ihm koste, dabei aber mitunter hemmend und nachteilig zu wirken ..., dafür bin ich fest entschlossen, ... meine Unabhängigkeit, meine ganze Lebenskraft und Tätigkeit nicht herzugeben, solange es noch Tausende und unter diesen viele ausgezeichnete Leute gibt, nach deren Geschmack jene Preise hinreichend kostbar sind, um sie den Platz, welchen ich leer lasse, mit Freuden ausfüllen zu machen.«
In diesem ersten Dokument Bismarckischen Geistes enthüllen sich Stolz, Scharfsinn und Verachtung, die, wenn man den Mut hinzunimmt, die Elemente seines Charakters bilden, die Bedingungen seines Erfolges, die Ursache seines mangelnden Glücksgefühles, die Hintergründe seines späteren tragischen Seelenkonfliktes. Da ist die Verachtung jeden Mittelmaßes, die ironische Skizze des Strebers, der, koste es an Leib und Seele was es wolle, am Ende Herr Präsident genannt werden will; mit diesen lehnt er alles Beamtenglück ab, das immer einen Oberen hat und nie die Freiheit. Da ist die psychologische Meisterschaft eines 23 Jährigen, der Blendendes von der Passion, Eitelkeit vom Ruhm, Kollectiva vom Solo, Stellung von Macht unterscheidet, und zugleich für den Leser die kleinen Nervenkitzel von der Suggestionskraft des Alkohols abhängig erscheinen läßt. Da ist der Landmensch, der seinen Körper liebt und stählt, Gesundheit über Karriere, Wald und Jagd über Sessel und Kabinette stellt.
Da aber ist vor allem ein Jüngling von unnennbarem Stolze, der um alles nicht gehorchen möchte, der im voraus die Schalheit einer Befriedigung fühlt, wenn sie das Opfer seiner Freiheit fordert. Wie souverän schiebt er das Motiv der Vaterlandsliebe beiseite, läßt er die Sorge um die Probleme seines Staates weg, die es zu lösen oder zu lindern gälte, um mit zielsicherer Hand das Wort Leidenschaft sich selbst ins Herz zu schießen! Ja, wenn es die großen Griffe eines Diktators gälte: wie die Mücke ins Licht, würde er sich hineinstürzen, nicht um eine Idee zu verwirklichen, vielmehr, um zu befehlen und berühmt zu werden. Aber das geht heutzutage nur in freien Staaten, in England, wo, während er dies niederschreibt, Peel, gestern noch Premier, im Unterhause gegen seine eigene Partei den Freihandel, wo gleichzeitig O'Connel die Freiheit Irlands zu erkämpfen trachtet: zwei Revolutionäre, die nur ihre Tatkraft und Einsicht, doch keinen König zu achten brauchten! Beide erzwingen eine Umwälzung, selbst Mirabeau wollte das Königtum beschränken, aber in Preußen, aber hier, in diesem deutschen Lande ohne Verfassung, ohne Ober- und Unterhaus, sind all das Träume eines unsinnigen Barons, der vergebens nach politischer Bewegung Ausschau hält.
Dies ist Bismarck, der den geborenen Diktator in sich vorfühlt, weder von Königstreue noch von Gottesfurcht, weder von Liebe zur Heimat angetrieben noch von Verantwortung für eine Menge; der große Solist, der Menschenverächter, der Kämpfer, der mit all seiner revolutionären Unruhe auf Veränderung wartet: der Abenteurer, der das Bestehende als ein Stehendes verachtet, und dessen nervöse Energie nicht verwalten, sondern verändern, der nach eigner Einsicht befehlen will und keinen über sich duldet.
Die langen Häuser der Tagelöhner auf Kniephof sind strohbedeckt, es mag ein Dutzend sein, in jedem wohnen vier Familien, sie sind sehr arm, einen Taler verdient man dort kaum im Monat, viele Tage im Jahre muß man umsonst arbeiten. Dafür haben sie ihr bißchen Wohnung frei, Holz zum Heizen, drei Morgen für sich, Weide, Heu und ein Deputat Korn, und wenn die Herrschaft will, hilft sie ihnen bei schlechter Ernte aus. Da es ein Rittergut ist, so ist der Herr überdies durch Gesetz ihr Polizei- und Gerichtsherr, Kirchenpatron, sitzt im Kreistag und kann Landrat werden, vermag also zu fördern und zu schädigen, wen er will. In Wahrheit hatten diese Bauern um 1840 weder Rechte noch Sicherheiten, es waren Sklaven, auch treu wie Sklaven, weil ihre Väter schon den Vätern des gnädigen Herrn gedient hatten.
Bismarck geht freundlich mit ihnen um, immer als ihr Herr. »Bist Du nicht Otto der liebenswürdige Mensch, schreibt ihm ein Freund, ... bist Du nicht der Herr, der ein warmes Herz für seine Leute hat ... Ich bin ganz zufrieden, wenn ich erst anerkannt mit den mir anvertrauten Leuten so gut umgehe, wie dies allgemein von Dir gesagt wird.« Will aber einmal der Bauer nicht ausweichen, so kommt es zu furchtbarem Zusammenstoß, der Bauernwagen ist stärker, der des Herrn liegt kaputt auf der Straße, die Folgen mag man sich denken. Er hat es auch gleich zu Anfang ausgesprochen, wie er die neue Lebensform versteht, und dem Freunde geschrieben, von nun an will er »Herr und nicht Diener sein ... und keine Depeschen mehr kopieren«.
Gemeinsam mit dem Bruder ist es nicht lange gegangen, obwohl er ihn von Herzen gern hat. Bismarck kann keinen Gleichberechtigten neben sich leben sehen: so teilen sie bald ihre Erbschaft in zwei Teile. Dabei ist er robust vorgegangen, denn »ich bin, schrieb er, im Begriff, mit meinem Bruder zu teilen; mit Hilfe eines Käufers, der ein sehr hohes Gebot machte, habe ich ihn so weit gebracht«. Dann sucht jeder für sich, langsam und mühselig, den Ausweg aus der Verschuldung.
Um den Landbau zu verstehen, hat Bismarck vorher nochmals auf ein paar Monate die Universität bezogen, in Greifswald und Eldena Chemie gehört, sich von Keyserling botanische Bücher schicken lassen und einen Mediziner gefunden, um etwas Chemie zu lernen. Auch gab es wieder Duelle, Konflikte mit der Polizei; nicht mehr Student und noch nicht ganz Standesherr, so hat er an der Wirtstafel zwischen den Gutsbesitzern gesessen, die zum Markte gekommen sind, »ich höre sie dann mit sehr verständiger Miene an, denke darüber nach und träume nachts von Dreschhafer, Mist und Stoppelroggen«.
Zwar, den mokanten Ton behält er bei, aber, einmal auf dem Gute, »mit der vollen Unwissenheit eines schriftgelehrten Stadtkindes,« versucht er, was er kann, um die Wirtschaft zu heben, läßt sich eine Menge Bücher aus dem landwirtschaftlichen Vereine der Kreisstadt kommen, führt seine Rechnungsbücher selber und sehr ordentlich, worin recht viel von Darlehen die Rede ist, die aufgenommen oder zurückgezahlt werden. Geld fehlt ihm oft, eigentlich immer, er reist immer bequem und teuer, spielt zuweilen, wenn auch nicht mehr hoch, und alle privaten Ausgaben, auch Spielgewinne und -verluste stehen in der Gutsrechnung. Dazwischen reitet er mit oder ohne Inspektor herum, lernt, prüft und befiehlt, fühlt sich indessen auf Calebs Rücken wohl. Er lernt dabei die unteren Klassen, Bauern und Händler, die Realitäten des Bodens kennen, das Wetter und alle Einzelheiten in ihrem Werte schätzen, bildet sein eingeborenes Gedächtnis bedeutsam aus, hundert Bilder für seine Sprache wachsen ihm zu. Sinn für Tatsachen und Abneigung gegen Meinungen verstärken sich in diesem faktischen Wirken. Kommt er abends nach Hause, so setzt er sich zu Champagner und Porter, seiner Lieblingsmischung, und liest.
In den neun Jahren, die nun folgen, von denen er vielleicht dreiviertel auf dem Lande verbringt, hat Bismarck sehr viel gelesen: »Das allgemeine Wissen habe ich alles davon her, daß ich in der Zeit, da ich noch nichts zu tun hatte, auf meinem Gute eine Bibliothek alles Könnens und Wissens vorfand und sie buchstäblich verschlang.« Viel Geschichte, besonders englische, manches Soziologische, sogar Louis Blanc, viel in fremden Sprachen, besonders Shakespeare, am liebsten Byron, Lenau, Bulwer. In der Einsamkeit hat er sich, die Einsamkeit hat ihn gebildet. Eine Weile war er hier ganz zufrieden, ihn störte niemand, und er schrieb: »Ich muß die Residenz haben oder das Land.«
Zwei Jahre lang gefällt dem Manne Mitte Zwanzig diese Beschäftigung »wegen ihrer Unabhängigkeit«. Dabei ist jede Illusion sehr schnell zerstört, bald heißt es: »Von der Täuschung über das arkadische Glück eines eingefleischten Landwirtes mit doppelter Buchhaltung und chemischen Studien bin ich durch Erfahrung zurückgekommen.« Also reitet man und jagt, fährt auf die Nachbargüter und schimpft nachher, »ich wollte, die Leute kauften mir lieber mein Mastvieh ab, anstatt mich zu Mittag zu bitten. Die Hammel hat noch nicht einmal einer angesehen, und in Berlin fallen täglich die Preise.« Zuweilen sieht man ihn im Boot auf Entenjagd, aber die Sektflasche steht neben ihm, und er liest Byron. Überall sticht er als Kavalier von seinen Berufsgenossen ab, auch von den Adligen, er ist weit gereist, bei Hofe gewesen, kann glänzend erzählen, reitet kühn, gilt mit Weibern für verwegen und hat wohl Grund, sich über die Krautjunker zu mokieren: »Fragt man einen, wie es ihm geht, so sagt er: ganz gut, nur habe ich leider im Winter stark die Räude gehabt.«
Allmählich verdunkelt sich sein Ruf, denn je mehr er sich langweilt, mit um so wilderen Stücken sucht er sich zu zerstreuen und die andern zu bluffen. Jetzt wird ihm sogar das Militär zur Erholung; als Sekonde-Leutnant geht er zu den Ulanen, um eine Übung mitzumachen, mit der kleinen Schwester, die zeitweise auf seinem Gute lebt, springt er in den Wagen und fährt Galopp, was er kann, obwohl er zwei Reitpferde an die Deichsel gepreßt hat. Kommt er nachts von einem Gelage, so stürzt er mehr als einmal und findet sich erst nach einer Ohnmacht wieder, er schwimmt und badet viel, muß aber immer erst mit Gewalt das Kältegefühl überwinden. Er liebt sich durch alle Klassen, verspottet aber Standesgenossen, die mit ihren Freundinnen offiziell zusammenleben. Als einmal die Freunde zur verabredeten Morgenstunde nicht erscheinen, und, um ihn zu necken, mit einer Kommode ihre Tür verrammelt haben, schießt er durchs offne Fenster nach ihrer Zimmerdecke, daß sie der Kalk berieselt. Nach Tische, vom Sofa aus, schießt er gern nach der Scheibe; es macht ihm nicht viel, wenn er dabei drüben die Tischlerwerkstatt trifft. Als aber sein Reitknecht ins Wasser fällt, rettet er ihn mit Gefahr des eignen Lebens.
Wer zu ihm kommt, wird mit Sekt und Porter traktiert, dann heißt es: help yourself. Nach einer solchen Sitzung geht es dann einmal in stundenlanger Fahrt durch kotige Wege zum Nachbarhof, wo man eine geschmückte Gesellschaft durch unmögliches Aussehen chokiert. Auf diese Art erwirbt man sich den Ruhm des Tollen Junkers, ohne im Grunde toll zu sein; vor allem erwirbt man ihn durch maßlosen Appetit und Durst, durch die Kunst, alles zu vertragen. Ist er als Gast bei den Kürassieren eingeladen und soll einen Humpen einweihen, der eine Flasche hält, so trinkt er ihn zum Staunen des Kasinos auf einmal leer, und während er sich bis dahin nicht recht geheuer fühlte, »war mir darauf vier Wochen lang so wohl um den Magen, wie nie«. Dabei spricht er zuweilen von der Politik in der Hauptstadt und immer despektierlich. Es dauerte nicht lange, so war es den kleinen Komtessen furchtbar interessant, ihren Müttern aber etwas peinlich, wenn die Mädchen neben Herrn von Bismarck zu Tische saßen.
Einmal geht er in die Öffentlichkeit, doch ohne Namen. In einem liberalen Ostseeblatt hat jemand Klage über die Schäden geführt, die die pommerschen Edelleute mit ihren englischen Pferden und Hunden bei den Parforce-Jagden auf den Äckern anrichten, wogegen es nur Selbstschutz gäbe. Bismarck, dessen Antwort vom Redakteur abgelehnt, aber in einem überaus genau korrigierten Entwurf erhalten ist, sucht dagegen zu beweisen, daß solche Winterritte der Saat nichts schaden, aber der Pferdezucht nützen, daß es deutsche Pferde waren, nur englische Peitschen, er wolle »noch mehr Missetäter ans Licht ziehen, die nicht nur Peitschen, sondern Rasierseife, Unterjacken, sogar Chester-Käse aus England bezogen haben.« Dann weist er auf die Person des Einsenders hin, der persönliche statt sachliche Gründe habe, stellt seinen eignen Namen, natürlich auch gleich seine Pistole zur Verfügung, dann wird er sozialpolitisch:
»Ich begreife, wenn Leute in roten Röcken auf ihren Pferden, mit ihren Hunden und auf ihrer Jagd hinter einem Hasen herreiten und dabei ... aussehen, als wären sie sehr mit sich und ihrer Beschäftigung zufrieden, wie verdrießlich das ist, nicht nur für den Hasen, sondern für jemand, der weder mit sich noch mit der Welt zufrieden ist, in Schwarz geht, keine Pferde, keine Hunde, keine Jagd hat, auch gar keine Neigung zu jagen.« Er bekenne sich »in dem Stande der çi-devant nobles geboren zu sein ..., deren empörendes Vorrecht, die Partikel Von zu führen, wie ein Nebelgebilde hinterlassen von der Macht finsterer Zeiten, dem trauernden Deutschland die Morgensonne bürgerlicher und gesellschaftlicher Gleichheit verhüllt,« und fordert am Ende, »daß selbst dem Hinterpommern sein Verdienst, seine persönliche Freiheit soweit gelassen werde, daß er sich für sein Geld amüsieren darf, wie er kann und mag.«
Dies ist Bismarcks erste politische Äußerung, mit 28 Jahren niedergeschrieben um ein paar Hasen und ein paar Stoppelfelder, doch heimlich dröhnend vom Groll des Junkers gegen Stände, die ihm sein Vorrecht streitig machen wollen. Indem er zum ersten Male vortritt, verteidigt er nur seine Oberklasse, verspottet die untere, die keine Jagd hat, mit der bösen Wendung, sie habe auch keine Neigung zu jagen; ja, er stellt den Bürger oder Bauer, die die Kavalkade mit Mißgunst vorbeigaloppieren sehen, dem Hasen gleich, um dessen Kopf das Spiel unternommen wird. Wenn einer zu ihm käme, gerechte Entschädigung zu fordern, die würde er ihm geben; der öffentliche Anspruch aber, der neue Grundsatz und seine Offensive, bringen ihn gleich in den Harnisch seiner Väter. Bismarcks erste politische Worte kommen von einem Klassenkämpfer.
Etwas früher hat er sich vor Langerweile zum dritten Male verlobt, mit einem Mädchen aus seiner Gegend, aber Ottilie von Puttkamers Mutter war dagegen, »und 14 Tage nachher erzürnte ich mich mit der Mutter meiner Braut, einer Frau, die, um ihr Gerechtigkeit zu tun, eine der bösesten ist, die ich kenne, und die das Bedürfnis hat, noch selbst der Gegenstand zärtlicher Blicke zu sein.« Diese will wegen seines schlechten Rufes die jungen Leute zunächst für ein Jahr trennen, dann ist es wieder sein Vater, der vermitteln will, d. h. es ist des Vaters Feder: Bismarck hat diesen eleganten Diplomatenbrief dem Alten offenbar diktiert, wobei es denn zum Lachen ist, wie er sich »Verstand und Lebendigkeit, verzeihen Sie den Dünkel,« zuspricht. Aber die Schwiegermutter bleibt eisern, nun diktiert sie ihrer Tochter – dort drüben ist es umgekehrt wie in Kniephof – einen bösen und ungerechten Absagebrief.
Bismarck ist ganz erschlagen, nicht wegen des Mädchens, dessen er sich im Laufe des Jahres ziemlich entwöhnt hat, vielmehr wegen der Beleidigung; aber er hält seiner »Würde nicht angemessen, die beleidigte Aufgeregtheit eines Gemütes zu zeigen und ihr mit einigen Schüssen auf Brüder ... Luft zu machen«. Nach einer Reise, auf der er seine Kränkung »wenn möglich in fremden Klimaten ausdunsten« wollte, erklärt er sich »dergestalt abgekühlt, daß ich als mein größtes Glück betrachten muß, was mich vor Zeiten mit meinem Geschick zürnen ließ«. Aber in seinem Ehrgefühl ist der Speer hängen geblieben, denn noch 4 Jahre später, als des Mädchens Mutter Versöhnung und Heirat anbahnen möchte, zieht er sich zurück, da, so gesteht er dem Freunde, »diese jahrelangen, immer wiedergekäuten Empfindungen einer leichtfertigen Mißhandlung meines innersten und wahrsten Gefühls, der Verrat meines Zutrauens, die Kränkung meines Stolzes, ein residuum von Bitterkeit in mir gelassen haben, welches ich nicht glaube hinreichend unterdrücken zu können ... Es ist mir beim besten Willen schwer, eine wirklich empfundene Beleidigung halbwegs zu vergessen.« Um diese Zeit behauptet er ganz allgemein, daß er »nicht lieben könne«. So stark lebt Stolz und Haß in einem Herzen, dem Liebe und Hingabe vorläufig fremd bleiben.
Jene Reise des 27 Jährigen ging zuerst nach England, als er aber bei Landung in Hull wegen Pfeifens am Sonntag zurechtgewiesen wird, geht er sofort wieder an Bord und fährt nach Schottland weiter. Wenn er später vor dem Oberhaus die Reitpferde der Lords warten sieht, »unter Ausschluß von Fuhrwerk«, oder wenn er vornehme Leute Galopp fahren sieht, das imponiert ihm. Alles beobachtet er, was in seine Welt gehört: »Die Ration der Remonte-Pferde, welche noch gar nichts taten, so schreibt er dem Vater über die Yorker Husaren, ist fast vier Metzen Hafer und zwölf Pfund Heu ... Merkwürdig war mir die Abwesenheit aller Scheunen. Alles Getreide steht in Mieten, von vielleicht 20 bis 50 unserer Stiege, und neben der verdeckten Tenne ist nur so viel Scheunenraum, um eine Miete unterzubringen.« Dann rühmt er »die außerordentliche und meine Erwartung weit übertreffende Höflichkeit und Gefälligkeit der Engländer. Auch die geringsten Leute sind artig, sehr bescheiden und verständig, wenn man mit ihnen spricht«. So wie die eingeborene Höflichkeit, gefällt ihm der eingeborene Appetit: »Es ist das Land für starke Esser ... portionsweise wird nie gegessen, sondern von jeder dieser Fleischsorten stehen, auch beim Frühstück, die kolossalsten Stücke, wie wir sie gar nicht kennen, vor Dir, und Du schneidest und issest davon, soviel Du ... Lust hast, ohne Einfluß auf die Bezahlung.« Diese Mitteilung an den Vater über das viele und gute Essen begreift man erst, wenn man die zahllosen Stellen in Bismarcks Briefen kennenlernt, in denen von diesen Genüssen bis ins höchste Alter aufs ernsteste die Rede ist.
Weniger scheint man zu Hause von dem herrischen Ton erbaut, in dem der Reisende, nun in die Schweiz gelangt, die Zahlung der daheim fälligen Steuern von Vater und Bruder verlangt, man solle zu dem oder jenem um Geld schicken, »oder mit sonst wem einen Abschluß auf Korn oder Spiritus machen, ich bitte Dich und hoffe, daß Du die Angelegenheit wie Deine eigne betrachtest«.
Kaum ist er zurück, so ist er wieder verdrossen. Was soll man hier auf der Klitsche? Pommern ist eng, Deutschland ist dumpf, draußen die Welt ist belebter. Da sitzt er am väterlichen Kamin, liest Byron, schreibt sich dessen trotzigste Gedichte ab; dann denkt er, es dem Lord nachzumachen, klappt das Gedichtbuch zu, zugleich das Wirtschaftsbuch, plant mit einem Schulfreund Arnim »nach Ägypten, Syrien, ... vielleicht noch weiter zu gehen; wenn sich gewisse Arrangements, die ich in bezug auf meine Besitzungen vorhabe, nach Wunsch durchführen lassen, so denke ich einige Jahre Asiat zu spielen, um etwas Veränderung in die Dekoration meiner Komödie zu bringen und meine Zigarren am Ganges statt an der Rega zu rauchen«. Aber statt solcher Abenteuer verliebt sich der Reisefreund ganz einfach in die entzückende Malwine, Bismarcks nun 17 jährige Schwester, läßt Indien laufen, und der Vater schreibt dem Sohne selber »einen tränenfeuchten Brief von einsamem Alter (73 Jahre, Witwer, taub), von Sterben und Wiedersehen«. Als aber nun ein Freund ihn fragt, warum er nicht nach Indien geht, erwidert er schlau: »Ich wollte in Indien unter englischer Fahne Dienst nehmen ... Indessen, was haben mir die Indier zuleide getan, dachte ich mir.« So endet auf hinterpommersche Manier der Plan dieser Byronschen Weltreisenden.
Das ist die Romantik des adligen Landjunkers, der sich bewegen, zerstreuen will und dazu schlimmstenfalls den Staat benutzt: »Ich habe, schreibt er mit Dreißig, seitdem fünf Jahre allein auf dem Lande gelebt, kann das einsame Landjunkerleben aber nicht länger aushalten und kämpfe mit mir, ob ich mich wieder im Staatsdienst beschäftige oder auf weitausschauende Reisen gehen soll ... Ich langweile mich zum Hängen, wenn ich hier allein bin ... was, glaube ich, jedem wohlerzogenen jungen Menschen so gehen muß, wenn er auf dem Lande unverheiratet lebt.« Zugleich schreibt er in sein Notizbuch: »Den ganzen Tag gerechnet ... Den ganzen Tag in der Sonne geritten und gegangen ... Das Leben ein Schattenspiel.« Oder er nennt, um sich ein bißchen große Welt vorzuspielen, im Kontobuch seinen Nachtwächter und Schnapsbrenner gardenuit und valet-destillateur.
Nun steigert sich der Nihilismus des Studenten zur Melancholie des einsamen Ritters auf seiner Burg: »Seitdem sitze ich hier ... geistig ziemlich unempfindlich, treibe meine Geschäfte mit Pünktlichkeit, aber ohne besondere Teilnahme, suche meinen Untergebenen das Leben in ihrer Art behaglich zu machen, und sehe ohne Ärger an, wie sie mich dafür betrügen. Des Vormittags bin ich verdrießlich, nach Tische allen milden Gefühlen zugänglich. Mein Umgang besteht in Hunden, Pferden und Landjunkern, und bei letzteren erfreue ich mich einigen Ansehens, weil ich Geschriebenes mit Leichtigkeit lesen kann, mich zu jeder Zeit wie ein Mensch kleide und dabei ein Stück Wild mit der Akkuratesse eines Metzgers zerwirke, ruhig und dreist reite, ganz schwere Zigarren rauche und meine Gäste mit freundlicher Kaltblütigkeit unter den Tisch trinke; denn leider Gottes kann ich nicht mehr betrunken werden, obschon ich mich dieses Zustandes als eines sehr glücklichen erinnere. So vegetiere ich fast wie ein Uhrwerk, ohne besondere Wünsche oder Befürchtungen zu haben; ein sehr harmonischer und sehr langweiliger Zustand.«
Zuweilen stürzt er sich in die große Welt. Kommt er dann aber von solcher Reise an die Nordsee, die er jetzt seine Geliebte nennt, so hat er so viel verspielt, daß er froh ist, »durch unverdächtiges Aussehen der Bezahlung eines Passes an der Grenze zu entgehen«.
Da nun die Schwester verheiratet ist, verdunkelt sich sein Herz noch mehr, in sie war er verliebt und ist es eigentlich sein Lebenlang geblieben; zumindest solange sie jung ist, sieht er in ihr das Urbild von Helle und Eleganz, das seiner Schwere stets ungreifbar vorgaukelt. Nun bringt er lange Monate allein beim alten Vater zu, lesend, rauchend, Neunaugen essend, und spielt »zuweilen eine Komödie mit ihm, die es ihm gefällt, Fuchsjagd zu nennen«. Dann schildert er der Schwester, wie sie bei Regen und Kälte mit Jägern und Hunden einen Kiefernbusch umstellen, von dem alle wissen, daß höchstens ein paar Holzweiber darin sind; wie der Inspektor mit sonderbaren Kehllauten den fiktiven Fuchs aufstöbert, bis der Vater »ganz unbefangen fragt, ob ich nichts gesehen habe, und ich sage mit einem möglichst natürlich gegebenen Anflug von Verwunderung im Tone: Nein, nicht das mindeste ... So geht es drei bis vier Stunden lang ... Außerdem besehen wir zweimal täglich das Orangeriehaus und einmal die Schäferei, vergleichen stündlich die 4 Thermometer in der Stube, rücken den Zeiger des Wetterglases und haben, seit das Wetter klar ist, die Uhren nach der Sonne in solche Übereinstimmung gebracht, daß nur die an der Bibliothek noch einen einzigen Schlag nachtut, wenn die andern a tempo ausgeschlagen haben.« Nach solchen schmerzlichen Humoren ermahnt er die Schwester, sie solle dem Vater ebenso von ihren kleinen Begebenheiten schreiben, »was die Pferde machen, wie die Bedienung sich aufführt, ob die Türen knarren und die Fenster dicht sind, kurz, Tatsachen, facta. Ferner mag er's nicht leiden, daß er Papa genannt wird, er liebt den Ausdruck nicht.«
So stauen sich Langeweile und Güte, Nachgiebigkeit und ein dumpfer Sinn, der sich an engen Horizonten stößt, in seinem Herzen, und man verwundert sich nicht, daß er mit Dreißig noch einen dritten Versuch zur Staatsstellung macht, »um eine an Lebensüberdruß grenzende Gelangweiltheit durch alles, was mich umgibt, zu heilen«. Ganz von oben schreibt der junge Standesherr dem Oberpräsidenten von Brandenburg: »Die Lage meiner Umstände erfordert jetzt meine Anwesenheit auf dem Lande nicht mehr und macht es mir möglich, meiner Neigung für den Staatsdienst zu folgen.« Klingt es nicht, als nähme er an, man habe nur auf ihn gewartet?
