Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Buch
Der Bauende

»Man nascht nicht ungestraft vom Baume der Unsterblichkeit.«

Roon

 

I

»Hier im Landtag, während ich Dir schreibe, bin ich genötigt ... ungewöhnlich abgeschmackte Reden aus dem Munde ungewöhnlich kindischer und aufgeregter Politiker anzuhören, und habe dadurch einen Augenblick unfreiwilliger Muße ... Als Gesandter hatte ich, obschon Beamter, doch das Gefühl, ein Gentleman zu sein; als Minister ist man Helot ... Die Herren hier sind über die Motive nicht einig, aus denen sie übereinstimmen, darum der Zank ... Aber man schlägt sich con amore tot, das Geschäft bringt's halt so mit sich ... Diese Schwätzer können Preußen wirklich nicht regieren, ich muß den Widerstand leisten, sie haben zu wenig Witz und zuviel Behagen, dumm und dreist. Dumm in seiner Allgemeinheit ist nicht der richtige Ausdruck; die Leute sind zum Teil gescheut, meist unterrichtet, regelrechte deutsche Universitäts-Bildung, aber von der Politik wissen sie so wenig, wie wir als Studenten davon wußten, ja noch weniger, in auswärtiger Politik sind sie auch einzeln genommen Kinder; in allen übrigen Fragen aber werden sie kindisch, sobald sie in corpore zusammentreten.«

So, wie er sie hier Motley, dem Jugendfreunde, schildert, sind Bismarcks Stimmungen in den ersten Monaten seiner Regierung: Verachtung der Ideologen als Gruppe, die er bekämpft, bei voller Einsicht in die Bildung einzelner Führer, in europäischen Dingen das Gefühl absoluter Überlegenheit; zugleich ein steter Kampf gegen sein nervöses Ehrgefühl, das lernen muß, nicht mehr zurückzuschlagen. Bis hierher konnte er seine Gegner unmittelbar und mit dem vollen Einsatz aller Kräfte bekämpfen: als Abgeordneter von der Tribüne, als Diplomat in Berichten und Briefen; von nun an muß er den Erwählten des Volkes Erkenntnisse und Absichten verschweigen, da sie sonst zur Kenntnis der Völker kämen und neue Absichten erzeugten. Mit der Macht beginnt auch in Bismarck die Einsamkeit.

Er darf sich nicht wundern, wenn er sich in einer Berliner Zeitung also begrüßt sieht: »Als ein Landedelmann von mäßiger politischer Bildung, dessen Einsichten und Kenntnisse sich nicht über das erheben, was das Gemeingut aller Gebildeten ist, begann er seine Laufbahn. Den Höhepunkt seines parlamentarischen Ruhmes erreichte er 1849 und 50; er trat in seinen Reden schroff und rücksichtslos auf, nonchalant bis zur Frivolität, mitunter witzig bis zur Derbheit – aber wann hätte er einen politischen Gedanken geäußert?« Vor dem Lande selten, das ist wahr, und was er zehn Jahre lang zur Erhaltung des Friedens getan, das weiß nur ein Dutzend Eingeweihter: war sein Wirken auch nicht sehr priesterlich, so war es doch die geheime Form. »Auch eine größere Kraft, schrieb Gustav Freytag in den Grenzboten, würde an der festen Haltung der Kammern scheitern; Herr von Bismarck kann sich kein Jahr halten.« Poeta propheta: er hielt sich achtundzwanzig.

Wer ihn aber jetzt vollends aus der Nähe arbeiten sah, zweifelte an seinem Verstande: »Bismarck leidet an einer schweren Nervenkrankheit, schreibt einer seiner Beamten nach einigen Wochen, und ist mir mitunter wie nicht ganz zurechnungsfähig erschienen. Wenn er z. B. Instruktionen für die Presse gab, kam er zuweilen bald in einen gewissen Galopp des Denkens, dem man kaum folgen konnte. Unter den Berliner Diplomaten ist die Meinung vorherrschend, daß er ... nicht mehr lange leben werde, da er sich in keiner Weise schont.«

Und doch fing er nach seiner naturwissenschaftlichen Weise sacht und langsam an, um erst nach ausgedehnten Analysen und Versuchen mit kurzen Schlägen vorzugehen. Wenn er käme, so hatte er vorher an Roon geschrieben, so würde es heißen: »Nanu geht's los!« Er war entschlossen, seine Feinde in der Hoffnung auf schneidig – ungeistiges Auftreten zu enttäuschen: gleich beim Eintritt zieht er den neuen Etat für das Jahr 63 zurück, bietet also der Kammer Waffenstillstand an, verhandelt mit den Altliberalen, um ihnen Sitze im Kabinett anzubieten oder angeboten zu haben, und setzt sie noch mehr durch seine Form als durch seine Anträge in Staunen. Oder was soll der Abgeordnete Twesten seinen Freunden erzählen, wenn ihm der mehr verachtete als gefürchtete neue Mann in langer Unterhaltung beinah intim und sehr kritisch vom Könige spricht, für dessen gedankenlosen Schildhalter er doch gilt! Der Liberale Oetker hat es aufgeschrieben, als er beim ersten Besuche einen »servilen Landjunker erwartete, einen Jagdbummler und Spieler, um aber in wenigen Minuten ein ganz anderes Bild in der Seele zu haben. Keine Spur von allem ... Eine hohe, starke, aber geschmeidige Kraftgestalt kam mir freundlich bis an die Tür entgegen, reichte mir die Hand, rückte mir einen Sessel zurecht und sagte mit dem gewinnendsten Lächeln: Na, Sie sind ja auch schon mißliebig bei den Demokraten! Dann erklärte er, die Zeit sei vorüber, wo er sich den Barrikaden gegenübergestellt, in Frankfurt habe er viel gelernt«, und schimpfte auf die Kreuzzeitung in Ausdrücken, die dem Besucher »nie in den Mund oder in die Feder gekommen wären«.

So überlegen sieht man ihn mit seinen Gegnern spielen, die von ihm nur Hochmut und Verschlossenheit erwartet, nur Artigkeit und den Schein von Offenheit empfangen haben. Oetker ist kein Revisor oder Grünkram-Händler, der im Bezirksverein politisiert, es ist ein hessischer Führer, Advokat und vielgebildet, dem der Empfang an der Tür und der hingeschobene Sessel schmeicheln, und dies doch nicht um der Stellung, nur um der Klasse -willen, die der Herr Junker darstellt. So hochmütig war damals die Tradition des preußischen Adels, und er, der solchen Klassengefühls am stärksten verdächtig ist, durchbricht die Formen, gibt sich natürlich und zeigt, indem er vor seinen Gegnern gegen die Übertreibung seiner Partei losgeht, daß er weder steif wie eine Exzellenz noch doktrinär wie ein Junker und überhaupt formell als Weltmann, Original und was nicht alles erscheinen mag, nur nicht als preußischer Beamter.

Keiner hat diese Experimente seines Anfangs feiner erkannt als Schlözer, den er in den ersten Amtswochen einige Male in die Weinstube lädt: »Bismarck spielt nach allen Seiten hin Komödie, versucht den König und alle Parteien einzuschüchtern ... Er freut sich, daß er alle Welt hinters Licht führt. Den König sucht er zum Nachgeben in bezug auf die Dienstzeit zu bewegen, dem Herrenhaus stellt er die von ihm projektierte Reaktion in so schwarzen Farben hin, daß, wie er meint, die Herren selbst Angst kriegen ... Vor den Herren der Zweiten Kammer tritt er bald sehr stramm auf, bald so, daß sie seinen Wunsch zur Vermittlung durchriechen sollen. Die deutschen Kabinette endlich macht er glauben, daß der König nur mit Mühe den Cavourismus seines neuen Ministers zu zügeln vermag. Das läßt sich nicht leugnen, daß er bis jetzt durch seinen Geist und seine Blitze imponiert. C'est un homme!«

Vorläufig pflegt er große Höflichkeit, auch in den schärfsten Augenblicken. Er war erst eine Woche Minister, da benutzte er die Sitzung einer Kommission des Landtages zu persönlichen Geständnissen. In der Debatte öffnet er seine Zigarrentasche, zeigt den Gegnern einen kleinen Ölzweig, »den habe ich kürzlich aus Avignon mitgenommen, um ihn der Volkspartei als Friedenszeichen anzubieten. Nun sehe ich freilich, es ist noch nicht die Zeit dafür.« Ganz von oben herab, aber von einer Courtoisie, die er aus dem Lande dieses Ölzweiges mitgebracht zu haben scheint. Doch sogleich wechselt der Virtuose den Ton, erklärt die Vorwürfe der Presse, die ihm Kriegsabsichten zur Klärung der inneren Verwirrung unterschieben, für Verleumdungen, dann sagt er:

»Freilich werden wir solchen deutschen Verwickelungen kaum entgehen, auch ohne daß wir sie suchen. Nicht auf Preußens Liberalismus sieht Deutschland, sondern auf seine Macht; die süddeutschen Staaten mögen den Liberalismus indulgieren, darum wird ihnen doch keiner Preußens Rolle zuweisen! Preußen muß seine Kräfte zusammenfassen und halten für einen günstigen Augenblick, der schon einige Male verpaßt worden ist. Unsere Grenzen liegen für ein gesundes Staatswesen seit den Wiener Verträgen ungünstig. Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden, das war der große Fehler von 48-49, sondern durch Eisen und Blut.«

An einem grünen Tische, vor den Ohren von ein oder zwei Dutzend Abgeordneten und einigen Ministern, ohne provoziert zu sein, ein Monolog in verbindlichstem Tone, mit dem Schein eines Impromptu, aber in keinem Fall unvorbereitet: so fallen diese Sätze von seinen Lippen, ohne Ansatz von Flügeln, die ihnen wachsen könnten. Kein Stenograph hat sie notiert, aber als sie bald darauf ganz Deutschland durchhallten, als Presse und Volk den Rhythmus »Blut und Eisen« erfand und echten oder wohlgespielten Schrecken kundgab, hat sie der Sprecher nicht verleugnet.

Bedauert aber hat er sie, und wie der erste Hieb des Abgeordneten Bismarck vor 14 Jahren, so ist auch dieser erste des Ministers ein Lufthieb gewesen; auch diesmal hatte er alle erzürnt, Freunde wie Feinde. »Das sind geistreiche Exkurse«, sagt Roon, sein Freund und Erfinder, beim Nachhausegehen und macht ihm Vorwürfe. Diesem Manne ist alles ein Spiel, so redet kein verantwortlicher Minister, schreiben die Liberalen, und er selber erklärt einem Abgeordneten: »Ich meinte nur, der König brauche Soldaten, keine Reden, um die deutsche Frage weiterzubringen. Es war nur eine Warnung nach Wien hin und nach München, durchaus kein Appell an die Gewalt gegen die andern deutschen Staaten; Blut heißt nur Soldaten. Aber ich hätte meine Worte vorsichtiger wählen können.« Dieses berühmteste unter allen Bismarck-Worten war Bismarcks letzter taktischer Fehler.

Mit Schrecken las auch der König diese Sätze, und da er grade in Baden bei der Königin und an ihrem Geburtstage auch noch den Blicken und Kritiken des kronprinzlichen Paares ausgesetzt ist, so muß er freilich dunkle Gedanken über seinen neuen Geschäftsführer wälzen, der ihm noch eben, vor 8 Tagen, Gehorsam angelobt hat, und den zu bändigen er sicher seiner Frau versprochen hatte. Die Familie ist außer sich, man spricht von Ludwig dem Sechzehnten, von Straffords und Polignacs Schicksal – und gar am Geburtstag der Königin! Die ganze offizielle Festfreude ist hin! Diese Wirkung seiner Rede in Baden berechnet Bismarck in Berlin, versetzt sich in des Königs innere Kämpfe, obwohl ihm dieser weder geschrieben noch gedrahtet hat, sieht ihn ein paar Tage später im Geiste vor sich, allein zurückreisend, die Ohren von Warnungen und Vorwürfen voll, – und nun beginnt er die Behandlung seines Königs mit einer weder diesem noch dem Kabinett gemeldeten heimlichen Fahrt, um ihn vor Eintreffen in seiner Hauptstadt zu bearbeiten. Er reist ihm entgegen.

Am Schalter erkennt ihn der liberale Herr von Unruh, zu dem steigt er ins Kupee, um auch ihn zu einer Suggestion zu benutzen, bespricht mit ihm vorsichtig die Lage, und sagt in Jüterbog beim Aussteigen, er besuche einen Verwandten. Dann sitzt er auf dem unfertigen Bahnhofe »im Dunkeln auf einer umgestürzten Schiebkarre« zwischen Handwerkern und andern kleinen Leuten, wird von den Schaffnern angefahren, die er nach dem Wagen des Königs fragt, aber er nennt sich nicht, man kennt ihn auch nicht, und er, der jeden Respekt vor seiner Klasse fordert, scheint gar keinen vor seiner Stellung zu fordern; der Mann von Blut und Eisen, den zum erstenmal in diesen Tagen alle Welt nennt und zugleich verflucht, sitzt im Dunkeln auf der Schiebkarre und wartet auf seinen Herrn. In diesen sagenhaften Zeiten reiste der König von Preußen noch mit dem fahrplanmäßigen Zuge, in einem halbdunkeln Kupee sitzt er allein, in sichtlich gedrückter Stimmung findet ihn der Minister. Als er bittet, die Vorgänge darlegen zu dürfen, unterbricht ihn der König, noch vor dem ersten Wort:

– Ich sehe ganz genau voraus, wie das alles endigen wird: da, vor dem Opernplatz, unter meinen Fenstern, wird man Ihnen den Kopf abschlagen und etwas später mir!

Bismarck, der Augustas Schatten hinter ihm aufsteigen sieht, erwidert, als der König schweigt, nur die Worte: »Et après, Sire?«

– Ja, après! Dann sind wir tot!

»Ja, dann sind wir tot, aber sterben müssen wir früher oder später doch, und können wir anständiger umkommen? Ich selbst im Kampfe für die Sache meines Königs und Herrn, und E. M., indem Sie Ihre königlichen Rechte von Gottes Gnaden mit dem eignen Blute besiegeln, ob auf dem Schafott oder auf dem Schlachtfeld, ändert nichts an dem rühmlichen Einsetzen von Leib und Leben für die von Gottes Gnaden verliehenen Rechte! E. M. müssen nicht an Ludwig XVI. denken; der lebte und starb in einer schwächlichen Gemütsverfassung und macht kein gutes Bild in der Geschichte. Karl I. dagegen, wird er nicht immer eine vornehme Erscheinung bleiben, wie er, nachdem er für sein Recht das Schwert gezogen, die Schlacht verloren hatte, ungebeugt seine königliche Gesinnung mit seinem Blute bekräftigte? E. M. sind in der Notwendigkeit zu fechten. Sie können nicht kapitulieren, Sie müssen, und wenn es mit körperlicher Gefahr wäre, der Vergewaltigung entgegentreten!«

»Je länger ich in diesem Sinne sprach, desto mehr belebte sich der König und fühlte sich in die Rolle des für Königtum und Vaterland kämpfenden Offiziers hinein ... Der ideale Typus des preußischen Offiziers, der dem sicheren Tode im Dienste mit dem einfachen Worte ›Zu Befehl‹ selbstlos und furchtlos entgegengeht, der aber, wenn er auf eigene Verantwortung handeln soll, die Kritik des Vorgesetzten oder der Welt mehr als den Tod fürchtet ... Er fühlte sich bei dem Porte-épée gefaßt ... Damit war er auf einen seinem ganzen Gedankengange vertrauten Weg gestellt und fand in wenigen Minuten die Sicherheit wieder, um die er in Baden gebracht worden war, und selbst seine Heiterkeit ... Er war der Sorge vor der Manöver-Kritik ... überhoben und schon vor Ankunft in Berlin in eine heitere, man kann sagen fröhliche und kampflustige Stimmung versetzt, die sich den empfangenden Ministern und Beamten gegenüber auf das unzweideutigste erkennbar machte.«

Diese Szene, die erst nach 30 Jahren niedergeschrieben, doch in ihrer dramatischen Plastik die Wahrheit auf der Stirne trägt, ist eines seiner Meisterstücke, weil er hier nicht einen Gegner zur Übergabe oder seinen Herrn zu einem Kriege, sondern weil er den mit Recht grollenden König zur Billigung einer seiner Reden bringt, die er selber als verfehlt empfindet. Es war mit schlechtem Gewissen, daß Bismarck auf der Schiebkarre saß, und wenn er seinem Gegner gestand, er habe sich in den Worten Eisen und Blut vergriffen, so war er doch keineswegs bereit, acht Tage Minister, dasselbe seinem Chef einzugestehn. So steigerte er zugleich sich und den König in eine Kampfstimmung, die bei den ersten Beratungen beide noch nicht ergriffen hatte, und legte sich den suggerierten Kampfesmut des Königs für alle Fälle zurück.

War aber all dies Klugheit und Berechnung, so war es doch zugleich im tiefsten Gefühle wahr, denn eines Tages kämpfend unterzugehn, war Bismarck vom ersten Säbelduell vertraut, und in keiner Stunde seines Lebens hat er gescheut, sich körperlich einzusetzen. In dieser tiefen Seelenstimmung des Mutes, deren Echtheit der König gleichsam sinnlich durch die Poren seiner alten Soldatenhaut empfand, lag eines der großen Mittel zur Suggestion.

Es war der Zaubertrank, mit dem Bismarck seinen Herrn in allen Stunden der Schwäche heilte.

II

»Ich passe nicht für den König, der sehr sanft behandelt werden muß!« Mit diesen Worten hatte er bei Berufung Wilhelms zur Regentschaft, vier Jahre vor seiner eigenen Berufung, gegen Gerlach schon die Schwierigkeiten aufgezeigt, die ihm der Thronwechsel bereitete. Ob er für die Preußen paßte, das war die eine große Frage, die schon Schlözers Haßliebe nicht zu bejahen wagte; der König aber, nur dieser Eine Preuße konnte ihm die andern als die Objekte der Staatskunst übergeben: ihn galt es erst zu fangen, jetzt zu halten. Bismarck hat ihn behandelt wie ein Frauenkenner die nie ganz sichere Geliebte, wie ein Erfinder seinen Finanzmann: wie ein Meister. In dem oft lautlosen Kampf der beiden Männer, die ohne einander nicht wirken konnten, in diesem stillen Ringen zweier grundverschiedener Charaktere, nicht um die Macht, sondern um die Selbstüberwindung, in diesem Königs-Wettspiel ohne Ende hat jeder die Hälfte des Verdienstes und der Last. Es ist nicht auszurechnen, was schwerer war: daß ein alter Herr von mittleren Gaben, aber aus Königsblut, einen jüngeren Minister ertrug, der nur Junker war, aber Genie, oder daß der verwegene Staatsmann einen stets zögernden König ertrug. Immer mißtraute der alte Reiter dem kühnen Pferde, immer schäumte das Pferd in den Zügeln: im Gleichtakt sind beide höchstens im Schritt gegangen.

Nach zahllosen Debatten, die König und Minister trennten, saßen sie beide in ihren Häusern, grollend, böse, beide nur von dem einen Wunsche beseelt, den andern loszuwerden; wenn aber dann aus Müdigkeit, meist allerdings aus Klugheit der Untere dem Oberen den Dienst aufkündigte, dann erschrak der Obere und lenkte schnell ein. Stunden der Wut hat es zwischen beiden Männern gegeben, Stunden, von denen nur leise Töne aus den Memoiren wiederklingen.

Das alles wußte Bismarck voraus, lange Jahre, bevor sie beide zur Regierung kamen, und hat es als Gesandter in seinen Kalkülen immer wieder erwogen. Als er dem König nun im täglichen Dienst begegnet, legt er sich großen Stiles seine Rolle zurecht: Menschenkenner im allgemeinen, Hofmann im besonderen, Soldat in einigen Momenten, immer aber muß er gottesfürchtig scheinen, wenn er den bald 70 jährigen Herrn nicht scheu machen will. Noch in diesem Alter ist der König zuweilen so wütend geworden, daß er Staatspapiere in der Faust zerknüllte, die Bismarck nach der Krise lächelnd betrachtete und, wie große Porträtisten ein Gesicht, um dieser Knitter und Falten willen nur noch interessanter fand. Dagegen war nur Gelassenheit als Kraut gewachsen: und eben diese hat Bismarck erst jetzt gelernt. Sein Ehrgefühl ertrug es, weil er denselben Herrn als treu erkannte, nicht wandelbar wie seinen Bruder, der einen Minister mit dem andern betrog. Wilhelm der Erste gab sein festes Vertrauen unbedingt dem, der sich die stärkste Verantwortung aufladen ließ.

Während Bismarck beim Eintritt ins Amt den König kannte, Überraschungen also nicht erleben konnte, hat sich der König doch erst langsam in ihm zurechtgefunden und seine Vorurteile mit den Jahren und Erfolgen abgelegt. Widerstrebend war er in diese Sache eingetreten, und grade in den ersten Jahren taten Verwandte und Freunde alles, um ihn rasch wieder daraus zu befreien. Gleich zu Anfang schickten altliberale Männer Vertraute zum König, die Absetzung des neuen Ministers zu erbitten. Mit Trauer sah der alte Herr die Sympathien wieder verfliegen, die er, einst als »Kartätschen-Prinz« gehaßt, jetzt in der sogenannten Liberalen Ära wieder zu gewinnen begonnen. Es war vier Monate nach der Ernennung Bismarcks, als der König von der Hand eines alten, ihm befreundeten Offizieres las: »Das Volk hängt treu an E. M., aber es hält auch fest an seinem Recht ... Möge Gott die unglücklichen Folgen eines großen Mißverständnisses in Gnaden abwenden!«

Solche Worte setzen ihn in Flammen. Widerspruch macht ihn nur noch fester, mit aufgeregten Schriftzügen, zwei- und dreimal die Worte unterstreichend, mit der Leidenschaft eines Jünglings erwidert er: »Immer und immer habe ich es wiederholt, daß mein Vertrauen zu meinem Volke unerschüttert sei, weil ich wüßte, daß es mir vertraue! Aber diejenigen, welche mir die Liebe und das Vertrauen desselben rauben wollten, die verdamme ich ... Daß zu diesem Zwecke jenen alle Wege recht sind, weiß die ganze Welt ... Habe ich nicht die Konzession von 4 Millionen gemacht – leider! – Habe ich nicht andere Konzessionen gemacht – leider! – ... Wer einen solchen Gebrauch von seinem Rechte macht, d. h. das Budget so reduziert, daß alles im Staate aufhört, der gehört ins Tollhaus! Wo steht es in der Verfassung, daß nur die Regierung Konzessionen machen soll, und die Abgeordneten niemals???« Mit solchem Furor, als König an einen unbeamteten Untertan, schreibt nur, wem sein Gewissen die Ruhe der Nächte raubt, und sicher hat der fromme Mann mit Gott um seinen Minister gerungen.

Bismarck läßt in den Krisen keinen Brief an den König aus den Händen, ohne Gott anzurufen, und wenn er zu Weihnachten von ihm einen Stock bekommt, so vergleicht er ihn dem Stabe Aarons, obwohl die Sache nicht recht passen will. Immer lauscht er auf die Stimmung jenes Herzens, vor großen Entscheidungen, die alle dem König erst langsam suggeriert und dann noch abgerungen werden mußten, schreibt er dem Freunde Roon: »Das Herz des Königs weilt im andern Lager ... Ich habe die Gefühlsseite des Königs gegen mich.« Vor einem Mobilbefehl an Roon: »Es ist sehr zu wünschen, daß der König noch morgen seine definitiven Befehle gibt, Gründonnerstag wird er nicht in der Stimmung für dergleichen sein.« Ein paar Jahre später: »Ich bin mit meinen Kräften wieder fertig. Ich kann die Kämpfe gegen den König gemütlich nicht aushalten.«

Wilhelms ursprüngliche Abneigung gegen Bismarck gab dieser ihm nicht zurück, ihm genügte zunächst sein allgemeines Gefühl der Überlegenheit; denn wie ein Champion hat sich Bismarck in der Jugend mehr den Körper, später mehr den Geist jedes Begegnenden zuerst daraufhin angesehen, ob er ihm auch sicher in allen Lagen und Punkten überlegen sei. Beim Prinzen und König Wilhelm fiel ihm das leicht, aber erst, als sie König und Minister zusammen zu spielen begannen, pflegte er in sich zwei neue Gefühle, ohne die er niemals hätte aushalten können: er sah im König den Lehnsherrn und eine Art von Vater. Was er einst seiner jungen Frau geschrieben: »Wir haben seinem Blute Treue und Huldigung geschworen«, dies Lehensgefühl weitete sich jetzt, da er selber aus unmittelbarer Nähe ihn zu schützen, als sein Schildhalter berufen war, besonders, weil diese symbolischen Gefühle im Anblick eines weißbärtigen Greises neue Antriebe durch das Auge fanden. Seine Lage vor dem oft zornigen Könige verglich er selber im Alter der vor einem Vater, dessen Erregungen oder Launen man als vis major hinnehmen müsse, – und vergaß, daß er in der Jugend niemals geneigt war, sich seinem leiblichen Vater zu unterwerfen.

Wie er sich nun langsam den König unterwarf, so mußte er aus diesem Lebenskampfe doch allmählich auch Sympathie zu dem Manne ziehen, der seine Macht für ihn aufgab, und er steigerte sich nach dessen Tode sogar in ein Gefühl der Liebe hinein, die ein Reflex des Hasses auf seinen Erben und Stilisierung für die Nachwelt war. Aber in allen Krisen des ersten Jahrzehntes fühlte er sich an seinen störrischen Herrn im Augenblicke wieder gefesselt, wenn er dessen persönlichen Mut gewahrte, auf dem Schlachtfeld und später bei Attentaten.

Denn Angst hatte König Wilhelm nur vor der »Manöverkritik seiner Frau«. Hier mäßigte kein Royalismus, nicht einmal das Gefühl des »Damenrechtes«, wie es Bismarck Frauen gegenüber in gelegentlicher Duldsamkeit genannt hat, den Haß, den der Minister gegen die politisierende Frau im allgemeinen, besonders aber gegen Augusta hatte, seit jenem Schicksals-Gespräch aus den Märztagen im Dienerzimmer des Potsdamer Schlosses.

Was zwischen diesen beiden Menschen sich zugetragen, hat Bismarck »die schwersten Kämpfe seines Lebens« genannt; im einzelnen ist es in Schlafzimmer-Gesprächen untergegangen, die der König von seiner Frau zu erdulden, und deren Wirkungen Bismarck der seinigen zu klagen pflegte. Diese Augusta, die vergebens »in Goethes Augen geblickt hatte«, ertrug Bismarcks Auge nur im Schutz ihrer Stellung. Hätte sie ihm politische Ideen oder doch Einfälle gegenübergestellt, man könnte sie noch in der Niederlage bewundern; aber sie setzte ihm nur eine allgemein humanitäre Phrase entgegen, hinter der sich die Furcht vor einem neuen Achtundvierzig verbarg, und wenn sie im intimen Kreise die Rolle des Königs und seines Ministers mit Ludwig, Strafford und Polignac verglich, so sah sie den verderblichen Einfluß auf den Gatten nur in Bismarck; sie vergaß, daß grade er in jenen Märztagen recht gehallt, nur durch seine Weigerung ihr selber die Krone erhalten, und war lieber bereit, ihm die schimpflichsten Motive unterzulegen, als in ihm den Vorkämpfer für die Königsrechte zu stützen oder doch zu ehren.

In seinem allgemeinen Mißtrauen und Menschenhaß hat sich Bismarck oft im Leben grundlos verfolgt gefühlt; gegenüber Augustas unerträglicher Neben- und Gegenregierung ist er durch 26 Jahre nur zu beklagen, denn hier, vor einer Frau und einer Königin, stand der Kämpfer waffenlos und mußte ihre Schläge schweigend ertragen. Sobald sein Herr von ihr bearbeitet war, oft beim Frühstück durch ad hoc zugerichtete Briefe, merkte er den Ursprung, zog sich aber in den ersten Jahren, beim kleinsten Hinweis, »sehr scharfe Zurückweisung zu. Der König ... wollte gewissermaßen verbieten, dergleichen zu glauben, auch wenn es wahr wäre.«

Nur im barocken Gewände höfisch-frommer Kurialien konnte er es wagen, den König sogar gegen seine Frau zu führen. Gastein 65, der Abschluß mit Östreich wird verhandelt, wieder einmal sind alle Faktoren gegen die Politik des Ministers: da erzählt ihm auch noch der König, er habe soeben der Königin vertrauliche Mitteilung gemacht. Bismarck, zu Hause angelangt, verzweifelt über das Familiengeschwätz, das er heraufziehen sieht und das ihm alles zu verderben droht, setzt sich hin und schreibt – eigenhändig, denn wem könnte man so delikate Dinge vertrauen! – eine lange Bitte:

»E. M. wollen mir huldreich verzeihen, wenn eine vielleicht zu weit getriebene Sorge für die Interessen des Allerhöchsten Dienstes mich veranlaßt, auf die Mitteilungen zurückzukommen, die E. M. soeben die Gnade hatten, mir zu machen ... Ich glaube mit E. M., daß I. M. die Königin die Mitteilungen geheimhalten werde; wenn aber von Koblenz, im Vertrauen auf die verwandtschaftlichen Beziehungen, eine Andeutung an die Königin Victoria, an die Kronprinzlichen Herrschaften, nach Weimar oder nach Baden gelangte, so könnte allein die Tatsache, daß von uns das Geheimnis, welches ich ... zusagte, nicht bewahrt worden ist, das Mißtrauen des Kaisers Franz Joseph wecken und die Unterhandlung zum Scheitern bringen. Hinter diesem Scheitern steht aber fast unvermeidlich der Krieg mit Östreich.

»E. M. wollen es nicht nur meinem Interesse für den Allerhöchsten Dienst, sondern meiner Anhänglichkeit an Allerhöchstdero Person zugute halten,wenn ich von dem Eindrucke beherrscht bin, daß E. M. in einen Krieg gegen Östreich mit einem andern Gefühle und mit freierem Mute hineingehen werden, wenn die Notwendigkeit dazu sich aus der Natur der Dinge und aus den monarchischen Pflichten ergibt, als wenn der Hintergedanke Raum gewinnen kann, daß eine vorzeitige Kundwerdung der beabsichtigten Lösung den Kaiser abgehalten habe, zu dem letzten für E. M. annehmbaren Auskunftsmittel die Hand zu bieten. Vielleicht ist meine Sorge töricht, und selbst wenn sie begründet wäre und E. M. darüber hinweg gehen wollten, so würde ich denken, daß Gott E. M. Herz lenkt, und meinen Dienst deshalb nicht minder freudig tun, aber zur Wahrung des Gewissens doch ehrfurchtsvoll anheimgeben, ob E. M. mir nicht befehlen wollen, den Feldjäger telegraphisch nach Salzburg zurückzuberufen. Die äußere Veranlassung dazu könnte die ministerielle Expedition bieten, und es könnte morgen ein andrer an seiner Statt oder derselbe rechtzeitig abgehen ... Zu E. M. bewährter Gnade habe ich das ehrfurchtsvolle Vertrauen, daß Allerhöchstdieselben, wenn sie meine Bedenken nicht gutheißen, deren Geltendmachung dem aufrichtigen Streben verzeihen wollen, E. M. nicht nur pflichtmäßig, sondern auch zu Allerhöchstdero persönlicher Befriedigung zu dienen.«

Ist wirklich erst ein halbes Jahrhundert vergangen, seit ein großer Staatsmann solche Briefe an einen König richten mußte, der ohne ihn nur eben mit seiner Nummer in der Geschichte figurieren würde? Glaubt man nicht, einen Höfling um einen Orden oder um Verzeihung bitten zu hören? Was hier in Gastein vorgeht, das hat der Schreibende erdacht, um es durchzuführen, die Unterschrift in langen Kämpfen seinem Herrn abgerungen; weder Gott noch sein Gewissen, weder Pflicht noch Dienst haben mit diesen Staatsgedanken das geringste zu tun, hier ist nur ein großer Schachspieler, der auf undurchsichtigen Umwegen seinen Gegner in die Enge treibt, um ihn am Ende matt zu setzen: und nun, inmitten der schwierigsten Verhandlungen, sieht dieser Mann, im Kampf mit seinem Herrn ermüdet, unmittelbare Gefahren für sein Werk durch Weitergabe eines Geheimnisses unter den fürstlichen Frauen heraufziehen, er muß die Wege überdenken, die ein Plan zwischen zwei Reichen nehmen kann, wenn Augusta an Victoria, diese an ihre englische Mutter, jene wieder nach Wien oder Dresden schreibt, um mit teils dilettantischen, teils feindlichen Händen rasch alles wieder kaputt zu machen. Ist es erstaunlich, daß die Fürsten-Verachtung dieses Mannes von einem Tag und Jahr zum andern wächst? Erstaunlich ist, daß er monarchisch bleibt.

Denn unter diesen Hohenzollern ist keiner, der ihn stützte. Der Sohn, sonst oft der kriegerische Gegner eines vorsichtigen Königs, hier unter dem Pantoffel einer geistig überlegenen Frau, überträgt richtige englische Ideen auf Preußen, ohne Macht und Mut, sie durchzufechten. Nur einmal wagt er sich vor. Der Konflikt hat sich verschärft, Bismarck hat gegen die Freiheit der Presse Verordnungen erlassen, der Kronprinz, auf einer Inspektionsreise, wird mit seiner Frau in Danzig empfangen: da faßt er sich ein Herz und sagt auf dem Rathause: »Auch ich beklage, daß ich in einer Zeit hierher gekommen bin, in der zwischen Regierung und Volk ein Zerwürfnis eingetreten ist, das zu erfahren mich in hohem Grade überrascht hat. Ich habe von den Anordnungen, die dazu geführt haben, nichts gewußt. Ich war abwesend. Ich habe keinen Teil an diesen Ratschlägen gehabt.«

Als er diese Rede seines Sohnes liest, die ganz Preußen nachdruckt, wird der König wütend, nicht weil sein Erbe sich populär macht, sondern als Soldat, an Subordination gewöhnt und glaubend, sieht er die Basis seiner Armee, den Gehorsam gefährdet. Daß er vor einem Jahrzehnt in ähnlicher Lage war und doch den Zorn gegen seinen regierenden Bruder nicht aus den vier Zimmerwänden trug: seine eigene stumme Unterwerfung aus dem Krimkriege läßt ihn nur heftiger gegen den Sohn empfinden, der seinen Widerspruch vor der Welt kund macht. Was tut Bismarck? In dieser Stimmung könnte er den König leicht zu jeder Demütigung seines Sohnes gewinnen. Widerruf, Strafversetzung, selbst Festung ist familienrechtlich möglich, und all dies hat der König tatsächlich erwogen. Der Minister aber rät zur Verzeihung. Will er sich den Nachfolger verbinden? Kaum. Eher will er ihm den Heiligenschein nehmen, mit dem ihn eine Bestrafung umlichten möchte. »Verfahren Sie säuberlich mit dem Knaben Absalom, sagt er zu dem bibelfesten König. Vermeiden Sie jeden Entschluß ab irato, lassen Sie nur die Staatsraison entscheiden! Im Konflikt des jungen Fritz mit dem Vater waren alle Sympathien auf Seiten des Sohnes.« Mit so klug gesetzten Worten bewirkt er Versöhnung.

Privatim aber ist der Kronprinz frei und bekennt dem nun noch mehr gehaßten Minister, wie er seine volksfeindliche Politik verdamme; auch lehnt er ab, an den Sitzungen des Ministeriums weiter teilzunehmen, »weil ich sein entschiedener Gegner bin«. Nach einiger Zeit, als sie sich wieder treffen, fragt Bismarck, warum er sich von einer Regierung fernhalte, die doch in einigen Jahren die seinige würde, er solle die abweichenden Gedanken lieber äußern, und so den Übergang zu vermitteln suchen.

Übergang? Das Wort hat den Kronprinzen elektrisiert. »Er lehnte scharf ab, wie mir schien, in der Vermutung, daß ich meinen Übergang in seine Dienste anbahnen wollte. Ich habe den feindlichen Ausdruck olympischer Hoheit, mit dem das geschah, Jahre hindurch nicht vergessen können und sehe noch heut (nach 30 Jahren) den zurückgeworfenen Kopf, das gerötete Gesicht und den Blick über die linke Schulter vor mir. Ich unterdrückte meine eigene Aufwallung, dachte an Carlos und Alba und antwortete, ich hätte in einer Anwandlung dynastischen Gefühles gesprochen, ... ich hoffte, er würde sich des Gedankens, als ob ich danach strebte, einmal sein Minister zu sein, entschlagen: Ich werde es niemals sein. Ebenso rasch wie erregt, ebenso rasch wurde er weich und schloß das Gespräch mit freundlichen Worten.«

In einem kalten Parkettsaal, zwischen zwei Türen: man sieht sie in ihren Uniformen stehen, die Degen an den Seiten. Furchtbarer Augenblick für Bismarcks Stolz! Noch nie hat neben ihm ein Mensch gewagt, ihn über die Schulter anzusehen. Und hier muß er, der gleich zum Degen greifen möchte, den Stolz verschlucken, muß sich den Blick gefallen lassen, der ihm in keinem Sinn gefällt. Aber da schließt er auf des Gegners Gedanken, und mit gedämpfter Stimme, die er zur Ruhe zwingt, kommt es von seinen Lippen: Ich werde es niemals sein.

III

Neben diesen Feinden von Geblüt hatte Bismarck viele Feinde von Gemüt und einige von Geist; er hat sie später in Feinde erster bis dritter Klasse sortiert.

Übereinstimmung herrschte nur mit Einem, mit Roon. Mit keinem der Minister oder Generale, der Hofleute oder Parteiführer verbindet ihn aufrichtiges Vertrauen, im Grunde ist er überhaupt ohne Partei; Kreuzzeitung und Ludwig Gerlach sind ihm zu extrem, den Altliberalen ist er es, weiter links ist offener Kampf. Nur zu Roon, dem militärischen Heißsporn, dringt damals noch die Stimme einer männlichen Freundschaft, die auch von Debatten über geistige Dinge nicht gestört wurde. Ungern bewilligt er ihm einmal halbjährigen Urlaub: »Im Kollegium der Gespielen bleibe ich ... die einzig fühlende Brust, und dem König gegenüber ist der Beistand Ihrer politischen Autorität gar nicht zu ersetzen, da niemand soviel Salz mit dem Herrn gegessen hat wie Sie.«

Mit Keudell, Johannas musischem Freunde, den er als Mitarbeiter bald zu sich gerufen hat, weil er hier Vertrauen fühlte und gab, kommt es schon ein paar Wochen nach dem Eintritt zum Zusammenstoß. Schriftlich hat ihm dieser in der dänischen Frage die Unterstützung der öffentlichen Meinung anempfohlen, übrigens, wenn der Chef nicht übereinstimmte, Rückkehr in seine Karriere loyal und freundschaftlich angeboten. Am Morgen wird er ins Kabinett zitiert, Bismarck »mit gedämpfter Stimme, aber in sichtlicher Erregung«:

»Sagen Sie mal, weshalb haben Sie mir eigentlich den Brief geschrieben? Wenn Sie glauben, auf meine Entschließungen einwirken zu können, so müßte ich sagen, das wäre Ihren Lebensjahren nicht angemessen ... Daß Sie, der Sie mich so lange und gut kennen, denken, ich wäre in eine so große Sache hineingegangen wie ein Fähnrich, ohne mir den Weg klarzumachen, den ich vor Gott verantworten kann, das vertrage ich nicht, das hat mir den Schlaf zweier Nächte gestört. Sie zu entlassen, hegt ja gar kein Anlaß vor; ich habe Ihnen nur zeigen wollen, wie die Kugel sitzt, die Sie mir in die Brust geschossen haben!« Keudell bittet um Verzeihung und nimmt den Brief wieder an sich. Bismarck: »Jetzt ist alles weggewischt ... Wenn Sie aber wieder mal andrer Ansicht sind, so schreiben Sie nicht, sondern reden Sie!«

So einsam ist Bismarck. Ein Mann, der ihm anderthalb Jahrzehnte und seiner Frau noch länger befreundet war, nun sein Beamter, gibt, sicher mit schuldigem Respekt, einen Rat, der mit dem allgemeinen Ruf übereinstimmt: genug, um den von allen Seiten angegriffenen Mann um seine Ruhe zu bringen, die die Beschimpfungen der Presse ihm nicht geraubt haben. Brutus, auch du? Aber indem Keudell es wieder gutmacht, ist es dennoch nicht gut: der Respekt, den sich Schlözer errungen, ist hin, Keudell ist nur ein Gehilfe voll Geist und Musikalität geblieben, kein Faktor, mit dem der handelnde Staatsmann rechnet.

So weit es denkt, ist das Auswärtige Amt in corpore gegen seinen Chef, aber »das stört mich nicht«. Daß aber seine Gesandten draußen gegen ihn arbeiten, versetzt ihn auf einem neuen Feld in die Defensive. Da ist Usedom in Florenz, da ist Goltz in Paris, die beide seine Stelle haben wollen und mit direkten Briefen den König gegen seine Politik traktieren; aber der König ist treu, er verrät seinen Berater nicht, wie sein Bruder getan, er liefert ihm vielmehr die Briefe zur Beantwortung aus. Daß Bismarck acht Jahre lang durch private Berichte an König und Gerlach die Politik seines Chefs durchkreuzt hat, macht ihn als Chef jetzt keineswegs tolerant; mit der Immoralität des genialen Menschen leugnet er die Identität beider Handlungen, verbietet entschieden seinen Gesandten zu tun, was er als Gesandter getan. Doch wie er dies verbietet, besonders in einem Brief an den Grafen Goltz, den er selber nach Paris gebracht hat, das ist ein Beispiel für die unübertreffliche Mischung seiner halboffiziellen Töne, denn er schreibt ihm eigenhändig:

»Berichte, welche nur die ministerielle Anschauung widerspiegeln, erwartet niemand; die Ihrigen sind aber nicht mehr Berichte im üblichen Sinne, sondern nehmen die Natur ministerieller Vorträge an, die dem Könige die entgegengesetzte Politik empfehlen ... Schaden kann solche kreuzende Auffassung allerdings, ohne zu nutzen, denn sie kann Zögerungen und Unentschiedenheiten hervorrufen, und jede Politik halte ich für eine bessere als eine schwankende ... Ich habe eine hohe Meinung von Ihrer politischen Einsicht, aber ich halte mich selbst auch nicht für dumm; ich bin darauf gefaßt, daß Sie sagen, dies sei eine Selbsttäuschung. Vielleicht steigen mein Patriotismus und meine Urteilskraft in Ihrer Ansicht, wenn ich Ihnen sage, daß ich mich seit 14 Tagen auf der Basis der Vorschläge befinde, die Sie in Ihrem Berichte machen.

»Wie aber soll ich mich entschließen, mich über meine letzten Gedanken frei gegen Sie auszulassen, nachdem Sie ... sich ziemlich unumwunden zu dem Vorsatz bekennen, das jetzige Ministerium und seine Politik zu bekämpfen, also zu beseitigen? ... Und doch muß ich als Minister, wenn das Staatsinteresse nicht leiden soll, gegen den Botschafter in Paris rückhaltlos offen bis zum letzten Worte meiner Politik sein. Die Friktion, welche jeder in meiner Stellung mit den Ministern und Räten, am Hofe, mit den okkulten Einflüssen, Kammern, Presse, den fremden Höfen zu überwinden hat, kann nicht dadurch vermehrt werden, daß die Disziplin meines Ressorts einer Konkurrenz zwischen dem Minister und dem Gesandten Platz macht ... Ich kann selten so viel schreiben, wie heut in der Nacht am Heiligen Abend, wo alle Beamten beurlaubt sind, und ich würde an niemanden als an Sie den vierten Teil des Briefes schreiben. Ich tue es, weil ich mich nicht entschließen kann, Ihnen amtlich und durch die Bureaus in derselben Höhe des Tones zu schreiben, bei welchem Ihre Berichte angelangt sind ... Wollen Sie das Ministerium zu werfen suchen, so müssen Sie das hier in der Kammer und in der Presse an der Spitze der Opposition unternehmen, aber nicht von Ihrer jetzigen Stellung aus; und dann muß ich mich ebenfalls an Ihren Satz halten, daß in einem Konflikt des Patriotismus und der Freundschaft der erstere entscheidet. Ich kann Sie aber versichern, daß mein Patriotismus von so starker und reiner Natur ist, daß eine Freundschaft, die neben ihm zu kurz kommt, dennoch eine sehr herzliche sein kann.«

Ein Brief, um den Empfänger umzuwerfen! Mit Meisterschaft ist hier der echte Groll durch abgemessene Dosen von Achtung und Drohung zur inneren Verletztheit eines Freundesherzens gesteigert, und während er in keinem Worte larmoyant wird, läßt er den Konkurrenten doch erkennen, ein wie schweres Leben seiner wartete, wenn er ihn werfen wollte. Da der Schreibende weiß, wie gut der Empfänger beim König angeschrieben steht, versteht er die amtliche Zurückweisung derartig zu überzuckern, daß jener nur ein persönliches Lob und eine Art von Verehrung des Geistes durch den Chef herauslesen kann, und das wird ihm belieben, denn dieser Goltz ist eitel. Das Kunstwerk eines solchen Briefes, von dem hier nur ein Viertel steht, kann man wie eine antike Plastik immer wieder umschreiten und man erkennt, daß ein einziges Schriftstück solcher Art genügen würde, um den Autor als Diplomaten hohen Stiles zu legitimieren.

Andre versuchen, den scharfäugigen Chef durch ihren Abschied zu irritieren: wenn aber der Gouverneur von Schleswig, wieder ein alter Bekannter Bismarcks und Freund des Königs, um Abberufung bittet, weil er durch beständiges Dreinreden des Berliner Amtes in Einzelfragen ermüdet sei, so liest er zur Antwort: »Ich bin sehr gern bereit, dem Könige die von Ihnen gewünschte Ordre vorzulegen, nur bitte ich, darin aufnehmen zu dürfen, daß der König Sie zum Minister und mich zum Gouverneur von Schleswig macht, und ich verspreche Ihnen, ein für Sie strikte folgsamer Ausführer Ihrer Politik zu sein, der Ihre Gedanken zu erraten und auszuführen suchen, aber nicht zur Vermehrung der Schwierigkeiten des Ministeriums beitragen wird ... Wollte ich in (verwandten) Fällen mich für verbraucht erklären, so würde mir der äußerliche Friede des Privatlebens längst gewonnen, der innere, den ich aus dem Bewußtsein des Dienstes für König und Land schöpfe, aber verloren sein ... Nehmen Sie diesen Brief, darum bitte ich herzlich, als einen Ausdruck freundschaftlichen Vertrauens auf, den ich lieber mündlich gegeben hätte.«

Ist dies der Mann von Blut und Eisen? Das ist Bismarck der Verführer.