Bei diesem dritten Anlauf sinkt er schon nach zwei Wochen zusammen; gleich kommt es zu Zusammenstößen, fast zu Forderungen, und der entsetzte Oberpräsident schreibt: »Mir ist im Leben schon manches vorgekommen, aber noch kein Referendarius mit 63 Resten.« Familiäre Gründe kommen ihm gelegen, gleich wieder wegzulaufen, er sagt, als er nicht sofort vom Chef empfangen wird, dem Diener: »Sagen Sie dem Herrn Oberpräsidenten, ich wäre fortgegangen, aber ich käme auch nicht wieder.« Als er am selben Abend in Berlin bei einem Diner den Chef trifft, und jemand fragt: Kennen sich die Herren? sagt Bismarck: »Ich habe nicht die Ehre«, stellt sich vor und freut sich sehr. Kaum ist er daheim, so tobt er sich in Briefen aus: er habe den Versuch »als eine Art von geistigem Holzhauen betrachtet, um meinem teilnahmslos erschlafften Geist wieder etwas von dem gesunden Zustande zu geben, den einförmige und regelmäßige Tätigkeit herbeizuführen pflegt. Aber ... die krähwinklige Anmaßung oder lächerliche Herablassung der Vorgesetzten war mir nach langer Entwöhnung noch fataler als sonst.« Ja, selbst wie er den Bruder als Landrat vertritt, ist er sehr bald »des Landratspielens überdrüssig und meine Pferde auch«, und gibt es rasch wieder auf.
»So treibe ich willenlos auf dem Strome des Lebens ohne anderes Steuer als die Neigung des Augenblickes, und es ist mir ziemlich gleichgültig, wo er mich ans Land wirft.«
Seit langem war auf pommerschen Rittergütern der Pietismus zu Hause. Der alte Herr von Thadden auf Trieglaff, sein Schwager Ludwig von Gerlach und dessen Bruder, der General und Favorit des Königs, der alte Puttkamer auf Reinfeld, Herr Senfft von Pilsach, alle im Kadettenhaus aufgezogen, dann im Befreiungskriege Offiziere, waren in Berlin »erweckt« worden, sie hatten den Sektiererglauben nach Pommern gebracht, die liberale Kirche abgeschworen, nun holten sie von weit her sich die Pastoren, an die sie glaubten, predigten auch selber zu Hause und auf ihren Dörfern, bekehrten ihre Tagelöhner, ließen sich mit Buße strafen, hielten Konferenzen ab und hörten sich nicht ungern weit über ihre Kreise hinaus mit Zorn und Neugierde nennen. Etwas süßlich sprachen sie von Freundschaftsinseln.
Marie von Thadden ist ein schönes, etwas volles Mädchen, passioniert, musikalisch, von einer überheiligten Sinnlichkeit, liest Jean Paul, die Brentanos, spielt Mendelssohn, und hat als Braut des jungen Moritz von Blanckenburg dessen Freund kennengelernt, Herrn von Bismarck, grade zur Zeit seiner asiatischen Pläne. Natürlich ist sie in ihn verliebt, will sich's nicht eingestehen, ist halb und halb froh, daß er in ihr die Braut des Freundes ehrt. »Sein feiner Anstand, seine ganze glänzende innere und äußere Erscheinung zieht mich immer sehr an, und doch ist mir stets mit ihm zumute, als wäre ich auf dem Glatteis und könnte jeden Augenblick einbrechen;« sie merkt, daß sie ihm heilig sei, »weil mir nun die gefährliche Glätte an diesem großen, interessanten Weltmann genommen ist«. Man sieht, diesem Gretchen wird in seiner Gegenwart, sie weiß nicht wie, sie spürt, daß er ganz sicher ein Genie, vielleicht sogar der Teufel sei; und von diesem Bekenntnis kann man auf ein Dutzend unbekannter Mädchenbriefe aus Pommern schließen. Dies aber ist der einzige, uns erhaltene Eindruck eines leidenschaftlichen und vornehmen Mädchens vom 30jährigen Bismarck, der in Pommern wie ein großer Weltmann und auf die Nerven eines sensuellen Wesens anziehend wirkt wie Mephisto.
Mit der Neugier des aus dem Hafen heraus angelnden Mädchens sucht sie, da sie nun einmal gläubige Pietisten-Tochter ist, sich seiner Seele schwesterlich anzunehmen. Nach einer langen Unterhaltung auf Trieglaff mit ihr und ihrer Mutter, schreibt sie dem Verlobten:
»Ich habe noch nie jemand seinen Unglauben oder vielmehr Pantheismus so frei und klar auseinandersetzen hören ... Ottos traurige Ansichten, in denen er selbst sich ja so sehr unbefriedigt fühlt, kennst Du ja. Aufrichtig ist er unstreitig, und das hat ja eine große Verheißung, auch hat er doch noch eine gewisse Scheu vor dem blauen Dunstgebilde von Gott, was er sich gemacht hat ... Er wisse die Nacht so gut, wo er zum letzten Male gebetet und es dann wissentlich gelassen ... Die Anmaßung der Gläubigen, ihre Ansicht für die rechte zu halten, die Größe seines Gottes, der sich um ein solches Stäubchen, wie er, nicht bekümmern könne, seine volle Glaubenslosigkeit, entfernte Sehnsucht danach, völlige Gleichgültigkeit gegen Freud und Schmerz, stete bodenlose Langeweile und Leere: Wie kann ich denn glauben, sagte er, da ich doch einmal keinen Glauben habe! Er muß entweder in mich hineinfahren oder ohne mein Zutun und Wollen in mir aufschießen! Er war sehr aufgeregt, wurde manchmal dunkelrot, konnte aber nicht fortkommen. Obwohl in der Nachbarschaft zu Tische eingeladen, ging er nicht fort, stand immer noch lebhaft demonstrierend ... Otto war sichtlich neu und angenehm davon berührt, er fühlte die Liebe zu seiner Seele durch, Du kennst ihn ja, so gemütlich, wie er dann wird ... Tausendmal stand es mir auf der Zunge: ›O Otto, Otto, fangen Sie doch ein anderes Leben an, entreißen Sie sich dem wüsten Treiben!‹«
Herr Doktor wurden da katechisiert. Das ist der nämliche Rationalismus, mit dem er sich, heut wie mit Sechzehn, panzert, doch auch der ganze Stolz einer gefühlvollen Seele, die – hier, wie in der staatlichen Laufbahn – jede Bemühung, jeden Aufstieg verweigert und von Gott seine Berufung einfach fordert, wie er sie im stillen von seinem König gefordert hat; dann wird er plötzlich gemütlich. Als er aber zwei Tage darauf wiederkommt, wird er still und nachdenklich geschildert, es sei ihm ernst, wenigstens manchmal angst.
Dem schönen, tiefbewegten Mädchen hat er sich gestellt. Ihr zuliebe ließ er sich zunächst einige Briefe ihres Verlobten Blanckenburg gefallen, der selbst ein Bekehrter war, Briefe, von denen ihr Autor sagt, sie seien »in jugendlich-christlichem Freundschaftseifer ... wie Kugeln hageldick in der redlichsten Absicht an dein krankes Herz geschleudert worden«. Dreimal schreibt er an Bismarck ohne Antwort: er solle den Willen zum Glauben haben, Bibel lesen, sich aussprechen. Immer steckt Marie dahinter, denn es reizt das phantastisch aufgeregte Mädchen »diese Freundschaft mit dem hinterpommerschen Phönix, der für einen Ausbund von Wildheit und Arroganz gilt, der so anziehend gewesen«, und wenn sie ihrem Moritz eine »tief ewig blaue Blume schenkt, die er segnend an seine Brust steckt«, so schickt sie seinem Otto eine dunkelrote, und weiß wohl warum.
An einem Pfingstfest, in der Laube, gehen die Verlobten dann gemeinsam vor: der Brief einer fernen Freundin, einer Schwindsüchtigen, wird dem Ungläubigen gezeigt, die Bismarck liebt, aber nicht sterben kann, bis er bekehrt sei; sehr exaltierte Briefe Blanckenburgs folgen, voll von Beteuerungen. Das fremde Mädchen stirbt, aber sie hat noch »inwendig die Herzensgewißheit erhalten, daß deine Seele nicht verloren gehen wird ... O, wenn du wüßtest, wie diese Tat mit der Verstorbenen auf der Freundschaftsinsel bebetet wurde!« Bismarcks Antworten sind nicht erhalten, Blankenburg hat sie später aus politischem Ärger vernichtet, aber in dessen Erwiderungen heißt es: »Warum hast Du geweint? Warum habe ich bei Lesung Deines Briefes die Augen voll bekommen? O, Otto, Otto – es ist jedes Wort in Deinem Briefe wahr«, und später bezeugt Bismarck, daß diese Ereignisse erschütternd auf ihn wirkten. Den Briefwechsel aber bricht er bald ab, das »Mitleiden« empfindet er als Mitleid, sein Stolz erträgt das nicht, auch fühlt er sich »klassifiziert«, und kurz, er will nichts weiter hören.
Der Regen, der hier auf die Wüste niederfiel, war sehr rasch aufgesogen; daß er in Tränen ausbricht, bei der Nachricht vom Tode eines Mädchens, das ihn heimlich liebte, ist nicht erstaunlich; diesem sehr zynischen, sehr gefühlvollen Mann mit dem Riesenkörper saßen die Tränen locker, auf Höhepunkten politischer Entscheidung wird die Erscheinung sich wiederholen. Auch ist er nicht der Mann, an solchen Zeichen ohne Ergriffenheit vorbeizugehen. Der Weg zum Glauben ging in dieser wunderlich gebannten Natur durch den Aberglauben, an dem er sein Leben lang festhielt, und, wenn ihm etwas zustieß, was ihm wider Erwarten günstig auslief, so war er wohl geneigt, die Vorsehung anzuerkennen. »Wenn ich je daran gezweifelt hatte, schreibt er um diese Zeit in bezug auf seine letzte Verlobung, daß es eine Vorsehung gibt, und daß ich mich als einen besonderen Liebling derselben zu betrachten habe, so würde mich das Fehlschlagen dieser von mir mit so ungereimter Leidenschaft verfolgten Heirat davon überzeugt haben.«
Doch zugleich ist seine immer wache Skepsis rege, von einem schweren Sturm auf dem Meere schreibt er dem Vater: »Einige Damen wurden ohnmächtig, andere weinten, und die Stille in der Herrenkajüte wurde nur durch das laute Beten eines Bremer Kaufmanns unterbrochen, der mir vorher mehr auf seine Weste als auf seinen Gott zu geben schien ... Das Gebet des Bremer Herrn rettete uns diesmal noch.« Und als bei Marie von Thaddens Hochzeit durch Freudenraketen das ganze Dorf abbrennt, ruft Bismarck, als einige Betende vom Löschen abraten, mit Cromwell: »Pray and keep your powder dry«, reitet ab und kämpft die ganze Nacht gegen das Feuer. Als man andern Tages streitet, ob Versicherungen zulässig seien, weil sie Gott ein Lehrmittel nähmen, sagt er: »Das ist ja die reine Blasphemie, denn Der kann uns doch kriegen!«
Bald klatscht man in Hinterpommern, Bismarck sei der Liebhaber der jungen Frau von Blanckenburg; in Wirklichkeit bleibt alles in Ordnung, sie leben und romantisieren viel zusammen, er schwärmt für Byron, sie schwärmt für Jean Paul, den lehnt er ab, und schließlich wird sie Mutter. »Nur das will ich Dir noch sagen, daß das Kränzchen nicht sehr besucht, eine recht niedliche Fräulein S. dort war, und wieder sämtliche junge und alte Frauen in Wochen liegen ... und daß ich übermorgen zu einem ästhetischen Tee in Cardemin (Blanckenburgs Gut) bin, mit Lektüre, Gebet und Ananasbowle.« So leicht nimmt er die Steuer, die man in diesem Kreise von ihm fordert, denn er ist gern dort, findet, was er sucht, Geist und Form, »ein Familienleben, das mich einschloß, fast eine Heimat«.
Freilich, seine Nerven bleiben auch in diesem Kreise immer reizbar, auf Spaziergängen wird er plötzlich melancholisch, die leisesten Worte können ihn zur Schwermut treiben, die, schreibt die Freundin, »wie Du weißt, so leicht hervorbricht, wenn er sich unter Freundeshand fühlt«. Wenn Marie ihn necken will, und zwei Gläser von klagendem Ton »schreien« läßt, bittet er sie aufzuhören: »Das ist zu traurig, ich muß an die Geschichte von Hoffmann denken, von der Seele, die in der Geige eingesperrt war.«
Eines Tages trifft er im Hause Blanckenburg eine Freundin der Freundin: Johanna von Puttkamer. Nichts von dem Reiz Mariens macht sie anziehend, sie ist klein, schwarz und zart, im Grunde italienisch: aber ihr Blick ist innig, ihr Herz steigt auf ins katzengraue Auge und zeigt in schwärmerischem Strahl, was es bewegt. Was sie vor Marie auszeichnet, ist Anmut, Natürlichkeit und doch auch Heftigkeit des Fühlens, ein Unbedingtes, das nicht zweimal wählen kann, Passion, gebunden in die federleichten Glieder eines zerbrechlichen Körpers. Johanna gehört zu den Mädchen, die, was sie einmal fassen, halten und nicht wieder hergeben: dafür wird sie sich dem, der sie erfaßt, grenzenlos hingeben, nichts von ihm fordern, in ihrer Hingabe wird sie glücklich sein. Was sie braucht, ist ein männlicher Führer, was sie bietet, ein windgeschützter Hafen.
Fürs erste hält sie dem umworbenen Unhold mit voller Freiheit seinen Unglauben vor; doch mag sie's nachher einen Augenblick bereut haben, denn Marie, die Kennerin, schreibt ihr gleich: »Dein Widersprechen hat ihn gewiß nicht gekränkt, denn jede Offenheit ist ihm lieb, deine Prophezeiung, daß er anders denken wird, glaubt er im Grunde wohl selbst schon. Aber bei einer solchen Natur ist der Kampf zum Licht weder schnell noch leicht, und gewiß noch lange verborgen vor Menschenaugen.«
Mit diesen Worten hat Marie ein Stück von ihm gezeichnet: als wäre er ein vereister Strom, dessen Auftauen und Schmelzen nur langsam, gewaltsam zu erwarten sei; sie hat die problematische Natur in ihm getroffen. Diese ist es, die ihn symbolisch zum Deichamt treibt: die Elbe in ihren Frühlingsschauern zu belauschen, den ungeheuren Strom in seinem Durchbruch zu prüfen, zu leiten, wie das, was er energisch-politische Bewegungen nannte, und ganz wie sich selbst.
Bismarcks Übergang aus Pommern an die Elbe war mehr als ein Umzug. Der alte Herr war schließlich trotz Sherry und Portwein gestorben, gleich darauf übernimmt der jüngere Sohn, nun dreißigjährig, das Gut Schönhausen im Elbtal. Als er das alte Kniephof verpachtet, wo er aufgewachsen ist und wo seit Jahrhunderten nur Bismarcks gesessen und regiert hatten, ist ihm doch gar wehmütig, auch etwas reuevoll zumute: »Auf der ganzen Gegend von Wiesengrün, Wasser und entlaubten Eichen lag eine weiche, traurige Stimmung, als ich nach vielem Geschäftsverdruß gegen Sonnenuntergang meinen Abschiedsbesuch auf den Plätzen machte, die mir lieb und auf denen ich oft träumerisch und schwermütig gewesen war. An der Stelle, wo ich ein neues Haus hatte bauen wollen, lag ein Pferdegerippe: noch im Knochenbau erkannte ich die Überreste meines treuen Caleb, der mich sieben Jahre lang, froh und traurig, wild und träge auf seinem Rücken und über manche Meile Weg getragen hat. Ich dachte an die Heiden und Felder, die Seen und Häuser und die Menschen darin, an denen wir beide vorbeigeflogen, mein Leben rollte sich rückwärts vor mir auf, bis in die Tage zurück, wo ich als Kind auf dieser Stelle gespielt hatte.
»Der Regen rieselte leise durch die Büsche, und ich starrte lange in das matte Abendrot, bis zum Überlaufen voll Wehmut und Reue über die träge Gleichgültigkeit und die verblendete Genußsucht, in der ich alle reichen Gaben der Jugend, des Geistes, des Vermögens, der Gesundheit zweck- und erfolglos verschleuderte ... Ich ging recht niedergeschlagen nach Hause; jeder Baum, den ich gepflanzt, jede Eiche, unter deren rauschender Krone ich im Grase gelegen, schien mir vorzuwerfen, daß ich sie in fremde Hände gab, und noch deutlicher taten das meine sämtlichen Tagelöhner, die ich hier versammelt vor meiner Türe fand, mir ihr Leid zu klagen über die jetzige Not und ihre Besorgnisse vor der Zukunft unter dem Pächter ... Dabei hielten sie mir vor, wie lange sie meinem Vater gedient hätten, und die alten Grauköpfe weinten ihre hellen Tränen, und ich war auch nicht weit davon.«
Und doch, nach diesen tiefgefühlten Sätzen, deren einige in ihrem dichterischen Gefühle bis in den Wortlaut hinein an Goethes Abschied von seinem Gartenhause erinnern, fragt man sich, warum, und ob Geldgründe oder der Wunsch nach einem schöneren Hause den erstaunlichen Tausch angeregt und durchgesetzt haben. Nichts davon; das Motiv ist Tatendrang und Ehrgeiz.
Denn um diese Zeit, mit seines Vaters Tode, mit der Berührung jener innerlich bewegten Kreise, in dem Gefühle, daß man Dreißig ist und darum allen Abenteuern doch nächstens wird ein Ende machen müssen, ist ein neuer, man könnte sagen, ein erster Wunsch nach weiterer Wirkung in ihm aufgewacht und wird von nun an, mit leichten Schwankungen, ein halbes Jahrhundert herrschend bleiben. Nach Lage der Dinge wendet sich dieser Drang dem öffentlichen Leben, zunächst dem Kreise zu, in dem er durch Erbschaft regieren soll. Diese Pläne sind in Sachsen rascher zu verwirklichen: an der Elbe eröffnet das Deichamt den Weg. So wird ein schlummerndes Gefühl der Verwandtschaft mit dem Ereignis dieses Stromes, dessen Krisen er großartig schildern wird, geweckt und durch Berechnungen in Taten verwandelt. Vom Deich an der Elbe ist es nicht weit zum Landtag, und der Kreis der Pietisten hat große Beziehungen nach Potsdam. Als einer von ihnen ihm um diese Zeit den Wiedereintritt in den Staatsdienst, und zwar als Königlicher Kommissar in Ostpreußen, vermitteln will, erklärt sich Bismarck aus Schönhausen darüber gegen seinen Bruder:
»Daß ich dort vorwärts komme, ... glaube ich; aber ich habe das unglückliche Naturell, daß mir jede Lage, in der ich sein könnte, wünschenswert erscheint, und lästig und langweilig, sobald ich darin bin; ebenso wird es mir mit dem dortigen Dienste gehen. Ich versäume aber, wenn ich dahin gehe, hier Deichhauptmann zu werden, was mir die Regierung schon zugesagt hat ... und der Deich, verbunden mit dem Landtage, zu dem ich ebenfalls die entschiedenste Aussicht habe hier gewählt zu werden, gibt mir Beschäftigung, ohne mich von der Verwaltung der Güter abzuziehen ... Meine fixe Idee ist, jetzt erst einige Schulden zu amortisieren.« Zugleich betont er seine Aussicht, hier Landrat zu werden, der jetzige würde es »schwerlich länger als 3 bis 4 Jahre bleiben, da seine Kränklichkeit schon jetzt ersichtlich im Zunehmen ist; meine Ansicht stützt sich auf ärztliche Gutachten ... Am Sonnabend ist Ball in Rathenow, ich werde wohl aus Mangel an Handschuhen, weil ich traure, nicht hingehen.«
So hat er die Chancen berechnet, bevor er handelte, die Deichhauptmannschaft sich versprechen, den Landtag zusagen, die Länge der Krankheit seines Vordermannes taxieren lassen, – und nach diesen Vorbereitungen beantragt er selber die Absetzung des Deichhauptmanns wegen pflichtwidriger Abwesenheit! Zugleich mit seinem Antrag tritt er für geringeren Beitrag seiner eignen Güter zu den Flußkosten ein, gräbt eine alte Bestimmung aus, nach der nur ein mit seinem Besitz Interessierter Deichhauptmann werden soll, kommt auf eine vor Jahrhunderten seinen Ahnen aufgezwungene Vertauschung zweier Güter zurück, um seinen eignen Anspruch zu bestärken: alles mit Recht, alles entschieden zum Nutzen der Nachbarn, denen er durch Übernahme des Amtes aus untätigen Händen hilft – und doch alles nur, um seine Güter zu schützen, seine Kosten zu verringern, seinen Namen im Kreise zu begründen: um auf diesem Wege Landrat und Abgeordneter zu werden.
Alle Energien, Fähigkeiten und Mittel, seinen Realismus und Machtwillen erweist Bismarck schon in dieser ersten politischen Tat und pflückt damit rasch und unfehlbar den Erfolg, der seinen Willen zu immer neuen Taten treibt.
Stattlich und schwer steht zwischen hohen Linden und Eichen das Stammhaus von Schönhausen. Ein Schloß ist es nicht, aber ein wuchtiges Gemäuer, und wer durchs Fenster aus ihm herausblickt, fühlt sich wohlgeborgen. »Wenn ich durch den aus meiner linken Hand aufsteigenden Zigarrenrauch zum Fenster hinaussehe – so beschreibt es Bismarck einem Freunde auf ganz impressionistische Weise – so blicke ich gerade nach Norden, rechts und links erst alte Linden, dann ein altfränkischer Garten mit geschnittenen Hecken, Göttern aus Sandstein, Buchsbaum, Franzobst, dahinter eine Wüste von Weizenfeldern (leider nicht meinen) und etwa eine Meile vor mir, auf dem jenseitigen hohen Elbufer das Städtchen Arneburg ... Aus den Fenstern des südlichen Giebels würde ich in ähnlicher Lage die Türme von Tangermünde sehen, nach Westen im Nebel den Dom von Stendal. Der Blick nach innen zeigt ein großes, dreistöckiges Haus mit uralten, dicken Wänden, Tapeten von Leder und Leinwand mit Chinoiserien und Landschaften, Rokokomöbeln von verblichener Seide und im ganzen einen Zuschnitt, der auf eine glänzendere Vermögenslage berechnet ist, als der jetzige Besitzer von seinen Vorgängern überkommen hat.«
Das erste, was der neue Herr für dies alte Haus sucht, ist eine Frau. Schon im letzten Lebensjahre des Vaters muß dies das ewige Thema auf Kniephof gewesen sein, denn von hier und von Reisen kamen seine skeptischen Berichte an den Vater: »Louise C. habe ich kennengelernt, sie hat Augenblicke, wo sie bildhübsch ist, wird aber früh den Teint verlieren und rot werden. Ich bin 24 Stunden in sie verliebt gewesen und möchte – fügt Mephisto hinzu – daß sie Meiers Frau wäre und in Selow wohnte.« In Norderney zählt er die Damen auf: eine Gräfin Reventlow, »die schöne Zähne und kupfrige Farben hat, und dereinst eine stattliche Stiftsdame abgeben wird«; Frau von Reitzenstein, »deren wohlgewachsene Tochter für die Hauptschönheit gilt und eine prächtige Frau zum Spazierengehn abgeben würde, lang und schlank, mit gutem Trittwerk, ein ... Fräulein von der Mosel, kein geringes Gewächs, weder kalt noch sauer.«
Aus jedem Adjektivum spricht der Frauenkenner, man sieht ihn die Damen wie die Pferde vor dem Kauf begutachten; seinen Kreis zieht er entschieden um den Adel, keineswegs um das Geld, das Bismarck zur Ehe nie gesucht hat. Jetzt, in Schönhausen, wird die Frage akuter: »Ich muß mich übrigens, schreibt er der Schwester, hol mich der Deiwel, verheiraten, das wird mir recht klar, da ich mich nach Vaters Abreise einsam und verlassen fühle, und milde, feuchte Witterung mich melancholisch, sehnsüchtig, verliebt stimmt. Hier hilft kein Sträuben, ich muß zuletzt doch noch H. E. heiraten, die Leute wollen es alle so ... Sie läßt mich zwar kalt, aber das tun sie alle; weiß der D ..., woran es liegt; am Ende steckt noch ein Pollack von Neigung für meine ungetreue Stellmacherin in mir; eine Schwäche, aber um derentwillen ich anfange, mich zu achten. Es ist hübsch, wenn man seine Neigungen nicht mit den Hemden wechseln kann, so selten letzteres auch geschehen mag.«
Zur Zeit dieser recht struppigen Geständnisse, ganz im Junkerstile, auch zur Zeit der hierin angedeuteten Liebschaft, hat er im Kreis der Pietisten schon Jahr und Tag verkehrt, auch Johanna von Puttkamer schon ein Jahr vor seines Vaters Tode kennengelernt; er scheint also wenig geneigt, jenen inneren Konflikten Einfluß auf seine Lebensführung zu gestatten. Aber die Blanckenburgs hatten nicht aufgehört, über das Paar nachzudenken, das auch an ihrer Hochzeitstafel nicht zufällig nebeneinander saß, und so luden sie Bismarck und zugleich Johanna zu einer Sommerfahrt durch den Harz: seine Seelenrettung durch das fromme Mädchen, ihre Heirat mit dem unfrommen Ritter mögen ihnen durcheinandergeschwebt sein. Blankenburg hat sie übrigens dem Freunde direkt empfohlen, noch ehe er sie kannte: »Sie ist äußerst gescheit, durch und durch musikalisch ... äußerst lieblich, sie ist durch und durch ein geistreicher Student, höchst originell, mit einem tiefen, frommen Herzen ..., das mit der allerholdesten Kindeseinfalt Walzer spielt, wie ich es noch nie gehört habe. Komm und sieh! Willst Du sie nicht, dann nehme ich sie zu meiner zweiten Frau.«
Klug war diese Beschreibung auf Bismarck zugeschnitten, denn sie enthält sich der schwärmerischen Wortbilder, in denen der Schreibende sonst schwelgt. Etwas exaltierter und mit geheimem Hochmut wird sie von Marie in Briefen geschildert: »Eine pikante Blume, über die noch nie ein Gifthauch gegangen ist ... Sie hat nichts Schönes im Äußeren als Augen und lange schwarze Locken, sieht sonst alt aus, spricht viel, witzig und munter mit jedem Menschen, Mann oder Weib, und macht keinen solchen Unterschied wie wir zwischen Interessant und Uninteressant, d. h. sie fühlt es nicht minder ... Doch ist sie tief ein Mädchen, ... reines, lichtes, klares Wasserblau.«
Was Johanna von den frommen Freundinnen unterscheidet, ist eine gewisse pikante Herbheit, die die Brücke zur Ironie bildet; auf dieser Brücke nähert sich ihr der große Skeptiker. Wäre sie nicht originell und musikalisch, spielte nicht Walzer und spräche nicht ohne Gêne, mit jedem gleich, ihre Reinheit allein könnte ihn nicht bezwingen. Was in ihm für Johanna schließlich entscheidet, das ist weder ihr Glaube noch ihr Geist, es ist das lautere, noch ganz ungeformte Gold eines Menschenherzens, das alle Kräfte zur Hingabe besitzt, die ihm fehlen, das leidenschaftlich Partei ergreift, wo es einmal gewählt hat, zwar keine Tochter, obschon neun Jahre jünger an Jahren und hundert an Erfahrung, eine Gefährtin, aber eine, die ihm die ganze Führung überlassen, Ansichten übernehmen, Sorgen und Klagen, Spott und Verachtung mit immer bereitem Herzen teilen wird, weniger stolz, doch fast so trotzig wie er, zu Hause weicher, unnachgiebig im Kampfe, melodisch, aber spröde, voll Leidenschaft gegen den Feind, wie er immer, und doch harmonisch, wie er nie gewesen.