Anders ist sein Ton gegen die liberalen Feinde: zwischen Verachtung und ironischem Witz. Wie jedem Diktator seines Jahrhunderts ist auch Bismarck stets darum zu tun, den Schein des Rechtsstaates zu wahren, er fängt deshalb zuerst an, die Verfassung, die er zugunsten der Armee zu brechen denkt, zu »interpretieren«, findet Spitzfindigkeiten heraus, die er im stillen verspotten mag, und konstruiert dort, wo die drei Faktoren der Verfassung nicht übereinstimmen, ein Loch; da er von Kronrechten spricht, die nicht in der Verfassung ständen, so errichtet er de facto den absoluten Staat, den er im März 48 mit Groll zusammenbrechen sah. Auch spricht er im Landtag als Lösung des Dilemmas offen aus: »Da die Staatsmaschine nicht stillstehen kann, so werden Rechtskonflikte leicht zu Machtfragen; wer die Macht in Händen hat, geht dann in seinem Sinne vor.«

Sofort gibt man diesem Satze die Fassung, daß »Macht vor Recht« gehe, was Bismarck in entscheidenden Stunden geglaubt hat, aber nie so töricht war, zu sagen. »Ich habe keine Losung gegeben, entgegnet er, ich habe nur eine Tatsache festgestellt.«

In solchem Saltomortale führt er den Konflikt nur anfangs bis an den Abgrund, wo er ihn haben will; dann läßt er das Herrenhaus den unverstümmelten Etat annehmen, das Abgeordnetenhaus den Beschluß für verfassungswidrig erklären, erhebt sich und lädt die Herren auf 3 Uhr ins Schloß: hier verkündigt er auf Befehl des Königs den Entschluß, die Reformen dennoch durchzuführen, und schickt den Landtag nach Hause. Die Presse des ganzen Landes schreit auf, einige fordern, dieser Minister müsse eingesperrt werden, die Konservativen aber denken, es wäre besser, er ginge; es sind übrigens nur noch elf Mann, sie können, wie die Berliner sagen, in einem Omnibus nach dem Dönhoffsplatz fahren.

In der nächsten Session, ein halbes Jahr später, wird er schärfer: inzwischen ist der Konflikt durch Blätter und Reden auf die Spitze getrieben worden. »Er trug damals noch Zivil – so schildert ihn Lucius auf der Tribüne – der starke Schnurrbart war noch rotblond wie auch das Haupthaar, das ... noch vorhanden war, seine hohe Figur erschien am Ministertisch mächtig und imponierend, während eine gewisse Nonchalance in Haltung, Bewegung und Sprechweise etwas Provokantes hatte, er hielt die rechte Hand in der Tasche seines hellen Beinkleides und erinnerte mich lebhaft an die krähenden Sekundanten bei den Mensuren.« So provokant wie die Haltung ist auch seine Rede, fließender als in der ersten Woche, wo man ihm die Ungewißheit, ob er mit oder gegen Landtag regieren werde, auf der Tribüne anhörte, denn »damals, schreibt Schlözer, stotterte er gradezu und verwickelte sich in jedem Satz, denn er hatte noch zwei Pferde gesattelt.«

Jetzt heißt es nur von oben: »Die Regierung wird jeden Krieg führen, den sie für nötig hält, mit oder ohne Gutheißen des Hauses.« Ein andermal: »Das preußische Königtum, dem durch ein eigentümliches Zusammentreffen grade am heutigen Datum ein Thronerbe geboren ist, hat seine Mission noch nicht erfüllt; es ist noch nicht reif dazu, einen rein ornamentalen Schmuck Ihres Verfassungsgebäudes zu bilden.« Um diesen Hinweis halte der König ihn am Morgen der Rede ersucht, es war ein 27. Januar; der Thronerbe, der an diesem Tage vier Jahr alt wurde, und auf dessen zukünftige Macht Bismarck hier hinzuweisen scheint, heißt später Wilhelm der Zweite.

Die ihn in diesem Saale bekämpften, waren Bismarck an Zukunft entschieden überlegen; dies unbefangen nachzuprüfen, braucht man nur auf die nächsten 30-50 Jahre zu blicken, die heut Vergangenheit geworden sind. Alles, was Europa bisher erstrebt, und was sich vor und nach dem Weltkriege in allen Ländern ereignet hat, lag im Grunde im Programm der damals jungen preußischen Fortschrittspartei, die übrigens nur eine ›Republik mit monarchischer Spitze‹, also englische Volksregierung wollte. Sie und die ihnen verbundenen, ersten Sozialdemokraten waren es, die Bismarck in jenem Briefe an den Freund im einzelnen gescheut, nur in der äußeren Politik unbewandert genannt hat. Der Mangel jeder Schulung in einem bis gestern absolut regierten Volke, wo Staat und Geist einander von jeher aus dem Wege gegangen waren, schien in diesen Anlangen der liberalen Parteien natürlich. Ehrlich, klug und hochgebildet, aber unpraktisch und leider arm an Originalität: Ideologen, die in die Zukunft schauten, saßen damals auf diesen Bänken einem Realisten gegenüber, der die Gegenwart mit seinen sachlichen Blicken durchstieß und mit den Mitteln der Vergangenheit zu meistern suchte.

Der interessanteste war Virchow. Ein paar Jahre jünger als Bismarck, so schmal und zart, wie dieser riesig war, in armen Bürgerkreisen humanistisch aufgewachsen, lernbegierig, in der Jugend ehrgeiziger als Bismarck und ebenso analytisch; hält man aber seine Briefe zwischen Zwanzig und Dreißig neben die Bismarcks aus derselben Epoche, die teilweise dieselben Vorgänge behandeln, so bleibt der junge, rasch aufsteigende, hochbedeutsam forschende Mediziner hinter dem verbummelten, nihilistischen, ziemlich untätigen Junker ganz zurück: hier ist alles Anschauung, Phantasie, Mutwille, dort ist alles gedacht. Immer wieder betont Virchow gegen den Vater, er habe Gefühle, verberge sie aber: so sehr sehnt er sich nach Gefühlen. Ein hohes Selbstgefühl wird ständig von unerlebten, übernommenen Idealen überschwemmt und schwält weiter unter der Flut. »Als Naturforscher kann ich nur Republikaner sein, denn die Verwirklichung der Forderungen, welche die Naturgesetze bedingen, welche aus der Natur des Menschen hervorgehen, ist nur in der republikanischen Staatsform wirklich durchführbar.« (Freilich bringen ihn dieselben Naturgesetze zu dem skurrilen Schluß: »Ich habe tausende von Leichen seziert, aber keine Spur von der Seele dabei gefunden.«)

Waren die Briefe des jungen Bismarck voll von Sachen und Personen, die gesehen, gesiebt, meist verachtet, immer aber durchfühlt waren, so sind Virchows von Schlagworten voll. Daß er die politische Agitation zugunsten seiner Staatsstellung aufzugeben verspricht, ist so vernünftig, wie Bismarcks abrasierter Bart in den Märztagen von 48. Beide Männer sind mit Dreißig in der Politik Dilettanten gewesen, aber der eine ist kaum ein Landwirt, der andere: schon Autorität als Anatom; ja, er hat als junger Arzt stets großartige Sozialkritik geübt. Dann aber hat der eine anderthalb Jahrzehnte lang die Politik durchaus studiert, der andere die Gewebelehre und dürfte sich, selbst wenn er politisches Genie besäße, nicht wundern, von einem europäischen Kenner der Dinge geschlagen zu werden.

Ihre Polemik im Landtage ehrt keinen von beiden, man staunt, wie Männer von Geist mit solchen Sottisen die Zeit sich vertreiben und ihren Mitbürgern rauben konnten:

Bismarck: »Hält es der Herr Referent nicht für möglich, daß auf dem Gebiete seiner Fachwissenschaft jemand, der die Anatomie als Nebenbeschäftigung betreibt, vor einem Auditorium, welches dem Redner politisch sympathisch und persönlich wohlgesinnt, aber nicht in dieselben Tiefen der Wissenschaft, wie der Herr Referent, eingedrungen wäre, – daß vor diesem Auditorium ein solcher Redner anatomische Sätze mit weniger Beredtsamkeit selbst als der Herr Redner entwickelt hat, überzeugend dartun könnte, von deren Unrichtigkeit der Herr Referent als Sachkundiger vollständig überzeugt wäre, deren Widerlegung ihm aber nur vor einem mit allen Details des Gegenstandes ebenso wie er selbst vertrauten Auditorium möglich wäre.«

Virchow: »Ich wünschte, es möchte dem Herrn Ministerpräsidenten gelingen, sich unter den Diplomaten Europas eine ähnlich anerkannte Stellung zu gewinnen, wie ich sie unter den Spezialkollegen gefunden habe. Seine Politik ist undefinierbar, ja man könnte sagen, daß er eigentlich gar keine Politik habe ... und vor allen Dingen keine Ahnung von nationaler Politik. Denn es fehlt ihm an jedem Verständnis für nationales Wesen.«

Bismarck: »Ich erkenne die hohe Bedeutung des Herrn Vorredners in seinem Fache vollkommen an und gebe zu, daß er in dieser Beziehung einen Vorsprung vor mir hat. Wenn aber der Herr Vorredner sich aus seinem Gebiete entfernt und auf mein Feld unzünftig übergeht, so muß ich ihm sagen, daß über Politik sein Urteil ziemlich leicht für mich wiegt. Ich glaube wirklich, meine Herren, ohne Überhebung, diese Dinge verstehe ich besser. (Große Heiterkeit.) Der Herr Vorredner hat gesagt, mir fehle das Verständnis für die nationale Politik; ich kann ihm den Vorwurf nur mit Unterdrückung des Epithetons zurückgeben: ich finde bei dem Herrn Vorredner Verständnis für Politik überhaupt nicht.«

Zwei Schauspieler, die um ihre Bedeutung und Beliebtheit in der Garderobe streiten, können nicht kleinstädtischer wirken als diese beiden Stimmen im Preußischen Landtag, und doch sind es die Stimmen von Virchow und Bismarck. Ein andermal, als Virchow des Ministers Wahrheitsliebe anzweifelt, kommt es zur Forderung, Virchow gibt keine entschiedene Antwort, dann erklärt ein Parteigenosse, man dürfe sich nicht schlagen, worauf Virchow ablehnt. Diese Forderung war der letzte Jugendstreich Bismarcks, damals war er 50 Jahre.

Hält er als Minister sich zurück, so wirkt er viel besser. Simson: »Diese Politik ist das Gelegenheitsgedicht eines Mannes, der kein Dichter ist. Herr von Bismarck ist einem Seiltänzer zu vergleichen, bei dem man nur bewundert, daß er nicht fällt. Jedenfalls wird die Bewunderung, die man jedem Seiltänzer zuwendet, nicht nach jedermanns Appetit sein.« Bismarck: »Ich fühle keinen Beruf, mich über die Fragen des guten Geschmacks und der Schicklichkeit hier in eine Erörterung einzulassen.«

In solchen Wellenlinien geht die persönliche Behandlung seiner Feinde auf und nieder. In der Sache, dort, wo er Organe des Staates trifft, wird der Vielgewandte eindeutig: da herrscht Gewalt. Die Möglichkeit der Diktatur ist Bismarck als angenehmste Folge des Konfliktes erschienen, denn in Wahrheit sehnte er sich gar nicht oder doch nicht mehr nach jener Rolle des Peel oder O'Connel, von der er vor 25 Jahren geträumt. Solchem Selbstgefühl und Machtwillen entspricht allein die Rolle des Diktators; daher hat er sich während der späteren Jahrzehnte mit Verfassung nie wieder so wohl gefühlt, als während dieses vierjährigen Konfliktes: da er in Sachen der Volksrechte keine Skrupel kannte, fühlte er sich hier nicht anders wie auf der Bärenjagd und dachte sicher wie damals: es ist doch gut, daß sich dergleichen Abenteuer auch noch in »so langweiligen Ländern« finden wie Preußen.

Den Feind der Geheimräte traf jetzt die Rache: peinlicher als je vor ihm der Chef einer Regierung, mußte sich Bismarck um die Personen der großen Hierarchie kümmern, die den Staat verwalten, denn wer nicht vorschriftsmäßig dachte, der mußte fort. Gleich nach dem Eintritt fängt er an, aus Justiz und Verwaltung zu verabschieden, wer freisinniger Gesinnung überführt, vielleicht auch nur verdächtig war: in vier Jahren haben über tausend Beamte solche Maßregelungen erfahren. Als die Fortschrittspartei für die Geschädigten eintritt, werden die Mitglieder dieses Komitees verfolgt. Liberale Landwehroffiziere: ehrengerichtlicher Abschied. Bürgermeister, Stadträte, Schuldeputationen, Lotterie-Kollekteure, Bankagenturen, Impfärzte: zur Disposition. Justizbeamte: strafversetzt, Gehalt gesperrt, Alterszulage entzogen.

Zuletzt kommt die Presse. Auf russische Manier werden Presse-Ukase, schärfer als die Napoleons erlassen, nicht um die Zeitung wegen eines Artikels auf Zeit zu verbieten, sondern dauernd wegen der Gesamthaltung. Und all dies wird mit sittlichen Motiven geschmückt, auf Paragraphen der Verfassung gestützt, damit »die leidenschaftliche und unnatürliche Aufregung, welche in den letzten Jahren infolge des Parteilebens die Gemüter ergriffen hat, einer ruhigeren und unbefangeneren Stimmung weiche«. Moral und Gott werden am Ende von Bismarck bemüht, um seinem König die innere Gerechtigkeit solcher Maßnahmen zu suggerieren. Auch für Johanna mag Bismarck diese Begründung gegeben haben, denn noch lebt in geistiger Unbestechlichkeit ihre Mutter, und was sie damals zugunsten der ungarischen Revolutionäre ihrer Tochter geschrieben, das hat er sicher so wenig vergessen wie seine Antwort. Vor sich selber braucht er solche Entschuldigungen nicht: Verächter der Menge, brauchte er nur das Bewußtsein der Macht, um sie zu zähmen.

Bismarck hat immer die Macht mehr gebebt als die Freiheit; auch darin war er ein Deutscher.

IV

Ganz Deutschland jubilierte über den Konflikt in Preußen, obwohl er die Regierung mit jedem Monat zu stärken schien. Reaktionäre Kleinstaaten betonten, wie sie das Budget zur Debatte stellten, selbst Beust ließ in Sachsen den Jahrestag der Völkerschlacht volkstümlich feiern, weil er in Preußen nur mit Militärmusik begangen werden durfte, und den jungen Treitschke eine flammende Rede auf die deutsche Freiheit nur halten, um seinen Kollegen in Berlin zu ärgern. Am glücklichsten war man in Wien: Konstitution unter Schmerling, Rechberg erfindet die Lösung der Deutschen Frage, ein früherer Revolutionär darf einen Plan entwickeln, ein »schlichter Bürger«, um Freiheit und Legitimität, Östreich und Deutschland in zehn Minuten zu versöhnen.

Sogar für die revolutionären Polen begann Habsburgs Herz zu schlagen, als man Russen und Preußen im Bunde sah. In der Tat konnte der neue Aufstand Polens gegen den Zaren zu Anfang 63 zum Erfolge führen, weil Gortschakow selber die Polenfreunde in Petersburg führte, und weil die liberalen Strömungen des Westens ihre russenfeindlichen Interessen hinter dem Stichwort von der nationalen Freiheit verstecken konnten: halb Europa sprach von einem Pufferstaat, selbst Napoleon mußte sich für die Freiheit begeistern, weil die Französinnen Chopins erotische Nocturnes liebten, rasch wuchs die Krise zur Drohung eines neuen Ultimatums wie anno 54, Preußen hatte vielleicht die Entscheidung in Händen. Was tut Bismarck? Sofort verbündet er sich durch Militärkonvention mit dem Zaren, den er bei dieser Gelegenheit sich verpflichten will.

– Europa wird es nicht dulden, sagt ihm der englische Gesandte, daß preußische Truppen den russischen zu Hilfe kommen.

»Wer ist Europa?« fragt Bismarck ruhig.

– Verschiedene große Nationen.

»Sind sie einig?« fragt Bismarck wieder und bleibt ohne Antwort. Zwölf Jahre lang hatte er diese Situation durchgedacht, es ist dieselbe, die in drei großen Krisen zu gleichen oder ähnlichen Kombinationen geführt hat: in hundert Denkschriften, Berichten, Briefen, nächtelang hat er die Möglichkeiten der Lage erwogen: nun kann er freilich in der Realität so schnell Partei ergreifen, wie es der Künstlertrieb des großen Schachspielers lange erwogen hatte.

Im Landtag rufen die Liberalen: »Die Regierung gibt einen Gürtel von 500 Quadratmeilen den Greueln der russischen Kriegführung preis!.. Für so frivole Politik ist das Blut preußischer Staatsbürger nicht da! ... Aus freien Stücken belasten wir uns mit der Mitschuld an einer furchtbaren, von ganz Europa mit tiefer Entrüstung verachteten Menschenjagd!« Diesen Reden von Twesten, Waldeck, Virchow, stellt der Minister in höflichem Ton die Frage entgegen: »Würde ein selbständiges Polen den Nachbar Preußen noch im Besitze von Danzig und Thorn lassen?.. Die Neigung, sich für fremde Nationalitäten auf Kosten des Vaterlandes zu opfern, ist eine politische Krankheitsform, die auf Deutschland beschränkt bleibt.«

Hier ist die Antithese klar. Machtpolitisch hat Bismarck recht: was er im Augenblicke will, ist weniger antipolnisch als prorussisch; ein neuer Polenstaat könnte sich leicht mit Rußland und Frankreich gefahrvoll verbünden. Nimmt man dagegen dem Zaren die eingeborene Furcht vor Aufständen, indem man Hilfe zusagt, so verbindet man ihn persönlich und erschwert es seiner Stimmung, sich in der heranrückenden Abrechnung mit Östreich, diesem Feinde Preußens, zu verbinden. Diese Stimmung des Zaren kann Bismarck billig kaufen, weder Blut noch Kriegsgreuel kostet ihn der Entschluß, nur eine Unterschrift und den Haß der Polen. Aus Warschau erhält er sein Todesurteil in einem Kästchen: Strang mit schwarz-weißer Schleife; das zweite aus Barcelona: »Das unterzeichnete Komitee der revolutionären Propaganda hat Sie vor sein Tribunal gezogen. Es hat Sie einstimmig zum Tode verurteilt und die Exekution auf die ersten Wochen des nächsten Monats festgesetzt.«

Doch Bismarck ist furchtlos: ohne dies beste, nie alternde Erbstück des Ritters wäre er, zum mindesten in den Sechziger Jahren, nicht derart unbeirrt und unerschrocken den Weg einsam zu Ende gegangen: gegen die Drohung der Kammer, das Mißtrauen des Königs, die Einflüsse der Königin, gegen die Tücke der Höfe, die Intrigen der Gesandten, nun wieder die Todesurteile fremder Revolutionäre, bald auch gegen die Revolver fanatischer Idealisten. Wäre nichts geblieben, was er schuf, wäre alles falsch gewesen, was er tat, so bliebe dies für die Deutschen nötigste Vorbild einer Zivil-Courage, an deren Mangel später die Spitzen seiner Klasse, die Fürsten zugrunde gegangen sind.

In Wien, wo Tücke traditioneller war als Mut in Potsdam, war man geneigt, die neue Sprache für Bluff zu halten, und entschloß sich, zu lächeln, wenn der norddeutsche Bruder grollte. Man lächelte schon bei Bismarck« Programm. »Unsere Beziehungen, so hat er gleich nach dem Einzug ins Amt zu Karolyi gesagt, müssen unvermeidlich besser oder schlechter werden. Wir wünschen, daß sie sich verbessern. Wenn wir aber das Entgegenkommen des Kaiserlichen Kabinetts vermißten, so würden wir die andere Möglichkeit ins Auge fassen, und auf diese uns vorbereiten ... Östreich hat die Wahl, seine gegenwärtige preußenfeindliche Politik ... aufzugeben oder aber auf eine ehrliche Verbindung zu verzichten. Sie glauben an unsere größere Schutzbedürftigkeit. Unsere Aufgabe wird es daher sein, das Irrtümliche dieser Voraussetzung durch die Tat nachzuweisen, wenn man unseren Worten und Wünschen keine Beachtung schenkt.« Noch nie seit Friedrichs Jugendtagen hatte ein Preuße so zum Gesandten Habsburgs gesprochen. Aber Karolyi ist im Grunde ein Verehrer des feindlichen Ministers, übrigens zu sehr Ungar, um ungeschickten Lärm zu schlagen, vielmehr erwidert er elegant:

– Und wo sollten wir Ersatz finden?

»Das natürlichste wäre, Ihren Schwerpunkt nach Ofen zu verlegen.« Mit diesem Fechterstück setzt er den Grafen matt, denn eben dies muß jedes guten Ungarn Wunsch sein, nur darf er es nicht sagen. Gleich darauf sagt der Minister zu einem anderen Wiener Gesandten: »Gegen die Phrase vom Bruderkriege bin ich stichfest. Ich kenne keine andere als ungemütliche Politik, Zug um Zug und bar.« Wie wirkt dergleichen in Wien? Schwere Nervenkrankheit, sagt man und lächelt.

Wieder einmal will Habsburg den Deutschen Bund reformieren, fünf Direktoren, Östreich Vorsitz, Preußen Vizevorsitz, dazu eine machtlose Versammlung von Delegierten aus den deutschen Parlamenten. Als Bismarck mit Abbruch droht, und Östreich in der Minderheit bleibt, fängt man es von anderer Seite an: Östreich wird jetzt alle Fürsten zusammenrufen, dann wird man in Frankfurt tafeln und beraten, alles wird sich gehoben fühlen. Ist nicht Gastein ein Bad für alte Herren? Wir Fürsten von Gottes Gnaden machen das unter uns –: und plötzlich erscheint Franz Joseph bei König Wilhelm, seinem Badegaste: ein Reichsparlament mit Fürsten und Volkshaus offeriert er als Projekt, und lädt ihn ein, er möge ihm zu einem Fürstentage folgen, gleich jetzt nach Frankfurt, die andern Fürsten sind schon eingeladen. Der alte König scheint geneigt, Franz Joseph ist glücklich.

Nur schade, daß dieser unangenehme Minister seinen Herrn sogar in Östreichs Bergen nicht allein läßt. »In Gastein, so erzählt er im Alter, saß ich am 2. August 63 ... unter den Tannen, über mir befand sich ein Meisennest, und ich beobachtete mit der Uhr in der Hand, wie oft in der Minute der Vogel seinen Jungen eine Raupe oder anderes Ungeziefer zutrug. Während ich der nützlichen Tätigkeit dieses Tierchens zusah, bemerkte ich, daß auf der andern Seite der Schlucht, auf dem Schillerplatze, König Wilhelm allein auf einer Bank saß.« Zu Hause findet er einen Brief des Königs, er wolle ihn auf dem Schillerplatze wegen der Begegnung mit dem Kaiser sprechen. Zu spät. »Wenn ich mich weniger lange bei der Naturbetrachtung aufgehalten und den König früher gesehen hätte, so wäre der erste Eindruck, den die Eröffnungen des Kaisers auf ihn gemacht haben, vielleicht ein anderer gewesen.

»Er fühlte zunächst nicht die Unterschätzung, welche in dieser Überrumpelung lag, in dieser Einladung, man könnte sagen Ladung, à courte échéance. Der östreichische Vorschlag gefiel ihm vielleicht wegen des darin liegenden Elementes fürstlicher Solidarität ... Auch die Königin (-Witwe) Elisabeth ... drang in mich, nach Frankfurt zu gehen. Ich erwiderte: Wenn der König sich nicht anders entschließt, so werde ich hingehen und dort seine Geschäfte machen, aber nicht als Minister zurückkehren. Die Königin schien über diese Aussicht beunruhigt und hörte auf, meine Auffassung beim König zu bekämpfen ... Es wurde mir nicht leicht, den König zum Fernbleiben von Frankfurt zu bestimmen ... Ich glaubte, den Herrn überzeugt zu haben, als wir in Baden anlangten. Dort aber fanden wir den König von Sachsen, der im Auftrage aller Fürsten die Einladung erneuerte. Diesem Schachzug zu widerstehen, wurde meinem Herrn nicht leicht, er wiederholte mehrmals die Erwägung: Dreißig regierende Herren – und ein König als Kurier! ... Ich habe ihn buchstäblich im Schweiße meines Angesichtes davon abgebracht, er lag ... auf dem Sofa und hatte Weinkrämpfe, und ich war, als ich den Brief mit der definitiven Weigerung ihm abgerungen, so schwach und matt, daß ich mich kaum auf den Beinen halten konnte. Als ich das Zimmer verließ, taumelte ich und war nervös so aufgeregt, daß ich beim Zumachen draußen die Klinke abriß.« Als er dann die Absage zur Beförderung übergibt, zerschlägt er ein Tablett mit Gläsern. »Ich mußte etwas zerstören! Jetzt habe ich wieder Luft!«

Hier ist die erste aus der Kette jener Stunden, die, aufgereiht, die Geschichte der Kämpfe zwischen Bismarck und Wilhelm bedeuten: Drohung gegen die alte Königin, langsame Erleuchtung des guten Königs, der gar nicht merkt, wie sehr ihn Östreich zum besten hält, und wenn sein Minister den jungen Meisen zusieht und, halb Naturfreund, halb Landesvater, nachrechnet, wie viele Raupen man für die Erhaltung des Vogelstaates rechnen müsse, so sagt der König inzwischen dem Herrn Vetter zu, und in vier Wochen wird er aufs neue der zweite Fürst in deutschen Landen sein. Kommt aber dann ein König als Kurier, so bekommt der alte Herr Weinkrämpfe, wenn er absagen soll, und selbst der Mann von Eisen löst sich in ein Nervenbündel auf und muß sich durch Zerstörung Luft verschaffen, obwohl er gesiegt hat. So ist der eine dynastisch, der andere durch Gehorsam gebunden, und wie sie nun anfangen, gemeinsam das deutsche Haus zu erbauen, scheint es unmöglich, daß sie es bei soviel Hemmungen vollenden werden.