Während sie sich auf dieser Harzreise rasch zu nähern und »einer über die Bekanntschaft am andern sich ungeheuer zu wundern« schien, hat Bismarck mit der reiferen Freundin, die klüger, sinnlicher und eben eine Frau war, sehr stille Unterhaltungen allein, aus denen es in ihrem Tagebuch aufblitzt: »Einsam ein ganzes Leben, Suchen nach Frieden, alles versucht, erfolglos.« Das ist die volle Resignation eines Mannes, der weiß, daß seine Wahl zum Glücke führen kann und doch Entsagung bedeuten muß. Mit solchen Gefühlen geht Bismarck auf seine Ehe los.
Im übrigen gibt es Mondschein und Heiterkeit, Wolfsschlucht mit Eule, er lädt immer zum Sekt ein, bezahlt, organisiert alles. Nach der Heimkehr geht er auf Blankenburgs neue Bekehrungsbriefe wieder ein, beginnt in der Bibel zu lesen, spricht mit Vorbehalten von Gott und schreibt in einem Briefe über Johanna: er traue sich noch nicht recht. Diesen Brief, der mit allen andern vernichtet ist, hatte der Kavalier lateinisch geschrieben, um die Dame für den Fall einer Indiskretion zu schützen.
Plötzlich bricht in Pommern die Grippe ein, tötet Mariens Bruder, gefährdet ihre Mutter, sie sitzt dabei, schreibt nachts an Bismarck seltsam intime Worte, er möge rasch kommen, die Mutter stirbt, er kommt, lange Gespräche, Abendandachten, er kniet nicht mit den andern, ist aber in weicher Stimmung. Dann erkrankt Marie selber, verfällt in Ohnmächten, läßt ihm bestellen, jetzt möge er sich bekehren, es sei die höchste Zeit. Die zweite Frau, die sterbend für ihn betet: muß das sein schon ergriffenes Gemüt nicht treffen? An dieser Stimmung bricht sich sein Trotz: er betet zum erstenmal nach anderthalb Jahrzehnten, »ohne Grübeln über die Vernünftigkeit des Gebetes«, für die Rettung der Freundin.
Staunend hört er zugleich von der Heiterkeit der Sterbenden und ihres Gatten, die es als eine Vorausreise empfinden und des Wiedersehens sicher sind. Sie stirbt: ein Schlag für den Freund, der sie geliebt hatte. Sein Schmerz ist rein egoistisch: »Mein erster Schmerz war der leidenschaftliche, selbstsüchtige, über den Verlust, den ich erlitten ... Es ist eigentlich das erstemal, daß ich jemand durch den Tod verliere ... dessen Scheiden eine große und unerwartete Lücke in meinen Lebenskreis reißt. Der Verlust der Eltern steht in einer andern Kategorie ... Der Verkehr zwischen Kind und Eltern pflegt nicht so innig zu sein ... Mir war dieses Gefühl der Leere, dieser Gedanke, eine mir teuer und notwendig gewordene Person, deren ich sehr wenig habe, nie wiederzusehen und zu hören, dies war mir so neu, daß ich mich noch nicht damit vertraut machen kann, und mir das ganze Ereignis noch nicht den Eindruck der Wirklichkeit macht.« Als er dann den verwaisten Freund wiedersieht, spricht er die erschütterten Worte: »Das ist das erste Herz, das ich verliere, von dem ich wirklich weiß, daß es warm für mich schlug ... Jetzt glaube ich an eine Ewigkeit – oder es hat auch Gott nicht die Welt geschaffen!«
Auf die natürlichste Art ist er in Herzensangst zum Gebete gekommen, wie jeder andere auch, er sei nun gläubig oder nicht, und zwar hat er »auf der Eisenbahn« gebetet, wie Blanckenburg nachher selig und etwas komisch berichtet. Auf die natürlichste Art hat er sich mitten in diesen Szenen der Ergriffenheit und Trauer, bezwungen von dem Gebete der Sterbenden, von der Freundschaft der Überlebenden, an Gott gewandt. Aber auch jetzt noch hat er eine echt Bismarckische Einschränkung gemacht: der Skeptiker hat sich den Rückweg offen gelassen, die kalte Klarheit, mit der er seinen Rücktritt vom Gebete als Sechzehnjähriger begründete, schweigt auch in diesen träumerischen Stimmungen des Mannes nicht ganz, und er stellt in entscheidender Stunde sich und dem Freund anheim, zu glauben, ob Gott die Welt geschaffen hat, was ihm trotz Spinoza sehr zweifelhaft erschien.
Am Abend vor der Abreise schreibt Bismarck noch im Hause seinem Freunde einen Brief, in dem er an die Ereignisse erinnert und ihren tiefen Eindruck dargelegt haben soll; worauf der Freund unter neuen überströmenden Umarmungen und Tränen ausruft: »Du machst mich heute namenlos glücklich!« Diese Erklärungen, die bei Bismarcks von Natur weichem Gemüt in den Stimmungen dieses Hauses, nach den Erfahrungen der letzten Wochen, natürlich und echt sind, lassen in ihren Hintergründen den Wunsch aufschimmern, sich jenes Mädchen zu erringen, deren überfrommer Vater nicht bloß Pietist, sogar Quietist war. Die Überredung zu Gott ist deshalb kein Betrug, höchstens ein Selbstbetrug gewesen, Bismarck hatte ja weder Zwecke mit dieser Heirat noch trieb ihn Leidenschaft, das Mädchen zu besitzen. Ihr Wesen war mit ihrem Kreis verwandt, der Kreis war ihm zur zweiten Heimat, ihr Glaube zwar fremd, aber doch bedingungsweise akzeptabel geworden, und während in seinem Innern das Gebet einer geliebten Frau nachklang, die er nie besessen, wandte sich sein Gefühl dem Gebet einer zweiten zu, die er als Gefährtin für gut befunden hatte und darum heiraten wollte.
Wenige Wochen darauf trifft er sie wieder im Hause Blanckenburgs, erklärt sich und gewinnt sie sofort. Auf der Heimreise, in einem Stettiner Gasthofe, schreibt er dem Vater seinen Werbebrief.
Mit der hohen Kunst des gebornen Diplomaten ist dieser Brief ins fromme Gemüt des Empfängers hineingeschrieben. Nie in seinem Leben hat Bismarck Gottes Namen so oft angerufen, wie in diesem und in seinem zweiten Briefe an Herrn von Puttkamer; die Stilisierung geht so weit, daß er anstatt des männlichen »damit« wiederholt das pastorale, ihm sonst zeitlebens zuwidere »auf daß« anwendet. Er weiß, er muß seine Fehler und seinen früheren Unglauben offen aufdecken, damit man ihm jetzt seinen Glauben glaubt, und obwohl alles echt sein mag, was er vorträgt, ist doch zugleich alles so klug gesetzt, daß es zum Erfolge führt: ganz wie die Anklage gegen den letzten Deichhauptmann. Solange er von Gott spricht, ist sein Ton demütig: »Gott hat mein damaliges Gebet nicht erhört, aber er hat es auch nicht verworfen, denn ich habe die Fähigkeit, ihn zu bitten, nicht wieder verloren und fühle, wenn nicht Frieden, doch Vertrauen und Lebensmut in mir, wie ich sie sonst nicht mehr kannte ... durch unumwundene Offenheit und Treue, in dem, was ich Ihnen und sonst noch niemandem vorgetragen habe, mit der Überzeugung, daß Gott es den Aufrichtigen gelingen lasse.«
Sobald er auf sich selber kommt, reckt er sich wieder auf: »Ich enthalte mich jeder Beteuerung über meine Gefühle und Vorsätze in bezug auf Ihre Fräulein Tochter, denn der Schritt, den ich tue, spricht lauter und beredter davon, als Worte vermögen. Auch mit Versprechungen ... kann Ihnen nicht gedient sein, da Sie die Unzuverlässigkeit des menschlichen Herzens besser kennen als ich, und meine einzige Bürgschaft für das Wohl Ihrer Fräulein Tochter liegt nur in meinem Gebete um den Segen des Herrn.«
Der fromme Vater ist vor den Kopf geschlagen, daß er das Mädchen, und vollends, daß er es einem Manne hergeben solle, »von dem er viel Übles und wenig Gutes gehört hat«. Auf seine hinhaltende Antwort geht Bismarck zur Attacke über, erscheint plötzlich im Hause Reinfeld, findet »Neigung zu weit aussehenden Verhandlungen vor, ... und wer weiß, welchen Weg diese genommen hätten, wenn ich nicht durch eine entschlossene Akkolade meiner Braut, gleich bei dem ersten Anblick ihrer, die Sache zum sprachlosen Staunen der Eltern in ein anderes Stadium gerückt hätte, in welchem binnen fünf Minuten alles in Richtigkeit geriet«. Hier ist er ganz: mit persönlichem Mut und schnell das durchzuführen, was er lange zuvor überlegt und vorbereitet hatte, das ist immer die überraschende Technik dieses Staatsmannes geblieben.
Jetzt setzt er seine ganze Liebenswürdigkeit ein, im Fluge erobert er das Haus, trinkt Sekt und Hochheimer mit dem alten Herrn, tanzt zu dessen Walzerspiel mit seiner Braut, und selbst die schwierige, hochkultivierte Mutter hat rasch »den bärtigen Ketzer in ihr vortreffliches Herz geschlossen«, denn damals trägt er schon seinen blonden Vollbart. Freilich führt er lange Gespräche über den Glauben mit der Braut, aber ihre Natürlichkeit nimmt alle Schwüle, die ihn im Hause Blanckenburg so sehr bedrückte, und er läßt es sich gern gefallen, wenn sie ihm mit Lachen sagt: »Ich hätte dich korbbeladen abziehen lassen, wenn nicht Gott sich deiner erbarmt und dich wenigstens durch das Schlüsselloch seiner Gnadentür hätte sehen lassen!« Sie hat mit diesem Schlüsselloche mehr recht als ihr lieb wäre, wenn sie es ganz erkennen wollte; denn sie weiß nicht, was ihr Verlobter seinem Bruder schreibt:
»In Glaubensfragen gehen wir, mehr zu ihrem als zu meinem Leidwesen, etwas auseinander, wenn auch nicht so sehr, als du meinesteils glauben magst, denn mancherlei innere und äußere Ereignisse haben in der letzten Zeit Veränderungen in mir hervorgebracht, durch die ich mich, was früher, wie Du weißt, nicht der Fall war, berechtigt halte, mich den Bekennern der christlichen Religion beizuzählen. Wenn ich auch in vielen Lehren, vielleicht in denen, die jene für die Hauptsache halten, soweit ich mir selbst klar bin, lange nicht auf gleichem Gesichtspunkt mit ihnen stehe, so ist doch stillschweigend eine Art Passauer Vertrag zwischen uns zustande gekommen. Übrigens liebe ich den Pietismus an Frauen und verabscheue weibliche Lichtfreunde.« Kann er noch deutlicher sein? Der Geschmack eines Frauenkenners, seine Erfahrungen mit dem weiblichen Herzen, zugleich der alte Groll auf die Mutter, gegen die er seine letzten Worte richtet: alles vereinigt sich, um die fernen Ufer gar luftig zu überbrücken, und die ganze Geschichte von der »Erweckung« Bismarcks wird von ihm selber als Passauer Vertrag, d. h. als gegenseitige Duldsamkeit der religiösen Kämpfer bezeichnet, während der Kavalier den Pietismus an Frauen goutiert und so die seinige um so lieber gewähren läßt.
Denn ganz als Weltmann faßt er seine Verlobung auf; was er Bruder und Schwester schreibt, spricht wenig von Gott, aber viel von einem in den Hafen laufenden, abenteuerlichen, aus Hochmut gutmütigen, vielgereisten Ritter: »Im übrigen glaube ich, ein großes und nicht mehr gehofftes Glück gemacht zu haben, indem ich, kaltblütig gesprochen, eine Frau von seltenem Geist und seltenem Adel der Gesinnung heirate, dabei liebenswürdig sehr und facile à vivre, wie ich nie ein Frauenzimmer gekannt habe ... Kurz und gut, ich bin mit der ganzen Sache sehr zufrieden und Du hoffentlich auch.« Was Geld betrifft, so sei der Zuwachs gering, er müßte für alles selber sorgen. »Alles Nähere, das maßlose Erstaunen der Kassuben, von denen die, welche nicht gleich rundum überschlugen, noch immer haufenweis auf dem Rücken liegen, den Verdruß der alten Damen ... will ich Dir mündlich erzählen. Einstweilen bitte ich nur Dich und Oskar, euch in wohlwollende Verfassung für meine zukünftige Frau zu setzen. Reinfeld liegt hier dicht bei Polen, man hört die Wölfe und Kassuben allnächtlich heulen, und in diesem und den sechs nächsten Kreisen wohnen 800 Menschen auf der Quadratmeile; polish spoken here. Ein sehr freundlich Ländchen.« (Er selber wohnt nur ein paar Stunden entfernt.)
Im übrigen amüsiert ihn das Staunen der vielen Kusinen: die sind alle beleidigt, daß sie nichts wußten, und einigen sich, da er ein paarmal bei Hofe und viel auf Reisen war, dahin: »Ja, haben möchten wir ihn nicht, aber er ist ja sehr vornehm.« Seine eignen Freunde erschrecken, er könnte am Ende gar »fromm« werden, was er ruhig erträgt. Ja, er erklärt schon in diesen ersten Wochen, wo er mit Willen zum Glauben, aber unter Druck seiner Skepsis eifrig die Bibel studiert, gegen Blanckenburg, den bekehrten Bekehrer: er wüßte nicht, ob Christus Gottes Sohn sei oder nur ein göttlicher Mensch, er hege Bedenken gegen die Lehre vom Sündenfall, viele Widersprüche in der Bibel schrecken ihn ab, er sei daher noch zu keinem Ergebnis gekommen; und er macht in den Briefen eine, offenbar bewundernde, Glosse über den Teufel in solcher Laune, daß dies sogar Johanna entsetzt.
Die Brautzeit dient ihm zur Erziehung der Erwählten. Nie hat in deutscher Sprache ein Weltmann oder Dichter liebreicher und geistvoller einer Frau geschrieben; nie hat es Bismarck wiederholt. Der Charme dieser Briefe zeigt ihn auf der Höhe seines Humors und Wissens, seiner Einfälle und Bilder, seiner Finessen und Zärtlichkeiten. Aber mit unbeirrbarer Hand führt er sie leise auf seinen Weg, und während er ihrer Frömmigkeit immer neue Nahrung zuträgt, während er sie glauben läßt, den wilden Mann gezähmt zu haben, zähmt er sich langsam das Fräulein vom Lande, das im Grunde viel wilder und eben viel jünger ist. Diese Umkehrung ist so wunderlich, daß sie dem Tollen Junker einmal schreiben kann: »Du liebst das Formelle so sehr, und ich springe so gern über alle Schranken, wenn's sein kann.«
Zuerst ist sie noch ein wenig scheu, ihn zu langweilen, und schreibt: »Sieh mich nicht so sarkastisch an ... Ich bedarf nur eines ganz kleinen Stoßes, um reichliche Tränen zu vergießen, und so magst Du mich doch gar nicht, ach vergib mir, Du Einziger ... Habe nur Geduld mit mir und warte auf den Frühling und Deine Pflege.« Dann wieder fällt ihr ein, was für ein schrecklicher Mann er doch gewesen sein soll: »Ich verlange und erwarte ... alle die Treue in deinem Herzen. Wenn ich mich nun täusche? Wie dann? Mißtrauen ist doch das Schrecklichste ... Deine Handschrift ist (verglichen mit alten Briefen, die er ihr sendet) eigensinniger geworden, ist's mit dem Herzen ebenso, Otto?–?« Aber da gibt sie sich die weibliche Antwort: »Es schadet auch nichts, ich werde um so fügsamer sein, Geliebter, und zu biegen versuchen, was ich nicht brechen kann; und sollte auch das nicht gehen, so werde ich still sein und tun, was Du willst.« Bis zu so vollkommener Übergabe hat er sie in vier Monaten mit zarter Kraft gebracht, und wenn sie Jean Paul für ihn forderte oder den Samtrock, den er so horribel findet wie Jean Paul, dann hat sie sich bei seinem Nein beschieden.
Dafür dankt er ihr die Hingabe einer menschlichen Seele mit der strömenden Wärme des Einsamen und obwohl er sich doch schon vor der Verlobung alle Bedingungen des gesammelten Lebens, der Tatkraft und Wirkung geschaffen und seinen neuen Lebensmut Jahr und Tag vor der Braut gefunden, streut er allen Dank für diese Wendung auf ihren Scheitel aus und hebt ihr Selbstgefühl mit seinen Siegen:
»Beim Einfahren in das Dorf, heißt es bei seiner ersten Heimkehr, fühlte ich, wohl noch nie so deutlich, wie schön es ist, eine Heimat zu haben ... Du kannst glücklicherweise nicht beurteilen, mein Herz, mit welcher trostlosen Stumpfheit ich früher nach einer Reise mein Haus betrat ... Nie wurde mir die Öde meines Daseins deutlicher als in solchen Augenblicken, bis ich dann ein Buch ergriff, von denen mir keines trüb genug war, oder mechanisch an irgendein Tagewerk ging ... Und nun? Wie betrachte ich alles mit andern Augen; nicht bloß, was Dich und weil es Dich mitbetrifft oder mitbetreffen wird (obschon ich mich seit zwei Tagen damit quäle, wo Dein Schreibtisch stehen wird) sondern meine ganze Lebensanschauung ist eine neue, und selbst Deich- und Polizeigeschäfte betreibe ich mit Heiterkeit und Teilnahme.« Doch ehe er sich's versieht, schreibt er zwei von diesen trüben Gedichten Byrons ab, die ihm nicht trüb genug sein konnten, lange Melancholien, legt sie bei, schreibt darunter: All nonsense! und löscht es damit doch nicht aus.
Schon im zweiten Briefe fängt er leise an, sie zu erziehen: sie möge doch Französisch treiben, es würde ihr in der Gesellschaft fehlen; in der charmantesten Form des Kavaliers macht er das, aber er macht es doch. Bald darauf: sie soll reiten lernen. Nach ein paar Wochen heißt es: »Die todeselenden englischen Gedichte fechten mich jetzt nicht mehr an ... Jetzt spielt eine schwarze Katze im Sonnenschein damit, wie mit einem rollenden Knäuel, und ich sehe sein Rollen gern« – aber er legt ihr doch wieder neue Abschriften nach Byron bei, und im nächsten Brief sogar französische Gedichte des Weltschmerzes, und fügt mit wunderlichem Selbstbetrug hinzu: »Du kannst mir immer gestatten, sie zu lesen, sie schaden mir nicht mehr.«
Einmal, nach dem Zitat eines solchen Gedichtes, läßt er die ganze Dämonie der alten Zeiten los: »Mir ist der Gedanke ungemein nahe, in solcher Nacht a sharer in the delight, a portion of tempest of night sein zu wollen, auf einem durchgehenden Pferde die Klippen hinab in das Brausen des Rheinfalls zu stürzen«; kaum aber hat das Mädchen diese Worte ihres ehedem wilden Verlobten mit Schrecken begriffen, so sieht sie ihn plötzlich – wie ein Meisterreiter das durchgehende Pferd vor der Klippe – die ganze Stimmung zurück- und herumreißen, indem er durch den Rauch seiner Zigarre in die ironischen Worte einlenkt: »Ein Vergnügen der Art kann man leider nur einmal in diesem Leben sich machen.«
So voll von Widersprüchen war Bismarcks dunkles Herz.
Doch wenn er von seinem Tun spricht, erheitert sich's; das ist nicht das Verwalten des Gutes, das ist der Deich und die Obrigkeit. Tagelang schreibt er in der Stimmung einer Hebamme, die immer wartet, wann es losgehen wird, von der Bewegung der Elbe, den Vorkehrungen, das brechende Eis zu meistern, und wenn er halbe Nächte draußen im Wasser steht, das Nötige zu befehlen, da wird ihm wohl., immer in der gewaltsamen Natur wird Bismarck wohl: »Lebe wohl, die Eisschollen spielen mir den Pappenheimer Marsch zum Rufe, und der Chor der berittenen Bauern singt Frisch auf Kameraden. Warum tun es die Klötze nicht wirklich? wie schön wäre das und wie poetisch! Es weht mich wie frisches Leben an, daß dies langweilige Warten vorbei ist und die Sache vorgeht ... Je t'embrasse. Dein Knecht Bismarck.« Welches Tempo, welche Lebensfreude! Aber da kommt die Nachschrift: »Schicke mir doch das Kuvert von dem Brief, der 5 Tage gegangen ist, ich will mich in Berlin darüber beschweren.« Dann erzählt er nach der entscheidenden Nacht, wie die Eisfelder mit Krachen sich in Bewegung setzen, »sich aneinander zersplittern, bäumen, unter- und übereinander schieben, sich haushoch auftürmen und mitunter Wälle quer durch die Elbe bilden, vor denen der Strom sich aufstaut, bis er sie mit Toben durchbricht. Jetzt sind sie alle im Kampf zerbrochen, die Riesen, und das Wasser ganz dicht bedeckt mit Schollen ..., die es eilig, mit mürrischem Klirren, wie gebrochene Ketten der freien See zuträgt.«
In solchen großen Natur-Katastrophen, die in Wahrheit Spiegelbilder seiner Seele sind, hört man den Revolutionär in Bismarck nach Kämpfen rufen, und begreift, warum nur seine Abkunft ihn zum Legitimisten machte.
So lebensvoll wie in diesen Kampfesstunden, wo ihn das Element bedroht, wo er das Element bezwingt, wird er drinnen im Zimmer nur bewegt, wenn ihm gelingt, mit Staatsklugheit einen Streit durch Vertrag zu schlichten. Mit Wärme berichtet er:
»Heut vormittag hatte ich eine sonderliche Freude, indem ich zwischen 41 übermütigen Bauern, von denen jeder einzelne erbitterten Haß gegen die andern 40 hegt und gern dreißig Taler ausgab, wenn er den andern um zehn dadurch bringen konnte, einen Vergleich zustande gebracht habe. Mein Vorgänger hatte diese Sache über 4 Jahr lang hingeschleppt und wahrscheinlich als melkende Kuh benutzt ... Nach vierstündiger Arbeit hatte ich sie zusammen, und der Augenblick, wo ich mit den Unterschriften in der Tasche wieder in den Wagen stieg, war einer der wenigen freudigen, die ich bisher meiner amtlichen Stellung zu verdanken habe ... Der Vorfall hat mir in bezug auf mich wieder gezeigt, daß wahre Freude an einem öffentlichen Amte nur da zu erwarten ist, wo man in einem Kreise wirkt, den man übersieht, und mit den regierten Leuten selbst in Berührung kommt und bleibt. Als Präsident oder Minister kommt man nicht mit Menschen, sondern nur mit Papier und Tinte in Berührung ...
»Wenn ich bedenke, wie wenig Glück zu verbreiten und Elend zu mildern dem höchsten und mächtigsten Lenker eines Volkes durch seine amtliche Wirksamkeit möglich ist, wenn ich glaube, daß wohl niemals ein Minister oder König seine Augen mit dem Bewußtsein schließt (es sei denn, daß er ein Tor ist, der sich selbst betrügt), dafür gelebt und das erreicht zu haben, daß auf die Dauer Ein Kummer weniger oder Eine Freude mehr zwischen den seiner Lenkung anvertraut gewesenen Menschen sei, so muß ich immer an Lenaus trostloses Lied Der Indifferentist denken ... Nur der eignen Seele kann das irdische Leben unverloren und folgenreich sein ... Ob man andern zu irdischem Wohlsein verhilft, ist im Vergleich dieses Daseins mit der Ewigkeit am Ende gleichgültig; nach 30 Jahren ist das Staub und Moder, die Jahrtausende rollen fort, und für alle, die jetzt tot sind, kommt nichts darauf an, ob ihr hiesiges Leben Leid oder Freud war.«
Da sieht man ihn im Wagen sitzen, mit seinem Protokoll im Pelz, heut, mit 32 Jahren, ist er vielleicht zum erstenmal mit sich und der Welt zufrieden: die 41 Bauern überdenkend, was sie antrieb und in Haß verwirrte, wie er kam und ihre Seelen überschaute, wie er für sie dachte, um sie am Ende doch zu einigen, und vor seinen Augen treten an die Stelle dieser Bauern Staaten und Völker, und er erwägt, was wohl ein Staatsmann fühlen mag, Minister oder König, der das im Großen macht, was ihm heut früh im Kleinen gelungen. Und wieder sieht er die verhaßte Kulisse der Bürokratie, die jedem in Preußen den Ausblick verstellt, und er verscheucht den teuflischen Wunsch nach Macht, zwingt sich zurück in seine engen Horizonte, pfeift auf die Menschenfreude und fährt gelassen durch das Tor seiner Väter.