Und doch ist dies der letzte Versuch Östreichs, an Deutschlands Spitze zu bleiben. Dann kam Schleswig-Holstein, ein Satyrspiel vor der Tragödie.

V

Damals war Bismarcks Geist in Europa ohne Konkurrenz. Die Könige und Kaiser konnten nicht denken oder nicht handeln, Franz Joseph war zu unerfahren, Napoleon zu verbraucht, Alexander zu stumpf, Wilhelm, Victoria, Victor Emanuel waren zu mittelmäßig, um nach inneren Bildern Politik zu treiben; Gladstone und Disraeli waren noch nicht in voller Macht, Gortschakow zu eitel; bedeutsam in seiner Art Cavour, der starb, als Bismarck kam. Nur in Preußen war noch ein politisches Genie. Obwohl fast ohne Partei und überdies revolutionär, weder durch verwandte Gedanken anziehend noch durch Macht, wurde es von seinem großen Gegenspieler doch rasch erkannt: es war allein der Magnetismus des Genies, der Bismarck und Lassalle zusammenführte.

Massiv und schwer an Körper und Stimmung, kuppelköpfig, in langsam vorschreitendem Gange, nach langer Ouvertüre, im Vorblick auf viele Jahrzehnte, den großen deutschen Bildgießern ähnlich, die auf ihre figurenreichen Werke ein Menschenalter wandten, die Phantasie durch Sachlichkeit gezähmt, Worte wägend und Taten vorbereitend, lieber mit Größen rechnend als mit Ideen: so stand Bismarck der Realist mit fast 50 Jahren am Beginn seines Werkes, grade auf der Schwelle. Schlank, elegant und zitternd wie ein halbgezähmter, arabischer Hengst trat neben ihn der Morgenländer, langköpfig, sprühend, kaum Vierzig und doch schon dicht vor dem Ende einer ungebärdig durchrannten Bahn, ein großer Zeichner, der in blendenden Skizzen seinen Formtrieb erschöpft, phantastisch und gedankenvoll, entlaufen aus der Schule der Ideen, ins Tätige verschlagen, doch auch hier mehr mit dem hinreißenden Worte fechtend, den Blick in die Zukunft gerichtet. Jener war ganz aus der Scholle emporgediehen, Vorkämpfer seiner Klasse, nach einer Abenteurerjugend zu den geschlossenen Formen des Lebens und Besitzes zurückgelangt, aus denen er stammte, und doch als Staatsmann gefühllos, bereit, mit jedem Volk und jeder Staatsform zu gehen, wenn sie der seinigen nutzte; dieser, als Jude und Bürger ohne Heimat, in zäher Jugendarbeit emporgeklettert, bekämpfte seine Klasse und sein Erbe, entzündete das leichtbewegte Herz an dem Aufschwung der Nation, zu der er rassenmäßig, und an dem Aufschwung der Klasse, zu der er klassenmäßig nicht gehörte. Bismarck opferte nichts, als er begann, Lassalle gefährdete alles, jener festigte Stand und Stellung, dieser verlor in Gefängnissen Freiheit und Gesundheit, und wenn jener mit 32 begann, im Stil seiner Kreise zu konkurrieren, so hatte der jüngere gleichzeitig mit 22 begonnen, den Stil der seinigen in allem zu verleugnen.

Und doch wurden beide von den gleichen Impulsen bewegt: Stolz, Mut und Haß hat den jüdischen Sozialisten wie den pommerschen Junker zum Handeln getrieben, in beiden haben diese Motive den Willen zur Macht erzeugt, keiner hat sich gefürchtet, keiner den übergeordneten Menschen ertragen, keiner im Grunde gebebt. Wie Bismarck das mächtigere Östreich stärker haßte, als er Preußen bebte, so hat auch Lassalle weniger mit dem vierten Stand gefühlt als gegen den dritten; deshalb hat jener unter preußischen Junkern, dieser unter heraufgekommenen Führern keine Freunde gesucht oder gar gefunden, jener lebte nicht höfisch, dieser nicht volkstümlich, beide waren von Galle voll gegen die Beschränktheit ihrer Stände und ähnelten einander auch in Ironie und Zynismus.

Aber durch seine stabile Basis war Bismarck zeitlebens zu dienen verurteilt: er hatte den König gewählt, Lassalle die Menge. Wohnte jener in einem festen Schlosse, so hörte er doch immer über sich die Schritte eines Mannes, unter dem zu wohnen sein Schicksal war; dieser hörte niemand über sich, aber sein Schloß war von Luft, und seine Nerven zitterten stärker vom Winde der Zukunft als von den Reibungen der Realität, die Bismarcks Nerven ruinierten. Waren beide künstlerische Naturen, so war doch der ältere Schachspieler gegen andere Mächte, der Jüngere mehr Schauspieler seiner selbst, weshalb jenen Ehrgeiz, diesen Eitelkeit stärker beseelte. So kam es, daß Lassalle sich an Erfolgen und Aussichten berauschen konnte, in denen er eine fernere Zukunft vor sich sah als Bismarck, der weniger, aber Festeres wollte und deshalb mehr Geduld entwickelt hat. Darum hat einer den andern um das Doppelte an Jahren überlebt, und doch ist Lassalle reicher gewesen an Augenblicken des Glückes.

Auch in der Nachwelt. Als sie sich trafen, erkannten sie wechselseitig ihren Wert, bevor ihn die Welt erkannte. Wäre Bismarck damals, im Jahre 63, im Duell mit Virchow gefallen, sein Name hätte höchstens den Rang von Radowitz, der längst vom Volke vergessen ist; Lassalle, obwohl ein Jahrzehnt jünger, fiel in denselben Anfängen seines Werkes, das zunächst ganz zu verschwinden, drohte, und dennoch steht sein Name im Bundesliede von Millionen Menschen aller Völker. Er scheiterte und wurde weltberühmt, weil er die Ideen von übermorgen verwirklichen wollte; Bismarck gelangte an sein Ziel von morgen, sein Denkmal blieb im Lande.

Was schließlich beide zusammengeführt hat, war der Kampf gegen das Bürgertum: gegen die Verfassung wollte Bismarck die Macht, Lassalle die Masse mobil machen, jener hatte Waffen in Händen, mit denen er Menschen zwangsweise bekleidete, dieser Menschen, die vergeblich nach Waffen riefen. Beide Männer wollten im Grunde Diktatur unter ihrer Leitung, beide haßten den Freihandel der Waren und Gedanken und ihre Träger, die Liberalen. Bis in die Schlagworte ähneln sie einander: Bismarck, September 62: »daß Rechtsfragen leicht zu Machtfragen werden«. Lassalle, April 62: »Verfassungsfragen sind ursprünglich nicht Rechtsfragen, sondern Machtfragen. Geschriebene Verfassungen sind nur dann von Wert und Dauer, wenn sie Ausdruck der in der Gesellschaft bestehenden Machtverhältnisse sind.« Und wie sich Bismarck herausredet, genau so Lassalle, als man ihn angreift: daß nicht etwa Macht vor Recht gehen solle! Dies sei kein ethisches Postulat, nur Bekräftigung einer historischen Tatsache. So machtpolitisch fühlte auch Lassalle, daß er Sickingen, sein Spiegelbild, in. einem Drama verkünden ließ:

»Denn alles Große, was sie jemals wird vollbringen,
dem Schwert allein verdankt sie sein Gelingen!«

Kein Wunder, daß preußische Grafen im Herrenhause ihm zustimmten, daß die Kreuzzeitung schrieb: »Das sind Männer, während die Liberalen weder über Bajonette noch über Fäuste noch über das gewinnende Gepräge der Genialität verfügen.« Denn den Arbeiter zu gewinnen, um ihn dem Fortschrittler zu entführen, war nun das Streben der Reaktion. »Dürfen wir uns wundern, fragte eine konservative Vereinigung, wenn die Arbeiter keine Anhänglichkeit an die Regierung zeigen, welche nichts für sie tut?« Sogleich fängt Bismarck den Gedanken auf, setzt eine Kommission ein zur Frage der Altersversorgung, Verbesserung der Lage und empfiehlt, »die Frage zu diskutieren, ob der Staat in seiner Eigenschaft als Arbeitgeber nicht mit der Regelung der Arbeiterverhältnisse zum Vorbild für die übrigen Fabrikbesitzer vorangehen könne.« Zugleich regt er an: längere Kündigungsfristen, Lohnregelung unter Zusicherung eines Anteils vom Überschuß, Wohnungen, Schiedsgerichte bei Lohnstreit, Arbeiterkonsum- und Kreditvereine, Kranken- und Sterbekasse: ein soziales Programm, fünf Monate nach seiner Ernennung, beispiellos unter den Regierungen Europas in den sechziger Jahren: alles in unmittelbarer Zustimmung zu Lassalles Forderungen.

Das Motiv ist nicht Volksfreundschaft, sondern Bürgerfeindschaft; von der sozialen Seite will er die Nation gewinnen, die sich ihm von der politischen versagt. Während die Unternehmer im Landtage sich als Freunde des Volkes gaben, schlug Lassalle redend und schreibend auf ihre Doppelmoral ein und erfreute niemand herzlicher als den Ministerpräsidenten. Schon schrieb man, Lassalle, der soeben seinen Arbeiterverein gründet, sei ein Werkzeug der Reaktion, und prophetisch warnte ihn selbst Lothar Bucher: »Seien Sie vorsichtig! Sie kommen faktisch der Regierung in diesem Augenblicke zu Hilfe, man wird Sie eine Zeitlang gewähren lassen und dann die schwere Hand auf Sie legen!«

Doch Lassalle ist nicht umsonst in der Revolution erwacht wie Bismarck, er legt die Vorsicht ab, fragt nicht nach der Farbe des Verbündeten, ergreift jede Hand, die gegen seinen Feind erhoben wird: er wagt's, der Sozialist, und nähert sich öffentlich dem verhaßten Minister des Auswärtigen. Denn alles Auswärtige hat er von jeher gesehen wie er; nur daß Lassalle das einige Deutschland früher wollte als Bismarck. Er hat die befrackten Männer verspottet, die Anno 49 von Frankfurt nach Potsdam fuhren, einen König um Deutschland zu bitten, statt es zu dekretieren; da sein Blick auf der Masse ruht, nicht auf den Fürsten, so war ihm die deutsche Einheit eine Stammesfrage, keine dynastische. Doch während das Jahrzehnt von 50 bis 60 Bismarck parlamentarischer machte und ihn schon im Jahre 60 zu jener Denkschrift über ein deutsches Parlament führte, erkannte Lassalle in derselben Zeit, daß Deutschland auch mit den Fürsten zu machen wäre. Beide trafen sich in entschiedener Front gegen Östreich-Ungarn, in dessen 26 Millionen nichtdeutscher Einwohner sie das Hindernis erkannten: jeder für sich, denn Lassalle hatte keinen Einblick in Bismarcks Gesandten-Politik, und Bismarck brauchte Lassalles Broschüren zu solcher Erkenntnis nicht zu lesen.

Genau wie Bismarck wollte Lassalle, der Napoleons Despotie bekämpfte, in den Krisen dennoch lieber mit Frankreich gegen Östreich gehen als umgekehrt, genau wie jener schrieb dieser, nur öffentlich: »Revidierte Napoleon die Karte Europas nach dem Prinzip der Nationalitäten im Süden so machen wir dasselbe im Norden: befreit er Italien, so nehmen wir Schleswig. So könnte Preußen die Schande von Olmütz auslöschen ... Zaudert Preußen, so ist es damit nur gewiß, daß die Monarchie zu einer nationalen Tat nicht mehr fähig ist.« Das einzige, was ihn in diesen Gedanken von Bismarck unterscheidet, ist das nationale Pathos, das nur er als Agitator braucht und nicht der Diplomat. Zugleich begründet jener Schüler Hegels und Fichtes seine Forderung philosophischer, als dieser Schüler Macchiavells es nötig hat: »Dem metaphysischen Volke, dem deutschen Volke, ist durch seine gesamte Entwicklung und in höchster Übereinstimmung seiner inneren und äußeren Geschichte dieses höchste Los, diese höchste weltgeschichtliche Ehre zugefallen, sich aus dem bloßen geistigen Volksbegriff ein Territorium zu schaffen, sich aus dem Denken ein Sein zu erzeugen. Es ist ein Akt wie der Weltschöpfungsakt Gottes! ... Dies ist heute zur Religion geworden und durchbebt unter dem populären und dogmatischen Namen der Deutschen Einheit jedes edlere deutsche Herz. An dem Tage, wo alle Glocken das Geburtsfest des Deutschen Staates verkünden werden, an diesem Tage werden wir auch das wahre Fest Fichtes, die Vermählung seines Geistes mit der Wirklichkeit feiern!«

Bismarck verzieh die Affektation dieses Stiles gern, er merkte sich den Text und machte seine Schlüsse: er las auch, was der neue Führer in den ihm sonst todfeindlichen Bezirksversammlungen von ihm sagte: »Daß Bismarck ohne Zweifel ein feiner Kenner des Verfassungswesens ist, daß er ganz und gar auf dem Boden meiner Theorie steht, daß er vortrefflich weiß, wie die wirkliche Verfassung eines Landes nicht in dem Blatt Papier, sondern in den tatsächlichen Verhältnissen besteht.« Ja, bald ging Lassalle so weit, in seinen Riesenversammlungen am Rhein öffentlich zu sagen: »Die Fortschrittler liebäugeln mit den Fürsten (in Frankfurt), um Bismarck bange zu machen ... Und wenn wir Flintenschüsse mit Herrn von Bismarck wechselten, so würde die Gerechtigkeit erfordern, noch während der Salven einzugestehen: er ist ein Mann, jene aber sind alte Weiber!«

Noch bevor Bismarck diese Liebeserklärungen las, erhielt er ein Telegramm aus Solingen, wo man Lassalles Versammlungen verboten hatte: »Fortschrittlicher Bürgermeister hat soeben an der Spitze von zehn mit Bajonettgewehren bewaffneten Gendarmen von mir einberufene Arbeiterversammlung ohne jeden gesetzlichen Grund aufgelöst. Habe umsonst protestiert, mit Mühe das Volk, an 5 000 Mann, von Tätlichkeiten abgehalten. Bitte um strengste, schleunigste, gesetzliche Genugtuung. Lassalle.«

Das war das Aperçu der Stunde, denn eben jetzt, vor wenigen Tagen, hatte Bismarck als Trumpf gegen den Fürstentag das allgemeine, gleiche Wahlrecht für den Deutschen Bund gefordert. Bismarck gibt die Beschwerde auf den Instanzenweg, aber Lassalle erscheint doch bei ihm, »um ihm seinen Dank auszusprechen«. Dann im Winter 63 bis 64, hat er Bismarck ein dutzendmal besucht, vielleicht auch öfter, jedesmal zu langer Unterhaltung. Viele Jahre später, als es Bismarcks Interesse war, diesen politischen Verkehr abzuschwächen, sagte er im Reichstag: »Was Lassalle hatte, war etwas, das mich als Privatmann außerordentlich anzog: er war einer der geistreichsten und liebenswürdigsten Menschen, mit denen ich je verkehrt habe, ein Mann, der ehrgeizig im großen Stile war ... Unsere Unterredungen haben stundenlang gedauert, und ich habe immer bedauert, wenn sie beendet waren ... Ich glaube, daß er den angenehmen Eindruck hatte, daß ich ein intelligenter und bereitwilliger Zuhörer sei.«

Diese Gespräche, zu denen die beiden stärksten deutschen Politiker jener Epoche sich trafen, hatten zum großartigen Hintergrunde die Frage: muß Deutschland dynastisch oder kann es volkstümlich geeinigt werden? Vom radikalen Entweder-Oder waren beide zurückgekommen: Lassalle hielt damals die deutsche Republik, Bismarck einen reinen Fürstenbund für unerreichbar; im geheimen aber hielten beide diese Lösungen nicht mehr für ideal. Ein Fragment aus ihren Gesprächen ist nach Lassalles Erzählung ziemlich gut beglaubigt:

Bismarck: »Warum stimmen Sie nicht überhaupt mit der Konservativen Partei, da Sie doch wenig Aussicht haben, Ihre Kandidaten durchzusetzen? Unsere Interessen sind ja gemeinschaftliche, Sie kämpfen von Ihrem wie wir von unserm Standpunkt aus gegen das Streben der Bourgeoisie, die Herrschaft an sich zu reißen.«

Lassalle: »Im Augenblick, Exzellenz, mag es so scheinen, als sei eine Allianz zwischen der Arbeiterpartei und den Konservativen möglich, aber wir würden nur eine kurze Strecke Wegs miteinander gehen, um uns dann um so erbitterter zu bekämpfen.«

Bismarck: »Ach, Sie meinen, es kommt darauf an, wer von uns der Mann ist, der mit dem Teufel Kirschen essen kann? Nous verrons!«

Sachlich geht ihre Debatte um zwei Punkte aus Lassalles Programm, die beide Bismarck für seine Interessen verwirklichen möchte. Vom allgemeinen Wahlrecht hatte er schon früher geschrieben, »in einem Lande mit monarchischer Tradition und loyaler Gesinnung wird es die Einflüsse der liberalen Bourgeoisie beseitigen und zu monarchischen Wahlen führen. In Preußen sind neun Zehntel des Volkes dem König treu, und nur durch den künstlichen Mechanismus der Wahlen um den Ausdruck ihrer Meinung gebracht.« Zur Einführung dieses Wahlrechts in Preußen schien es Bismarck zu früh. War er zu langsam, so war Lassalle zu schnell: dieser sucht ihn nun zur Einführung des allgemeinen Wahlrechts nicht nur in Deutschland zu bewegen – denn daß vor der Reform des Bundes der Krieg stand, war beiden Mar –, sondern gleich in Preußen, durch Verordnung: der radikale Demokrat rät also zum Staatsstreich. Bismarck zweifelt, ob schon der Augenblick gekommen sei.

»Vor allem klage ich mich an, schreibt ihm Lassalle, gestern vergessen zu haben, Ihnen noch einmal ans Herz zu legen, daß die Wählbarkeit allen Deutschen erteilt werden muß. Ein immenses Machtmittel! Die wirkliche moralische Eroberung Deutschlands! Was die Wahltechnik betrifft, so habe ich noch gestern nacht die gesamte französische Gesetzgebungs-Geschichte nachgelesen und da allerdings wenig Zweckmäßiges gefunden. Aber ich habe auch nachgedacht und bin nunmehr wohl in der Lage, Eurer Exzellenz die gewünschten ›Zauberrezepte‹ zur Verhütung der Wahlenthaltung wie der Stimmzerbröckelung vorlegen zu können. An der durchgreifenden Wirkung derselben wäre nicht im geringsten zu zweifeln! Ich erwarte demnach die Fixierung eines Abends seitens E. E. Ich bitte aber dringend, den Abend so zu wählen, daß wir nicht gestört werden. Ich habe viel über die Wahltechnik und noch mehr über anderes mit E. E. zu reden.«

Aus diesem nur halb formellen Billett sieht man, wer hier die Initiative hat, man würde auf einen Jüngling neben einem alten Manne schließen, und doch stehen sie im 40. und 50. Jahre. Man sieht Bismarck, wie er gestern abend, in seinem Lehnstuhl vergraben, zwischen dem Dampf seiner Zigarre diesen nervösen Geist angehört und dann mit Worten wie Zauberrezept vergeblich zu irritieren gesucht hat; von dem geistigen Zweikampfe spürt man etwas, in dem sich beide gefallen. Aber da ist ein Krieg zu beginnen, fünf Tage nach dem Billett geht es gegen Dänemark los, und so kommt es, daß Lassalle sich zu einem zweiten entschließen muß:

»Ich würde nicht drängen, aber die äußeren Ereignisse drängen gewaltig, und so bitte ich, mein Drängen zu entschuldigen. Ich schrieb Ihnen bereits Mittwoch, daß ich die gewünschten Zauberrezepte von der durchgreifendsten Wirkung gefunden habe. Unsere nächste Unterredung wird, wie ich glaube, endlich von entscheidenden Entschlüssen gefolgt sein, und da, wie ich ebenso glaube, diese entscheidenden Beschlüsse unmöglich länger zu verschieben sind, so werde ich mir erlauben, morgen um achteinhalb Uhr bei Ihnen vorzusprechen.«

Wie er glüht! Wie die Sache ihn anzieht, wie sehr er sich Verwirklichungen nahe fühlt, die er bis heut kaum hoffte! Aber Bismarck fängt eben seinen Krieg an: da mag das Wahlrecht warten!

Einige Wochen später: Hochverratsprozeß gegen Lassalle, er sagt vor dem Staatsgerichtshof: »Ich will nicht nur die Verfassung stürzen, sondern es vergeht vielleicht nicht mehr als ein Jahr, so habe ich sie gestürzt. Die starken Spiele können gespielt werden! Karten auf den Tisch! ... Und so verkündige ich Ihnen denn an diesem feierlichen Orte: es wird vielleicht kein Jahr mehr vergehen – und Herr von Bismarck hat die Rolle Robert Peels gespielt, und das allgemeine und direkte Wahlrecht ist oktroyiert!« Großartig klingt der Name des englischen Staatsmannes auf, niemand im Gerichtssaal wird ihn begreifen. So genial durchschaut der helle Geist den schwer zugänglichen Minister, daß er ihm dasselbe Vorbild nennt, das Bismarck vor 25 Jahren in seinem Briefe als das Seinige zitiert hat, mit dessen fehlender Rolle er seinen Abgang aus dem Staatsdienst begründete. Niemand kennt diesen Brief als ein paar Verwandte. Bismarck selber hat ihn vielleicht vergessen; doch daß Peel, O'Connel, Mirabeau damals ihm vorschwebten, das weiß er noch, und wenn er liest, wie kühn sich dieser jüdische Revolutionär gegen seine Regierung verteidigt, wie sehr er ihm im Herzen zu lesen weiß, dann steigt auch sein Respekt.

Unmittelbar folgt ihm Bismarck im zweiten Plane: Produktiv-Genossenschaften, hundert Millionen Staatskredit für die Arbeiter, der Staat als Großunternehmer, das sucht der Sozialist dem reaktionären Minister abzuringen, und mit Erfolg. Er selber will nach der neuen marxistischen Lehre zum sozialistischen Staate steigen, Bismarck will den monarchischen durch solchen Eingriff stärken. Wie in der Frage der allgemeinen Wahlen wollen beide dasselbe Mittel zum entgegengesetzten Zwecke. Noch nach vielen Jahren spricht Bismarck davon als von »ernsten und klugen Dingen«; jetzt aber läßt er nur für Übersendung einer Broschüre danken, die diese Ideen entwickelt.