Drinnen im Haus hat er viel Zeit. Da läßt er vor seiner Johanna auf langen Bogen seine Anschauungen, Gefühle, Zweifel abrollen und sucht aus seinem Leben aus, was für sie passen könnte: den Briefwechsel mit ihrer Namensbase und Vorgängerin in der Liebe, der sie zittern macht, ob denn ein Mann zweimal so stark lieben könne; seinen großen Brief an die Kusine, als er den Staatsdienst aufgab, und fügt nach einem Jahrzehnt hinzu: »In der Hauptsache unterzeichne ich meine damaligen Ansichten in bezug auf die Leere unsres Staatsdienertums noch jetzt ... Mitunter empfinde ich noch, wenn einer meiner Studiengenossen eine rasche Laufbahn macht, etwas gekränkt in der Idee, das hätte ich auch haben können, aber es macht sich dann stets die Überzeugung geltend, daß der Mensch sein Glück vergebens sucht, solange er es außer sich sucht.« Und indem er dies mit voller Wahrheit schreibt, betreibt er eifrig seine Wahl in den Landtag und kombiniert, wann man wohl Landrat werden könnte.
Ganz souverän behandelt er mit sanfter Vaterhand ihre Zweifel und Sentiments: »Möchtest du dich denn wirklich totweinen, mein Engel? ... Mir aber sag, warum? (Ich bin ein Altmärker, der Gründe wissen will, seit meinem zweiten bis zum siebenten Jahre in Pommern erzogen, darum verstehe ich mitunter keinen Spaß) warum willst du weinen?« Wenn sie nach seinem Besuche sehnsüchtig schreibt, erwidert er: »Lerne Dich dankbar freuen auch über die Freude, die Du gehabt hast, und schreie nicht wie kleine Children ›mehr!‹, wenn sie grade aufhört!« So lehrt der ewig Unzufriedene das aufgeregte Mädchen eine Selbstbescheidung, die er selber nie gekannt hat. Wundert sie sich über ihre Verehrer, so beleidigt das seinen Stolz, sie soll vielmehr verachtend auf jeden sehen, der ihren Wert nicht würdigt und ihm sagen: »Monsieur! Le fait est crue Mr. de B. m'aime, ce qui prouve, que tout individu mâle, qui ne m'adore pas, est un butor sans jugement ... Sei nicht so beleidigend bescheiden, als wenn ich, nachdem ich zehn Jahre unter den Rosengärten des nördlichen Deutschlands umhergewandelt, zuletzt mit beiden Händen nach einer Butterblume gegriffen hätte.« So treibt das eingeborene Selbstgefühl den Junker ohne Rang und Verdienst dazu, das Mädchen seiner Wahl schon durch die Wahl allein vor aller Welt erhoben zu empfinden.
Dafür liest er aber jetzt auch viel in der Bibel und zitiert sie. Dabei ist sein Gefühl von der Ehe ganz lutherisch, immer heißt es, wir müssen ein Herz und ein Fleisch sein, zusammen leiden und uns aussprechen, »verbirg sie mir nicht, du wirst an meinen großen Dornen auch nicht immer Freude erleben ... und wir müssen gemeinschaftlich daran reißen, wenn auch die Hände bluten.«
Greifbar schildert er ihr die alten Familien von Bedienten und Handwerkern auf seinem Hof, und wie ihre Ahnen den seinen gedient haben. »Ich entschließe mich sehr schwer, Leute zu entlassen, die ich einmal habe ... Ich kann nicht leugnen, daß ich einigermaßen stolz bin auf dieses langjährige Walten des konservativen Prinzips hier im Hause, in welchem meine Väter seit Jahrhunderten in denselben Zimmern gewohnt haben, geboren und gestorben sind, wie die Bilder im Hause und in der Kirche sie zeigen, vom eisenklirrenden Ritter, auf den langgelockten, zwickelbärtigen Kavalier des Dreißigjährigen Krieges, dann die Träger der riesenhaften Allongeperücken, die mit den talons rouges auf diesen Dielen einherstolzierten, und den bezopften Reiter, der in Friedrichs des Großen Schlachten blieb, bis zu dem verweichlichten Sprossen, der jetzt einem schwarzhaarigen Mädchen zu Füßen liegt.«
Aber ein andermal fällt dem Junker die Kehrseite auf, der neue Christ beschließt, sich mehr als früher um die Armen auf seinem Gute zu bekümmern: »Wenn ich bedenke, wie ein Taler einer solchen hungernden Familie über Wochen hinweghilft, so ist es mir fast wie ein Diebstahl an den Armen, die hungern und frieren, wenn ich 30 ausgebe, um die Reise (zu Dir) zu machen. Ich könnte freilich die Summe geben und doch reisen, aber die Sache bleibt dieselbe; das Doppelte und Zehnfache jener Summe würde immer nur einen Teil des Jammers stillen ... Ich werde mich dann als Sophist damit beruhigen, daß es keine Verschwendung ist, die ich für mein Vergnügen mache, sondern eine Pflicht, die ich gegen meine Braut erfülle ... Und den Betrag der Reisekosten sollen die Armen jedenfalls doch haben. Es ist dies ein sehr kitzliches Thema, inwieweit ich mich berechtigt halten kann, das, was Gott meiner Verwaltung anvertraut hat, zu meinem Vergnügen zu verwenden, solange es Leute gibt, die vor Mangel und Frost krank sind, in meiner nächsten Nähe, deren Betten und Kleider in Versatz sind, so daß sie nicht ausgehen können, um zu arbeiten: Verkaufe, was du hast, gib es den Armen und folge mir! Wie weit kann, wie weit soll das aber führen? Der Armen sind mehr, als alle Schätze des Königs speisen können. Nous verrons, wie es kommen soll.«
An dieser Stelle, wo sein junger Glaube praktisch werden soll, berührt Bismarck zum ersten und mit so christlichen Gefühlen zum letzten Male das Problem, an dessen Verkennung im Großen er einst scheitern soll. Zwar sein Sophismus ist ein Scherz, er redet sich nichts ein; doch, was er jetzt für Diebstahl an den Hungernden erklärt, daß er, sei es auch nur für Minuten, vor Genüssen zurückschreckt, die seinem Stande ziemen, und die er eben nur jenen Ahnen draußen im Saale verdankt, deren Väter Raubritter waren: das alles ist neu an Bismarck, bleibt seinem Temperamente fremd, und weil es ihm fremd ist, geht es vorüber. Als Herr für seine Leute sorgen, das möchte er wohl; nie aber wird der Junker begreifen oder dulden, daß diese Leute selber für sich sorgen und ihr Recht auf besseres Leben verbrieft haben wollen. Weil er in Wahrheit nie der echte Christ geworden, für den man ihn infolge jener »Erweckung« ausgeben wollte, hat Bismarck später die sozialen Rufe seiner Epoche nicht vernommen.
Wie er mit seiner Braut mehr als mit sich um Bibel und Glauben kämpft, heut rührend, morgen komisch: immer ergreift es uns wieder, denn hier ist er immer wahr. Eben hat er noch Bibelkritik getrieben, da heißt es plötzlich: »Who the d– is Pauline? Noch eine unbekannte Kusine? A propos, von dem d–, ich kann in der Bibel keine Stelle finden, wo es verboten wäre, den Namen des Teufels zu mißbrauchen. Weißt du eine, so sage sie mir.« Da sieht man wahrhaftig Ritter, Tod und Teufel vor sich reiten. Seine Väter, schreibt er, wären keine rechten Christen gewesen, »auch meiner Mutter Glaube nicht. Weißt du, was ein friesischer Häuptling vor seiner Taufe sagte?« Wo seine ungläubigen Vorfahren jetzt seien, fragte er, und als er hört, in der Verdammnis, lehnt er die Taufe ab, »denn wo seine Väter seien, da wolle er auch sein«. Aber nach diesem eklatanten Rückfall fährt er galant fort: »Ich führe das nur noch historisch an, ohne es auf mich anzuwenden. Es knüpfen sich viele trostlose Gedanken, ich will nicht sagen Zweifel, daran«, und dicht auf eine solche Stelle folgt wieder eine Berechnung, daß seine Briefe einen Tag früher hätten ankommen müssen.
Stärker bewegt ihn der Aberglaube, der ist ihm eingeboren. In allen Epochen seines Lebens, noch im Alter, hat Bismarck berechnet, wann er sterben müsse, und dann immer für die von ihm zitierte Zahl als Staatsmann Gott seine Alternative gestellt: wenn er bis nach x Jahren nicht sterbe, so müßte er es nach y Jahren tun. Oder er schreibt der Braut: »Du glaubst nicht, was ich abergläubisch bin, grade als ich von draußen gekommen, nach Anweisung des mütterlichen Briefes die Wurstkiste geöffnet und Deinen Brief erbrochen hatte, blieb die große Uhr ganz plötzlich ohne allen Grund 3 Minuten nach sechs stehen, eine alte englische Pendeluhr, die mein Großvater von Jugend auf gehabt, die seit 70 Jahren auf demselben Fleck steht ... Schreibe mir doch gleich, ob Du gesund und munter bist.«
Am tiefsten rauschen die Quellen, wenn er in langen Monologen, tagebuchartig, ohne Gedanken an den Empfänger seine Melancholien betrachtet; hier findet er die großen Bilder seiner männlichen Sprache: »Tief in der menschlichen Natur ... liegt es wohl, daß das Hervorheben der Zerrissenheit, der Nichtigkeit, des Schmerzes, die unser hiesiges Leben beherrschen, mehr Anklang findet als eine Berührung der minder mächtigen Elemente, welche die leicht welkende Blume ungetrübter Heiterkeit ... in uns vorübergehend hervortreiben ... Das irdisch Imponierende und Ergreifende, was mit menschlichen Mitteln für gewöhnlich dargestellt werden kann, steht immer in Verwandtschaft mit dem gefallenen Engel, der schön ist, aber ohne Frieden, groß in seinen Plänen und Anstrengungen, aber ohne Gelingen, stolz und traurig.«
Hier sind die großen Spiegelbilder seines Ich, an solchen Abenden, wenn er allein in dem hochgewölbten Räume über dem Briefbogen sitzt, steigt aus seiner Seele ein solches Wort, groß gefügt wie eines Dichters Bekenntnis. Ist es dann aber wieder Morgen, und es ruft der Tag, die Welt und der Kampf, so rafft sich der Ritter auf, nennt ein Byronsches Gedicht solch nächtlicher Stimmung über »grief« »ein feiges Gedicht, dem ich den Vers des Reiterliedes gegenüberstelle: ›Und setzet ihr nicht das Leben ein, so kann euch das Leben gewonnen nicht sein‹, was ich mir so erläutere in meiner Art: In ergebenem Gottvertrauen setze die Sporen ein und laß das wilde Roß des Lebens mit dir fliegen über Stock und Block, gefaßt darauf den Hals zu brechen, aber furchtlos, da du doch einmal scheiden mußt von allem, was dir auf Erden teuer ist, und doch nicht auf ewig ... Vorher aber will ich mit Mr. Grief nichts zu tun haben.«
Ein edles Pferd im Stalle, das draußen rennen hört und mitspringen möchte: so fühlte sich Bismarck bei der Nachricht, der König von Preußen wolle die acht Landtage seiner Provinzen zu einem Vereinigten Landtag nach Berlin berufen, um endlich die Verfassung zu beraten, die sein Vater nach den Befreiungskriegen dem Volke feierlich versprochen hatte. Es war das erste echte Parlament der deutschen Geschichte, Jugendgedanken des stolzen Junkers schienen sich zu erfüllen, Preußen versprach, jener »Staat mit freier Verfassung« zu werden, dessen Mangel den 23 Jährigen zum Rücktritt von öffentlicher Tätigkeit bewogen hatte. Und nun, in diesem großen Augenblicke war er nicht dabei! Um in Berlin mitzutagen, mußte man in Magdeburg Sitz und Stimme haben, und eben diese Aussicht war es ja, die ihn vorzüglich von Pommern fortgelockt und hier zu energischer Mitarbeit im Konvent der Ritterschaft aufgerufen hatte. Für den Landtag aber hatten die Standesgenossen diesen jüngsten sächsischen Junker nur als Stellvertreter bestimmt, wenn dort einmal ein Sitz frei würde.
Nun sitzt er in Schönhausen, muß täglich lesen, wie unter gewaltigem Aufsehen die Vertreter der Preußen sich zu einer Art Familientag zum ersten Male vereinen, fühlt Berufung und Opposition in Hirn und Herzen, aber da sind die Vordermänner, leider alle gesund und munter, stehen da und verstellen ihm die Sonne. Hier einen zurückzudrängen, war die erste Aufgabe: Bismarck behauptet, ein Baron, soeben Oberpräsident geworden, könne deshalb nicht weiter den Abgeordneten spielen, und protestiert an seine Berliner Freunde; die zucken die Achseln, fragen zurück, warum er in Pommern ausgeschieden sei. Grollend fährt der Verschmähte zu seiner Braut und ironisiert die ganze Geschichte zunächst mit Entsagung.
Da erkrankt – endlich! – einer von den sächsischen Rittern in Berlin, und als es ihm besser geht, wird er trotzdem von Bismarcks Freunden gedrängt, für diesen zu verzichten; daß er selber dabei die Hand im Spiele hatte, ist nur natürlich, denn er nennt es seinen »eifrigen Wunsch, Mitglied des Landtages zu sein«. Er eilt nach Berlin, er tritt in den Saal, man schreibt Mai 47, Bismarck ist 32 Jahre.
Hier sieht er alle Provinzen vertreten, vom Rhein bis zur Memel, das erste Symbol, daß es ein einheitliches Preußen gibt. Was aber die besten Köpfe in diesem Saale bewegt, ist nicht Preußen, es ist der deutsche Gedanke, denn alles, was Geist und Zukunft in sich trägt, ist damals liberal und zugleich deutschnational gesinnt. Der König, angeblich von der Idee des vereinigten Deutschlands ergriffen, die sein Vater perhorreszierte, wird in diesem Gedanken vom Volke und von der erdrückenden Mehrheit gestützt, während die geborenen Stützen des Thrones nur preußisch fühlen; nur 70 Mann von über 500 sind konservativ in diesem Saale, und diese 70 sind nicht für ein einiges Deutschland.
Sofort fühlt sich Bismarck vereinsamt. Aus Standesgefühl für den König, aus Jugendgefühl gegen die Liberalen kann er mit keiner von beiden Parteien empfinden; die Elemente seines Wesens, Stolz, Mut und Haß werden erregt, um sich zur Leidenschaft zu entzünden. Als in der dritten Sitzung eine Rentenbank für die Bauern mit Staatsgarantie verhandelt und von den Konservativen abgelehnt wird, meldet er sich zum Wort und verteidigt kurz die Regierung gegen die Rechte, die Rechte gegen die Liberalen. Sein erstes Wort ist ein Angriff, und dieser Angriff geht nach zwei Seiten. In Verachtung und Leidenschaft schreibt er der Braut: »Es ist merkwürdig, wieviel Dreistigkeit im Auftreten die Redner im Verhältnis zu ihren Fähigkeiten zeigen, und mit welcher schamlosen Selbstgefälligkeit sie ihre nichtssagenden Redensarten einer so großen Versammlung aufzudrängen wagen ... Die Sache ergreift mich viel mehr als ich dachte,« und er spricht »von dieser politischen Aufgeregtheit, die mich über Erwarten heftig gepackt hat.«
Noch nie und über nichts, auch nicht in den Zeiten stärkster Verliebtheit hat Bismarck seine Skepsis so entschieden stehn und liegen lassen, noch nie war er von Menschen oder Fragen so sehr ergriffen. Warum ist er es heute? Nicht um der Probleme willen, denn Bauern regen ihn nicht auf; nicht einmal Preußen, noch weniger Deutschland kostet ihn den Schlaf seiner Nächte. Das Schlachtfeld ist es, dieser Turnierplatz, auf dem man endlich großen Stiles fechten kann, der regt ihn auf, früh, wenn er in den Landtag geht, schreibt er der Braut wiederholt und ohne Scherz: »Ich muß ins Gefecht.« Wenn sich sein Selbstgefühl bisher in Menschenverachtung, wenn diese Verachtung nur in spöttischen Briefen, höchstens in ein paar Duellen sich Luft machte, so fehlte immer der Widerhall, und eine so kühne Lebenskraft, soviel Verstandesschärfe, war ganz ohne Wettlauf geblieben. Zu stolz, um Beamter, zu unabhängig, um Soldat zu sein, nur Herr über Bauern und souverän in einer Gesellschaft, die man an Geist leicht besiegen konnte, war Bismarcks Kampftrieb ohne großen Gegner geblieben. Jetzt endlich findet er die Tribüne, auf der es lohnt, sich zu schlagen. Nicht um Ideen nachzustreben, nicht um bestimmte Pläne zur Reform der Wirtschaft oder Politik durchzusetzen: nur voll Feindschaft und Kampfeslust gegen Menschen und Gruppen betritt er sie. Das Volk vertreten, heißt für ihn, den Degen ziehn.
In seiner vierten Sitzung geht er zum erstenmal zu längerer Rede auf die Tribüne. »Ein Mann im Anfang der Dreißiger, von großer und starker Statur, der Kopf fest und kurz auf die breiten Schultern gesetzt, die Haltung edel ohne fein, beweglich ohne lässig, fest ohne steif zu sein. Das frische, volle Antlitz mit rotem Backenbart, nicht ohne die Spuren ritterlicher Übung, zeigte Kraft und Gesundheit. In den weiteren, fleischigen Unterpartien lag ein spöttisches Lächeln, die Nase war unschön und etwas gedrückt, die Augen mit hohen Brauen klar, klug und listig, die Stirn geradlinig, fest und frei. Der Eindruck behaglichen Lebensgenusses ward überwogen durch den Ausdruck geistiger Zuversicht und gefaßter Kraft.« Auch wenn diese Zeichnung eines Augenzeugen im Hinblick auf Bismarcks Laufbahn nach Jahren stilisiert erscheint, er bezeugt doch im allgemeinen den Eindruck und vergißt nur die eine, von vornherein und später durch die Jahrzehnte allen Hörern auffallende Eigenheit: daß dieser Riese hoch, leise und stockend sprach, und schon in dieser Antinomie die ganze Problematik seines Wesens kundtat. Was führt ihn heut auf die Tribüne?
Ein liberaler Adliger, es gab auch solche, hatte das Wort gewagt, im Jahre 1813 wäre nicht mir der Haß gegen den Eroberer der Antrieb der Preußen gewesen, denn ein so edles Volk kenne keinen Nationalhaß; jedenfalls sei es besser gewesen als heute, denn damals habe sich die Regierung auf das Volk gestützt. In diesen Sätzen lag unausgesprochen der damals populäre Gedanke, das Volk wäre auch zur eignen Befreiung in den Krieg gezogen, darum habe es sich 1813 das Recht der Mitregierung erkämpft. Dagegen hatte er sich für alle Fälle einige Sätze aufgeschrieben, und so war das, was jetzt wie ein plötzlicher Ausbruch des Zornes wirken sollte, wohlvorbereitet (man hat den Entwurf gefunden):
»Als ob die Bewegung des Volkes von 1813 andern Gründen zugeschrieben werden müßte und es eines andern Motivs bedurft hätte, als der Schmach, daß Fremde in unserm Lande geboten. Es heißt, meines Erachtens, der Nationalehre einen schlechten Dienst erweisen, wenn man annimmt, daß die Mißhandlung ... nicht hinreichend gewesen sei, ihr Blut in Wallung zu bringen und durch den Haß gegen die Fremdlinge alle andern Gefühle übertäubt werden zu lassen ... Man spricht sich jedes Ehrgefühl ab, wenn man darum, daß man sich gegen Schläge, die man selbst empfängt, zur Wehr setzt, Verdienste gegen dritte ableiten will, als hätte man sich nur deshalb gewehrt.«
Befremdet hören's seine Freunde: Bismarcks erster Hieb in der Redeschlacht ist ein Lufthieb, denn von all dem hatte der Vorredner nichts behauptet. Alle Kriegsfreiwilligen von damals oder die Söhne dieser Männer, auch unter den Konservativen, finden sich verletzt, »lautes, wiederholtes Murren, großer Lärm«, verzeichnet der Bericht. Ein Redner erwidert ihm, nicht der Haß habe das Volk geleitet, sondern die Liebe zum Vaterlande, er sei wohl zu jung, das zu wissen. Ein persönlicher Gegner! Jetzt schwillt ihm freudig das Herz, gleich betritt er wieder die Tribüne. »Großer Lärm, Präsident bittet um Ruhe, erneute Pfuirufe.« Darauf dreht er, einer der Jüngsten in diesem Saal, der watenden Versammlung den Rücken, zieht eine Zeitung aus der Tasche und liest, bis sich das Haus beruhigt. Es ist freilich richtig, sagt er erst dann, damals habe er noch nicht gelebt, aber sein stetes Bedauern über diesen Umstand werde verringert durch die heutige Aufklärung, daß die Knechtschaft Preußens damals nicht von der Fremde herkam, sondern im Lande selber wohnte.
Zweiter Lufthieb. »Unbegreiflich, äußert nachher ein Parteifreund, wie ein so gescheiter Mann sich so blamieren kann,« und ein Verwandter mit dem Eisernen Kreuz sagt dem Redner: »Du hattest natürlich ganz recht, aber so etwas sagt man doch nicht.« – »Der Löwe, der hier Blut geleckt hat, sagt Blanckenburg, angeblich der Dompteur dieses Löwen, wird bald noch ganz anders brüllen!« Sybel, damals junger Historiker, lehnt in seinem Blatte die Rede mit der Begründung ab, man könnte Reformen und Freiheiten doch nicht durch Begriffsspaltung trennen.
Er hat recht, sie haben alle recht, einschließlich Blanckenburg, nur vermag damals noch keiner den inneren Grund für diese glorreiche Blamage zu erkennen: daß das Genie bei der ersten Begegnung mit der Menge immer zusammenstößt. Zwar hat er sich vorbereitet und eben dadurch den Anschluß verfehlt, zwar hat er die Gesetze der Epoche verkannt und seine Freunde selbst erzürnt; doch was dahinter steckt: die Kraft des Hasses, weit weniger gegen die Franzosen gerichtet als gegen jene, die diese zu hassen ablehnen, der Mut, mit dem sich der Unbekannte mitten im Lärm wieder auf die Tribüne wagt, die Verachtung, mit der er ihnen den Rücken dreht, alles Kämpferische bewährt er in diesem Kampfe. »Ich erregte gestern einen unerhörten Sturm des Mißfallens, berichtet er der Braut, indem ich durch eine nicht deutlich genug gefaßte Äußerung über die Natur der Volksbewegung von 1813 die mißverstandene Eitelkeit vieler von der eignen Partei verletzte und natürlich das ganze Hallo der Opposition gegen mich hatte. Die Erbitterung war groß, vielleicht grade, weil ich die Wahrheit sagte ... Man warf mir meine Jugend und was sonst noch alles vor.«
Im übrigen nehmen die Briefe an die Braut, bei nie verminderter Herzlichkeit, nun immer mehr den Ton des Berichtes an, und als sie schwer erkrankt, betet er wohl für sie, bleibt aber »auf seinem Posten«, verspricht zu der Sehnsüchtigen Pfingsten zu kommen, kommt aber auch dann nicht, und schreibt nur: »Ich will und brauche nicht zu erörtern, warum ich so handeln muß ... während es sich hier über die wichtigsten Schicksale unsres Landes oft um eine Stimme handelt ... Daß aber der Landtag und Du 50 Meilen auseinander sind, betrübte mich ... Ihr Frauen seid und bleibt wunderlich, und es ist besser mündlich als schriftlich mit euch verkehren.« Die Heirat darf nicht hinausgeschoben werden, Johanna kann ruhig als Frau gleich zu Anfang krank sein, schreibt er ihr, sonst würde er glauben, »als ein Tagedieb in Reinfeld zu sein, und kann, ehe die Trauung gewesen ist, nicht einmal ganz unbefangen mit Dir verkehren«.
So ehelich entschlossen klingt schon ein paar Monate nach der Verlobung sein Ton, nie nimmt seine Wärme ab, aber Festigkeit und Führung nimmt rasch zu: schon regiert sein Wille. Zum erstenmal im Leben fängt Bismarck an, die Zeit zu verehren, von Tagedieb zu sprechen; zum erstenmal erscheint ihm eine Sache wichtig. Schon erklärt er, die Politik werde ihm Hunger und Schlaf vertreiben, »ich werde gallsüchtig über die lügnerische, verleumderische Unredlichkeit der Opposition«, aber gleich sehnt er sich nach Wald und nach Johanna. Nach zwei Wochen Landtag gesteht er, daß seine »politische Aufgeregtheit ihn über Erwarten heftig gepackt hat«, doch fünf Zeilen später heißt es schon: »Könnte ich Dich gesund umarmen und mit Dir in ein Jägerhaus im tiefsten, grünen Wald und Gebirge ziehen, wo ich kein Menschengesicht als Deines sähe! Das ist so mein stündlicher Traum. Das rasselnde Räderwerk des politischen Lebens ist meinen Ohren von Tag zu Tag widerwärtiger. Ist es Deine Abwesenheit, ist es Krankheit, ist es Faulheit, ich möchte allein mit Dir in beschaulicher Naturschwärmerei sein. Es mag der Widerspruchsgeist sein, der mich jederzeit ersehnen läßt, was ich nicht habe.«
Da ist es wieder. Noch eben, als er weder Politik noch Öffentlichkeit hatte, trieb er die Braut, sich für das Weltleben vorzubereiten; kaum, daß er's hat, schwärmt er vom Jägerhaus. Er kennt den Grund, er nennt ihn selbst, so wird er vierzig Jahre weiterklagen. Hier ist der innerste Punkt, die problematische Natur, der keine Lage Genüge tut: Bismarck, der Wanderer.