Das kann Lassalles Eitelkeit nicht ertragen! Bismarck sollte die Schrift dem König geben, damit er erkenne, »welches Königtum noch eine Zukunft hat«. Nun beschwert er sich gleich, will den Minister sprechen. Dieser dringende Ton ist Bismarck zuviel: er bricht nicht, aber verschiebt es, und so sieht er Lassalle nicht wieder, denn dieser soll das Jahr nicht zu Ende leben.

Indessen setzt Lassalle im selben Frühjahr noch den Empfang einer Abordnung durch, die die notleidenden Weber aus Schlesien zum Könige senden: ein großer Augenblick, dergleichen war in Preußen noch nie geschehn. Als aber die hungernden Weber vom Könige kommen, steht Bismarck im Vorzimmer, fragt sie aus, dann sagt er: »Nächsten Sonntag gibt's aber noch keinen Gänsebraten!« Da stehn die Armen, zitternd, ein Haufen Bettler, die im goldenen Schlosse des Königs nur Angst haben, auf dem Parkett auszugleiten, – und nun tritt ihnen der Herr Minister entgegen und weitet mit seinem furchtbaren Witzwort den Abgrund, der eben sacht sich einmal überbrücken sollte. Aber auch in Lassalles glänzenden Räumen in der Bellevuestraße, zwischen türkischen Teppichen und Marmorbüsten, haben sich die Arbeiter, die ihn gelegentlich aufsuchten, befangen gefühlt und die eleganten Westen des Demagogen am Rednerpult nicht gut geheißen. Er war nicht ihresgleichen.

Doch zugleich geht derselbe Junker mit Energie gegen alle sozialen Vorurteile der Bureaukraten vor: die junge Partei will er haben: er greift neben Lassalle gleich nach vier sozialistischen Federn. Lothar Bucher, verbannt, amnestiert, diesen Steuerverweigerer zieht er in die Leitung der »Norddeutschen«, seines Blattes, zugleich Brass, der gedichtet hatte: »Wir färben rot, wir färben gut, wir färben mit Tyrannenblut!«; dieser zieht Liebknecht hinter sich her, Bucher aber sucht in Bismarcks Auftrage Karl Marx für die Zeitung zu gewinnen! Marx lehnt ab, Liebknecht geht schleunigst wieder fort, als er bemerkt, daß Braß korrumpiert ist, Bucher bleibt zwanzig Jahre. In diesen abenteuerlichen Zugriffen mitten in seine Feinde zeigt sich noch einmal der tolle Junker.

Zugleich der Staatssozialist. Als ein Landrat in der Not der schlesischen Weber nur die Unternehmer und diese gar nur durch einen Gendarmen vernimmt, fährt Bismarck ihn wütend an, warum er nicht »den parteilosen Standpunkt, von welchem allein diese schwierige Angelegenheit richtig aufgefaßt werden kann, einnimmt, sondern sich ausschließlich mit den Interessen der Arbeitgeber identifiziert«; ja, er will ihn wegen mangelnder Reife des Urteils abberufen. Hierauf Einsetzung einer Kommission zur Feststellung der Arbeitslöhne und Lebensbedürfnisse, Hilfsmaßregeln, wobei die Arbeiter »durch verständige Männer gehört werden sollen, welche geeignet sind, die Interessen ihres Standes dem Arbeitgeber geltend zu machen.« Zugleich läßt er den König privatim 7000 Taler zur Versuchs-Gründung einer Produktiv-Genossenschaft nach Lassalles Plänen zahlen, um so »eine Erfahrung über die Möglichkeit, die Kosten und Resultate einer ausgedehnteren Anwendung des Prinzipes zu gewinnen.« Diese Genossenschaft soll eingetragen werden, freie Bewegung haben, »welche zum eignen Vertrieb der Waren erforderlich ist und die Weber befähigt, außer dem Arbeitslohn sich die Vorteile aus dem Vertriebe der Erzeugnisse nach Möglichkeit anzueignen.« So wird Bismarck, aus Haß gegen die übermächtigen Liberalen, in Hoffnung auf einen neuen Verbündeten, formal zum ersten Staatssozialisten in Preußen.

Im selben Sommer liefert sich Lassalle aus verblendetem Ehrgefühl der Kugel eines Müßiggängers aus; sein Werk bleibt zunächst ohne Führer. Als sich dann ein Jahr später das Staatsministerium gegen alle sozialen Versuche erklärt, läßt Bismarck dem Berichte einfügen: »Die Nahrung der Weber, welche zumeist nur aus Kartoffelsuppe, Mehlsuppe mit Salz und einer nur geringen Zugabe von Fett und Zichorienkaffee besteht, wird auf die geringste Quantität herabgedrückt, die zur Erhaltung des Lebens notwendig ist.« Und als er im Berichte liest, da sonst überall gleichberechtigte Ansprüche entständen, könne der Staat nicht helfen, schreibt Bismarck mit seinen großen Zügen an den Rand:

»Und darum soll er niemand helfen? Der Staat kann!« Mit diesen drei Worten dröhnt Bismarcks produktiver Wille noch einmal gegen die Wände des großen Käfigs, in dem er mit seinen Standesgenossen und selbst mit vielen Liberalen sitzt. In ihnen verhallt das Echo jener winterlichen Debatten, in denen ihn der Feuergeist der Zukunft zu bezaubern suchte.

VI

»Jetzt bin ich hier Minister, bei uns der letzte Pfeil im Köcher. Wenn du es übernehmen willst, Skandinavien zu einem Reich zusammenzuschmieden, so werde ich Deutschland einig werden lassen. Wir schließen dann einen skandinavisch-germanischen Bund und werden stark genug, um die ganze Welt beherrschen zu können; Religion und Kultur haben wir gemeinsam miteinander, auch die Sprachen sind nicht allzu ungleich. Sage aber deinen Landsleuten, daß, wenn sie nicht geneigt sind, auf meine Pläne einzugehen, ich vielleicht genötigt wäre, sie lahmzulegen, um nicht einen Feind im Rücken zu haben, wenn ich andre Punkte angreifen muß.«

Mit diesem erstaunlichen Briefe scheint Bismarck mit seinem alten dänischen Jagdfreund zu scherzen; immerhin wird der Empfänger, Baron Blixen in Kopenhagen, ihn zweimal gelesen haben, denn er ist dänischer Ministerpräsident, und man sitzt nicht mehr beim Weine. Wenn er ihn kennt, muß er wissen, daß Bismarck nie größenwahnsinnig oder Träumer, immer aber Rechner und Realist gewesen ist, und doch ist der Gedanke gar nicht so verrückt, es sind ja noch keine fünfhundert Jahre, da waren jene drei nördlichen Länder vereinigt, ihr Fürst war sogar aus Pommern. Mehr als ein Scherz scheint dieser Brief, vielleicht eine Warnung, und da Bismarck immer nur das Mögliche erstrebt – und deshalb Napoleons Wirkungen auf die Phantasie der Nachwelt niemals erreichen kann –, so warnt er für heut nur wegen Schleswig-Holstein.

Diese beiden kleinen Länder bedeuteten eine chronische deutsche Krankheit, seit fünfzig Jahren konnte man an ihrer Fieberhöhe zugleich den Grad des deutschen Wunsches nach Einigkeit ablesen. Weil die beiden Ländchen »up ewig ungedeelt« bleiben wollten, durchstöberte ganz Europa mumienhafte Verträge, die vier Jahrhunderte zurücklagen, in Wahrheit niemand, nicht einmal mehr die Eingeborenen interessierten; über männliche und weibliche Erbfolge von dänischen Königen und holsteinischen Herzogen zerbrach man sich den Kopf, und als nun ein solcher König starb, und der Nachfolger auch hier die neue Verfassung beschwören mußte, stießen die Nationalismen kämpfend gegeneinander, und der Sohn eines Augustenburger Herzogs, der sein Land für zwei Millionen Taler verkauft hatte, fand in dem väterlichen Verzicht ein Loch, benutzte den Streit, schlüpfte wieder in seiner Väter Lande, schrieb auf einen Bogen: »An Meine getreuen Untertanen« und ließ sich zum Herzog von Schleswig-Holstein proklamieren.

Aber im Dickicht lag der gewaltige Preuße, dem im Grunde nichts an der Deutschheit jener beiden Länder lag, – sie konnten die Gegner Preußens im Bunde nur vermehren –, aber viel an Preußens vergrößerter Macht, und während er den echten Eifer eines Teiles dieser Nordländer so gut zu nutzen verstand wie die nationale Phrase der deutschen Öffentlichkeit, sann er nur dem Rezepte nach: wie macht man aus Herzogtümern preußische Provinzen? »Ich habe stets an der Klimax festgehalten – so hat er es klassisch zusammengefaßt –, daß die Personal-Union mit Dänemark besser wäre als das, was bestand, daß ein selbständiger Fürst besser wäre als die Personal-Union, und daß die Vereinigung mit Preußen besser wäre als ein selbständiger Fürst. Welches davon das Erreichbare war, das konnten nur die Ereignisse lehren.« Ein großer Schüler Macchiavells, hat er es deshalb zuerst mit Dänemark gehalten, dann gegen Dänemark mit dem Augustenburger, dann sogar mit Östreich, immer in der Hoffnung, am Schluß Champion zu sein.

War all dies kein vorher durch und durchgedachter Plan, so war es eine Perlenkette, für die er vorher den Faden gesponnen. Als Mitte 63 die Frage akut wird, als ganz Teutschland dem jungen Herzog von Augustenburg zujubelt, weil er deutsches Land dem fremden Gewalthaber entreißen wolle, steht in der Sitzung des Staatsrates Bismarck auf und empfiehlt statt dessen die Annexion der Länder. Der König erhebt den Blick, er sagt: – Aber ich habe doch keine Rechte auf die Herzogtümer!

»Hatte der Große Kurfürst, hatte König Friedrich mehr Recht auf Preußen und Schlesien? Alle Hohenzollern sind Mehrer des Staates gewesen.«

Der König erwidert nichts, aber der Kronprinz hebt die Hände zum Himmel, als zweifelte er an den gesunden Sinnen des Redners, die Minister schweigen, selbst Roon, man geht zur Tagesordnung über. Als Bismarck seinen Antrag im Protokoll vermißt, erklärt der Sekretär, es sei Befehl des Königs, es würde, glaubte dieser, ihm lieber sein, wenn dieser Vorschlag nicht aufgeschrieben stände: »S. M. schien geglaubt zu haben, daß ich unter den bacchischen Eindrücken eines Frühstücks gesprochen hätte und froh sein würde, nichts weiter davon zu hören. Ich bestand aber auf der Einschaltung, die auch erfolgte.«

»Jetzt treibe ich auswärtige Politik, schreibt er um diese Zeit, wie ich früher auf die Schnepfenjagd ging, und setze nicht eher den Fuß vorwärts, als bis ich den Bülten, auf den ich treten soll, als sicher und tragfähig erprobt habe.« Gewiß ist, daß er durch das Hin und Her der Schleswiger Frage Östreich erst an sich heran, dann von sich weg und aus dem Bunde herausmanövriert hat und ohne Düppel schwerlich nach Königgrätz gelangt wäre. Immer ging dieser Weg am Rande des europäischen Abgrunds, immer blieb ein Blick auf die Stimmung der Großmächte gerichtet, während der andre Blick wie von einem Dompteur auf seinem König ruhte; mehr als einmal schien das Spiel verloren, das er selber ein Intrigenspiel wie von Scribe nannte, und wenn nach einem türkischen Sprichwort das Glück in den Tüchtigen verliebt ist, so muß es in Bismarck den Tüchtigsten erkannt haben, denn er hat beinah immer, bei keinem seiner Streiche aber mehr Glück gehabt, als hier.

Wäre er sogleich allein in Dänemark vorgegangen, so hätte er Östreich im Rücken und Europa in Front gehabt; indem er dem Grafen Rechberg, seinem neuen Wiener Kollegen, droht, die populärste deutsche Tat, die sogenannte Befreiung der Herzogtümer allein zu tun, nötigt er ihn an seine Seite, schiebt, mit so starkem Bundesgenossen, den Deutschen Bund beiseite, besänftigt Europa, das in der immanenten Feindschaft der beiden deutschen Großmächte eine Versicherung gegen zu große Erfolge des eine n sieht, – und hat mit einem Schlage Östreich verbündet, Europa neutral. Der drohende Weltkrieg wird abgewandt, weil Preußen und Östreich gemeinsam den Dänen den Krieg erklären. Da freilich kann Bismarck sich in diesen Zeilen noch vor dem Kriege resümieren:

»Ist es denn nicht der vollständigste Sieg, daß Östreich, zwei Monate nach dem Reformversuch, froh ist, wenn von demselben nicht mehr gesprochen wird, und mit uns identische Noten an seine früheren Freunde schreibt? Wir haben in diesem Sommer erreicht, wonach wir zwölf Jahre lang vergebens strebten: Östreich hat unser Programm adoptiert, was es im vorigen Oktober öffentlich verhöhnte; es hat die Preußische Allianz statt der Würzburger gesucht, empfängt seine Beihilfe von uns, und wenn wir ihm heute den Rücken kehren, so stürzen wir das Ministerium. Es ist noch nicht dagewesen, daß die Wiener Politik in diesem Maße en gros et en détail von Berlin aus geleitet wurde. Dabei sind wir von Frankreich gesucht, ... unsre Stimme hat in London und Petersburg das Gewicht, das ihr seit 20 Jahren verloren war ... Unsere Stärkung kann nicht aus Kammern- und Presspolitik, sondern aus waffenmäßiger Großmacht-Politik hervorgehen, und wir haben nicht nachhaltiger Kraft genug, um sie in falscher Front und für Phrasen und Augustenburg zu verpuffen ... Ich traue (Östreich) auch nicht über den Weg; aber ich finde es für jetzt richtig, es bei uns zu haben; ob der Augenblick der Trennung kommt und von wem, das werden wir sehen.«

Es ist der lange Weihnachtsbrief an Goltz nach Paris, in dem auch diese stolzen Sätze stehen; daß er sich vor dem Rivalen in die Brust wirft, kann man ihm nicht verübeln. Aber zugleich ist es ein Selbstgespräch, vielmehr das künstlich abgedämpfte Echo von hundert Selbstgesprächen, denn wo er Wir sagt, meint er sich, und so fühlt er seine Stunde als Staatsmann vor der Türe. Noch ein paar Tage, und wir schreiben 1864.

Dem lautlosen Kampfe mit dem Könige geht ein lärmender im Landtage voraus und parallel, und die Debatte mit den Demokraten zeigt, wie schwer es ist, auswärtige Politik mit einem Parlament zu machen, wofern nicht alle Staaten dasselbe tun, und auch dann wird es zuzeiten unmöglich.

Virchow: »Man muß dem König sagen, in welcher Gefahr wir schweben, der Ministerpräsident hat in einer verhältnismäßig kurzen Zeit eine so große Masse von wechselnden Standpunkten eingenommen, ... daß er ohne Kompaß in das Meer der äußeren Verwickelungen hinausstürmt, daß ihm jedes leitende Prinzip fehlt ... Das ist ja die Schwäche seiner Person, daß er in seiner ganzen Entwicklung für das, was aus dem Herzen des Volkes hervorgeht, kein Verständnis hat ... und in gewalttätiger Weise die heiligsten Interessen Deutschlands und Preußens schädigt. Er ist dem Bösen verfallen, und von ihm wird er nicht wieder loskommen.«

Bismarck: »Eine Versammlung von 350 Mitgliedern kann heutzutage die Politik einer Großmacht nicht in letzter Instanz dirigieren wollen, indem sie der Regierung ein Programm vorschreibt, das in allen ferneren Stadien befolgt werden solle ... Dem Auge des unzünftigen Politikers erscheint jeder Schachzug wie das Ende der Partie, und daraus geht die Täuschung hervor, daß das Ziel wechselt. Politik ist aber keine exakte Wissenschaft ... Ich fürchte die Demokratie nicht, sonst würde ich das Spiel (Zurufe: Ein Spiel! Ein Spiel!) verloren geben ... Verweigert das Haus die Mittel, so müssen wir sie nehmen, wo wir sie finden.« Hierauf Ablehnung der Anleihe, die eine Kriegsanleihe bedeutet, Schluß des Landtages, Eröffnung erst nach einem Jahre.

Auf dieser Höhe des Konfliktes schlagen die Antithesen wie Funken aus ihm hervor: heiligste Interessen und politische Dilettanten, ohne Kompaß und ohne Kenntnisse, Prinzip und Schachspiel. Nur daß Virchow, Naturforscher und Atheist, seinen Feind dem Bösen überantwortet, anstatt daß es der politische Christ mit dem Naturforscher täte, gibt solchem Dialoge den natürlichen Humor zurück, den jene feierlichen Phrasen verdecken.

Während er in der Kammer auf die Königsgewalt pointiert, sucht Bismarck zugleich den König mit der Kammer zu schrecken: nur eine starke äußere Politik, also der Krieg, wird die Gegner der Heeresreform verstummen lassen. Und zugleich wirft er seinen Bann über Karolyi in Berlin, schreckt Rechberg in Wien mit der Revolution, die in den nationalen deutschen Stimmen steckt, aber im Wiener Reichsrat ist man klüger, und einer lacht den angeführten Rechberg aus: »Wir ziehen in den Krieg Hand in Hand mit dem von der Welt verurteilten Kabinette Preußens! Die Lorbeeren Bismarcks lassen auch die Männer andrer Staaten nicht schlafen! Dort wird das Bedürfnis nach Vergrößerung offen ausgesprochen. Kaum hat es den Raub von Schlesien verdaut, so streckt es die Fänge nach den Herzogtümern aus, und wir lassen unsre guten Regimentsmusiken dazu aufspielen! Mit welcher Melodie werden wir sie herausführen!?«

Aber der König steht, vor solchen und vor vielen Worten und Warnungen seiner Nächsten immer wieder zögernd, blickt auf die Beute und will es doch nicht wagen; ja, er fragt mit tiefem Ernste seinen Minister: »Sind Sie denn nicht auch ein Deutscher?« Da stürzen Augenblicke wahrer .Verzweiflung über Bismarck herein, da bricht es plötzlich hervor: »Ich habe das Vorgefühl, schreibt er an Roon, daß die Partie der Krone gegen die Revolution verloren ist, weil ... das Vertrauen des Königs mehr seinen Gegnern als seinen Dienern zugewandt ist. Wie Gott will. Nach 16 bis 30 Jahren ist es für uns gleichgültig, für unsre Kinder nicht ... Ohne Gottes Wunder ist das Spiel verloren, und auf uns wird die Schuld von Mit- und Nachwelt geworfen. Wie Gott will. Er wird wissen, wie lange Preußen bestehen soll. Aber leid ist es mir sehr, wenn es aufhört, das weiß Gott.« Immer wieder Spiel und Partie und immer dann der Name Gottes, an den sich Bismarck nur in der Not oder bei vis maior wendet.

Als er den König hier, den Kaiser dort schließlich doch zum Losgehen gebracht hat, ist Bismarck noch immer ungewiß, für wen das fremde Land eigentlich erobert werden soll: noch immer kann es ihm passieren, daß er wider Willen einen sogenannten »gerechten Krieg«, nur zur Befreiung der Herzogtümer und nur zugunsten des Deutschen Bundes führt. Der Diplomat schweigt auch nach dem ersten Schusse noch nicht. Fliegender Zettel an Roon: »Ist nicht 2 Kompanien in F. sehr viel zu wenig? ... Unsere Kompanien sind in der Mausefalle, wenn unsere Artillerie nicht besagten Sund beherrscht. Wir haben ja Truppen in Holstein übrig, warum sollten wir die Insel nicht stärker besetzen? Verzeihen Sie mir diese Majors-Betrachtungen.« Was würde er sagen, wenn Roon ihm politische Ratschläge gäbe? Aber seine Verantwortung ist größer als die eines Generals je werden kann: er hat diesen Krieg erst erfunden und dann ertrotzt.

Nach 3 Monaten: Erstürmung der Düppler Schanzen, alles Land bis auf Alsen besetzt, London beruft eine Konferenz, Waffenstillstand. Bismarcks Augen sind immer nach Paris gerichtet, mit ungewissen Worten verspricht er Napoleon für später alles, was er schon in Paris nicht gehalten hatte: wenn nur Frankreich jetzt ruhig bleibt! Auch bleibt ihm zunächst nichts übrig als mit allen andern für den Augustenburger sich einzusetzen. Sogleich beweist er dessen angestammtes Recht mit vergilbten Protokollen und Advokatenkniffen, sichert sich aber für Preußen von dem kleinen Prinzen Rechte genug, um ihn von vornherein zu entmachten.

Sobald es die wachsenden Dissonanzen des Londoner Konzertes erlauben, läßt er ihn wieder zu sich nach Berlin kommen, und zwar, auch dies ist ein Mittel der Suggestion, gegen Mitternacht, nachdem er ihn am Tage zu König und Kronprinz geschickt hat. Neue Forderungen: sein Land dürfe ja keine Zuflucht für liberale Agitatoren werden. Aber der Prinz, der bisher alles unbedenklich eingeräumt hat, er will ja nur regieren, fühlt sich heute durch die Zustimmung der königlichen Herren gekräftigt, erlaubt sich zum ersten Mal eine eigene Meinung: er müsse zu allen Bedingungen nach seiner »Verfassung« die Zustimmung seiner Landstände haben. Hat der Tor an des Königs Tafel zuviel Champagner getrunken? Seine Zusagen nachträglich bedingen, also wertlos machen? Jetzt steht es für Bismarck fest: die Länder werden preußisch. Sofort beweist er auch öffentlich mit derselben Geschicklichkeit das Erlöschen aller Augustenburger Rechte. Die Ironie davon empfindet er, vielleicht genießt er sie, denn er schreibt: »Je länger ich in der Politik arbeite, desto geringer wird mein Glaube an menschliches Rechnen.«

Der zweite Teil des Krieges, nur ein paar Juliwochen, bringt den verbündeten Gegnern endgültigen Sieg, die Länder und die Verlegenheit, was damit zu tun sei. Da sitzen zusammen im Schlosse von Schönbrunn: die beiden Herrscher, Bismarck und Rechberg, vier Männer, verbündet, lächelnd: mit schlechtem Gewissen der König, vielleicht auch Rechberg, zu einfach für diese Politik, in voller Ruhe Franz Joseph und Bismarck, entschlossen, einander zu betrügen.

Bismarck: »Zu einer politischen Gemeinschaft geschichtlich berufen, machen wir dynastisch und politisch beiderseits bessere Geschäfte, wenn wir zusammenhalten und die Führung Deutschlands übernehmen, welche uns nicht entgehen wird, sobald wir einig sind ... Wenn die gemeinsamen Erwerbungen statt in Holstein in Italien lägen und die Lombardei zur Verfügung der beiden Mächte gestellt wäre, so würde es mir nicht eingefallen sein, bei meinem König dahin zu wirken, daß unsere Wünsche unseren Verbündeten einen Widerstand entgegensetzen.«

Franz Joseph: – Sollen denn nun die Herzogtümer zu Provinzen gemacht werden, oder soll Preußen nur gewisse Rechte darin geltend machen? – Pause. Der König schweigt.

Bismarck: »Es ist mir sehr erwünscht, daß E. M. mir die Frage in Gegenwart meines Allergnädigsten Herrn vorlegen; ich hoffe, bei dieser Gelegenheit seine Ansicht zu erfahren.«

Wilhelm, zögernd: – Ich habe doch gar kein Recht auf die Herzogtümer und kann keinen Anspruch darauf machen.

Welche Szene! Zwei Herrscher, ratlos, was sie mit ihrem Siege anfangen sollen, den ihnen ihre Minister abgezwungen und ihre Feldherrn eingebracht haben. Ein gegenseitiges Mißtrauen, das sich nur in höflichen Fragen Luft machen darf, bis der ältere in größter Verlegenheit moralisch und geniert erklärt, er habe keine Rechte, und dadurch seinen Minister desavouiert, der eben das Gegenteil angedeutet. Und dieses ganze falsche Spiel im Mantel der Verwandtschaft von einem herzlichen Du überlächelt, von Majestät und Exzellenz beschwert, endet mit einem Frühstück zwischen Gold und Silber, bei dem sich der verärgerte Minister an den Kostbarkeiten des habsburgischen Kellers rächt.