Ein unruhiger Mann mit hoher Stimme, unsoldatisch, eitel und zerfahren, von Gottes Gnade wo nicht durchdrungen, doch geschmeichelt: so hat Friedrich Wilhelm der Vierte schon damals den Beinamen des Seiltänzers getragen, und wirklich war sein Spiel zwischen Volk und Krone nichts als ein Spiel. Romantisch und verschwommen, dabei nur allzu geistreich, glaubte er anfangs, alle Schwierigkeiten lösen, die östlichen Mächte und zugleich Frankreich, die Heilige Allianz und zugleich das Vereinigte Deutschland, Reaktion und zugleich die Freiheit fördern zu können, und während er mit dem falschen Schein der Freigebigkeit den feierlichen Schwur seiner Väter einlöste, sagte er nach Eröffnung dieses ersten Landtages: »Ihr werdet ihn ja doch ruinieren!« Er versäumte alles, was er hätte geben müssen, begriff vom Geist der Zeit im Grunde nichts, war bockig und hochfahrend und glaubte selber regieren zu können: lauter Vorzeichen einer bald auch äußerlich sichtbaren geistigen Krankheit, vor deren amtlicher Feststellung er freilich fast zwei Jahrzehnte lang sein Land schädigen durfte. Er übergab dem Volk ein Instrument, drohte aber jedem, der darauf zu spielen wagte; er sprach: Willkommen aus dem Gefühle meines Herzens, aber zugleich warnte er jeden ihm zu nahen. Er war der vorletzte Preußenkönig, der sagen konnte: »Es gibt Dinge, die man nur als König weiß.«
Nicht leicht hat damals ein Charakter Herrn von Bismarck-Schönhausen stärker zuwider sein können als dieser Monarch. Trotzdem ging er in diesem Jahre 47 häufig zu Hofe, nahm an Wasserfahrten auf der Havel teil, »vor Ostern waren wir bei unserm Freunde, dem Könige, und wurde ich von den hohen Herrschaften sehr verzogen.« Zu seinen Landtagsreden beglückwünschen ihn die Prinzen, der König vermeidet es, um an der Unabhängigkeit seines jüngsten Vorkämpfers keinen Zweifel zu erregen, denn er weiß, daß jener noch unabhängig ist. Des Königs Berater, Leopold und Ludwig von Gerlach, der General und der Präsident, Brüder von bedeutender Weltkenntnis, waren Bismarcks Berater, beide an die zwanzig Jahre älter als er, Ludwig Pietist, vom Hause Thadden ihm bekannt und sehr wohlwollend; von ihnen empfing er für eine große Rede Winke, also die Wünsche des Königs.
So bildet sich in ihm, zunächst nur in weichen und großen Umrissen, das doppelte Bestreben: zugleich dem König und sich selbst zu nutzen, durch Loyalität den eignen Einfluß, seine Aussichten durch des Königs Einsichten, eine künftig mögliche Macht durch gegenwärtige Stärkung der Königsmacht zu stärken. In diesem ersten Verkehr mit den Vertrauten des Thrones kräftigt sich das eingeborene Gefühl des Ritters an seinem Ehrgeiz und steigert sich rasch zu einem Legitimismus, der seiner Abstammung gemäß war, und den er später gern Lehnsgefühl nannte.
Dies Gefühl, das er nachher zu seinen Zwecken in sich pflegte, war damals tief in ihm verankert, denn vertraulich schreibt er seiner Frau in ungewöhnlichem Tone: »Sprich nicht geringschätzig vom Könige, wir fehlen beide darin und sollten nicht anders von ihm reden wie von unsern Eltern, auch wenn er irrt und fehlt, denn wir haben seinem Fleisch und Blut Treue und Huldigung geschworen.« Der Ernst dieses Verweises hat im Umkreise aller Briefe nicht seinesgleichen: er fordert seinen König von der Frau, wie sie ihren Gott von dem Manne, und hat an diesem Dogma sein Leben lang festgehalten, wie sie an dem ihren. Uralte Erinnerungen seiner Ahnen tauchen dabei in seinem Blute auf, die ja auch ihren Königen getrotzt und sie doch nie verlassen haben, und indem er sie seinen Eltern vergleicht, über die skeptisch zu denken er auch nur sich selbst gestattete, fixiert er den Punkt der großen Familie, die sich eins und die sich oben fühlt, während das übrige Volk die Stockwerke darunterwohnt. Heute fordert diese ebenso zweck- wie standesbewußte Haltung von seinem Stolz noch kein Opfer, noch war er frei, seine Partei zu wählen und zu ändern, er war noch umworben, war noch Kritiker und ohne Verantwortung. Wehe seinem Stolze, wenn er dereinst des Königs Berater, Führer werden, und doch zugleich sein Vasall bleiben wird!
Schon jetzt beginnt das Dilemma. Um jeden Preis will und braucht der junge Abgeordnete Tribüne, Fraktion, Parlament: wo sonst sollte er Kraft und Verstand zu Markte tragen? Aber um die alljährliche Einberufung des Landtages zu fördern, muß er mit den verhaßten Liberalen stimmen. Was tun? Druck auf den König wäre illoyal, also rät Bismarck, die Hauptfrage in der Schwebe zu lassen. Und als gar die Judenfrage zur Sprache kommt, möchte Bismarck am liebsten fehlen, weil er hierin mit der Regierung nicht übereinstimmt. Schließlich erscheint er doch, und da er schon eine Art Führer der äußersten Rechten geworden, ergreift er selber das Wort gegen die »langweiligen Humanitäts-Faseleien« der Linken, die volle Gleichberechtigung aller Staatsbürger anstrebt.
»Ich bin kein Feind der Juden, hebt er mit vollem Hochmut an, und wenn sie meine Feinde sein sollten, so vergebe ich ihnen. Ich liebe sie sogar unter Umständen. Ich gönne ihnen auch alle Rechte, nur nicht das, in einem christlichen Staate ein obrigkeitliches Amt zu bekleiden ... Für mich sind die Worte Von Gottes Gnaden kein leerer Schall ... Als Gottes Willen kann ich aber nur erkennen, was in den Evangelien offenbart worden ist ... Entziehen wir die religiöse Grundlage dem Staate, so behalten wir als Staat nichts als ein zufälliges Aggregat von Rechten, eine Art Bollwerk gegen den Krieg aller gegen alle ... Wie man in solchen Staaten den Ideen, z. B. der Kommunisten, über die Immoralität des Eigentums ... das Recht, sich geltend zu machen, bestreiten will, wenn sie die Kraft dazu in sich fühlen, ist mir nicht klar ... Deshalb schmälern wir dem Volke nicht sein Christentum.«
Dies war von je der Tonfall absoluter Könige und Minister, und hätte der Großvater Mencken so gesprochen, so hätten seine Könige ihm nie gezürnt. Aber dann hätte der alte Mencken auch nicht seine Tochter die Ideen der Aufklärung lehren, diese hätte sie nicht dem Sohne weitergeben können, und vielleicht wäre der halbwüchsige Bismarck aus Opposition gegen die ungeliebte Mutter liberal geworden, wenn sie von ihrem Vater reaktionäre Anschauungen übernommen hätte. Gewiß ist nur, der Mann, der als Jüngling Mirabeau und Peel beneidet hat, der sich an Byrons Gesängen entzückte und England bewunderte, war durch Bildung und Skeptizismus eher geeignet, Rassen- als Klassenunterschiede zu überwinden. Wenn er sie statt dessen, und nun zum ersten Male öffentlich betonte, so trieb ihn kein Pietismus an, dem er weder jetzt noch später den geringsten Einfluß auf die Politik eingeräumt hat; eher die Rücksicht auf die Pietisten. Denn nachdem er noch ein Jahr vorher gegen den Präsidenten von Gerlach die Trennung von Staat und Kirche verteidigt hatte, gefiel es ihm jetzt, dieser Pietistengruppe zu gefallen. Das alles trug sich keineswegs jesuitisch zu, nur halb bewußt vollzog er die Annährung seiner Überzeugungen und Zwecke, bis sie sich, gleich Liebenden, die einander suchen, ganz unbefangen trafen. Darum war Bismarck ein Staatsmann.
Als Staatsmann führt er fünf Minuten nachher die untersten Schichten zu seinen Zeugen an. »Wenn ich mir gegenüber als Repräsentanten der geheiligten Majestät des Königs einen Juden denke, dem ich gehorchen soll, so muß ich bekennen, daß ich mich tief niedergedrückt und gebeugt fühlen würde ... Ich teile diese Empfindung mit der Masse der niederen Schichten des Volkes und schäme mich dieser Gesellschaft nicht.« Er hat aber weder Juden noch Christen als Repräsentanten des Königs jemals gehorchen wollen und die eigne Lebenskraft zerrieben, als er, selbst Repräsentant des Königs, wenigstens diesem gehorchen sollte.
Milder wird dieser spröde Stolz nur, wenn er der Verlobten begegnet oder gedenkt, und wenn sie krank ist, streicht er das ganze Reinfelder Christentum, das nur Gott vertrauen und nicht medizinieren will, und fordert Arznei mit der kuriosen Begründung, daß Gott sie gegeben habe. Sie aber, als sie sich erholt, vergleicht ihr stilles mit seinem interessanten Leben, das sie aus seinen Briefen und den Zeitungen kennenlernt, und »wenn Dir meine Gedanken in Deinem jetzigen Leben folgen, von einer Freude in die andere, dem ewigen Saus und Braus ... so wird mir oft ganz bange, aber ich lege den Finger auf den Mund und die Hand aufs Herz, im stillen Gebet für Dich ... mir ist fast angst, daß sie Dich zu stolz machen ... und Du schließlich unser bescheidenes Reinfeld verachten wirst.« Mit so eingeschüchterten Stimmungen packt sie zuweilen ein wahrer Schrecken, und ihr Brief bricht in die tragikomischen Worte aus: »Otto, Du hast doch schrecklich heißes Blut!«
Er wird indes, je näher die Hochzeit rückt, um so heiterer und schreibt mit herrischer Galanterie: »Soll ich dann an einem lauwarmen Abend in schwarzem Samt mit wallender Straußenfeder unter Deinem Fenster zur Zither singen: Entflieh usw. (was ich übrigens jetzt meiner Ansicht nach ganz richtig singe, mit besonderem Schmelz in den Worten: Und ruuuh an meinem usw.), oder soll ich am hellen Mittag in grünem Reitfrack und rostbraunen Handschuhen erscheinen und Dich umarmen, ohne zu singen und zu sprechen?« Als er ihr aber rät, die Hochzeitsreise mit einigen Freunden zusammen anzufangen, da wehrt sie sich entschieden.
Ein halbes Jahr nach der Verlobung werden sie getraut. Eine Freundin hat ihr das Brauttaschentuch geschenkt und nach der Blumensprache dieses Kreises eine weiße Rose hineingestickt. Als nun der junge Gatte bei Tafel sitzt, und läßt den Sekt durch seine Kehle gleiten, da ergreift er Johannas Taschentuch, sein alter, antiromantischer Realistenblick fällt auf die symbolische Blume, – und ehe sich's die angstvolle Braut versieht, brennt er mit seiner Zigarre die Blume aus. So, will er sagen, endet heute Jean Paul und die Mystik der Mädchenjahre.
Aber mit voller väterlicher Freude zeigt er auf einer überlangen Hochzeitsreise der Geliebten die Welt. »Für mich selbst – schreibt er der Schwester, und niemand würde glauben, einen 32 Jährigen zu hören, – scheint die Zeit vorbei zu sein, wo man begierig ist, sich von neuen Anblicken imponieren zu lassen, so daß ich mich mehr durch den Reflex von Johanna gefreut habe.« Noch stoischer klingt sein Reisebericht an den Bruder: »Dann kam aber das dicke Ende hinten nach, und mußte schließlich Johanna zu den 100 Friedrichsdor fast noch 200 Taler zulegen, die sie zur Anschaffung von Silber bekommen hatte, was kein Unglück ist, da hier plattierte Leuchter genug sind und Tee aus Wedgewood ebensogut schmeckt und wir alles übrige reichlich geschenkt bekommen haben. So kostet die ganze Reise etwa 750 Taler für uns beide, also bei 57 Tagen etwa 13 Taler auf den Tag ... Unangenehmer ist, daß ich unterdessen 6 Kühe und 1 Bullen an Milzbrand verloren habe, grade die besten Stücke.«
Wie zahm ist er geworden, Bismarck der Abenteurer! Zwar, wenn er reist, mit oder ohne Frau, so muß alles vornehm sein, und niemals ist er kleinlich; wie er aber jetzt das junge Eheglück durch 57 dividieren kann, und wie der erste Bericht mit 6 Kühen und 1 Bullen schließt, so sieht man doch, wie gern er sich in seine engen Horizonte fand, grade weil sich die Weite ihm eröffnet.
Am 19. März 1848, als Bismarck auf einem Nachbarsgute bei seinen Bekannten sitzt, wahrscheinlich im politischen Gespräch, denn die Zeit ist bewegt, fährt unerwartet ein Wagen vor, die Damen steigen aus, und aufgeregt erzählen sie den Erstaunten, eben sind sie aus Berlin geflohen, denn dort ist Revolution, und der König vom Volke gefangen! Bismarck, der mangels Landtag den Winter mit seiner jungen Frau in Schönhausen verbracht hatte – es war das erste und das letzte stille Semester seines Ehelebens – war seit 14 Tagen beunruhigt, wie alle, denn eben hatte das Volk von Paris den König verjagt, die Republik erneuert und ähnliche Wünsche in Deutschland gestärkt, wo denn die Regierungen rasch ihre reaktionären Minister entlassen und liberalere ernannt hatten. Zu spät: am 18. ging das Volk in Berlin auf die Straße und stieß mit dem Militär zusammen, bis der König ohne Nötigung, aus Feigheit mehr als aus Mitgefühl, seinen Offizieren den Rückzug anbefahl. Bismarck eilt nach Schönhausen.
In dieser Stunde sieht er seine ganze Existenz bedroht, denn wen werden diese aufgeregten Massen rascher enteignen und vielleicht köpfen als einen der Wortführer der Reaktion? Zugleich mit dem Gedanken an sein Erbe und Eigentum, das er als Gatte und nächstens als Vater aus den natürlichsten Instinkten hüten muß, ist sein Stolz erregt, sein Mut herausgefordert, denn daß es losgehen soll und nun gar gegen die Roten, das eben ist ihm recht. So wird er von Natur und Interesse dazu gedrängt, nichts als die Frage der Gewalt aufzuwerfen, und greift sofort zu handfesten Mitteln. Als am nächsten Morgen Beauftragte aus der Stadt in Schönhausen erscheinen und von den Bauern das Aufziehen der schwarz-rot-goldenen Fahne fordern, ruft sie ihr Gutsherr zum Widerstande auf und heißt sie die Städter vertreiben, »was unter eifriger Beteiligung der Weiber besorgt wurde«. Dann läßt er eine weiße Fahne mit schwarzem Kreuz auf dem Kirchturm aufziehen, sammelt Waffen, findet im Hause 20, im Dorfe an die 50 Jagdgewehre, und läßt durch reitende Boten Pulver aus der Stadt holen.
Darauf packt er seine furchtlose Frau in den Wagen, besucht mit ihr die Dörfer in der Runde, findet die meisten Leute bereit, mit ihm nach Berlin zu ziehen, um den König zu befreien, der für gefangen gilt, und als sein liberaler Nachbar ihm droht, dagegen zu agitieren, erklärt er ihm, nach seinem eignen Berichte: »Dann schieße ich Sie nieder.«
– Das werden Sie nicht tun! –
»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf, Sie; wissen, daß ich das halte. Also lassen Sie das!«
Nach dieser ritterromantischen Ouvertüre wird er wieder Politiker, fährt allein nach der Hauptstadt, jedoch zuerst nach Potsdam, erfährt von befreundeten Generalen, was geschehen ist, sie verlangen von ihm Kartoffeln und Korn für ihre Soldaten, nicht aber Bauern, die sie nicht brauchen, und sind im übrigen wütend, weil ihnen der König verboten hat, Berlin zu nehmen. Sofort gibt Bismarck den König auf, wird selbst aktiv und sucht den Befehl zum Handeln vom Prinzen Wilhelm von Preußen zu erwirken. Man weist ihn an die Prinzessin.
Augusta war vier Jahre älter als Bismarck und damals schon an die zwanzig Jahre vermählt, d. h. wartend. Je stärker sich die Verrücktheit des Königs hervortat, umso lebhafter durfte sie hoffen, mit ihrem Gatten dem kinderlosen Schwager endlich zu folgen. Nun sah sie mit einem Schlage die Rechnung ihres Lebens zerrissen, beide Brüder schienen in diesen Tagen um die Macht zu kommen, Wilhelm ließ sich auf der Pfaueninsel verstecken und nicht einmal die Treusten seinen Unterschlupf wissen. Da mögen der schönen und herrschsüchtigen Frau aus ihrer Weimarer Bildung antike Königinnen eingefallen sein, denn sie wagt auf ihren Kopf ein kühnes Spiel: ihrem Sohne will sie die Nachfolge sichern und verhandelt darüber mit dem altliberalen Führer Vincke. In diesen Plänen wird ihr gemeldet, der neue royalistische Führer sei da. Soll man ihn im Salon empfangen, wo alle Wände Ohren haben?
»Sie empfing mich in einem Dienerzimmer im Entresol, auf einem fichtenen Stuhle sitzend, verweigerte die erbetene Auskunft (wo ihr Gatte sei) und erklärte in lebhafter Erregung, daß es ihre Pflicht sei, die Rechte ihres Sohnes zu wahren. Was sie sagte, beruhte auf der Voraussetzung, daß der König und ihr Gemahl sich nicht halten könnten, und ließ auf den Gedanken schließen, während der Minderjährigkeit ihres Sohnes die Regentschaft zu führen.«
Da steht der königstreue Junker, unruhig, den verschwundenen Prinzen und in ihm endlich einen Mann zu finden, der Mut und Befehl zum Widerstande aufbringt, und vor ihm sitzt in einem Dienerzimmer auf einem Holzstuhl dessen Frau, die Gatten und König längst aufgegeben, nur noch das Ziel hat, die Krone sich und ihrem Sohne zu retten, und diesen Versuch des Hochverrates einem ziemlich fremden Abgeordneten eröffnet, der grade das Gegenteil will. Was er ihr jetzt antwortet, ist im Wortlaut unbekannt, doch kann man es aus der Entgegnung schließen, in der er kurz darauf Herrn von Vincke abwies, der »im Namen seiner Parteigenossen und angeblich in höherem Auftrage meine Mitwirkung für den Plan in Anspruch nahm, den König durch den Landtag zur Abdankung zu bewegen, mit Übergehung, aber im angeblichen Einverständnis des Prinzen von Preußen, eine Regentschaft der Prinzessin für ihren minderjährigen Sohn herzustellen. Ich ... erklärte, daß ich einen Antrag des Inhalts mit dem Antrage auf gerichtliches Verfahren wegen Hochverrates beantworten würde ... Vincke gab seinen Versuch ... schließlich kühl und leicht mit der Erklärung auf, ohne Mitwirkung der äußersten Rechten, die er als durch mich vertreten ansah, werde der König nicht zum Rücktritt zu bestimmen sein. Die Verhandlung fand bei mir im Hotel des Princes, parterre rechts, statt und enthielt beiderseits mehr, als sich niederschreiben läßt.«
Der letzte Satz, fast 40 Jahre nach dem Ereignis geschrieben, verrät beiderseits mehr, als der Greis niederschreibt, und er weiß recht gut, warum er schließt: »Ich habe dem Kaiser Wilhelm diese Erlebnisse verschwiegen, auch in Zeiten ... wo ich in der Königin Augusta den Gegner erkennen mußte, welcher meine Fähigkeit, zu vertreten was ich für meine Pflicht hielt, und meine Nerven auf die schwerste Probe im Leben gestellt hat.« Nie hat Augusta später diesem Joseph seine politische Keuschheit verziehen.
Hier ist die erste und zugleich eine der stärksten Szenen, in denen Bismarck ohne jedes Interesse nur aus Gefühl für seinen König kämpft, und dies in dem Augenblick, wo er ihn am stärksten verachtet. Diese Gefühle, gemischt aus Mut und Haß gegen die Menge, der man nicht weichen darf, aus Stolz des Ritters und langererbter Haltung, aus einer sogar etwas romantischen Vorstellung des Paladins, überschwemmen in solch kritischen Momenten zuweilen die Kälte seines Verstandes; denn rein sachlich hatte Vincke recht, seine Anregung eine »politisch gebotene, durchdachte und vorbereitete Maßregel« zu nennen. Und wenn ein ehrgeiziger Mann die Verpflichtungen erwog, die die Prinzessin für Unterstützung ihres Wunsches in Zukunft einging, so tat er klüger, in den Tagen der Revolte mit den Jüngeren, Unbelasteten zu gehen.
Nach seiner Darstellung hat Bismarck damals das Schicksal der Familie in Händen gehalten: wenn selbst die Konservativen für Abdankung waren, so mußte der Zuspruch seiner kleinen Partei den ohnehin verängstigten König entwaffnen; der überwiegend liberale Landtag hätte die Lösung zweifellos begrüßt, Wilhelm wäre niemals der Erste geworden, Friedrich wäre mit 18 statt mit 58 Jahren auf den Thron gelangt. Aber Bismarck konnte weder Friedrichs noch seine eigne Entwickelung voraussehen. Seine Haltung in jenem Dienerzimmer des Potsdamer Stadtschlosses, und dann im Hotelzimmer an der Leipziger Straße hat wahrscheinlich sein Leben, sicher Deutschlands Schicksal mitentschieden.
Den König abzusetzen, hat er verweigert; ihn gegenwärtig mattzusetzen, war sein Bestreben: am selben Tage fordert er vom Prinzen Friedrich Karl, »da Seine Majestät unfrei sei«, die Truppen gegen des Königs Befehl nach Berlin zu führen. Als ihm dies hier und ebenso bei dem General mißlingt, den er direkt zum Ungehorsam aufwiegelt, fährt er nach Berlin, um zum König selber vorzudringen. Hier tritt er keineswegs herausfordernd auf, läßt sich vielmehr den Bart abscheren, setzt einen breiten Hut mit bunter Kokarde auf, macht aber, da er in Hoffnung auf die Audienz Frack trägt, einen so exotischen Eindruck, daß man ihm nachruft: »Det is ooch en Franzos!« Als aber sein Vetter in eine Büchse für die Barrikadenkämpfer Geld werfen will, sagt er nach seinem Berichte, laut: »Du wirst doch für die Mörder nichts geben und dich vor dem Kuhfuß fürchten!«, denn in dem Bürgerposten hat er einen befreundeten Richter erkannt, der sich gleich umdreht, nun auch ihn ohne Bart erkennt und ruft: »I Jotte doch, Bismarck! Wie sehn Sie aus! Schöne Schweinerei hier!«
Am Schloßtor abgewiesen, schreibt er dem König auf schlechtem Papier einen Brief, behauptet, ohne nähere Kenntnisse, nur um ihn zu ermutigen, auf dem Lande sei nirgends in Preußen Revolution, er sei Herr, sobald er die Hauptstadt verlasse.
Alles vergeblich! Zurück nach Sachsen, den dort kommandierenden General in Verbindung mit den Potsdamern zu bringen. Aber in Magdeburg rät man ihm, schleunigst abzureisen: man müßte ihn sonst als Hochverräter verhaften. Nun muß er in Schönhausen abwiegeln und sich damit begnügen, mit einer wunderlichen Art von Bauern-Deputation nach Potsdam zurückzureisen, die mit den Generalen selber sprechen sollen. Dann hört er den König in Potsdam zu seinen Gardeoffizieren sagen: »Ich bin niemals freier und sicherer gewesen als unter dem Schutze meiner Bürger.« – »Da erhob sich ein Murren und Aufstoßen von Säbelscheiden, wie es ein König von Preußen inmitten seiner Offiziere nie gehört haben wird und hoffentlich nicht wieder hören wird. Mit verwundetem Gefühl reiste ich nach Schönhausen zurück.«
So endet in Groll und Enttäuschung Bismarcks Gegenrevolution. Eine Woche später, als das neue liberale Kabinett das Wahlgesetz dem Parlamente vorlegt, das sich der Märzaufstand erzwungen hatte, setzt er mit Mühe durch, daß aus der Dankadresse der Ruhm der Barrikadenkämpfer gestrichen wird; er scheint beruhigt. Die deutsche Frage wird in der neuen Thronrede wieder angeschnitten, hier erklärt der König, Preußen müsse künftig in Deutschland aufgehen. Bismarck verurteilt diesen Gedanken, aber das Programm ist noch nicht akut. Als nun die Adresse votiert werden soll, tritt er unerwartet auf die Tribüne – und jetzt bricht plötzlich Wut und Trauer auf elementare, gar nicht politische Weise durch, es scheint, er weiß nicht mehr, wo er spricht, es ist wie ein gestammelter Monolog:
Er stimme für das Programm des Königs, fängt er an, »was mich aber veranlaßt, gegen die Adresse zu stimmen, sind die Äußerungen von Freude und Dank für das, was in den letzten Tagen geschehen ist. Die Vergangenheit ist begraben, und ich bedaure es schmerzlicher als viele von Ihnen, daß keine menschliche Macht imstande ist, sie wieder zu erwecken, nachdem die Krone selbst die Erde auf ihren Sarg geworfen hat ... Wenn es wirklich gelingt, auf dem neuen Wege ... ein einiges deutsches Vaterland ... zu erlangen, dann wird der Augenblick gekommen sein, wo ich dem Urheber der neuen Ordnung der Dinge meinen Dank aussprechen kann. Jetzt aber ist es mir nicht möglich ..« An dieser Stelle wird er von einem Weinkrampf befallen, kann nicht weiterreden und verläßt mitten im Satz die Tribüne.
So stürzt das verwundete Gefühl des Mannes in einem Augenblick hervor, wo ihm alles verloren und verraten scheint, sich selbst stellt er mit einer überwundenen Idee, er stellt sogar den König in der Stunde bloß, wo er mit seinem Volke Frieden geschlossen hat, und mit der Skepsis des Besiegten, zugleich mit der Voraussicht des politischen Genies fühlt er schon heute, daß man nicht so und nicht jetzt Deutschland einigen kann, spricht voller Zweifel am Gelingen dem Urheber der neuen Ordnung für die Zukunft einen rhetorischen Dank aus und trifft ganz unbefangen mit diesem Dank sich selber. Aber im gleichen Moment, als ob sich seine Hellsichtigkeit rächen und sein Blick ins Dunkle nicht weiter vordringen dürfte, strömt alle Leidenschaft und Bitternis dieser Tage aus dem Herzen empor in die Augen, und vom Weinen geschüttelt muß er seine Rede dort unterbrechen, wo ihn sein eigner Stern bestrahlt.