VII

Statt ihn auszulüften, hatte der Dänische Krieg den Konflikt im Innern nur verdichtet; wies die Regierung auf die Erfolge der ihr verweigerten Heeresreform hin, so bewiesen die Liberalen, daß die Reform noch kaum begonnen war. Wirklich war über die Grundfrage nichts bewiesen: ob Macht oder Recht herrschen sollten, das blieb nach diesem Sieg im Felde so ungewiß, wie bei der faktischen Gewalt im Lande. Als er im Januar 65 den Volksvertretern ihr Haus wieder aufschließt, ist Bismarck äußerst höflich und nach dem Sieg weniger ironisch als im Kampfe. Aber auch jetzt können es die Liberalen nicht lassen: Die Regierung, rufen sie aus, ist nur der Richtung des öffentlichen Geistes gefolgt! Da zuckt es in ihm auf: »Haben Sie mit der Verweigerung der ersten Anleihe Düppel und Alsen erobert, dann, meine Herren, habe ich die Hoffnung, daß aus Ihrer Verweigerung der jetzigen Anleihe auch eine preußische Flotte hervorgehen werde.« Der Streit geht weiter.

Auch mit dem Verbündeten: Östreich möchte aus den eroberten Ländern einen deutschen Bundesstaat machen, um sie nicht Preußen zu lassen, und Graf Mensdorff, der neue Minister des Äußeren in Wien, mehr Kavalier als Staatsmann, fein, Optimist und großer Herr, ist bei aller Höflichkeit so intrigant, wie vor zehn Jahren Graf Thun in Frankfurt gewesen. »Sehen Sie, sagt Bismarck zu Karolyi in Berlin, da stehen wir vor den Herzogtümern wie zwei Gäste, die ein vortreffliches Gericht vor sich haben: der aber, der keinen Appetit hat, verbietet energisch dem Hungrigen zuzulangen. Warten wir also, bis der Augenblick kommt; einstweilen befinden wir uns in dieser Lage ja leidlich wohl.«

Im Sommer ist das Wiener Unbehagen bis zu dem Grade gestiegen, daß man zum Bruche mit Preußen drängt. Bismarcks Puls belebt sich: der Zweck des ersten Kriegen, der Zweck seiner 15jährigen Arbeit, darf man sagen, scheint langsam heranzureifen. »Der Augenblick für einen Krieg ist günstig, sagt er mit wissenschaftlicher Kühle im Conseil. Aber zu einem solchen Schritte dürfen die Minister nicht raten. Der Entschluß kann nur aus der freien königlichen Überzeugung hervorgehen.«

Aber der König schüttelt den bösen Traum vom Bruderkriege ab, geht wieder nach Gastein und befiehlt oder erlaubt Bismarck, sich mit dem feindlichen Freunde noch einmal zu einigen. Man schreibt August 65, ein Jahr nach dem Schönbrunner Gespräch, zwei Jahre nach dem Fürstentage. Jetzt »verklebt man die Risse im Bau« und teilt die Beute: Östreich wird Holstein und Lauenburg, Preußen Schleswig nehmen, aber die Souveränität wird in beiden Ländern gemeinsam sein. Der Augustenburger fällt unter den Tisch, und zwischen Verdruß und Lachen fragt Europa: Up ewig ungedeelt?! »Damals, erzählt Bismarck, habe ich zum letzten Male im Leben Quinze gespielt, ich spielte so leichtsinnig drauf los, daß sich alles verwunderte. Graf Blome hatte nämlich gesagt, beim Quinze könnte man am besten die Menschen erkennen, und ich dachte: du sollst mich schon kennenlernen! Ich verlor ein paar hundert Taler, die ich eigentlich als im Dienste verwandt hätte liquidieren können, aber ich machte ihn irre, er hielt mich für waghalsiger, als ich war, und gab nach.« Nach der Unterschrift soll er dem Andern gesagt haben: »Nun, das hätte ich auch nicht geglaubt, daß sich ein östreichischer Diplomat finden würde, mir das zu unterzeichnen!« Östreich war damals innerlich unsicher, äußerlich ohne Bündnisse, so daß es unterschrieb; denn Preußen war es, das durch Lage und durch Wert seiner Hälfte weit mehr gewann. Als Östreich ihm schließlich das Herzogtum Lauenburg für zweieinhalb Millionen dänischer Taler verkaufte, war Bismarck glücklich: »Dadurch verliert es viel in der allgemeinen Achtung: wer kauft, ist ein vornehmer Mann, wer für ein Spottgeld verkauft, gilt für das Gegenteil!«

Nach dieser ersten »Mehrung des Staates« hat ihn der König zum Grafen gemacht. Als er ihm nach dem Dänischen Kriege den Schwarzen Adler brachte, war es die Wahrheit, wenn Bismarck dieser Meldung an die Frau hinzufügte: »und hat mich, was mir noch lieber war, sehr herzlich umarmt;« auch aus dem höchsten Orden hat er sich nichts gemacht. Viel aus dem Grafenstande. Sein Sippengefühl, die stärkste seiner Erbschaften, fühlte sich gehoben, immer hatte er mit Stolz auf die Jahrhunderte und auf die Reihe der Ahnenbilder in Schönhausen geblickt, und beim Vergleich mit dem König seinen Adelsstolz durch die Erwägung gestärkt, daß die Bismarcks länger in den Marken säßen als die Hohenzollern. Aber da waren unter den Vettern und Bekannten viele, die hatten zwei Zacken mehr im Wappen, und wenn ihn Ehrgeiz zu hohen Ämtern trieb, so huschten immer wieder die Gesichter dieser gezackteren Standesgenossen vor seinem Geist vorüber: den Vettern zu imponieren, war ein Nebenzweck, und wirklich grollte und mißtraute dem simplen Gentry-Sprossen grade der Hochmut dieser Klasse.

Er brauchte das Wappen nicht, er war schon damals Bismarck in Europa; daß aber seine Frau, das kleine hinterpommersche Landfräulein, das nicht immer Ehren genug empfing, nun Gräfin, daß seine Söhne und fort, und fort die Erben von nun an Grafen Bismarck heißen würden, das hat dem Junker Genugtuung für manchen Hochmut, dem ewig unzufriedenen Gemüte eher stolze Befriedigung gewährt, als alle Titel und Ämter zuvor und als die Freundlichkeit von Königinnen und Kaiserinnen. Die einzigen Menschen, denen er in der Welt vertraute, die Seinen sah er erhöht. Jetzt war Bismarck Fünfzig. Als er Fünfundzwanzig gewesen, hatte der Resignierte die Zukunft dem Freunde vorgezeichnet: »Und wenn man mich auf dem Wollmarkt Herr Baron nennt, werde ich um 3 Taler billiger verkaufen.«

Las er indessen die freundliche Begründung, die der König dieser Ernennung gab, so mochte er über den formalen Stolz lächeln: denn nachdem er seinen Herrn zwei Jahre lang Schritt um Schritt nach sich gezogen, sprach nun derselbe Herr von der Eroberung »als eine Folge meiner, von Ihnen mit so großer und ausgezeichneter Umsicht befolgten Regierung ... Ihr wohlgeneigter König Wilhelm.« Wenigstens war Ich und Mein mit kleinen Lettern geschrieben.

Indessen rückt die große Abrechnung immer näher, und da er sie kommen sieht, blickt Bismarck wieder mit Spannung auf Napoleon. Er und mehr noch seine Nation schalten über die Versöhnung der streitenden deutschen Mächte, denn eben ihr chronischer Streit war Europa lieb, ja in England fängt man schon an, ein mächtiges Bündnis gegen das vereinigte Deutschland zu erwägen. Bismarck rechnet: Napoleon jetzt zu sprechen, gäbe allein die Gewißheit seiner Stimmung. Der Mann, der eben den einen Kaiser in seinem Bad Gastein überredet hat, eilt jetzt zum andern, um ihn in seinem Bade Biarritz zu bezaubern; tatsächlich ist es fast eine Reise in Feindesland, wenn er am Hoflager des Franzosen erscheint, und sich nahe der kaiserlichen Villa »Eugénie« einmietet. Daß ihn nur die schwache Gesundheit seiner Frau zu dieser erstaunlichen Herbstfahrt veranlaßt hat, glaubt ihm niemand, außer dieser. »Ich war in den ersten Tagen wie schrecklich verzagt, schreibt sie von dort, weil ich ... mir einige Vorwürfe machte, dem armen Bismarck so viel zu kosten, ohne jegliche Hoffnung auf Hilfe! ... Es scheint mir fast, als sei ich in Homburg viel wohler gewesen.« Aus diesen naiven Worten geht hervor, wie er nach den ersten Ehejahren der Frau seine politischen Ziele verschwieg.

War er nicht voriges Jahr weit glücklicher hier allein? Da war er, nach dem Dänischen Frieden, rasch wieder an diese Küste gefahren und hatte, ohne Kaiser und ohne Frau, nur wieder mit derselben reizenden Orlow und ihrem Manne die Zeit verbadet, verritten und durchmusiziert. In den zwei Jahren, seit ihn Roons Fanfaren von hier weggerufen, hat er die schöne Russin ein halbes dutzendmal getroffen, begleitet, sie heißt nur Kathi in den Briefen, worunter man sich alles andere vorstellen mag als eine russische Fürstin. Nun hatten sich die glücklichen Stunden erneuert, zweimal schrieb er seiner Frau die seiner Natur völlig fremde Wendung vom Traum: »Da bin ich wirklich, mein Herz, es ist mir wie im Traum; vor mir das Meer, über mir arbeitet Kathi in Beethoven, ein Wetter, wie wir es im ganzen Sommer nicht gehabt haben, und keine Tinte im Hause! ... Wenn man mir Depeschen schickt, so ziehe ich mich in die Pyrenäen zurück. Ich werde Lubben (bei Reinfeld) doch nicht kaufen, sondern Ishoux oder etwas bei Dax. Wenn ich bedenke, wie emsig wir in Baden und selbst in Paris geheizt haben, und wie mir hier die Sonne den Paletot und die Tuchhosen abkomplimentierte, wie wir gestern bis nach Zehn im Mondschein an der See lagen, heut im Freien frühstücken, ... so muß ich doch sagen, daß im Klima eine wunderbare Gnade Gottes gegen den Südländer liegt ... Mir fehlt zum Behagen nur Nachricht von Dir.«

So leicht wird das dunkle Herz dieses Deutschen, wenn er in Gesellschaft von Ausländern, im Anblick einer schönen, von ihm verehrten Frau wochenlang an einem Strande faulenzt, was er in den Wäldern seiner Heimat nie mehr fertig bringt. Das Ferne, das Helle, das Blaue, das Meer, glühender die Sonne, bunter die Kleider der Frauen, leichter die Sprache selbst: es ist der Traum eines Deutschen.

Diesmal freilich, mit Frau und Tochter, beide leidend, ohne die russische Freundin, aufgewühlt von Plänen, sieht er vor sich einen andern Strand, diesmal ist aber ein Dichter da, Prosper Merimée, der erkannte ihn als Ausländer besser als einer in Deutschland: »Bismarck ist geistreicher als einem Deutschen zukommt, ein diplomatischer Humboldt ... C'est un grand Allemand, très poli. Il a l'air absolument dépourvu de Gemüth, mais plein d'esprit«, und ein Jahr später: »Dieser große Mann ist zu gut vorbereitet, als daß man mit ihm anbinden sollte. Wir werden noch manchen Ärger seinetwegen verschlucken müssen, bis wir Zündnadel-Gewehre haben.« Doch mehr als die Kunst des Dichters bewundert man die des Staatsmannes: so groß ist also Bismarcks Fähigkeit, den Schein der Verwandlung vorzutäuschen, so rasch hat er die Deckfarbe des Landes angelegt, die er im Augenblicke braucht. Wird er auch diesen Kaiser verführen?

Dort gehen sie auf der Terrasse auf und nieder, immer das Meer neben und unter sich: mächtig, gesund, scharf raffenden Blickes schreitet Bismarck und versäumt nicht, bei jeder Wendung an die Linke des Kaisers zu treten; gelb, gebeugt und früh verfallen, obwohl nur ein paar Jahre älter als jener, mit kleinen Schritten und ruhelosen Blicken der andere; langsam folgt ihnen nur Nero der Hund. Wer die Kämpfe beider Männer heut in fünf Jahren voraussähe, läse aus ihrem Anblick schon jetzt die Entscheidung.

Wer aber zuhörte, bliebe ungewiß, ob es jemals zum Kampfe kommen müsse. Keiner von beiden wünscht ihn, der Kaiser, blasenleidend, geschwächt, scheut überhaupt einen neuen Krieg, während er in gesunden Tagen sich »alle paar Jahre einen tüchtigen Feldzug« wünschte, und würde ihn immer noch lieber im Mittelmeer oder doch in Venetien führen, weil hier die Mode der nationalen Freiheit für Italien mitzumachen und zugleich ein Stück Macht zu erwerben, also die Wünsche der Franzosen reell und ideell zu befriedigen wären. Da dieser Preis nur durch den Krieg gegen Östreich zu erringen ist, so errechnet der Kaiser aus einer Politik mit oder doch für Preußen seinen Vorteil. Was aber soll er für diesen unbezahlbaren Dienst von Preußen fordern?

Was wird er fordern? so fragt sich Bismarck, denn deutsches Land anbieten kann er nicht, an östreichischem aber ist dem Franzosen nicht gelegen. Darum spricht er am liebsten von Belgien, und da Napoleon sich zurückhält, faßt er die Lage mit mephistophelischer Kürze in dem Satze zusammen: »Es ist schwierig, fremdes Gut jemand anzubieten, der es nicht haben will.« Dann spricht er von der welschen Schweiz, auch von deutschen Stücken am Rhein, von Trier und Landau ist die Rede: alles nur immer im Promenieren, und in dem niemals ausgesprochenen Sinne: anbieten können wir nichts, nehmt ihr's aber, so wird euch niemand hindern. Auch der Kaiser läßt die Annexionen unausgesprochen, er spricht allgemein:

– Ein größeres Preußen würden wir begrüßen, befreit von aller Art Leibeigenschaft.

»Ein strebsames Preußen, meint Bismarck, nicht minder verschwommen, legt hohen Wert auf französische Freundschaft; ein entmutigtes müßte seine Bündnisse gegen Frankreich suchen. Übrigens muß man die Ereignisse nicht machen wollen, sondern reifen lassen.«

– Sobald die Umstände eine engere und speziellere Entente wünschenswert machen, resümiert der Kaiser, möge Ihr königlicher Herr mir vertraulich schreiben.

Weiter kommt er nicht, auch durfte Bismarck nicht weiter gehen, jede Bindung hatte der König streng verboten. Wird er ihm nun alles berichten? Nur, was er für gut hält, und nur, wie es der König fassen kann: mit der Macht hat Bismarcks Offenheit rasch abgenommen, jedem gibt er soviel zu wissen, als er versteht, auch dem König, der ihm noch lange nicht zum Krieg mit Habsburg reif erscheint. »Nach allgemeinen Wahrnehmungen darf ich die gegenwärtige Stimmung des hiesigen Hofes als eine uns überaus günstige bezeichnen.« So endete im Halblicht jener Gespräche auch der Bericht, und durch die Schleier erkennt man das Wetterleuchten seiner Seele: wie dieser Staatsmann gegen den größten Teil von Europa, gegen die Stimmung seines Volkes, gegen den eignen König den Krieg mit dem deutschen Bruder im Herzen wälzt und sich das große ehrgeizige Frankreich durch halbe Versprechungen zu sichern sucht.

Da beide einander betrügen wollten, bleibt ungewiß, wer eigentlich der Betrogene von Biarritz gewesen ist. Der Sieg der Kanonen von Siebzig hat das Duell dieser beiden Köpfe nur beendet, nicht entschieden.

VIII

Mitte der Sechziger Jahre fing Bismarck der Preuße an, ein Deutscher zu werden.

Nicht als hätte jetzt oder früher ein anderer Wunsch ihn vorwärts getrieben, als Östreich im Bunde zu schlagen; Haß und Selbstgefühl waren auch in dieser Frage stärker als Liebe und Wille zur Ordnung. Preußen an Östreichs Stelle zu bringen, Kampf und Sieg über den Rivalen war, was seine dämonische Natur erstrebte, nicht die »Deutsche Idee«; wenn ihm die Liberalen diese damals abstreiten, da sie selbst eine Art deutscher Religion beseelt, so haben sie recht. Damals waren ihm Rheinländer und Bayern um nichts vertrauter als Wiener und Salzburger, warum auch sollte er die Deutschen draußen klassifizieren? Jetzt war er bereit, wie er's vor 10 Jahren an Gerlach geschrieben, auf diese Leute schießen zu lassen, wenn eine wohlerwogene Politik es nötig machte, und wird in wenigen Monaten Sachsen, Hessen und Hannoveraner mit kaltem Blut in seinem Kriege zu Tausenden fallen sehn. Denn alles dies ist Ausland: Preußen allein ist Vaterland, Heimat.

Diese Form der Vaterlandsliebe, den Deutschen durch ihre Entwicklung eigentümlich, ist bei Bismarck eher durch ihre Weite erstaunlich als durch ihre Enge, denn wie er selber im Alter darlegt, hängt der Deutsche an seiner Dynastie, liebt deshalb meist nur eine Ecke; so liebt Bismarck im Grunde nur Pommern. Preußen aber, zufällig zusammen erobert, mit seinem damals noch schmaleren Leibe, war zu groß und unlogisch gebaut, um dynastische Gefühle zu erwecken; zwischen Köln und Memel war kein Verständnis. Bismarck war als einer der wenigen trotzdem entschlossen, dies Preußen als solches zu lieben, wie immer es gestaltet war, weil ihm die Eroberungen seines Königshauses Dogma, die Stämme aber unerheblich schienen. Als Lehnsmann des Königs von Preußen, als Ritter Brandenburgs, strebt er nur nach Mehrung dieses Landes und hätte viel lieber im Stile früherer Jahrhunderte deutsche Fürsten besiegt, um Preußen zu vergrößern, als daß er sich mit deutschen Bundesfragen herumschlug; primus wollte er sein, und nur erzwungenermaßen inter pares. Das war die Logik seines Blutes.

Doch ein unheimlicher Intellekt, tiefe Kenntnis der Geschichte und hohe Klarheit über die Realitäten kämpften solche ihm natürlichen Wünsche nieder: er sah das Mögliche, strich das Wünschenswerte und beschloß, nach dem Sieg über Östreich seinem Preußen nur die deutsche Führerschaft zu sichern; ein paar Provinzen sollten freilich dabei mit abfallen, aber Eroberung bildete nicht mehr das Ziel. Ein neuer Ehrgeiz war in ihm erwacht. Derselbe, höchst verläßliche Zeuge Keudell, zu dem er vor 10 Jahren sagte: »Ich kümmere mich nur um Preußens Krone!« hört jetzt von ihm: »Mein größter Ehrgeiz ist es, die Deutschen zu einer Nation zu machen!« Vor einem Jahrzehnt, als aus dem Parteimann der Diplomat wurde, gab Bismarck gewisse reaktionäre Vorurteile preis und begann prinzipienlos nur noch mit Größen zu rechnen; jetzt, da er vom preußischen Minister zum deutschen Staatsmann erwuchs, begann er in deutschen Ländern zu denken. Daß er es aber in Dynastien tat und nicht in Stämmen, das war ihm eingeboren, und sein Verstand vermochte solche Urgefühle weder jetzt noch je zu besiegen. Darum ist Bismarck nur der größte Staatsmann seiner Zeit geworden, kein Seher der Zukunft.

Für jetzt ist ihm Östreichs schwierige Lage willkommen: Holstein, dessen Verwaltung aus der Ferne last koloniale Schwierigkeiten macht, möchte es an Preußen, Venetien an Napoleon für vier Milliarden Lire verkaufen. Da aber Östreich beides nicht wagt, so läßt es in Holstein aufs neue den Augustenburger Prinzen agitieren und verletzt damit den Gasteiner Vertrag, der Preußen die Mitbestimmung in beiden Ländern gibt. Jetzt kann Bismarck seinem König verletzte Rechte vorhalten, jetzt kann er ihn reizen, mit erstaunlicher Offenheit spricht er es aus: »Der König ist so geartet, sagt er dem französischen Botschafter Benedetti, daß man, um ihn zur Einforderung eines Rechtes zu bestimmen, beweisen muß, daß andere es ihm bestreiten. Wagt man seine Autorität zu beschränken, so kann man energische Entschlüsse von ihm erlangen.« Große Beschwerde in Wien, entrüstete Antwort, Kronrat in Berlin im Februar 66. Der König ist scharf gemacht: »Wir wollen keinen Krieg provozieren, aber wir dürfen nicht vor ihm zurückschrecken.« Alle Ministerstimmen zu, nur nicht der Kronprinz. Der König: »Der Besitz der Herzogtümer ist einen Krieg wert. Man muß verhandeln und abwarten. Ich wünsche den Frieden, bin aber, wenn es sein muß, zum Kriege entschlossen, den ich für einen gerechten halte, nachdem ich Gott gebeten, mir den rechten Weg zu zeigen.« Vor anderthalb Jahren, in Schönbrunn, hatte ihm Gott noch versichert, er habe kein Recht auf die Herzogtümer; jetzt gibt es weder einen Deutschen Bund noch östreichische Rechte mehr.

Bismarcks Hoffnungen steigen. Kontroverse mit dem Kronprinzen, die einen »leidenschaftlichen Charakter annahm«. Am selben Abend, nach einem Diktat, sitzt er am Fenster und spricht vor Keudells Ohren vor sich hin: »Wenn Mensdorff wieder in die alte Politik verfällt, so müssen wir ihm etwas Schwarz-Rot-Gold unter die Nase reiben. Die Schleswigsche und die Deutsche Frage hängen so eng zusammen, daß wir sie beide zusammen lösen müssen, wenn es zum Bruche kommt ... Ein deutsches Parlament würde den Rest der Mittel- und Kleinstaaten in die gehörigen Schranken weisen.« Dann nach einer Pause: »Und wenn sich unter ihnen ein Ephialtes fände, die große deutsche Bewegung würde ihn und seinen Herrn erdrücken!« Dann »stand er schnell auf und verließ das Zimmer«. So faßt Bismarck Entschlüsse: langsam Glied an Glied zusammendenkend, dann springt ihm ein historischer Vergleich quer in die Gegenwart, mit ihm erdrückt er den Gegner, und indem er plötzlich rasch aufsteht, spricht er den Entschluß aus, den er verheimlicht.

Was beim Herannahen des Krieges zu kräftigen ist: die Diktatur wird nun auf die Spitze getrieben. Solange die Abgeordneten reden, was ihnen beliebt, ist die Stimmung im Lande zu großen Entschlüssen nicht reif: also muß der Staatsanwalt gegen Liberale wegen Mißbrauch der Redefreiheit vorgehen, wofür zwei sichere Hilfsrichter in den Gerichtshof geschickt werden. Der Landtag wütet: »Mögen Sie Ihre Richter mit allen Orden des Preußischen Staates behängen: Ihre Sterne decken die Blöße nicht, die diese Männer ihrer Ehre vor Mit- und Nachwelt geschlagen haben! Leider auch der Ehre des Vaterlandes ... So ruft man die staatsgefährliche Stimmung des Pessimismus hervor: auch ruhige Männer kommen auf den Gedanken, daß uns nur noch Tage der Rache bevorstehen!« Das schleudert Twesten, einer der Gemaßregelten, von der Tribüne ins Land und zielt mit den letzten Worten gradenwegs auf die Revolution, am Vorabend des Krieges.