Schon nach zwei Monaten darf Prinz Wilhelm es wagen, aus England zurückzukehren, wohin er geflohen war. Auf der Durchreise durch Sachsen erwartet ihn Bismarck auf einer kleinen Station, bleibt aber vorsichtig in der hintersten Reihe; der Prinz, dem seine Gattin von Bismarcks Besuch nur seine, nicht ihre Absichten erzählt hat, erkennt ihn jetzt, bahnt sich einen Weg zu ihm, reicht ihm die Hand und sagt: »Ich weiß, daß Sie für mich tätig gewesen sind, und werde Ihnen das nie vergessen!« So führt ein wunderbar logisches Mißverständnis zum ersten herzlichen Händedruck zwischen den beiden Männern, die, durch die Ränke der Prinzessin beinah getrennt, sich später weltgeschichtlich verbinden sollen.
Nach Babelsberg eingeladen, erzählt Bismarck dem Prinzen vom Groll der in den Märztagen abziehenden Truppen und trommelt auf seinem Soldatenherzen erbarmungslos herum, indem er ihm ein Gedicht aus jenen Tagen vorliest, also endend.
»Da schnitt ein Ruf ins treue Herz hinein:
Ihr sollt nicht Preußen mehr, sollt Deutsche sein!
Schwarz', Rot und Gold glüht nun im Sonnenlichte,
der schwarze Adler sinkt herab entweiht:
hier endet, Zollern, deines Ruhms Geschichte,
hier fiel ein König, aber nicht im Streit.
Wir sehen nicht mehr gerne
nach dem gefallenen Sterne.
Was du hier tatest, Fürst, wird dich gereun,
so treu wird keiner wie die Preußen sein!«
Darauf bricht der Prinz in so heftige Tränen aus, wie Bismarck es nur einmal später noch an ihm gesehen. In dieser Form der Ergriffenheit bei zwei persönlich mutigen Männern scheint sich eine Verwandtschaft anzuzeigen, die zwar nicht ihren Naturen, aber ihrer Haltung in gewissen Augenblicken eigentümlich war. Wilhelm war damals über Fünfzig, hatte ein uninteressantes, aber bequemes Leben hinter sich und bis auf dunkle Jugend- und entsagende Liebestage wohl niemals Widerstand im Leben gefunden. Jetzt aber, nach überwundener Gefahr von Höflingen getauscht, erkannte er aus Bismarcks Bericht die erste volle Wahrheit, die dieser grade ihm in Form eines Soldatenliedes zu suggerieren wußte.
Ebenso heftig und kühn tritt der Junker, und zwar in denselben Julitagen, dem König entgegen. In Groll und Wallung, sucht er den Hof nicht mehr, er meidet ihn und läßt dem König, der ihn durch einen Leibjäger aus seinem Gasthof bestellt, gradezu sagen, er müsse zu seiner leidenden Frau aufs Land, und dies sogleich. Das ist dem König neu, sogleich schickt er einen Flügel-Adjutanten, lädt ihn zu Tische, stellt einen Jäger zur Nachricht an seine Frau zur Verfügung, zwingt ihn zu kommen. Nach Tische tritt er mit ihm auf die Terrasse von Sanssouci, freundlich fragend: – Wie geht es bei Ihnen?
»Schlecht, Majestät.«
– Ich denke, die Stimmung ist gut bei Ihnen?
»Die Stimmung war sehr gut, aber seit die Revolution uns von den königlichen Behörden unter königlichem Stempel eingeimpft worden, ist sie schlecht geworden. Das Vertrauen zum Beistand des Königs fehlt.«
In diesem Augenblick tritt, wie Bismarck erzählt, die Königin aus dem Gebüsch hervor: – Wie können Sie so zum König sprechen?
– Laß mich nur, Elise, ich werde schon mit ihm fertig werden. Was werfen Sie mir denn eigentlich vor?
»Die Räumung Berlins.«
– Die habe ich nicht gewollt.
Worauf die Königin, die noch in Hörweite geblieben:
– Daran ist der König ganz unschuldig, er hatte seit drei Tagen nicht geschlafen.
»Ein König muß schlafen können.«
– Man ist immer klüger, wenn man vom Rathause kommt ... Vorwürfe sind nicht das Mittel, einen umgestürzten Thron wieder aufzurichten. Dazu bedarf es des Beistandes und tätiger Hingebung, nicht der Kritik. – Durch diesen Ton fühlt sich der Gast plötzlich »vollständig entwaffnet und gewonnen«.
So ist Bismarcks erstes politisches Gespräch mit einem König von Preußen verlaufen. Sachlich war seine Stellung leicht, denn er frondierte als Royalist gegen den König; formell war sie schwer, denn er trat mit Vorwürfen in dies Schloß; da man ihn mit überlegener Nachsicht behandelt, wird er gefangen. Mit einer Art väterlichen Wohlwollens läßt sich der König so viel Kritik gefallen; als aber Gerlach bald darauf diesen Abgeordneten Bismarck zum Minister vorschlägt, schreibt Friedrich Wilhelm daneben: »Nur zu gebrauchen, wenn das Bajonett schrankenlos waltet.« Dieses politisch falsche Urteil ist doch für diese erste Epoche psychologisch richtig: denn seinen Stand mit allen Mitteln zu verteidigen, scheint Bismarck allerdings entschlossen.
Als die Regierung, wie dies in andern Ländern längst geschehn, die Steuerfreiheit der Rittergüter aufheben will, schreibt er in ungeheurer Übertreibung privatim dem Könige: »Diese Konfiskation ... trifft den Landbesitz mit einer Willkür, wie nur Eroberer und Gewaltsherrscher sie bisher übten. Rechtlose Gewalttaten ... gegen eine jetzt wehrlose, aber dem Thron seit Jahrhunderten treue Klasse der Untertanen ... Daß wir mit der großen Mehrzahl des preußischen Volkes Eure Majestät vor Gott und vor der Nachwelt verantwortlich halten werden, wenn wir den Namen des Königs, dessen Vater der Gerechte hieß, unter Gesetzen erblicken müssen, die ein Verlassen des Pfades bekunden würden, auf welchem die Könige Preußens den hundertjährigen Ruhm fleckenloser Gerechtigkeit erwarben und die Mühle von Sanssouci zu einem welthistorischen Denkmal machten.« So drohend wagt er in voller Verblendung seinem Herrn gegenüberzutreten, dessen Vater keineswegs der Gerechte hieß.
Zugleich schreibt er Artikel für die Bauern gegen die Revolution, sucht Zeitungen und Zuschriften zu widerlegen, wird Mitbegründer der neuen agrarischen Partei und ihrer »Kreuzzeitung«, für die er in den nächsten Jahren vieles schreibt, versucht alles, um in die Berliner Nationalversammlung gewählt zu werden, ist aber, als er dies nicht erreicht, stark »an den Hof- und Kammerintrigen« beteiligt, die im November vom Staatsstreich bis zur gewaltsamen Auflösung der Versammlung führen. Bevor diese entschieden ist, bringt er sich selbst in Sicherheit, denn, so schreibt er sophistisch an die Frau, »ich habe keine Veranlassung, die Sache hier abzuwarten und Gott damit zu versuchen, daß er mich in Gefahren schütze, die ich keinen Beruf habe, aufzusuchen ... Geht die Sache aber los, so möchte ich doch noch in der Nähe des Königs bleiben; dort kannst du aber (ich sage mit einem Seitenblick: leider) mit Sicherheit annehmen, daß keine Gefahr sein wird.«
Mit allen Mitteln wirkt er darauf für seine Wiederwahl und sucht sie in zwei Kreisen zu sichern, ja er demütigt sich so weit, sich selber zu empfehlen: sollte, schreibt er an Bodelschwingh, dieser infolge einer Doppelwahl auf den Kreis Teltow verzichten müssen, so möge er die Wahlmänner auf den Professor Stahl als Ersatzmann »oder, wenn dessen scharf ausgeprägte kirchliche Richtung an einer oder der andern Stelle Anstoß erregen sollte, eventuell auf mich selbst geneigtest lenken zu wollen. Ich habe vollen Grund, anzunehmen, daß Euer Exzellenz Empfehlung in solchem Fall entscheidend wirken würde ... Ich selbst bewerbe mich einstweilen im Brandenburger Havellande, aber ohne sonderliche Hoffnung auf Erfolg ... Gehorsamster Diener von Bismarck.«
So leidenschaftlich ist er hinter dem Mandate her und hat sich doch nie übler befunden als in diesen Februarwochen 49, wo er den Coriolan von Brandenburg spielen mußte, um diesmal durchzukommen: demselben Volk, das er so sehr verachtet, soll er nun schmeicheln. Da steigert sich der Wunsch, dies ganze Getriebe zu fliehen, da widerstreben Nerven, Erziehung, Geschmack: »Heute muß ich nun noch Wahlmänner kennen lernen, Boten sind wieder haufenweise nach allen Richtungen abgegangen, und zwei patriotische Redner fahren nach Werder ... Es geht wie im Hauptquartier, Boten und Briefe alle Viertelstunde ... Vielen Dank für Deinen Brief, den ich gestern inmitten von Qualm und Lärm unter 400 Menschen erhielt ... Ich las ihn unter einer stinkenden Lampe. ›Wenn aus dem schrecklichen Gewühle ein süßbekannter Ton mich zog,‹ so war ich auf einen Augenblick dem wüsten Treiben entrückt ... Es wird doch eine schwere Sache sein, wenn ich gewählt werden sollte, dies Leben ohne Ruhe im Herzen ... Jetzt sind die Wahlmänner beim Wählen. Ich habe die Sache Gott ganz ergeben und erwarte den Ausgang ebenso ruhig, als ich bisher durch alles Wühlen in fieberhafte Aufregung geraten war.«
Kaum ist er gewählt, so zieht er sich schleunigst von den bisher Umworbenen zurück. »Ich habe mich oft innerlich selbst verhöhnt und amüsiert, schreibt er dem Bruder, wenn ich in den acht Tagen ... die verschiedenen ›Tiefenbacher‹ durch persönliche Liebenswürdigkeit zu gewinnen suchte ... Nach der Wahl war ein Diner von 400 Personen, Nun danket alle Gott, Heil Dir im usw., Preußenlied, und am andern Tage hatte ich einen leichten Kopfschmerz und alle Muskeln der rechten Hand taten weh von dem vielen Händedrücken. Am dritten Tage wurden meinen Freunden die Fenster eingeworfen und einige mißhandelt, während ich schon ruhig bei Johanna saß.« Aus diesen pseudo-wallensteinschen Glossen bricht die Verachtung des Junkers hervor, der sich im Aufstieg zur Macht nun einmal des Volkes bedienen muß. Derselbe Mann, der als Grundherr jeden Streit mit seinen Bauern zu meiden sucht, spottet als Politiker der misera plebs und bedient sich ihrer nur zum Stimmen und zur Gegenrevolution.
Junkergefühle sind es auch, die um diese Zeit seine Stellung zwischen Preußen und Deutschland entscheiden: sie sind total gegen Deutschland. »Was scheren mich die kleinen Staaten, ruft er dem Freunde Keudell zu, mein ganzes Streben geht nur auf Sicherung und Erhöhung der preußischen Macht!« Und als man ihn in der Kammer den Verlorenen Sohn des Deutschen Vaterlandes nennt, erwidert er:
»Mein Vaterhaus ist Preußen, und ich habe mein Vaterhaus noch nicht verlassen und werde es nicht verlassen!« Ja, dies Preußentum ist jetzt sogar noch stärker als sein Königsgefühl, denn grade der König war es ja, der, wenn auch schwankend, eben das Aufgehen Preußens in Deutschland verkündet hatte. Noch stärker als vom preußischen wird er vom konservativen Empfinden gegen die Einigung Deutschlands bestimmt, denn es ist ja die Revolution, die den Gedanken im Volke wieder erweckte, und während in Frankfurt die Stämme von unten her das Kaiserreich der Deutschen aufbauen wollen, stört die verewigte Eifersucht und zerstört der volksfeindliche Geist der Dynastien von oben her das Werk: die kleinen Fürsten bekämpfen Preußens Vormacht, der Preußenkönig bekämpft die Vormacht des Frankfurter Parlamentes.
Vierzig Jahre später wird sich Bismarck, nach bedeutsamen Transfigurationen in seinen Memoiren des Zusammenhanges erinnern, wenn der Greis schreibt: »Ich glaube, daß mit fester und kluger Ausnutzung des Sieges (vom 19.3.48), des einzigen, der damals ... in Europa gegen Aufstände erfochten war, die deutsche Einheit in strengerer Form zu erreichen war, als zur Zeit meiner Beteiligung an der Regierung schließlich geschehen ist. Ob das nützlicher und dauerhafter gewesen wäre, lasse ich dahingestellt sein ... Eine auf dem Straßenpflaster erkämpfte Errungenschaft wäre von andrer Art und von minderer Tragweite gewesen, als die später auf dem Schlachtfeld gewonnene ... Es ist fraglich, ob auf dem kürzeren und rascheren Wege des Märzsieges von 1848 die Wirkung der geschichtlichen Ereignisse auf die Deutschen dieselbe gewesen sein würde, wie die heut vorhandene, die den Eindruck macht, daß die Dynastien, und grade die früher hervorragend partikularistischen, reichsfreundlicher sind als die Fraktionen und Parteien.«
Ergriffen steht der Nachkomme vor solchen Abwägungen, ein Menschenalter nach jener großen epilogischen Rechenschaft des Alten: in strengeren Formen, rascher und ohne Kriege, so sagt er selber, war also zu erreichen, was er in langen Waffengängen errang. Das Straßenpflaster hat ihn scheu gemacht, er zieht das Schlachtfeld vor, und es scheint, daß er die hundert oder zweihundert Toten der Märztage mit den Hundertausenden der drei Kriege nicht vergleicht. Daß sich die deutsche Einheit über den dynastischen Umweg hinaus erhalten würde, die große Probe auf dies Exempel hat er nicht erlebt, aber entschieden bestritten, daß sie möglich wäre; er hat nicht mehr gesehen, wie diese reichsfreundlichen Dynastien, die er im einzelnen verspottet hat, im Augenblicke höchster Gefahr aus dem Reiche geflohen sind und den Fraktionen und Parteien die Aufgabe überlassen haben, es zu retten.
Für jetzt geht er ganz mit den Stimmungen seines Königs, soweit man sie kennt; denn am 2. April glaubte die Frankfurter Deputation und selbst der Minister-Präsident Graf Brandenburg, der König werde morgen die ihm angebotene Kaiserkrone annehmen; andern Tages lehnte der unberechenbare König in selbstverfaßter Rede die Krone so unbestimmt ab, daß abends Prinz Wilhelm, mit Simson, dem enttäuschten Führer der Frankfurter, noch streiten konnte, ob sein Bruder abgelehnt habe. Überrascht waren aber auch die Junker, die noch gestern im Landtage die Adresse an den König unterschrieben hatten: »Es ist das Vertrauen der Vertreter des Deutschen Volkes, welches E. M. zu der glorreichen Aufgabe beruft, das erste Oberhaupt des wiedererstandenen Deutschlands zu sein ... Wir legen ehrfurchtsvoll die dringende Bitte an E. M. königliches Herz, sich dem Rufe der Deutschen Nationalversammlung nicht entziehen ... zu wollen.«
Diese Adresse ist – wie nur Wenige zu wissen scheinen und alle Biographen verschweigen – u. a. vom Abgeordneten v. Bismarck-Schönhausen, seinen Verwandten Kleist und Arnim und zwei adligen Ministern unterschrieben worden. (Stenogr. Bericht, S. 355/57.) So hat Bismarck die verhaßte Paulskirche als die Stimme des deutschen Volkes anerkannt und seinem König Annahme dieser Krone aus dem Straßenpflaster angeraten, nur weil er glaubte, der König wollte sie haben. Seine Unterschrift stammt vom 2. April 49; am 2. April 48 hatte er jene ergreifende Rede gegen den König gehalten, der ihm zu volksfreundlich gewesen, und sie vor Schluchzen nicht beenden können. So loyal war der beginnende Diplomat in einem Jahre geworden.
Kaum aber hatte der König zum Staunen aller abgelehnt, so fiel dem Junkertum der Stein vom Herzen, und schon am 21. rief Bismarck von der Tribüne: »Die rechtlosen Beschlüsse, mit welchen die Nationalversammlung in Frankfurt ihren Oktroyierungsgelüsten Nachdruck zu geben versuchte (Unterbrechung, Glocke des Präsidenten), kann ich für uns als vorhanden nicht anerkennen«, nannte den ganzen Handel eine »konstituierte Anarchie, welche von Frankfurt aus dargeboten wird« und lehnt ab, »den Frankfurter Souveränitätsgelüsten die Stütze unserer Zustimmung zu leihen«.
Dann kommt er auf den Parallelismus zu sprechen: »Ich kann mir nicht denken, daß in Preußen und Deutschland zwei Verfassungen ... nebeneinanderbestehen können; namentlich da bisher das deutsche Volk des engeren Bundes (ohne Österreich) sehr wenig andere Leute außer den preußischen Untertanen in sich begreifen wird«, und schließt: »Die deutsche Einheit will ein jeder ... Mit dieser Verfassung aber will ich sie nicht ... Im schlimmsten Falle will ich ... lieber, daß Preußen Preußen bleibt ... Die Frankfurter Krone mag sehr glänzend sein, aber das Gold, welches dem Glanze Wahrheit verleiht, soll erst durch das Einschmelzen der preußischen Krone gewonnen werden: ich habe kein Vertrauen, daß der Umguß mit der Form dieser Verfassung gelingen werde.«
So führt Bismarck im Jahre 49 das geeinigte Deutschland mit Bedenken ad absurdum, die er 20 Jahre später alle annulliert. Als aber Radowitz Minister wird, den König zum kleineren Deutschland überredet und seine Pläne in großer Darstellung entwickelt, da berichtet Bismarck in der Kreuzzeitung anonym voll Spott über Radowitzens »bravoschwangere Stimme ... Unter donnerndem Applaus kehrte die grabesruhige Erscheinung des Ministers zu dem Ministerplatze zurück, und Herr von Beckerath drückte ihr die Hand, im Namen Deutschlands.«
Der Abgeordnete Bismarck will in Berlin und Erfurt, wo Radowitz die sogenannte Unionsverfassung beraten läßt, weder Deutschland noch sonst etwas Positives: er will nur Abwehr gegen die Revolution, öffentlich spricht er dem Landtag das Recht ab, Steuern zu verweigern, eifert gegen Vergleiche mit England und Frankreich, die ihre Krone aus den blutigen Händen der Revolution empfangen hätten, gegen Gewerbefreiheit, Zivilehe, besonders gegen die großen Städte, die Brutnester der Demokratie: »Ich finde dort das wahre preußische Volk nicht. Letzteres wird vielmehr, wenn die großen Städte sich wieder einmal erheben sollten, sie zum Gehorsam zu bringen wissen, und sollte es sie vom Erdboden tilgen!« Sein Auftreten ist dermaßen revolutionär, daß er in Erfurt mit dem radikalen Führer Karl Vogt verglichen wird.
Privatim verspottet er die Kammer, in die er doch mit solchem Eifer gestrebt hat, als einen Saal, wo »350 Leute über unser Vaterland beschließen, von denen kaum 50 wissen, was sie tun, und unter diesen wiederum wenigstens 30 ehrgeizige und gewissenlose Schurken oder von Eitelkeit ausgehöhlte Komödianten.« Daß in Süddeutschland größere Aufstände ausbleiben, bedauert er und sagt zu Lerchenfeld: »Gott gebe, daß auch Ihre Armee, wo sie unsicher ist, abfällt: dann wird der Kampf groß, aber er wird ein entscheidender werden, wenn das Geschwür heilt ... Wir reißen Ihre und unsere Sache durch, je toller, desto besser!« So tief besitzt unchristlicher Haß diese Seele, daß er seiner Frau nach dem Besuch der Freiheitsgräber im Friedrichshain ein Jahr nach den Märztagen schreibt, er könne »nicht einmal den Toten vergeben ... wo jede Inschrift auf den Kreuzen von Freiheit und Recht prahlt, ein Hohn für Gott und Menschen!«
Nur aus Haß gegen die Revolte, die auch den Adel abschaffen will, führt er jetzt erst das »von« vor seinen Namen ein, das er bisher in Unterschriften wegließ, und sagt zu einem Liberalen: »Ich bin ein Junker und will auch Vorteile davon haben!« In den Sitzungen der Kommissionen setzt er sich aber gern zu seinen Gegnern, »denn drüben bei meinen Freunden ist es sehr langweilig, hier amüsiere ich mich besser.« In einer Rede verteidigt er dann die Verdienste des Adels in Preußen mit einer Kenntnis und Mäßigung, die die Wirkung steigert. Da geht er die Schlachtfelder durch, auf denen der preußische Adel kämpfte und fiel, und räumt gleich ein: »Es ist wahr, der preußische Adel hat sein Jena gehabt ... aber wenn ich im großen und ganzen auf seine Geschichte zurückblicke, so glaube ich, findet sich kein gerechter Anlaß zu Angriffen, wie sie hier in den letzten Tagen gehört worden sind.« Dann aber stellt er den Adel gegen die Könige, geht seine Geschichte in Venedig, Genua, Holland durch, und führt die gegenwärtige Haltlosigkeit in den meisten Staaten Europas auf die Zeit zurück, wo die überwiegende Fürstengewalt den unabhängigen Adel unterdrückte, eine Richtung, welche sich in Preußen in dem Ausspruch Friedrich Wilhelms des Ersten verkörperte: »Ich stabiliere die Souveränität comme un rocher de bronze«.
So knüpft Bismarck an die Tradition seiner eignen frondierenden Väter an und fordert zur Überraschung seiner stumpferen Parteifreunde die Königsgewalt heraus: mehr Lehnsmann als erwählter Abgeordneter.
So dicht wohnen Standesgefühl und Politik in ihm beisammen, und als nach dieser Rede der Kladderadatsch fragt: »Wo kommandierte doch im Jahre 1813 ein gewisser Herr von Bismarck?«, antwortet er sofort mit einer Forderung: was ihn betrifft, so will er nur mit Mitteln der Presse antworten; von seinen Vorfahren aber wären vier (allerdings nicht der Vater) damals als Offiziere dabei gewesen. »Was aber Kränkungen meiner Familie anbelangt, so nehme ich bis zum Beweise des Gegenteils an, daß Euer Hochwohlgeboren Denkungsweise von meiner eignen nicht so weit abweicht, daß ... ich in bezug auf dergleichen von Ihnen diejenige Genugtuung erwartete, welche nach meiner Ansicht ein Gentleman dem andern unter Umständen nicht verweigern kann.«
Zuweilen treten die beiden Prinzipien, Gewaltsamkeit und Christentum, gegeneinander auf, ein Kampf, den nur die Familie anregt; als seine Schwiegermutter, hochgebildet, sehr selbständig und darum oft mit ihm debattierend, für die Freiheitskämpfer in Ungarn und gegen ihren blutigen Unterdrücker Haynau Partei nimmt, schreibt er ihr, der sonst nur an Geburtstagen Briefe zugehen, voller Erregung:
»Du hast soviel Mitgefühl für die etwaige Familie Bathyanys; hast du denn keines für die vielen Tausende unschuldiger Leute, deren Frauen und Kinder durch den wahnsinnigen Ehrgeiz oder die Selbstüberhebung dieser Rebellen, mit der sie, wie Karl Moor, die Welt auf ihre Weise beglücken wollen, zu Witwen und Waisen geworden sind? Kann die Hinrichtung eines Menschen auch nur irdischer Gerechtigkeit genugtun für die eingeäscherten Städte, die verwüsteten Provinzen, die gemordete Bevölkerung, deren Blut dem Kaiser von Östreich zuruft, daß ihm Gott das Schwert der Obrigkeit verliehen hat? Das weichliche Mitleid mit dem Leibe des Verbrechers trägt die größte Blutschuld der letzten sechzig Jahre. Du fürchtest, daß die östreichische Regierung den Demokraten den Weg weise; wie kann man aber eine rechtmäßige Obrigkeit und eine hochverräterische Partei auf gleiche Linie stellen! Jene ist den Untertanen, die Gott ihr anvertraut hat, den Schutz ihres Schwertes gegen Übeltäter schuldig, die Rebellen aber bleiben Mörder und Lügner, wenn sie jenes Schwert durch Gewalt an sich reißen sollten, sie können töten, aber nicht richten ... Weltliche Obrigkeiten sollen nicht vergeben, was man unrecht tut, sondern strafen, – sagt der alte Luther ausdrücklich ... Verzeih, daß ich Dir so lange hierüber schreibe, aber ich fühlte mich persönlich dadurch berührt, denn sollte ich jemals berufen sein, obrigkeitliche Gewalt zu üben, so möchte ich nicht, daß Johanna mich mit den Augen betrachtet, wie Du Haynau ... Lebe recht wohl, Dein treuer Sohn von Bismarck.«
Dieser Brief hat für ihn den inneren Wert einer ministeriellen Note. Jetzt, wo er anfängt, seine Zukunft zu erkennen, zum mindesten sie anstrebt, muß er sein ohnehin weiches und durch die christliche Einwirkung um eine Brustwehr gebrachtes Gemüt von vornherein vor Mitleid sichern. Wo droht es gefährlicher als von der Frau, die er liebt, und die zwar ihm, doch auch noch der Mutter angehört, mit der sie lange Monate inmitten eines gefühlvollen Landadels verbringt, der weder Liberale noch Diktatoren liebt. Eine Warnung grollt aus diesen Zeilen, im voraus will er sich vor Kämpfen draußen im Innern sichern. Dieser Kämpfer verschanzt sein Lager, bevor er es bezieht.
Bismarck ist Parlamentarier geworden, zwischen 33 und 36 wird er von diesem Metier ganz erfüllt, und staunt man das Tempo an, in dem er es treibt, so muß man sich die Verve vorstellen, mit der sein riesiger Wille ein versäumtes Jahrzehnt zu überspringen strebt. Leise beginnt die Frau und das Gut im Hintergrunde zu verschwimmen. Der Furor ist in ihn gefahren, verbündet sich dem eingebornen Ehrgeiz und sucht nach Taten. Jetzt ist der Mann gesund, ißt und trinkt in ungeheuren Quantitäten. »Ich schließe, denn ich habe eben so heißhungrig zu Abend gegessen, ... daß ich nicht mehr grade sitzen kann.« Oder »die Wurst haben wir ohne Brot beim Schlafengehn in drei Malen mit dem Jagdmesser verzehrt, das dünne Ende war nicht so gut wie das dicke, der Totaleindruck aber durchaus günstig«. »Feigen habe ich heute so viel vertilgt, daß ich Rum trinken mußte.« – »Dann ging ich soupierend in den Stuben spazieren und vertilgte dabei fast die ganze dicke Wurst, die reizend schmeckt, trank eine Steinkruke voll Erfurter Felsenkellerbier und jetzt beim Schreiben verzehre ich das zweite Kistchen mit Marzipan ... Mir geht es sonst gut, nur augenblicklich zu viel Wurst im Magen.«
Alles macht er gewaltsam. Nach »überlangen Spaziergängen« kommt er todmüde heim, reitet Stunden Galopp mit einem Freunde, schläft immer sehr lange und wütet, wenn man ihn zeitig weckt. Geht er zur Auerhahnjagd, so hat er erst »nachts viel Forellen gegessen und schwaches Bier dazu getrunken«, ist dann von ein bis vier Uhr im Regen gestiegen, mußte dann dreimal anhalten, »mehrmals war ich der Ohnmacht nahe vor Schwäche, legte mich in das triefende Heidekraut und ließ auf mich regnen. Aber ich war fest entschlossen, einen Auerhahn zu sehen, ich sah deren auch mehrere, konnte aber nicht schießen ... Um 5 Uhr war ich wieder unten, ... aß nach 24stündigem Fasten sehr gut und trank zwei Glas Champagner, schlief dann 14 Stunden bis 1 Uhr mittags und befinde mich nun viel wohler als vor der Partie, freue mich auch über die gute Natur, die Gott mir gab, das durchzumachen.« Er macht noch mehr durch, trainiert sich fürs Reden, indem er eine »anfängliche Scheu überwindet«, spricht, wie der 30jährige Goethe, von größerer Seelenruhe, seit er tätigeren Anteil nähme, fällt aber beim kleinsten Unwohlsein schon ab und kränkt sich nachher maßlos über Fehler in seiner Rede: »Ich hatte meinen bornierten, gedächtnislosen Morgen durch Erkältung ... Ich vergaß das Beste, aber ich war wie vernagelt«, und ganz allgemein macht er das nervöse Bekenntnis: »Abends bin ich stets aufgeregt in der Einsamkeit, wenn ich nicht müde bin.«
In Berlin führt er sehr ungern ein Junggesellenleben, schimpft das ganze Treiben intrigant und sinnlos und bleibt doch oft länger als er müßte. Sucht er dann für ein paar Wintermonate Wohnung, so macht er der Frau genaue Zeichnungen aller Räume, schreibt, wo sein Schlafsofa, wo das Kinderbett, wo in der punktierten Linie der Lichtschirm aufgestellt werden soll, und daß es ein Drittel der Diäten kostet. »Wenn ich nur erst eine Wohnung hätte. Ich sehne mich recht, Dir die Torheiten der Menschen zu klagen«, und wirklich, wo er wohnt und ißt, das beschäftigt Bismarck in allen Epochen. »Meine Sachen liegen alle verstreut an der Erde, und ich habe niemand, der sie in die Kommode bringt. Wann werden wir endlich einmal wieder ruhig in dem roten Vorhang schlafen, mein Liebling, und zusammen Tee trinken?«
Die Ehe läuft innig und still, jetzt und noch nach 40 Jahren, die Funken erotischer Abenteuer scheinen erloschen, nicht weil Johanna alle Frauen übertraf, sondern weil er sie zur Frau nahm, als sein Kampf mit den Frauen fertig war, und er zum Streit mit den Männern überging. Anfangs schreiben sie abwechselnd in einen Notizkalender, am Hochzeitstage schreibt er mit ironischem Tone »Verheuratet«; als sie aber einmal notiert: »den ganzen Tag Schelte, zwei Tage Schweigsamkeit«, streicht er es durch und schreibt in einem Dichtereinfall darüber: »Heller Blick!!« Oder er schreibt ihr: »42 Stunden sind wir erst getrennt, und mir scheint, daß es eine Woche her ist, seit ich Dich zwischen den Kieferbüschen auf dem Berge stehen sah und mir nachwinken ... daß mir einiges Scheidewasser in den Bart lief. Es war, glaube ich, das erstemal seit den Schulferienzeiten, daß mir ein Abschied Tränen kostete ... Dieser Rückblick ließ mich Gott recht innig danken dafür, daß ich wieder etwas habe, wovon mir der Abschied schwer wird«.
Als sie die Tochter zur Welt bringt, ist er »froh, daß das Erste eine Tochter ist, aber wenn es auch eine Katze gewesen wäre, so hätte ich doch Gott auf meinen Knien gedankt in dem Augenblick, wo Johanna davon befreit war«. Dann schläft er hinter dem Vorhang im selben Zimmer, da die Frau ihm mehr als der Amme traut. »So wechsle ich, heißt es später, den ganzen Tag wie Schillers Johanniter-Ritter zwischen politischen Kämpfen und Plänen am Schreibtisch und der Wärterschürze am Krankenbett. Ich komme mir sehr nett vor bei dem Vergleich.«
Sind Frau und Kinder krank oder könnten es sein, so verliert er sofort die Nerven, sein ganzes Christentum geht auf nichts anderes als Gott zu bitten, daß alle gesund bleiben und niemand sterben darf. »Seit vier Tagen, mein Liebchen, schreibt er, als das Kind Scharlach hat, schwebe ich in der äußersten Unruhe, wie es nach Deinem letzten Schreiben nicht anders sein kann. Bist Du krank, so könnte doch jemand anders die Barmherzigkeit haben, mir eine Zeile zu schreiben, denn diese Ungewißheit halte ich nicht aus. Es gibt nichts Schreckliches, was ich nicht schon im Geiste durchlebt hätte in diesen Tagen.« Als das Kind der Amme in Berlin stirbt, schreibt er drei Briefe aufs Land, ob und auf welche Art man es ihr sagen soll, um die Folgen ihrer Erregung für das Kind abzuschwächen.
Aber seine liebevolle Tyrannei nimmt rasch zu. Nachdem er die Frau monatelang allein gelassen, verbietet er ihr, im Elternhause niederzukommen. »Die Entbindung in Reinfeld, das ist die halbe Scheidung. Ich kann und will nicht so lange ohne meine Nanne sein, wir sind so schon oft genug getrennt.« Auch schreibt er zerstreut »dein niedliches Briefchen«, und sie fragt ängstlich an, ob es ihm nicht zu viel sei mit ihren Briefen. Schickt sie einen Brief für eine Freundin mit, so bittet er sie, das nächste Mal »prosaisch zu adressieren. Ich habe mit dicken Besenstiel-Zügen quer durch ›deine Elisabeth‹ eine neue Adresse geschrieben. Liebe sie inwendig sehr und sei auf dem Kuvert kalt und höfisch, so will es der Brauch der Welt.«
Hat er sie anfangs für die Welt erziehen wollen, als seine Rückkehr dahin noch nicht feststand, so verzichtet er jetzt, nachdem sie vollzogen, auf ihre sachliche Teilnahme, schreibt, »den Vater wird das sehr interessieren, Du verstehst es wohl nicht«, monologisiert nur noch in seinen Briefen und mischt Weltpolitik und Häuslichkeit durcheinander: »Wenn das Kind bei der Amme anfinge abzunehmen an Gesundheit, so müßte es jedenfalls so geschehen ... Die Thronrede ist frei von revolutionärer Beimischung; wenn der König dabei bleibt, ... so bleibt natürlich alles beim alten, denn Östreich und andere lassen sich auf die Frankfurterei niemals ein ... Meine Wäsche kann ich nicht zählen, ich muß mich zu viel bücken, sie liegt wie Kraut und Rüben im Mantelsack, verzeih mir, vielleicht tu ich es Sonntag.« Von einem Brief zum andern heißt es, nun komme er heim, und er kommt doch nicht; als sie ihm aber einmal vorwirft, daß er sich in Gesellschaft amüsiere, während sie einsam bei den Eltern sei, erwidert er mit galanter Spitze: »Soupieren und dinieren muß ich allerdings täglich, aber das tut ihr dort hoffentlich auch.«
Im allgemeinen ist er im Familienleben duldsam; nur wenn es öffentlich wird, lehnen sich Geschmack, Haltung und Standesgefühl auf. Als im dritten Ehejahr Herbert, der ältere Sohn, zur Welt gekommen ist, und alle zusammen reisen sollen, richtet er seinen Ärger in humorigen Zeilen an die Schwester: »Ich sehe mich schon mit den Kindern auf dem Genthiner Perron, dann beide im Wagen ihre Bedürfnisse rücksichtslos und übelriechend befriedigend, naserümpfende Gesellschaft, Johanna geniert sich, dem Jungen die Brust zu geben, und er brüllt sich blau ... Dann mit beiden Brüllaffen auf den Stettiner Bahnhof ... Ich war gestern so verzweifelt über alle diese Aussichten, daß ich positiv entschlossen war, die ganze Reise aufzugeben ... Johanna hat mich in der Nacht mit dem Jungen auf dem Arm überfallen, und mit allen Künsten, die uns um das Paradies brachten, natürlich erreicht, daß alles beim alten bleibt. Aber ich komme mir vor wie einer, dem furchtbar Unrecht geschieht; im nächsten Jahr muß ich sicher mit drei Wiegen, Ammen, Windeln, Bettstücken reisen ... und wenn man dafür noch Diäten bekäme, aber die Trümmer eines ehemals glänzenden Vermögens mit Säuglingen zu verreisen – ich bin sehr unglücklich!«
Dabei lebt er nun immer sparsam und hat außer dem Wein keine Liebhaberei. Wer möchte glauben, eine Unterhaltung altadliger Brüder zu hören, wenn Bismarck dem seinigen schreibt: »Der Wollmarkt war hier wie in Stettin ... Die Verkäufer verlieren nach 24 Stunden gleich den Mut. In der alten guten Zeit saß der Vater oft 5 und 8 Tage ruhig auf dem Wollsack. Ich habe am Tage vor dem Markte zu 73 verkauft, 75 hätte ich haben müssen. Du hast meines Erachtens nach 5 Taler zu wohlfeil verkauft.«
Denn Geld ist immer noch knapp, das Fehlen von 70 Talern macht schon Verlegenheit, die Reitpferde werden auch vor den Wagen gespannt. Verpachtet bringt ihm Schönhausen immerhin drei- bis viertausend Taler. »Der Garten hat ... bisher 103 Taler in diesem Jahre gekostet, und 40 bis 50 werden mit Graben und Einernten wohl bis Weihnacht dazukommen, außerdem die Feuerung.« Dann schreibt er der Frau genau aus der Abrechnung »Öl 8 Taler 8, Zucker, Gewürz und Salz 9 Taler 20«, berechnet, was ihn seine Dienstboten kosten, daß sie zu hoch veranschlagt sind, »denn ein Teil ihrer Unterhaltungskosten steckt eben in dem Garten-Tagelohn, dessen Produkte sie verzehren.« Aus Berlin schickt er ihr 22 Pfund Tee, »Du mußt aber das Porto zuschlagen, wenn Du sie weitergibst«, und ist recht glücklich, über Ersparnisse an Diäten.
Kommt er nach Hause, so kommt er sich bereits wie ein Schüler in den Ferien vor. »Ich führe ein bodenlos faules Leben. Rauchen, Lesen, Spazierengehen, Familienvater-Spielen, von Politik höre ich nur aus der Kreuzzeitung ... Mir bekommt diese idyllische Einsamkeit sehr wohl; ich liege im Grase, lese Gedichte, höre Musik und warte, daß die Kirschen reif werden.« Wie ein Städter, mit dem heimlichen Hochmut des geistigen Arbeiters, als hätte er nicht ein Jahrzehnt lang und eben noch ganz auf dem Lande gelebt.
Kommt er aber allein nach Hause, so sind nur die ersten drei Tage so schön, wie er sie sich im Getriebe geträumt hat. Da ist Odin, die große Dogge, deren Vorgänger und Nachfolger ihn nie verlassen; da tut es ihm leid, daß die Frau den türkischen Weizen nicht sehen kann, »drei Fuß höher, als ich mit der Hand langen kann«, und er freut sich am Wachstum der neuen Schonung. Aber schon nach ein paar Tagen, da sie bei ihren Eltern ist und er beim Deich aufpassen soll, fängt erst der Ärger an und dann die Langeweile: die Mamsell muß entlassen werden, trotz Johannes Einspruch, weil sie schmutzig ist, aber für sich selber unglaublich viel waschen läßt, »die Küche sieht ungemein schmierig aus. Außerdem ist sie halb verrückt und brennt Wachslichter, vermutlich von unseren, ich weiß nicht, wo sie liegen und wie viele es waren« – dann ist gleich wieder alle Ruhe und Zufriedenheit aus, er fühlt sich totunglücklich allein. Bismarck braucht, wenn er nicht produktiv und tätig ist, sofort seine Frau. So kommt es, daß er in drei Oktoberwochen ihr einen kleinen Band Briefe schreibt. Da erneuert sich sein alter Ton, fern hört man die Furcht anschlagen, er könnte noch einmal zu Einsamkeit und stumpfen Leben verurteilt sein:
»Ich bange mich so sehr, daß ich es kaum aushalte hier; ich habe die größte Lust, der Regierung sofort meinen Abschied zu melden, den Deich laufen zu lassen und nach Reinfeld zu fahren ... Schreibe doch nur recht sehr oft, mag es auch 100 Taler Porto kosten; ich ängstige mich immer, daß Ihr krank seid, heut ist mir so zumute, daß ich gleich zu Fuß nach Pommern laufen möchte, ich sehne mich nach den Kindern, nach Mutsch und Väterchen und vor allem nach Dir, mein Liebling, daß ich gar keine Ruhe habe. Was ist mir Schönhausen ohne Euch hier. Die öde Schlafstube, die leeren Wiegen mit den Bettchen drin, die ganze lautlose, herbstneblige Stille ... es ist, als ob Ihr alle tot wäret. Ich denke immer, Dein nächster Brief bringt eine böse Nachricht ... In Berlin geht es noch, wenn man allein ist, da hat man den ganzen Tag zu tun und zu schwatzen, hier aber ist es um toll zu werden; ich muß früher ein ganz andrer Mensch gewesen sein, daß ich es immer ausgehalten habe.« Aber da liegt ja ein Paket für sie, und als er es aufpackt und aufzählen kann, wird ihm wieder wärmer: »Dann eine kragenartige Fahne von Tüll oder dergleichen mit rotem Band, Kinderstrümpfe, alles sehr niedlich ... Ich fühle mich so lebhaft bei Dir, ... daß ich ganz heiter werde, bis mir die 70 Meilen wieder einfallen, einschließlich 35 ohne Eisenbahn. Pommern ist doch furchtbar lang ... Vom Buchbinder sind unzählige Bücher gekommen ... Der Schneider hat von dem Zeug nur 5 Paar Unterhosen machen können, wie er mir sagt; vermutlich trägt er das sechste selber ... Gottes Gnade wolle mit Euch sein. Dein treuster von B.«
Durch alle Wärme und Zärtlichkeit dringt bei diesem problematischen Menschen immer die Furcht, nie ist sein Glück ohne Angst, es zu verlieren, und je mehr seine Menschenverachtung steigt, um so gewaltsamer hängt er sich an Frau und Kinder. Bis ins Hysterische steigen in diesen Wochen, während die Seinen gesund und froh sind, seine Angstvorstellungen, und weil ein paar Tage lang kein Brief kommt, ist er in solcher Sorge, »daß ich für nichts Sinn habe, als vor dem Kamin zu sitzen, ins verglimmende Feuer zu sehen und über tausend Möglichkeiten von Krankheit, Tod, Postunfug und plötzliche Reisepläne nachzusinnen, und Deichhauptmann und Geschworene zu verwünschen.« Allerdings, »dazu kommt, daß mir plötzlich die Zigarren ausgegangen sind ... Jetzt fühle ich erst recht, wie Du und die Babies mir tief, tief eingewachsen seid, und wie Ihr mein Wesen erfüllt; das ist auch wohl der Grund, warum ich allen außer Dir kalt erscheine, auch Muttern. Wenn Gott das furchtbare Elend über mich verhängte, daß ich Euch verlieren sollte, so fühle ich, daß ... ich mich dann so an die Eltern klammern würde, daß Mutter über Verfolgung mit Liebe zu klagen hätte.«
So heftig hängt der egozentrische Mann sich an die Nächsten, daß er sich schon für den Fall des Verlustes sichert, und daß er sein Herz Menschen zuwirft; ohne die er bisher gelebt hat. So ist er immer auf der Flucht vor seinem ruhelosen Ich.
Das neue Christentum erlöst ihn nicht, schon in den ersten drei Ehe- und Glaubensjahren ist Gott nur die Instanz, die er um Hilfe anruft für die Seinen, und es liegt ein tiefer Sinn in dem Wort an die Frau, er bete immer für die Seinigen »abends, wenn es zwei schlägt, leider mit mehr Ernst als für das Heil meiner Seele«. Kein Brief, in dem er nicht Frau und Kinder Gottes Hut empfiehlt, aber kaum einer, in dem er sich sonst gläubig erwiese. »Ich bete in der Kammer und auf der Straße, daß er uns nicht nehmen wolle, was er uns so gnädig geschenkt hat«; das ist gewiß die lautere Wahrheit, als das Kind schwer krank liegt. Als aber jemand die Hinrichtung Robert Blums verurteilt, fällt Bismarck dem christlichen Sprecher mit dem leidenschaftlichen Ausruf ins Wort: »Ganz falsch! Wenn ich einen Feind in der Gewalt habe, muß ich ihn vernichten!«
Einmal gibt er, im Stil der pietistischen Adressatin, seiner Schwiegermutter zum Fest in einer Analyse den ganzen Zwiespalt kund, der ihn vom Glauben trennt: »Wenn es mir mit Gottes Hilfe gelänge, den jähen Zorn aus meinem Herzen zu bannen ... Aber nur Gottes Gnade kann aus den zwei Menschen in mir Einen machen, und Sein erlöstes Teil an mir so kräftigen, daß es des Teufels Anteil totschlägt; kommen muß es endlich, sonst stände es schlimm mit mir ... Gott wird ja Seinem Teil beistehen, daß Er Herr im Hause bleibt, und der andere sich höchstens auf dem Hausflur zeigen darf, wenn er auch da mitunter tut, als ob er der Wirt wäre.«
Diese Demut ist wohl die letzte, die er seinem Stolze abgewann. Das übrige ist nur der Ausblick aus seinem häuslichen Frieden auf eine höhere Macht, und als die Frau einmal gereizt ist, bittet er sie: »Laß dich durch nichts irre machen in dem Glauben, daß ich dich liebe wie einen Teil von mir ... Ich fürchte, ich würde nichts werden, was Gott gefällt, wenn ich dich nicht hätte; du bist mein Anker an der guten Seite des Ufers; reißt der, so sei Gott meiner Seele gnädig.« So verflochten sind ihm Frieden und Glaube, Ehe und Gebet, daß er auf der einen Hemisphäre der Welt eines im andern pflegt, wie um sich auf der andern die Freiheit seiner Leidenschaften zu sichern.
Auch Fragen des Geschmacks werden für seine fromme Stimmung entscheidend, und wie er den Pietismus nur an Frauen rühmte, so wird ihm bald das protestantisch aufgeklärte Singen unbequem: »Es ist mir lieber, bei guter Kirchenmusik von Leuten, die es verstehen, gemacht, zu beten für mich, und dazu ... Morlachische Messen mit weißgekleideten Priestern, in Dampf von Kerzen und Weihrauch, das ist doch würdiger ... Da hatte Büchsel einen Knabenchor, die sangen ohne Orgel ein eingelegtes Lied, etwas falsch und mit einer recht bürgerlich berlinischen Aussprache.«
Zuweilen aber wagen sich doch die beiden Welten zu mischen, die er zu trennen sucht: dann fällt er in das kuriose Dilemma eines Mannes, der Ehrgeiz, Staatspflicht, Eheliebe ins gleiche zu setzen strebt. Es ist noch ungewiß, ob er gegen seinen Willen als Geschworener nach Magdeburg muß, gewiß ist nur, daß er am gleichen Tage zum König zur Jagd geladen ist, wohin es ihn heftig zieht, aber auch mit seiner Frau ist er verabredet, sie in Reinfeld zu besuchen. Da sieht man ihn zwischen guten Vorsätzen, Leidenschaften und Sophismen zappeln, einen Jüngling glaubt man zu hören:
»Ich zählte eben an den Knöpfen und wußte nicht recht, ob ich bei solcher Kinderei an Gott denken sollte oder nicht. Aber im Grunde bringt mich der Gedanke an Ihn doch zum Schluß, durch den einfachen Grund, daß ich die Einladung nicht ablehnen kann, ohne eine Unwahrheit zu sagen; denn lediglich weil ich mich sehne, gleich bei Euch zu sein, das würde ich doch nicht anführen, obschon es ein so triftiger Grund ist wie jeder andere, aber er ist nicht hoffähig. Lüge ich nun aber und muß doch hierbleiben, so geschieht mir schon recht; bleibe ich bei der Wahrheit, so kann ich jedenfalls sagen, wie Gott will (nämlich zu den Geschworenen oder nicht). Jedenfalls wird mich der König auch sprechen wollen ... Ich schreibe eben nieder, wie sich meine Gedanken seit 2 Stunden hin und her schaukeln, und wie ich mir bald vorschwebe als einer, der mutwillig das, was er von Gott heiß erfleht hat, unser baldiges Wiedersehen, verschmäht, und bald als einer, der in Magdeburg der Jagd nachsieht, wie der Fuchs den Trauben, und sich fürchtet, als ein durch seine eigenen unrichtigen Entschuldigungen in die Falle Geratener entdeckt zu werden.« Schließlich schlüpft er aus dem Netz des Gewissens, indem er zunächst die Einladung annimmt, das Absagen im stillen vorbehält, und übrigens »kann es ohnehin sein, daß ich Donnerstag nicht mit den Deichsachen fertig werde«.
Versucht er so über seinen Schatten zu springen, so bereut er nachher fast jedesmal die Lösung, die er gewählt hat. Verachtung alles Schreibens und aller Resultate, deren Unwert der Jüngling vorausgefühlt und deshalb geflohen hat, schläft immer leise neben allem Ehrgeiz und wird bei der kleinsten Störung erwachen. Es braucht nur irgendein Ärger seine Nerven zu irritieren, so hat er gleich Lust »Politik und Mandat niederzulegen und mit dir still in Schönhausen zu leben; es ist doch alles nur so, wie mein guter alter Vater in Kniephof die kleinen Büsche mit Mann und Hund abtreiben ließ, und jedesmal mit ernster gespannter Aufmerksamkeit auf den Fuchs wartete, obschon er so gut wie ich wußte, daß keiner drin war«.
Und doch, trotz dieser Desillusion, die Bismarck nie verlassen hat, wird er das Treiben niemals aufgeben und findet zum Ausgleich nur das Mittel, aus der Verachtung der Menschen und Dinge sich immer wieder in Natur und Einsamkeit zu flüchten. Da strömt sein Gefühl, da spricht sein Herz, die Kindheit steigt empor, da wird er immer zum Dichter: »Ich saß (im Tiergarten) auf unserer Bank an dem Schwanenteiche, die jungen Schwäne, die damals noch auf dem kleinen Inselchen im Ei saßen, schwammen jetzt dick, grau und blasiert zwischen den schmutzigen Enten flott umher ... Der schöne große Ahorn ist schon dunkelrot in seinen Blättern ... Die Linden, Faulbaum und andere weichliche Wesen bestreuen die Steige mit ihrem gelben raschelnden Laub ... Die Promenade erinnerte mich recht an Kniephof, Waldschnepfenjagd, Dohnenstrich, und dann wieder, wie alles so grün und frisch war, als ich mit dir dort ging, mein Liebling.« Aus solchen Stimmungen ersteht in ihm, einfach und ohne Sophisterei, das echte Mitgefühl mit der Kreatur, und wenn er ihr vom Holzverkauf im allgemeinen geschrieben, heißt es dann plötzlich und überraschend: »Unser bißchen Holz habe ich einstweilen noch stehenlassen, es jammerte mich so.« Oder er geht auf die Jagd, aber plötzlich kann er sich nicht entschließen abzudrücken, »denn ich sah nur lauter Mütter und Babies.«
Da ist der Wellenschlag eines tiefen Gemütes, das kein Dogma braucht, und immer knüpft es ergriffen an die Jugend an. Da ist er, der Golfstrom, der durch Bismarcks Herz dahinströmt, wenn er durch einen Zufall wieder in seine erste Schule kommt, die er als Zehnjähriger verlassen, und alle Skepsis sich in milder Trauer und in die ergreifenden Worte auflöst: »Wie klein ist doch der Garten, der meine ganze Welt war, und ich begreife nicht, wo der Raum geblieben ist, den ich so oft atemlos durchlaufen habe, und mein Gärtchen mit Kresse ... und all die Geburtsstätten verfallener Luftschlösser und der blaue Duft der Berge, die damals jenseits des Bretterzaunes lagen ... Wie sehnte ich mich damals in das Leben und die Welt; die ganze bunte Erde, wie sie mir damals existierte mit ihren Wäldern und Burgen und allen den Erlebnissen, die meiner darin warteten, tauchte vor mir auf, als ich in dem Garten stand, und ich hätte weinen können, wenn der prosaische Hans mich nicht rief ... und ich mich erinnerte, daß ich jetzt ganz genau weiß, wie der Garten ein kleiner Fleck in der Wilhelmstraße ist, und nicht viel Besonderes ringsumher hinter den Zäunen ... und der Dornberg in Kniephof 16 Morgen groß, und daß wir Geschäfte mit General Gerlach hatten.«
Zu Frankfurt in der Bundes-Lade lag, unter Metternichs Schutze, die deutsche Einheit verschlossen; aber die große Flamme, an der sich alle deutschen Patrioten seit den Freiheitskriegen erwärmt hatten, glomm nur noch still. In den engern und engsten Vaterländern heimlich gehütet statt kühn geschürt, umweht von dem erstickenden Dampf, der aus den »Bleikammern des Wiener Regierungssystems« emporquoll. Aber da war von Paris her ein zweites Mal die revolutionäre Glut über den Rhein gedrungen, und staunend sah Europa politische Leidenschaft sogar aus den Deutschen schlagen. Jetzt oder nie ließ sich, neben der Freiheit, die deutsche Einheit schaffen!