Bismarck erwidert: »Auf diese Art kämen wir dahin, die Kammer zu einem Gerichtshof vierter Instanz über der höchsten zu machen. So kommt man zu einem Vorrecht der Abgeordneten vor andern Bürgern, wie auch die junkerhafteste Phantasie es sich nicht träumen ließ! So hätten Sie das Recht zu rohester Beleidigung und Verleumdung!« Der Konflikt ist unlösbar geworden, aber nur ein solcher Konflikt kann auch den König an der Seite seines kämpfenden Ministers halten. Der Landtag wird geschlossen. Bismarck ist mit der Lage zufrieden.

Jetzt gilt es, sich Frankreichs und Italiens zu versichern. Der König muß nun jenen Brief an Napoleon schreiben, den dieser sich für den kritischen Zeitpunkt ausgebeten: der Botschafter werde ihm alles sagen, der Augenblick sei da. Goltz sagt dem Kaiser: »Wir wollen nicht bloß die Herzogtümer haben, sondern die Norddeutsche Union unter Preußen begründen.« Der Kaiser sagt Neutralität zu; da er indes noch andere Pläne Preußens argwöhnt, meldet er bei weiterer Vergrößerung schon jetzt Forderungen am Rhein an. Bismarck verhandelt vorsichtig weiter, schickt den ihm höchst vertrauten Bleichröder nach Paris, der Rothschild seine Wünsche überbringen und so dem Kaiser übermitteln soll. So benutzt Bismarck private Beziehungen, sogar die Juden. Bald darauf spricht Thiers in der Pariser Kammer über die bevorstehende Einigung Norddeutschlands: nur die deutsche Zerrissenheit erhalte Frankreichs Übergewicht. Stürme des Beifalls auf allen Seiten, Napoleon erschrickt und erwägt von nun an, Östreich für den Verlust Schleswigs vielleicht in Schlesien zu entschädigen, damit Preußen nicht zu mächtig würde. So geht der Länderschacher von einem Kabinett, von einem Parlament zum andern, alle Chiffrier-Bureaus überschwemmen einander mit Mitteilungen von Forderungen und Stellungen, die die Großmächte nach einem Kriege auszusprechen gedenken, der aber durchaus nicht auszubrechen braucht.

Als gleichzeitig ein italienischer General in Berlin erscheint, hat Bismarck ein Interesse, seine geheimen Bündnisverhandlungen mit Florenz in Wien wissen zu lassen, um scharfe Wiener Protestnoten heraufzubeschwören, die er wieder zur Aufputschung seines Königs braucht; er vertraut deshalb diese Pläne dem alten Wrangel an, der alles Vertrauliche sofort weiterzugeben pflegt. Dem Italiener sagt er: »Ich hoffe, den König zum Kriege fortzureißen, kann aber dafür meine Hand nicht ins Feuer legen.« Obwohl der General in Berlin von allen Ausländern vor Bismarcks Tücke gewarnt wird, läßt man sich in Florenz nicht beirren, und als nun die erwarteten Beschwerden aus Wien einlaufen, entschließt sich Italien zum Bündnis, derart, daß es in Venetien einmarschieren soll, sobald Preußen dasselbe in. Böhmen tut. Dieser Wechsel ist in drei Monaten zahlbar. Daß er sich Waffen des Auslandes zum Kampf gegen das deutsche Haus Habsburg sichert, stört diesen deutschen Royalisten keineswegs.

Nun hat er endlich den Verbündeten zur Unterschrift reif gemacht: da weigert sich sein eigner König! Nervenzusammenbruch Bismarcks. »Unser Freund, schreibt Roon, in herkulischer Tag- und Nachtarbeit nervös abgenutzt, ... litt vorgestern an so heftigen Magenkrämpfen und war gestern infolgedessen so außer ordentlich herabgestimmt, so reizbar und verärgert ... daß ich auch heute noch nicht ohne Besorgnis bin, da ich weiß, was auf dem Spiele steht, und daß er gerade jetzt aller Kräfte seiner Seele, ungestört von körperlichen Einflüssen, dringend bedarf.« In diesen Wochen denkt er und denkt Roon einmal ernsthaft daran, abzugehen, bis Roon am andern Morgen sich und den Freund wieder aufrichtet. »Sie wissen aus Erfahrung, wie das Leben beschaffen ist, schreibt Bismarck einem Bekannten: seine Erfahrungen, seine Aufgaben, seine Entbehrungen, die Unzulänglichkeit von Zeit und Kräften ... Glauben Sie nicht, daß Entmutigung mich so sprechen macht. Ich glaube an den Krieg, ohne zu wissen, ob ich ihn sehen werde; aber manchmal überfällt mich eine Erschöpfung.« Ein ungewohnter Ton in dem Briefe dieses Kämpfers: philosophisch, entsagend, müde.

Als sich die Feinde ringsum häufen, wird er wieder lebendig; jetzt fallen auch die Konservativen zum guten Teile von ihm ab: Kampf gegen das legitime Habsburg scheint ihnen unmöglich, man sieht in dem Minister den neuen Radowitz, während er doch vor 16 Jahren Radowitz bekämpft habe. Ludwig Gerlach, der alte Freund und Beschützer, ermahnt ihn am abendlichen Kamine und droht zwischen Sodawasser und Zigarren mit Gottes Fluch. Als er Bismarcks Politik in der Kreuzzeitung bekämpft, wird dieser zornig: »Ich bin kein Tollkopf, der das Land in Kriege verwickeln will! so grollt er den alten Pietisten an. Hier muß ich nach eigener Ansicht, ohne Einfluß anderer handeln. Ich mache das mit Gott allein ab, nicht mit meinen Parteigenossen.« Dabei ist er »schroff, blaß, Leidenschaftlich, erregt, freundliche Worte kamen nicht vor«. Als Gerlach ihn bittet, wenigstens an persönlicher Freundschaft festzuhalten, schweigt er, lehnt also ab, und hat ihn nie wieder gesprochen.

Zugleich arbeitet der Kronprinz und seine Frau, Augusta vor allem: alles hetzt gegen den Krieg, d. h. gegen Bismarck. Ein befreundeter Herzog bestellt sich beim östreichischen Minister Friedensbriefe, um sie dem Könige zu senden, Briefe und Deputationen der Treusten des Landes dringen in ihn, Prinz Karl, Senfft-Pilsach, Bodelschwingh, Gerlach, die Pietisten alle, sogar die Heilige Allianz steigt als Gespenst noch einmal aus der Versenkung. Alles sprüht und eifert, nur Einer bleibt ruhig: Moltke erklärt, als Bismarcks Kriegstrompete braust, die Meldung von östreichischen Rüstungen sei stark übertrieben. Und doch arbeitet Bismarck auf ein Losschlagen Östreichs hin, denn sein König, soviel ist gewiß, schlägt nicht zuerst los, schon aus Furcht vor seiner Frau; Augustas Taktik ist nach Bismarcks Bericht damals so antinational gewesen, daß »während an der böhmischen Grenze schon gefochten wurde, unter dem Patronate J. M. ... in Berlin Unterhandlungen bedenklicher Natur stattfanden.«

Noch toller treibt's die Kronprinzessin. »Meine geliebte Mama, schreibt sie Ende März in fliegendem Billett nach London, ... was Du durchaus wissen mußt, ist, daß der böse Mensch (the wicked man) außer sich vor Wut ist darüber, daß der König gewünscht hat, Fritz soll Dir schreiben, ... das ginge nicht, durchkreuzte seine Pläne, sei eine nutzlose Einmischung etc. ... kurz, er war sehr erbost und will jetzt ... jede Einmischung von anderer Seite lahmlegen. Das solltest Du, denke ich, unverzüglich wissen, deshalb schreibe ich es direkt, obschon es wie eine Intrige aussehen mag, was ich hasse.« Es war keine Intrige, es war Landesverrat, und wenn Victoria auch nicht aufhört Engländerin zu sein, so sollte sie die Tradition englischer Minister lernen, die zu allen Zeiten die Einmischung verwandter Fürsten von den ihrigen ferngehalten haben.

Bismarck fiebert; zuweilen, so schildert ein Zeuge, greift er sich bei Tisch an die Stirn und sagt leise: »Ich glaube, wir werden noch alle verrückt!«

Was werden die deutschen Fürsten tun? Werden sie, werden die Stämme sich von Preußen führen lassen? Und jetzt, im Vorgefühl von solchem hohen Glück, ergreift er das überraschendste Mittel, die öffentliche Meinung zu erringen: er stellt beim Bunde den Antrag auf Berufung einer deutschen Volksvertretung aus allgemeinen und direkten Wahlen! Lassalle ist tot, aber da taucht mit einemmal einer seiner großen Gedanken empor. »Im Hinblick auf die Notwendigkeit, schreibt Bismarck im Alter, im Kampfe gegen eine Übermacht des Auslandes, im äußersten Notfall auch zu revolutionären Mitteln greifen zu können, hatte ich auch kein Bedenken getragen, die damals stärkste der freiheitlichen Künste, das Allgemeine Wahlrecht ... mit in die Pfanne zu werfen, um das monarchische Ausland abzuschrecken von Versuchen, die Finger in unsere nationale Omelette zu stecken ... In einem Kampfe derart, wenn er auf Tod und Leben geht, sieht man die Waffen, zu denen man greift, ... nicht an: der einzige Ratgeber ist zunächst der Erfolg des Kampfes, die Unabhängigkeit nach außen.«

18 Jahre zurück, und der Abgeordnete von Bismarck-Schönhausen rief gegen das Allgemeine Wahlrecht: »Ein Pfund Fleisch und Menschenknochen gewährt keinen Maßstab!« Worauf ihm Vincke zurief: »Seelen!«

Jetzt hat mit diesem Schusse Bismarck den Deutschen Krieg angekündigt. Das Echo war Gelächter: er, der vier Jahre lang sein eignes Land gegen die Verfassung ohne Budget als ein Diktator regierte, wagt es, die Deutschen durch ein Angebot zu verhöhnen, dem man die Furcht von weitem anmerkt? Hätte man in Deutschland gewußt, was damals der Preußische Kronprinz sagte, alles hätte ihm zugejubelt: »Bismarck treibt ein frevelhaftes Spiel mit den heiligsten Dingen. Ein Konflikts-Minister darf nicht die Deutsche Frage lösen.« Aber nicht einmal der Kronprinz wußte, daß derselbe Mann schon im Jahre 60 in seiner Badener Denkschrift demselben König ein Deutsches Parlament empfohlen hatte! »Nicht also! – schreibt Treitschke, und halb Deutschland applaudiert ihm – nicht wie der Geist, den man anruft in der Not, sondern reiflich vorbereitet durch ein verfassungstreues Regiment in Preußen und darum getragen von dem festen Willen des preußischen und empfangen von der jubelnden Zustimmung des deutschen Volkes, sollte der Gedanke, den die Nation seit Jahren im Herzen trägt, die Bühne der praktischen Politik beschreiten! ... Wie betäubt schaute die Nation der plötzlichen Wendung der preußischen Staatskunst zu!«

So überströmt das deutsche Gefühl die Vernunft, die das lange Geforderte nun annehmen sollte, und während alle Ideologen Deutschlands moralisierend rufen: Nicht also!, ist Bismarck der Einzige, der sein Gefühl gegen die Parlamente schweigen und nur Vernunft regieren läßt.

Doch schlimmer als dies populäre Nein tönt seinen Ohren ein Friedensruf aus Wien: dort will man plötzlich doch wieder den Frieden, schlägt gegenseitiges Abrüsten vor: sofort wird Bismarck, dessen Körper von der Spannung seiner Nerven abhängt, ernstlich krank, er kann nur noch schriftlich mit dem Könige verkehren. Da entschließt sich Victor Emanuel, unter Napoleonischer Aufsicht, zuerst zum Marschieren, – und nun macht Östreich nicht nur die nötigen Korps, vielmehr die ganze Armee mobil, denn von dem geheimen Bündnis hat es längst erfahren: Bismarck wird sofort gesund, weist mit dem Finger auf die »Betrüger« in Wien. So tritt im Kronrat der König schärfer auf als je. Noch ein paar Sporenstiche, dann wird er springen!

»E. M. wollen sich überzeugt halten, daß es meinem Gefühle, ich kann sagen meinem Glauben widerstrebt, die höchsten landesväterlichen Entschließungen über Krieg und Frieden in zudringlicher Weise beeinflussen zu wollen; es ist das ein Gebiet, auf dem ich Gott allein getrost überlasse, E. M. Herz zum Wohle des Vaterlandes zu lenken, und mehr beten als raten möchte. Die Überzeugung aber darf ich dabei doch nicht verhehlen, daß uns, wenn es jetzt gelingt, den Frieden zu erhalten, die Kriegsgefahr später, vielleicht; in Monaten, unter ungünstigeren Verhältnissen bedrohen werde. Der Friede läßt sich auf die Dauer nur halten, wenn beide Teile ihn wollen ... Wer wie E. M. alleruntertänigster Diener, seit 16 Jahren mit der östreichischen Politik intim zu tun gehabt hat, kann nicht zweifeln, daß in Wien die Feindschaft gegen Preußen zum obersten, man möchte sagen, alleinigen Staatszwecke geworden ist. Sie wird sich aktiv betätigen, sobald das Wiener Kabinett die Umstände günstiger findet als jetzt. Sie in Italien, Frankreich günstiger zu gestalten, wird das nächste Streben Östreichs sein.«

So muß aufs neue Gebet, Gott und Glaube mobil gemacht werden, damit der König mobil mache. Ihn hat er ins Herz getroffen, er hat ihn an Olmütz erinnert, er, der sich um Olmütz vor 16 Jahren mit demselben König überworfen, und nun zittert der alte Mann vor neuer Unterwerfung, er schreibt: »Sie mögen Manteuffel ... sagen, daß, wenn ein Preuße mir jetzt Olmütz in die Ohren raunt, ich sofort die Regierung niederlege!«

Jetzt endlich, Anfang Mai, macht der König mobil, doch so, daß es noch immer nicht Krieg bedeutet. Augusta verläßt protestierend Berlin, der Kronprinz, hoher Offizier, erklärt den Bruderkrieg für verwerflich, schlechten Ausgang für wahrscheinlich, Schlesien und die Rheinprovinz vermutlich für verloren. Die Königin-Witwe, aus bayerischem Stamm, ist empört, sogar ein Teil der älteren Offiziere, in Erinnerung an ihre Väter in der Völkerschlacht, ist dagegen. Jetzt, da beide kriegerisch entschlossen sind, König und Bismarck, sind beide allein. »Ich weiß, sagt der König zu seinem Vorleser, sie sind alle gegen mich. Alle! Aber ich werde selbst an der Spitze meiner Armee den Degen ziehen und lieber untergehen, als daß Preußen diesmal nachgibt!« Bismarck zur gleichen Zeit: »Ich weiß, daß man mich überall verabscheut, aber das Glück ist wandelbar, wie die Meinung der Menschen. Ich spiele um meinen Kopf, aber ich werde bis ans Ende gehen, und müßte ich ihn aufs Schafott tragen! Weder Preußen noch Deutschland können bleiben, wie sie waren, und um zu werden, was sie sollen, gibt es nur diesen Weg.«

Ja, er spielt um seinen Kopf, dort lauert schon der Attentäter, er wartet nur, bis der gehaßte Minister sich wieder auf der Straße zeigt, denn er war krank. Als er am 7. Mai zum erstenmal wieder beim König gewesen und nachher über die mittlere Allee der Linden nach Hause geht, hört er in der Nähe ein paar Schüsse fallen, dreht sich rasch um, sieht vor sich einen jungen Mann, der will eben aufs neue abdrücken. Im Nu ist Bismarck neben ihm, vielleicht über ihm, packt ihn am rechten Handgelenk, zugleich an der Gurgel, aber der Mann ist nicht minder entschlossen, er hat die Waffe schnell in die Linke genommen und feuert weiter, aus nächster Nähe zwei Schüsse: der eine geht durch rasche Wendung fehl, verbrennt nur den Rock, der andre sitzt. Ein Augenblick der Schwäche, das Rückgrat ist erschüttert, aber zugleich würgt der Getroffene den Menschen weiter, bis ein Passant, bald auch ein paar Soldaten, den Attentäter fassen. Mit Staunen bemerkt Bismarck, daß er mit einem leichten Schmerz ruhig ausschreiten kann, geht zu Fuß nach Hause, wo ihn Johanna und Gäste zu Tische erwarten.

Ungesehen geht er zunächst allein ins Kabinett, untersucht vor allem seine Kleider, dann schreibt er einen kurzen Bericht an den König. Nun erst tritt er in den Salon, er küßt seine Frau auf die Stirne: »Erschrick nicht, mein Herz, es hat jemand auf mich geschossen, ich bin aber durch Gottes Gnade unverletzt geblieben.« Bei Tisch erzählt er den Fall wie ein Jagdabenteuer: »Als Jäger sagte ich mir: die letzten beiden Kugeln müssen gesessen haben, ich bin ein toter Mann. Aber ich konnte bequem nach Hause gehn. Hier habe ich die Sache untersucht: Löcher in Überzieher, Rock, Weste und Hemd, nur an der seidenen Unterjacke war die Kugel abgeglitten, ohne die Haut zu verletzen. Die Rippe schmerzte etwas wie von einem Stoß, das ging aber bald vorüber. Es kommt bei Rotwild vor, daß eine Rippe elastisch federt, wenn die Kugel aufschlägt, nachher kann man es erkennen, weil da einige Haare fehlen. So mag auch meine gefedert haben. Vielleicht ist auch die Kraft der Schüsse nicht voll entwickelt worden, weil die Mündung des Revolvers unmittelbar auf meinem Rocke lag.«

So, mit naturforschender Ruhe, erzählt er die Geschichte, ohne zu betonen, daß er sich soeben selber das Leben gerettet hat, denn nur dem eingeborenen Mut, mit dem er auf den Mörder losging, nur der natürlichen Kraft, mit der er ihn würgte und hielt, verdankt er in dieser Stunde, daß er das Glas mit Wein erheben darf. Bald tritt der König ein, ihn zu umarmen, die Prinzen mit gemischten Gefühlen, dann staut sich eine nicht eben große Menge vor seinem Hause, Bismarck tritt mit seiner Frau auf den Balkon. Er war der bestgehaßte Mann in Preußen, nie hat ihm eine Menge applaudiert. Heut, weil ein Demokrat an ihm vorbeigeschossen hat, jubeln ihm die Demokraten zu, er spricht ein paar Worte und läßt den König leben. Andern Tages bringt sich im Gefängnis der Attentäter um: Blind, ein deutscher Jude aus London, der den Volksfeind beseitigen wollte. Sicher bedauert der Gerettete, daß ihm die Rache entgeht. Wäre der Knochenbau dieses Mannes wirklich eisern gewesen und nicht elastisch wie sein Geist, wäre er gefallen, so hätte sich der Konflikt zwar verschärft, aber der Deutsche Krieg hätte sich nicht zugetragen. Dies war ja kein Volks-, nicht einmal ein Kabinetts-Krieg, sondern die Erfindung eines einzigen Ministers, der Kabinett, König und Generale hinter sich herschleifen mußte. Wäre er in diesen Wochen auch nur durch Krankheit ausgeschaltet worden, so hieße das, nach Roon, »nach meiner Überzeugung die Schlacht von Kolin zum zweiten Male verlieren.«

Nach dem Attentat soll sich Bismarck als »Gottes auserwähltes Werkzeug gefühlt haben; ausgesprochen hat er das nicht«, fügt Keudell zu, aber den feinen Nerven dieses täglichen Zeugen kann solche Stimmung kaum irrig aufgefallen sein. Auf der Höhe der Gefahren, unmittelbar vor seinem eigenen Kriege, ungewiß, wie er enden würde, und nun auf wahrhaft wunderbare Art gerettet: da macht selbst Bismarcks Realismus halt für einen Augenblick und spürt geheimnisvoller Schickung nach.

IX

Zwischen dem letzten Schuß des Idealisten auf den Volksfeind und dem ersten des Realisten auf die deutschen Brüder lagen 5 Wochen. Kompensationen! rief man in Paris, noch ehe die deutsche Armee sich rührte, Napoleon, von Thiers heftig angegriffen, fängt an, seine Politik zu bereuen, glaubt aber vielleicht noch an Bismarcks pseudo-vertrauliche Worte, die er ihm durch den Italiener sagen ließ: »Wenn es von mir allein abhinge, so würde ich vielleicht um des guten Zweckes willen etwas Landesverrat treiben, und da ich viel mehr Preuße bin als Deutscher, irgendein Stück rheinischen Landes südlich der Mosel an Frankreich abtreten. Aber der König, sehn Sie, der König erlaubt mir das nicht.« Mit weltgeschichtlichem Humore vergleicht sich in diesen Wochen Bismarck mit einem Löwenbändiger, Napoleon mit dem Engländer, »der jeden Abend vor den Käfig tritt, um mit unbeweglichem Antlitz den Augenblick zu erwarten, in dem die Bestien ihren Bändiger auffressen werden.«

Als aber ein paar Jahre später gewisse Enthüllungen den ahnungslosen König noch nachträglich stutzig machen, bestätigt Bismarck ihre Richtigkeit, »wenn auch dadurch meine persönliche Politik in ein ungünstiges lacht gestellt wird ... Ich konnte ja die Napoleonische Politik nur dadurch hinhalten, daß ich Benedetti und den Italienern stets zu verstehen gab, ich wäre ganz geneigt, von dem Pfade der Tugend abzuweichen, mein allergnädigster Herr aber nicht, und man müsse mir Zeit lassen, E. M. zu überzeugen. Daß ich letzteres nie versucht habe, wissen E. M., aber der französische Glaube, daß ich daran arbeitete, war uns sehr nützlich.«

Gerade in diesen letzten Wochen arbeitet beim König noch einmal alles gegen Bismarck, es häufen sich die Warnbriefe seiner alten Vertrauten, und Bethmarm-Hollweg, dessen Enkel einmal den Enkel dieses Königs in ähnlicher Weise beraten sollte, sprach dem bösen Manne sogar sein Preußentum ab: »Jede Verständigung ist unmöglich, so lange der Mann an E. M. Seite steht, Ihr entschiedenstes Vertrauen besitzt, der dieses E. M. bei allen andern Mächten geraubt hat ... Aber es ist die elfte Stunde, und sind einmal die blutigen Würfel gefallen, so ist es zu spät.« Der Schreibende weiß nicht, daß es schon zwölf, und der König weiß nicht, daß er gefangen ist. Denn als nun Anfang Juni die Östreicher in Holstein die Stände berufen, kann Bismarck sie endlich bundesbrüchig nennen, und nun hat er auch den König Wilhelm in Wut! »Östreich läßt Perfidie, Lüge, Vertrauensbruch einander folgen, erwidert der König einem warnenden Kirchenfürsten ... Ich habe mit meinem Gotte im Gebet gerungen, um seinen Willen zu erkennen, und, Schritt vor Schritt Preußens Ehre im Auge haltend, so habe ich nach meinem Gewissen gehandelt!« Das alles glaubt der gute König, während doch eine gleiche Beratung mit demselben deutschen Gotte in Bethmann-Hollweg die Überzeugung von der Vernichtung der deutschen Ehre befestigte, und drüben die Herren an der Donau vom selben Gotte, nur mit ein wenig anderen Riten, den Schutz ihrer habsburgischen Ehre sich anbefehlen ließen.

Selbst Bismarck, der alle Hände voll zu tun hat, schlägt eines Morgens unruhvoll die Bibel als Orakel auf und sieht sogleich das Wort des Psalmisten: »Ich freue mich und bin fröhlich in Dir und lobe Deinen Namen, Du Allerhöchster Gott, daß Du meine Feinde hinter sich getrieben hast; sie sind gefallen und umgekommen vor Dir. Denn Du führest mein Recht und meine Sache aus, Du sitzest auf dem Stuhl, ein rechter Richter.« Johanna wundert sich keineswegs, daß er sich durch diese Worte »getröstet und mit neuer Hoffnung erfüllt« fühlt, und auch Keudell, der es erzählt, scheint sich nicht zu fragen, ob nicht vielleicht am selben Morgen Mensdorff an Ballhausplatz oder Beust an der Brühlschen Terrasse dieselben Worte aufschlagen, die sie ebenso treuherzig als Ermutigung des Herrn auffassen dürften. Auch bemerkt niemand, wie dieser Christ – ganz Ritter, Tod und Teufel – zugleich mit einem ungarischen General über Aufstellung einer ungarischen Hilfslegion gegen dessen angestammten Herrn verhandelt, und wie er sogar seinen eigenen Herrn dazu bringt, dieses Komplott mit der Revolution von 48 zu billigen.