Aber es war ein ungeheures Unternehmen, aus der Masse der dynastisch und landschaftlich abgestuften Hörigkeiten heraus zugleich zur Freiheit und zur Einheit zu gelangen. Jener standen Fürsten, Militärs, Bürokraten und alle äußere Macht entgegen, dieser der Gegensatz zwischen dem neudeutschen Preußen und dem zu drei Vierteln undeutschen Östreich. So endete die ideenreiche, die innerlich so beschwingte Achtundvierziger Bewegung schnell mit der Begründung von Scheinfreiheiten in den »Verfassungen« der Einzelländer, mit dem Zank zwischen Monarchisten und Demokraten, zwischen Großdeutschen und Kleindeutschen; und ehe zwei wirr verzettelte Jahre um waren, erstanden wieder die alten deutschen Lokalgötter.
Von dem Wirken der Paulskirche, von ihren deutschen Bills of right, von den Verordnungen unseres ersten Nationalparlamentes, von den wolkenhaften Ideen und Abstraktionen seiner Verfassung war nichts übriggeblieben als ein papiernes Fragment ohne Exekutive. Das wurde von Anbeginn durch Östreich und alle Antipreußen sabotiert; mit der deutschen Einheit war es wieder einmal aus. Der alte Bundestag unter östreichischem Patronat wurde wiederhergestellt, im Sommer 50 lud man feierlich zu seiner Eröffnung.
Und Preußen? Friedrich Wilhelm IV., vor dem angebotenen Erbkaisertum scheu in seine Romantik zurückweichend, hatte seine Ansprüche auf die deutsche Führung in den schwindsüchtigen Bund der norddeutschen Klein- und Mittelstaaten gerettet, in die sogenannte Union, doch vor Östreichs und Rußlands Drohungen schmolz das Erfurter Parlament, und die Weigerung, den Frankfurter Bundestag zu beschicken, Juli 48 einstimmig aufgehoben, war fast Provokation.
Aber Fürst Schwarzenberg, der neue Herr von Östreich, litt keine Zweideutigkeiten; und als der Kurfürst von Hessen, müde der Verfassungskontrolle, in seinem Ländchen das Wiener System in Übung setzte und der Groll in diesem Ländchen stieg, ließ Schwarzenberg ihm durch Beschluß des Bundestages Schutz zusichern. War eine frechere Herausforderung so kurz nach der Revolution zu denken? Preußen, als das Haupt der Union, der Hessen angehörte, protestierte. Es roch nach Krieg, und Preußen spielte den Hort der Freiheit! Es war einen Augenblick in deutschen Landen beinahe beliebt, Radowitz, General und Minister in Berlin, kein Cäsar, aber ein Mann, riskierte alles: Östreicher und Bayern hielten ihre Gewehre auf preußische Truppen in Schußweite gerichtet, die Stunde schien nahe, für die deutschen Rivalen, durch Blut und Eisen sich zu messen, die Vorherrschaft im eigentlichen Deutschland zu erkämpfen, den Alten Deutschen Bund in den Orkus zu fegen. Man schrieb November 50.
Auch Bismarck wurde gleichzeitig als Landwehroffizier zu seiner Truppe und als Abgeordneter einberufen. In der Post nach Berlin stieg ein alter Dorfschulze zu ihm, der noch Anno 13 dabei war, der fragte: »Wo steiht de Franzos?« und war sehr enttäuscht zu hören, diesmal ginge es gegen die Östreicher. In Berlin ist Bismarck zuerst beim Kriegsminister, läßt sich an den Tabellen überzeugen, daß die Truppen zerstreut stehen, daß man dem Feinde Berlin preisgeben müsse, und er verspricht vor dem Zusammentritt der Kammer für Mäßigung zu wirken, da feurige Reden die Sache in Brand stecken könnten und wir Zeit brauchten. Der Lieutenant von Bismarck verschiebt im Einverständnis mit dem Minister die Weiterreise zum Regiment, »da ich am gestrigen Morgen mit einem rasenden Kopfweh aufwachte, so reiste ich nicht ... schrieb dem Major nur nach Stendal,« zugleich für sich und seinen Diener.
Prinz Wilhelm ist leidenschaftlich für den Krieg, huldigt dem zurücktretenden Radowitz, er soll sogar seinem Bruder, dem König, den Degen mit dem Fluch vor die Füße geworfen haben: »Unter dir kann man nicht mehr mit Ehren dienen!« Auch Moltke, Generalstabschef eines Korps, glaubt, Preußen habe 400 000 Mann bereit, »aber die schlechteste Regierung kann dies Volk nicht zugrunde richten. Preußen wird doch noch an die Spitze Deutschlands kommen ... Aber das muß wahr sein, eine kläglichere Nation als die deutsche gibt es nicht auf Erden!« Radowitz aber schreibt sich gleich nach dem Sturz und dicht vor dem Tode eine »Vision 1900« auf: »Ich sehe ein wiederhergestelltes deutsches Kaisertum mit preußischer Spitze, Frankreich nach verlornem Elsaß auf seine natürlichen Grenzen gebracht und ungefährlicher geworden.« Den Mann, der dergestalt Bismarcks Politik voraussah, nannte dieser gleichzeitig »le mauvais génie de la Prusse«.
Warum steht Bismarck auf der friedlichen Seite? Glaubt er an die militärische Ohnmacht? Ist für die konservativen Minister und so auch für ihn der wahre Grund des Zögerns vielleicht doch nur Scheu vor den liberalen Mächten, und wollen sie und mit ihm der König lieber mit Östreichs Reaktion gehen als mit den Einheitsgedanken der Revolution? Was Bismarck angeht, so bestellt und abbestellt er abwechselnd seine Pferde und Stiefel für den Feldzug, scheint auch innerlich in Ungewißheit zu schweben, klagt der Frau, nichts als Intrigen entschieden über das Schicksal von 70 Millionen; bliebe Frieden, so hätte er daran ein Stück Verdienst. »Der Krieg wäre jetzt ein vollständiger Unsinn, der von Hause aus die Folge haben würde, daß unsre Regierung noch zwei Meilen weit links rutschen würde.«
Plötzlich kommt er in den Stil einer Rede, wie er sie nächste Woche zu halten gedenkt, spricht von dem Frevel, den der Tod von Hunderttausenden ohne Nötigung bedeute, vergißt, er, der natürlichste Briefschreiber von der Welt, an wen er diesen schreibt: »So weit ist Preußen gediehen. Für diese Menschen werden wir siegen, wenn wir siegen, und jeder Demokrat wird seine Wunde dem König als eine unbezahlte Rechnung vorzeigen, wenn wir mit seiner Hilfe gesiegt haben werden. Ich kann meine Tränen nicht halten, wenn ich denke, was aus meinem Stolz, meiner Freude, meinem Vaterlande geworden ist, das treue, tapfere, ehrliche Preußenvolk, trunken gemacht mit dem Taumelkelch, den sie die Preußische Ehre nennen!«
Niemals in seinem Leben hat dieser Meister phrasenlosen Stiles einem Fremden, geschweige denn seiner Frau in diesem Tone geschrieben: hier probt er seine Rede. Als es aber ein paar Tage später wieder nach Krieg aussieht, bestellt er auf Tag und Stunde Pferde und Waffen, schließt im Reiterstile, wie einer, der sich auf das Abenteuer freut, und unterschreibt sich zum ersten Male an die Frau: »Ewig Dein.« Es ist noch nicht lange, so schrieb er ihr einmal, er sehnte sich »nach der großartigen Zerstreuung eines Feldzuges«.
Für diese Menschen werden wir siegen, wenn wir siegen: hier liegt das tiefere Motiv, warum dieser Draufgänger, warum Bismarck von einem Kriege abrät, der Deutschlands Einigung unter Preußen gegen Östreich bezweckt. Wenige Tage darauf wird für den Frieden entschieden, unter russischem Druck, weil, wie Bismarck im Alter schreibt, »der junge östreichische Kaiser dem russischen besser gefiel als der König von Preußen«. Manteuffel, der neue Minister, geht nach Olmütz und verzichtet vor Schwarzenberg auf die preußische Vormacht, der Bundestag, den Preußen vor zwei Jahren verlassen, soll wieder eingesetzt werden, Östreich ist es, das wieder in Frankfurt an der Spitze stehen wird.
Ganz Preußen, hier darf man einmal sagen: das Volk, ist empört, man fordert Manteuffels Sturz und den Krieg. Leidenschaftlicher kann in keinem das nationale Ehrgefühl aufgebraust sein als in Bismarck, der schon deshalb nie für Östreich war, weil er überhaupt immer nur für Preußen gewesen, jetzt aber, nach einer solchen Niederlage, den Gegner hassen muß und vernichten möchte; denn Verständigung wäre diesem großen Hasser höchstens mit einem Besiegten möglich, mit einem Sieger nie.
Bald erfährt er die seinen Stolz beschämenden Details: wie der östreichische Fürst im ersten Stock des Olmützer Gasthofes mit großer Suite regierte und tafelte, während der Preuße im Parterre mit zwei Dienern die Rolle eines Pächters spielte. Sicher fühlt er, was Schwarzenberg damals seinen Freunden sagte: er wolle Preußen erst demütigen und dann zerstören.
Doch was geschieht? Bismarck der Kämpfer erhebt sich, um in großer Rede vor der Kammer die Regierung und Olmütz zu verteidigen. Es ist die letzte und wichtigste Rede des Abgeordneten gewesen:
»Warum führen große Staaten heutzutage Krieg? Die einzige gesunde Grundlage eines großen Staates, und dadurch unterscheidet er sich von einem kleinen, ist der staatliche Egoismus und nicht die Romantik ... Es ist leicht für einen Staatsmann ... mit dem populären Winde in die Kriegstrompete zu stoßen und sich dabei an seinem Kaminfeuer zu wärmen oder von dieser Tribüne donnernde Reden zu halten und es dem Musketier, der auf dem Schnee verblutet, zu überlassen, ob sein System Sieg und Ruhm erwirbt oder nicht ... Wehe dem Staatsmann, der sich ... nicht nach einem Grunde zum Kriege umsieht, der auch nach dem Kriege noch stichhaltig ist! Nach dem Kriege werden Sie alle diese Fragen anders ansehen. Werden Sie dann den Mut haben, zu dem Bauer auf der Brandstätte seines Hofes, zu dem zusammengeschossenen Krüppel, zu dem kinderlosen Vater hinzutreten und zu sagen: Ihr habt viel gelitten, aber freut euch mit uns, die Unionsverfassung ist gerettet!«
Nach diesen Ironien wendet er sich nach links: man spreche von der preußischen Ehre, erstaunlich, grade unter den Liberalen. »Aber es wird Ihnen nicht gelingen, das preußische Heer, das am 19. März ... die Rolle des Besiegten übernahm, zu einem Parlamentsheere zu machen; es wird stets ein Heer des Königs bleiben und seine Ehre im Gehorsam suchen. Die preußische Armee hat Gott sei Dank nicht notwendig, ihre Tapferkeit zu beweisen ... Ich suche die preußische Ehre darin, daß Preußen vor allem sich von jeder schmachvollen Verbindung mit der Demokratie entfernt halte.« Hierauf spricht er für Östreich, es sei »eine deutsche Macht, die das Glück hat, fremde Völkerstämme zu beherrschen, welche in alter Zeit durch deutsche Waffen unterworfen wurden ... Ich erkenne in Östreich den Repräsentanten und Erben einer alten deutschen Macht, die oft und glorreich das deutsche Schwert geführt hat.«
So sprach Bismarck 35jährig, mit einem Fluch gegen alle schließend, die Menschenblut für die Unionsverfassung opfern wollten, d. h. für das Deutsche Reich ohne Östreich, für das er selber 16 Jahre später dasselbe Blut opfern mußte. So verteidigte Bismarck Preußens Unterwerfung in Olmütz, und kein privates Dokument enthüllt diese Rede als Diplomatenstück, hinter dem etwa kriegerische und antiöstreichische Absichten verborgen sein mochten. Was war der Grund? Die beiden Gerlach, Manteuffel, Brandenburg, alle Räte und Minister des Königs waren gegen den Krieg und alle für Östreich, sie waren's, weil in Wien die feste Burg der Reaktion geschichtet war. Mit ihnen mußte Bismarck gehen, solange er sie als Steigbügel brauchte. Jetzt war der Augenblick, von heut auf morgen durch eine große Rede für Regierung und König sich beide zu verbinden. Einen Teil der Macht zu erlangen, darauf kam ihm jetzt alles an; hatte er die, dann würde er seinem Lande auf seine Art schon nützen. Altbismärckische Junkergefühle und neumenckenscher Ehrgeiz trafen zusammen, um ihn zum Verteidiger von Olmütz zu machen.
Die Rechnung stimmte. Die Wirkung seiner Rede reichte aus, um ihn zum Diplomaten zu empfehlen. Der Mann, der in diesem Sturm nationaler Schmach es wagte sie zu verteidigen, war der geborne Mann, das Land auf dem Bundestag zu vertreten, wo man nun doch wieder mit Östreich zusammen arbeiten mußte. Seine Rechnung lag schon zwei Jahre zurück, da hatte er geäußert: »Einstweilen muß es noch viel schlechter gehen, erst in 2 oder 3 Jahren wird man Leute wie Kleist und mich im Staatsdienst verwenden können.« Jetzt war die Stunde da. Vier Wochen nach der Rede wird ihm das Ministerium von Anhalt angeboten. »Ich habe die Sache bisher nicht betrieben, sondern Gott überlassen, schreibt er in gewohntem Stil an die Frau. Sonst ist die Stellung angenehm, der Herzog ist blödsinnig und der Minister Herzog. Es wäre recht hübsch dort, als unabhängiger Herzog ... und dicht im Harz, das ganze Selketal zu regieren.«
Noch nie hat er dies Wort geschrieben: regieren! Jetzt fällt es wie ein Hammer herunter und durchdröhnt die romantische Waldlandschaft, die er aufzubauen sucht. Als aus Anhalt nichts wird, schwankt er in den nächsten Maßnahmen, fragt sich, ob er den Kutscher in Schönhausen noch behalten oder fortschicken soll, verhandelt über den Verkauf von Schönhausen, und doch, »zu verkaufen, fügt der Landwirt ironisch bei, schiene mir fast ruchlos, aber vielleicht grade aus Rücksichten, die vor dem Herrn keine Geltung haben.«
Dann zählt er auf, welche Stellungen seine Parteifreunde erreichen, will den Deichhauptmann aufgeben, aber »Landrat will ich nur in Schönhausen, Kniephof oder Reinfeld werden ... Wenn wir gewiß in Schönhausen blieben, so wäre mir ein andrer Kutscher eben recht, gehe ich aber irgendwo in Dienst, so ist mir Hildebrand gewohnter und angenehmer.«
In Dienst? Man glaubt einen Mann zu hören, der kürzlich eine Stellung aufgegeben und nun eine neue sucht, um zu leben. Es ist aber ein Rittergutsbesitzer in guten Verhältnissen, der nie einer Gemeinschaft dienen konnte, alles versucht und abgestoßen hat, um niemand zu gehorchen. So ganz hat ihn das Rad des politischen Treibens erfaßt, daß er sich ein privates Leben nicht mehr vorstellen kann: einen einzigen Tag ohne Frau in Schönhausen zubringen zu müssen, scheint ihm »so schauderhaft«, daß er es unterläßt, obwohl ihn Geschäfte rufen. Jetzt kann er von Berlin, besonders vom Hof nicht genug haben und erzählen. Nach Jahren tanzt er wieder, daß Johanna im einsamen Reinfeld eifersüchtig wird und ihre Wünsche einem Vetter aufträgt; doch er versöhnt sie und berichtet, daß der König nach dem Tanze sagte: »Die Königin liebäugelt seit einer halben Stunde mit Ihnen, und Sie merken es gar nicht!« Ein andermal schwärmt er ihr von der feenhaften Schönheit des Weißen Saales mit tausend Damen und Uniformen vor, und zwar »von oben gesehen, auf einem weichen Diwan unter Palmen und plätschernden Fontänen die Musik zu hören und das Wogen der Eitelkeit unter sich zu sehen, darin liegt Poesie und Stoff zum Nachdenken.«
Ja, Mephisto ist nicht aus ihm geschwunden, er wird nur etwas hoffähig gemacht, sogar in den vertraulichen Briefen nach Hause, und wenn der Militärattaché aus Petersburg ihm von Kaiser und Kaiserin von Rußland viel Schmeichelhaftes sagt, so fügt er dem Berichte die Wendung bei: »Das ist sehr schön, aber ich wollte doch, wir könnten beide ruhig in diesem Hause sitzen, und es stände in Kniephof, das wäre mir lieber als alle Gunst der Potentaten.« Denn es ist des Königs Schloß in Brandenburg, wo er dies hört und schreibt, und niemand hindert ihn und sie, ruhig in Kniephof zu sitzen, aber der Hof hier ist doch nicht zu verachten, und der Traum des Bismarckischen Herzens erfüllte sich am besten, wenn man das Schloß des Königs nach Hause trüge, um auf dem einen Flügel Politik und Macht, auf dem andern den Frieden und Johanna zu installieren.
Kein Wunder, daß er ihr aus Berlin sein gehetztes Leben klagt, das er um alles in der Welt jetzt nicht entbehren möchte. »Um Dir ein Bild von meiner Existenz zu geben: Sonnabend 10 Uhr Ordensfest bis 5 nachmittags, um 7 Konferenz mit Seehandlungspräsident, Akten und Rechnungen bis 10, dann zu Manteuffel, Tee und Intrigen bis 12. Zu Hause zwei Briefe in Wahlkreis geschrieben, 2 Uhr zu Bett. Sonntag 6 Uhr auf ... 7 wegen Besetzung des Ministeriums (in Anhalt-Bernburg) bis 9 Uhr verhandelt. Dann Büchsel (Predigt) bis 11, Minister des Innern bis 12, Visiten bis 3, um 6 Uhr Rendezvous mit Goltz, im Auftrage des Prinzen von Preußen, bis 9 geschrieben infolgedessen, dann zu Stolberg ... um 1 zu Bett.«
Endlich, im Frühjahr 51 erreicht General Gerlach beim Könige, daß er Bismarck nach Frankfurt schickt; er nennt diese Berufung »ganz sein Werk«, muß sie also im intimen Verkehr vorher genau mit seinem Freund besprochen haben, zumal er ja seine eigne Politik am Bundestag durch Bismarck verfolgen wird, der sich als seinen politischen Säugling bezeichnet. Diese Stellung, über die er seit Monaten nachgedacht und privat verhandelt hat, bedeutete mehr als seine Vernunft kalkulieren, wenn auch viel weniger, als sein Stolz fordern durfte. Solcher Kunststücke seitens des »Gouvernement occulte«, so jahrelanger Suggestionen, Hof- und Kabinettsintrigen bedurfte es, um in Preußen einen genialen Geist über die Hintertreppe in die Bürokratie zu schieben.
Und nun beginnt er mit höchst diplomatischer Naivität seiner frommen Gefährtin den Erfolg dieses zielbewußten Strebens als harmloser Spaziergänger darzustellen, dem gleich Heinrich dem Vogler auf der Jagd eine Krone angeboten wurde: »Die Ernennung nach Frankfurt spukt hier überall«, schreibt er ihr gleich bei Rückkehr von ihr nach Berlin. »Heut steht sie in der Vossischen Zeitung, ich weiß aber von gar nichts.« Nächsten Tag: »Sie haben wirklich die Absicht, mich irgendwie diplomatisch zu verwenden ... Außerdem wünsche ich eine Stellung, wo ich auf einige Dauer rechnen kann, damit ich mich mit Dir, mein Engel, einrichten kann ... Es ist möglich, daß sich an diesen meinen Wünschen die Sache zerschlägt ... Aber eine Stellung, wo ich nicht mit Familie leben kann, würde ich gleich wieder aufgeben.« Überhaupt »muß ich jeder behaglichen Gewohnheit und der Hoffnung, mit Dir und den Kindern so still zu leben, wie in unserm ersten Winter, auf lange entsagen, wenn ich mich in jenes Joch spannen lasse. Gott wird es ja ausführen, wie es unseren Seelen frommt ... Ich habe kein eigenmächtiges Begehren ausgesprochen und dränge mich zu nichts.« Am nächsten Tag: »Mein armes Liebchen, es ist nachgerade sehr wahrscheinlich geworden, daß ich nach Frankfurt gehe, wenn auch für jetzt ohne feste Stellung, aber mit Gehalt.«
Bei alledem ist nur »Gott« fatal, der Gerlachs Stelle übernehmen muß. Aber das Wohnen und die Familie, die Dauer und namentlich zugleich die Degradierung des Erstrebten zum »Joch«, in dem Augenblicke, wo er es erreicht: das ist alles echt, denn ohne Sehnsucht nach Stille kann er die Geschäfte so wenig ertragen, wie er die Stille ohne Wunsch nach Geschäften ertrug. Als ihn andern Tages Manteuffel fragt, ob er will, antwortet er »einfach mit Ja«. Kaum aber fühlt er sich ernannt, so bricht sein Stolz mit allen, lange zurückgestauten Kräften vor: so geht er zum König.
– Sie haben Mut, daß Sie ohne weiteres ein fremdes Amt annehmen!
»Der Mut ist ganz auf Seiten Eurer Majestät, wenn Sie mir eine solche Stelle anvertrauen. Indessen sind E. M. ja nicht gebunden, die Ernennung aufrecht zu erhalten, sobald sie sich nicht bewährt. Ich selbst kann keine Gewißheit darüber haben, ob die Aufgabe meine Fähigkeit übersteigt, ehe ich ihr nähergetreten bin. Ich habe den Mut, zu gehorchen, wenn E. M. den haben, zu befehlen.«
– Dann wollen wir die Sache versuchen.
Dreizehn Jahre vor dieser Unterredung, die ihn in den Staatsdienst zurückführte, war Bismarck aus ihm mit der Bemerkung zum Portier des Oberpräsidenten geschieden, er ließe sagen, er reiste ab und käme auch nicht wieder. Heut schreibt er der Frau: »Ihr habt Euch beklagt, daß man aus mir nichts machte von oben her; nun ist dies über mein Erwarten und Wünschen eine plötzliche Anstellung auf dem augenblicklich wichtigsten Posten unserer Diplomatie.«
Obwohl er hierin sogar das Drängen der Seinigen aufgedeckt hat und ihren Groll, daß man ihn nicht berufe, fährt er seelenruhig fort: »Ich habe es nicht gesucht, der Herr hat es gewollt, muß ich annehmen, und ich kann mich dem nicht entziehen ... es wäre feig abzulehnen ... Ich bete recht innig, daß der barmherzige Gott alles ohne Betrübnis für unser zeitliches Wohl und ohne Schaden für meine Seele einrichte.« In den nächsten Tagen variiert er diesen Gedanken und bestellt sich die seidne Jacke und Pistolen, ohne die er wohl die diplomatische Bahn nicht antreten mochte; auch teilt er mit, daß er nur wenige Monate die zweite Stelle, dann gleich den Posten des Gesandten erhalten werde.
Nun fängt auch Johanna an zu klagen. »Warum so traurig? erwidert er. Es ist ja schön im fremden Lande, aber mir sind die Tränen fast nah, wenn ich an das ländliche Stilleben mit Dir und Zubehör denke, was mir vielleicht auf lange in ferner Traumregion schwebt und jetzt grade reizender wie je erscheint ... Mache Dich mit dem Gedanken vertraut, daß Du mit mußt in den Winter der großen Welt; woran soll ich sonst mich wärmen? Es ist möglich und wahrscheinlich, daß ich auf lange Jahre nur als flüchtiger Besucher auf Urlaub in der Heimat sein werde ... Aber ich bin Gottes Soldat, und wo er mich hinschickt, da muß ich gehen ... Was Gott tut, das ist wohlgetan, damit laß uns in die Sache hineingehen ... Aber wie ich ... ein Heimweh nach Euch allen und nach dem grünen Frühling empfinde und dem Landleben, daß mir ganz schwer ums Herz ist. Ich war heut mittag ... bei General Gerlach, und während er mir von Verträgen und Monarchen dozierte, sah ich, wie im Vossischen Garten unter den Fenstern der Wind wühlte in den Kastanien und Fliederblüten, und hörte die Nachtigallen, und dachte, wenn ich mit Dir im Fenster der Tafelstube stünde und auf die Terrasse sähe, und wußte nicht, was Gerlach redete. Dein Brief ... kam gestern abend, und ich wurde so traurig und sehnsuchtskrank, daß ich weinen mußte, als ich im Bett lag ... In Frankfurt geben sie mir vorderhand 3000 Taler Gehalt ... Daß ich Geheimer Rat werden muß, ist eine Ironie, mit der mich Gott für all mein Lästern über Geheime Räte straft ... Könnte ich Dich nur eine Minute im Arm haben und Dir sagen, wie ich Dich liebe und Dir alles abbitte, was ich Dir jemals Schlimmes getan habe, mein süßes Herz ... Mir ist bange bei dieser plötzlichen Vornehmigkeit, und ich sehne mich mehr wie je nach Dir und Teifke, oder Freichow ... Ich liebe Dich mehr wie jemals, mein süßes Herz!«
So wogt's in diesem Busen mächtig: der liebe Gott und die doppelte Zärtlichkeit müssen das eigentümlich schlechte Gewissen übertäuben, das dieser Christ bei Erreichung seiner Zwecke empfindet, anstatt sich zu seinen klugen, moralischen und ihm gemäßen Zielen freimütig zu bekennen. Wie? fürchtet sich Bismarck? Gewiß nicht vor der Macht, noch weniger vor dem Kampf; aber vielleicht vor jener Bureaukraten-Leiter, deren Anblick ihn als Jüngling verscheucht, deren höchste Stufe er aber auch jetzt noch keineswegs erklommen hat. Vor dem Vorgesetzten fürchtet er sich, vor dem Zwang, zu berichten und zu erscheinen, wenn der Herr Minister befiehlt: vor dem Gehorchen fürchtet sich sein Stolz. Darum die plötzliche Leidenschaft für ein ländliches Stilleben, das ihn schon seit Jahren nicht mehr fesselt, darum der stürmische Wunsch nach Glück und Frieden an Johannas Herz. Aber da steht schon Gerlach wieder, doziert seinem Schüler, drängt ihn zur Abreise und wird doch nicht fertig. Und mit wunderlichen Gefühlen schreibt der neue Diplomat als Nachschrift unter seinen letzten Brief an die Frau:
»Schreibe von jetzt nach Frankfurt am Main an den Königl. Geheimen Legationsrat von Bismarck, Preußische Gesandtschaft.«