Ebenso reizt er dann beim Einmarsch in Böhmen die Tschechen zum Hochverrat: »An die Bewohner des glorreichen Königreiches Böhmen!« wendet sich die Proklamation, und im Falle des Sieges wird ihnen verheißen, daß sich dann »auch den Böhmen und Mähren der Augenblick bieten dürfte, in dem sie ihre nationalen Wünsche gleich den Ungarn verwirklichen können.«

Inzwischen haben sich die meisten deutschen Fürsten auf Östreichs Seite geschlagen, Preußen tritt aus dem Bunde aus, ein Ultimatum läßt den Herren von Kurhessen, Nassau, Hannover und Sachsen 24 Stunden Zeit, sich zu bedenken. Bismarck lädt in diesen Tagen einen ihm bis gestern unbekannten Journalisten aus Paris zu Tische ein und spielt ihm einen Mittag lang mit Esprit und Pariser Erinnerungen eine Sicherheit der Stimmung vor, die dieser abends nach Hause drahtet. In der Nacht des Ultimatums geht er mit dem englischen Botschafter im Garten seines Amtsgebäudes auf und nieder. Er spricht von Attila und scheint ihn an diesem Abend für Deutschland zu entdecken. »Schließlich war doch Attila ein größerer Mann, als Herr John Bright in Ihrem Unterhause!« Da schlägt es Zwölf, er zieht die Uhr: »In dieser Stunde sind unsere Truppen in Hannover und Hessen einmarschiert. Der Kampf wird ernst. Kann sein, daß Preußen verliert, sicher ist, es wird sich tapfer schlagen. Wenn wir geschlagen werden, kehre ich nicht zurück. Bei der letzten Attacke werde ich fallen. Man kann nur einmal sterben, und wenn man besiegt wird, ist es besser zu sterben.«

Zwei Wochen später ist im Norden alles entschieden, und nun, da es von Siegen hört, beginnt ein Teil des Volkes einzuschwenken. Nach dem Attentat hat es sich kaum gerührt, man hatte die Leiche des Idealisten heimlich mit Lorbeer geschmückt, was man mit Bismarck kaum getan hätte, wenn er Unter den Linden gefallen wäre. Man hatte Karikaturen verkauft, auf denen ein stolzer Rächer mit Tellschen Zügen auf ihn schießt, und nur durch den Teufel gehindert wird, der sich mit dem Rufe dazwischen wirft: Der gehört mir! Jetzt, sechs Wochen später, wälzt sich die Menge vors Schloß, jubelt demselben Wilhelm zu, der in den Märztagen aus diesem Schloß auf eine Havelinsel flüchten mußte, der König dankt neben Roon und Bismarck, und als dieser nach Hause fährt, will ihm das Volk die Pferde ausspannen. Dann rotten sich Tausende vor seinem Hause zusammen, und einer, der es gut meint, ruft die Worte: »Hoch der tapfere General auf dem Schlachtfelde der Diplomatie!«, denn Uniform muß sein. Bismarck mit seiner Frau steht am Fenster, spricht zum Volke und darf nun den Satz wagen: »Jetzt sieht man, der König hatte doch recht!« Als es aber donnert und die letzten Worte vom Balkon im Gedröhne verlorengehn, ruft er herunter: »Der Himmel schießt Salut!« Solche Einfälle, die durch die Weltstadt rennen, machen den Minister auf der Straße rascher verständlich, sie geben glaubhaftere Beweise von seinen Einfällen, als alle Proklamationen.

Bismarck hatte die Volksgunst nie gesucht; heut darf er sie getrost verachten. Er sucht sichereren Grund, um den Konflikt zu lösen, schreibt Neuwahlen aus, und drei Tage nach dem ersten Schuß bittet er sogar zwei Führer seiner Feinde zu sich. Derselbe Twesten, den er vor ein paar Tagen wegen Kammerreden verurteilen ließ, kommt nun zu seinem Feind ins Haus und fühlt bei diesem Schritte sicher den preußischen Stolz des Gehorsams, wenn das Land in Gefahr ist, obwohl er viele Stunden warten muß. Wie mit ihm, so erörtert der Minister dann mit dem Liberalen Unruh die neue Lage, wieder in der Sommernacht auf und ab, im Garten, denn den ganzen Tag war er belagert. Unruh vermißt in der Proklamation einen Satz über die Rückkehr zur Verfassung. Da wird Bismarck aufgeregt:

»Man glaubt, ich kann alles! Mir stehen Schwierigkeiten entgegen, von denen viele keine Vorstellung haben! Ich bekomme den König nicht zu allem! Wir hatten das angenommen, aber da sagt der König: Hier steht ja dasselbe drin wie in der Verfassung. Da könnte man mir ja nach dem Kriege einen Teil meiner Regimenter wieder wegnehmen! Das tue ich nicht!«

Diesmal ist es sicherlich kein Vorwand, denn wie heftig er den König auch jetzt noch zu bekämpfen bat, das zeigt die ganze Leidenschaft und Offenheit, mit der er ihn vor diesem Gegner und Antiroyalisten preisgibt:

– Wir sind heut in einer Lage, sagt der Liberale, ähnlich wie vor dem Siebenjährigen Kriege, aber, bei aller Ehrerbietung vor dem Könige – –«.

Bismarck: »– ohne Friedrich den Großen! Jawohl! Und doch muß es durchgemacht werden ... Ich bin. stolz, einen König von Preußen zur Unterschrift eines solchen Aktes gebracht zu haben, wie die Berufung eines deutschen Parlamentes. Aber mit Reden und Bestimmungen läßt sich solche Politik nicht durchführen, die 500 000 Bajonette müssen doch entscheiden ... Ein Krieg mit Ungarn, Ruthenen, Slovaken ist kein Bruderkrieg!«

– Man wundert sich noch immer, die Fahne über dem Palais zu sehen.

»Ich habe den König wiederholt gefragt, wann er abzureisen befehle, zuletzt hat er mir ärgerlich erwidert, das werde ich selbst bestimmen. Da können Sie sehen, wie ich sogar solche Dinge nicht immer durchsetze. Der König ist beinah Siebzig und die Königin redet dazwischen!«

– Und wenn wir eine Niederlage erleben?

»Dann dankt der König ab.«

Jede dieser Antworten, die »herausplatzend« gegeben werden, zeigt die ganze Wildheit eines Schwimmers nach dem Sprunge: jetzt gilt es nur noch das andere Ufer, und fragt man ihn etwas, so ruft er kurze Antwort herüber. Dreimal in dieser halben Stunde gibt er den König preis, denn morgen früh wird es der Demokrat seinen Genossen erzählen, das weiß er. Aber er weiß auch, was Niederlage im Felde und Abdankung für ihn selber bedeuten. Als ihm der Kronprinz von der Möglichkeit einer Katastrophe spricht, erwidert er mit derselben Wildheit: »Was liegt daran, wenn ich aufgehängt werde! Wenn nur der Henkersstrick Ihren Thron fest mit dem neuen Deutschland verknüpft!«

Drei Tage nach Abreise hält er neben dem König auf einem Hügel bei Königgrätz. Diese Schlacht ergreift die Seele eines späteren Geschlechtes vor allem durch das Schicksal des geschlagenen Feldherrn Benedek, an dem ein leichtsinniger Monarch eine Schurkerei verübte, wie sie die Geschichte der Mannesehre nicht kennt. Für Preußen entschieden wurde die Schlacht durch das rechtzeitige Eintreffender Korps, die unter dem Kronprinzen kämpften. »Wie Bismarck – so erzählt der Künstler Keudell – auf einem riesigen Fuchs, hoch aufgerichtet im grauen Mantel dasaß, und die großen Augen unter dem Stahlhelm glänzten, gab er ein wunderbares Bild, das mich an kindliche Vorstellungen von Riesen aus der nordischen Urzeit erinnerte.« Aber die mystische Gestalt verschwindet, und aus ihrem Mantel tritt ein Mann mit menschlichem Herzen und man hört ihn, zwischen gräßlich entstellten Leichen, zu Keudell leise sagen: »Wenn ich daran denke, daß einmal Herbert auch so daliegen könnte, – dann wird mir doch schlecht.«

Dabei steht er selber zwischen Granaten und fordert die Generale vergeblich auf, den König fortzuschicken. Der König kann reiten, wo er will, erwidert Roon. »Die Generale hatten alle den Aberglauben, sie als Soldaten dürften dem Könige von Gefahr nicht reden, und schickten mich, der ich auch Major bin, an ihn ab ... Nachdem ein Knäuel von 10 Kürassieren und 15 Pferden sich neben uns blutend wälzte«, reitet er schnell an den Herrn heran: »Wenn E. M. hier einen Schuß erhielten, wäre ja die ganze Siegesfreude dahin! Bitte inständig, dieses Feld zu verlassen!« Der König wendet sich schnell nach links in einen Hohlweg und ist nach wenigen Galoppsprüngen durch eine Hügelreihe gedeckt. Er ist 70, seit über 50 Jahren hat er keine Schlacht gesehn. Bismarck, indem er ihn fortschickt, mag sich von zwiespältigen Gefühlen erregt fühlen, an des Königs feigen Bruder denken, vielleicht auch an den Nachfolger, wenn der König fällt, wohl auch an Gott, denn er schreibt nachher der Frau den ruhig schönen Satz über den König: »Es ist mir aber doch lieber so, als wenn er die Vorsicht übertriebe.«

Als der Feind weicht, reitet Bismarck an Moltke heran: »Wissen Sie, wie lang das Handtuch ist, von dem wir einen Zipfel gefaßt haben?«

– Nicht genau. Wenigstens drei Korps. Vielleicht ist es die ganze feindliche Armee.

Als aber der Sieg entschieden ist, faßt einer der Flügeladjutanten beinahe das ganze Problem Bismarck in die Worte zusammen: »Exzellenz, jetzt sind Sie ein großer Mann. Wenn der Kronprinz zu spät kam, so waren Sie der größte Bösewicht!« Das hat der Empfindliche nicht übelgenommen, sondern ist in ein Gelächter ausgebrochen.

X

»II mondo casca!«, rief im Vatikan der Staatssekretär, als am andern Morgen die Nachricht in Rom ankam. Von jetzt ab war Preußen dem Räuberfürsten Victor Emanuel verbündet und, mit ihm siegreich über die Apostolische Majestät, im Staude der Todsünde. Aber in Preußen selber wählt man am Tage der Schlacht, also ganz ohne Kenntnis des Ausganges, 140 konservative Abgeordnete. Am nächsten Tage spricht Bismarck mit dem Kronprinzen über den Frieden: die Thronrede wird versöhnend sein. »Im übrigen machen wir einen Norddeutschen Bund, als Etappe zur Einheit.« Der Plan war klar, zur Durchführung ruft er die Kraft des Thronerben an; voll innerer Bewegung beide Männer, die wider Willen gemeinsam eine Tat vollbracht haben. Das Erstaunliche dieser Stunde bringt beide einander näher, es findet eine Art stummer Versöhnung statt, der Prinz nimmt eine Einladung des Ministers zu Tische an, die dieser zum erstenmal seit Jahren ausspricht.

Was eigentlich das Volk sei, das er seit den Schönhauser Jahren kaum mehr gesehen, geht Bismarck hier mit allen Sinnen auf, aber wie sieht er es? »Unsere Leute sind zum Küssen, jeder, so todesmutig, ruhig, folgsam, gesittet, mit leerem Magen, nassen Kleidern, nassem Lager, wenig Schlaf, freundlich gegen alle, kein Plündern und Sengen, bezahlen, was sie können, und essen verschimmeltes Brot. Es muß doch ein tiefer Fond von Gottesfurcht im gemeinen Manne bei uns sitzen, sonst könnte das alles nicht sein.« Mit diesen Worten an seine Frau, ganz wahr und beobachtend, tut sich, wie wenn er von seinen Bauern spräche, der gutmütige Herr aufs neue kund, der Gehorsam und Hingabe fordert und alles, was ihn an Tugenden erstaunt, sich nur als Gottesfurcht und dazu nur eben bei uns Preußen erklären kann. Aufrichtig ist sein Herz gerührt, aber im Grunde fehlt jede Brücke. Dabei fordert er durchaus nichts für sich als Minister; sein erstes Nachtlager nach Königgrätz war »was besseres als von Mist«, auf dem Straßenpflaster von Horic ohne Stroh, mit Hilfe eines Wagensitzes, rings alles voll Verwundeter, bis den Ministerpräsidenten irgendein Herzog entdeckt und besser bettet.

Dagegen wird er sogleich nervös beim Zusammentreffen mit den Generalen: daß diese Leute befehlen sollen und er selber schweigen, ist ihm schwer erträglich. Als er in einer dieser Nächte mit der Meldung geweckt wird, der König wolle früh um Vier abreiten, um ein Gefecht zu sehen, ruft er wütend aus dem Bette: »Das ist dieser unglückselige Biereifer der Generale! Da wollen sie dem König ein Arrière-Gardegefecht vormachen, und deswegen komme ich um meine Nachtruhe, die ich so nötig brauche!« Mit diesem komischen Prolog beginnt sein Kampf mit den Militärs. »Wenn wir nicht übertrieben in unsern Ansprüchen sind, schreibt er gleich nach dem Siege seiner Frau, und nicht glauben, die Welt erobert zu haben, so werden wir auch einen Frieden erlangen, der der Mühe wert ist. Aber wir sind ebenso schnell berauscht wie verzagt, und ich habe die undankbare Aufgabe, Wasser in den brausenden Wein zu gießen und geltend zu machen, daß wir nicht allein in Europa leben, sondern mit noch drei Mächten, die uns hassen und neiden!«

Während er nach Europa hinüberlauscht, rasseln die Militärs mit dem Säbel und marschieren kurzerhand auf Wien. Kriegsrat in Czernahora, er kommt verspätet, der König orientiert ihn, das schwere Geschütz würde in 14 Tagen erwartet, dann ginge es auf Wien. Bismarck zittert: 14 Tage! Er ist bloß Major, seine Epaulettes sind nicht sehr glänzend, von roten Streifen ist keine Rede. Jetzt sitzt er vor der Karte und beantragt vor den ironisch aufhorchenden Generalen: die Beschießung Wiens zu vermeiden, auf Preßburg zu gehen, dort die Donau zu überschreiten, dann stünde der Feind mit Front nach Osten entweder ungünstig oder er würde nach Ungarn entweichen und Wien ohne Schwertstreich überlassen. Der König läßt sich die Karte reichen, dann spricht er für Bismarcks Vorschlag. »Die Ausführung wurde, wie mir schien, widerstrebend in Angriff genommen, aber sie geschah ... Mir kam es für unsere späteren Beziehungen zu Östreich darauf an, kränkende Erinnerungen nach Möglichkeit zu verhüten; ... der siegreiche Einzug des preußischen Heeres hätte ... in dem östreichischen Selbstgefühl, gleich jeder Abtretung alten Besitzes an uns, eine Verletzung hinterlassen ... Es war mir schon damals nicht zweifelhaft, daß wir die Errungenschaften des Feldzuges in ferneren Kriegen zu verteidigen haben würden, wie Friedrich der Große ... Daß ein Französischer Krieg auf den östreichischen folgen werde, lag in der historischen Konsequenz.«

Als einige Tage später ein neuer Kriegsrat in Brünn dennoch den Frieden in Wien zu schließen plant, sagt Bismarck ruhig und in Gegenwart des Königs: »Wenn die feindliche Armee Wien preisgibt und sich nach Ungarn zurückzieht, müssen wir ihr doch folgen. Überschreiten wir einmal die Donau, so wird es sich empfehlen, ganz auf dem rechten Ufer zusammen zu bleiben; denn an diesem gewaltigen Défilé kann man nicht à cheval marschieren. Sind wir aber ganz drüben, so verlieren wir die Verbindungen nach rückwärts. Es würde dann das Geratenste sein, auf Konstantinopel zu marschieren, ein neues Byzantinisches Reich zu gründen und Preußen seinem Schicksal zu überlassen.«

Selten wird die geniale Kälte dieses Verstandes deutlicher. Er allein hat diesen Krieg erfunden und erzwungen, doch kaum ist alles durch eine einzige Schlacht entschieden, 60 weigert er sich ihn fortzuführen und bricht ihn ab, weil er in der Ferne einen sieht, den er nicht führen will, aber muß. Denn schon jetzt, zehn Tage nach der Schlacht, ist sein Entschluß gefaßt: Friede mit Östreich ohne Beute. Der Zug der Generale nach Wien ist eben der Zug ihres Herzens, und wenn der Herr Major einen besseren Weg findet, so ist er nicht der größere Stratege, sondern er findet ihn, weil er Staatsmann und nicht Stratege ist. Aber zugleich muß er ihn so wählen, daß er dem Soldatenkönig nicht mißfällt; und doch mißfällt er ihm schon anderen Tages, als seine Generale ihm sagen, wie schlapp sich dieser Major bewiesen bat. Da greift denn der verlassene Politiker zu einem neuen Mittel und sucht mit Ironie das zu bekräftigen, was er im vorigen Kriegsrat mit einem Umweg doppelsinnig umging.

Denn schon bedrängt ihn der Franzose. Ara Abend von Königgrätz bat man in Wien dem Kaiser Napoleon Venetien angeboten, wenn er den italienischen Vormarsch aufhielte. Der Kaiser, anstatt mit den anderen Mächten zu intervenieren, handelt allein und bietet Vermittlung des Friedens im böhmischen Hauptquartier an. Bismarck atmet auf! Rasch zugreifen, nichts von Östreich fordern, die Deutsche Frage durch Goltz in Paris hinschleppen: er ist, sagt er, bereit »diesem Gallier einen Hannibal – Eid zu schwören«. Plötzlich erscheint, von ungeschickten Feldwachen durchgelassen, Benedetti und steht an Bismarcks Bette: wahrhaftig ein Gespenst! Und nun beginnt der drahtliche Schacher mit Paris. Schon scheint die Gefahr überwunden, denn die Großmächte zu überflügeln ist Bismarcks Streben da: greift eine Großmacht ein, an die er nicht gedacht hat. Der König von Preußen.

Zwar, ausgezogen ist er »nur zur Verteidigung«, aber mit dem Siege, unter dem Drängen der Generale, bekommt nun auch dieser Friedensfürst Appetit auf Land, und obwohl ohne die Feder Bismarcks keiner das Schwert gezogen hätte, fordert der König entrüstet, die Feder dürfe nicht wieder verderben, was das Schwert gewonnen. Bei Napoleon als Vermittler fordert er nun: Schleswig-Holstein, Preußens Führung in Deutschland, Kriegskosten, Abdankung aller feindlichen Fürsten, auch in Sachsen, Annexion aller dieser Länder. Dies ist Wilhelms Pfeil nach Paris. Doch Bismarck schießt einen zweiten aus dem eigenen Köcher nach: der Botschafter solle erkunden, welchen Eindruck solche Forderungen in Fontainebleau machen, denn »ich habe die Überzeugung, daß wir, wenn es mir gelingt, sie auf das verständige und für uns ausreichende Maß herabzustimmen, uns mit dem Kaiser werden einigen können«.

Napoleon, bedrängt von seinen Ministern, ist »erschüttert, ja ganz gebrochen.« Was tun! er hat einen Fehler gemacht, Östreich und Sachsen müssen erhalten bleiben, Frankreich tobt gegen die Errichtung eines Deutschen Reiches: man soll also, wenn auch nur scheinbar, den Süden vom Norden getrennt erhalten. Zugleich meldet sich der Zar und schlägt einen Kongreß vor, das heißt, auch er will verdienen: die Ansteckung, die der große Arzt verhindern wollte, ist da, das Annexionsfieber hat die Kabinette Europas ergriffen. Zugleich ist aber im preußischen Heere die Cholera ausgebrochen, sie kann den großen Krieg, der vor der Türe steht, entscheiden.

Frieden mit Östreich, nicht morgen, sondern heute! Um Quadratmeilen und um Millionen darf der Sieg nicht wieder gefährdet werden, »jede Erschwerung des schleunigen Abschlusses behufs Erlangung nebensächlicher Vorteile würde gegen meinen Rat erfolgen«. Doch da steht wieder Benedetti, nun spricht er vom linken Rheinufer; statt aufzufahren, bezaubert ihn der Sieger, statt eisern zu sein, ist er brillant: »Augenblicklich kann ich zwar keine amtliche Eröffnung entgegennehmen, aber plaudern läßt sich über alles. Frankreich hat ganz recht, man muß die Mittel suchen, um diese Idee zu verwirklichen. Das siegreiche Preußen kann nichts hergeben, man könnte aber etwa an die Rheinpfalz denken. Das leichteste ist es für Frankreich, Belgien ins Auge zu fassen.« Benedetti, entzückt, rät drahtlich in Paris nachzugeben. Man stimmt zu. 27. Juli 66, Kriegsrat im Schlosse Nikolsburg, alles bereit: nur noch den König gilt es zu überwinden!

»Ich war nach allen Erwägungen fest entschlossen, die Annahme des von Östreich gebotenen Friedens zur Kabinettsfrage zu machen. Die Lage war eine schwierige, allen Generalen war die Abneigung gemeinsam, den bisherigen Siegeslauf abzubrechen, und der König war militärischen Einflüssen im Laufe jener Tage öfter und bereitwilliger zugänglich, als den meinigen ... Ich konnte die Gestaltung der Zukunft und das von ihr abhängige Urteil der Welt ebensowenig voraussehen, wie irgendein anderer, aber ich war der einzige Anwesende, der gesetzlich verpflichtet war eine Meinung zu haben, zu äußern und zu vertreten,. Es war mir bekannt, daß man mich im Generalstabe den Questenberg im Lager nannte, und die Identifizierung mit dem Wallensteinschen Hofkriegsrat war mir nicht schmeichelhaft.«

Hier sind die gefährlichsten Stunden in Bismarcks Leben: nicht der Kriegsrat, der folgt, sondern die Tage, die vorausgehen, die Einsamkeit des Entschlusses, das Gefühl weltgeschichtlicher Verantwortung: in diesen Tagen ist er zum ersten, im Grunde zum einzigen Male fast unabhängig. Vier Jahre später, in Versailles wird ihm die Menge der mitentscheidenden Faktoren so einseitige Entschlußkraft rauben. Heut steht er allein, und während die Tage mit Verhandlungen erfüllt sind – denn alles geht durch seine Hand,– wälzt er sich schlaflos in den Nächten, berechnend, was tun. Gibt er dem König und den Generalen nach, so kann er sich mit einem Protokoll, wenn nötig auch mit Rücktritt vor dem Lande und der Nachwelt sichern; beschließt er aber seine Ansicht durchzutrotzen, so verantwortet er sie allein gleich einem absoluten König und weiß: nur wenn es glückt, so ist es auch verziehn.

In diesen Stunden ist Bismarck krank gewesen, sein Eintreten, Aufstehen und Dastehen im blauen Rock mit Säbel fehlt seiner Erscheinung. Er sitzt krank im Sessel in Zivil, und so ist er genötigt, den König und die Generale in seinem Zimmer zu empfangen, die aus der Frische eines Morgenrittes in den dumpfigen Raum eintreten. Trotzdem wagt er's und trägt seine Überzeugung mit allen Gründen vor. Alle Militärs wollen marschieren, der König stimmt ihnen zu: Bismarck bleibt allein. »Meine Nerven widerstanden den mich Tag und Nacht ergreifenden Eindrücken nicht, ich stand schweigend auf, ging in mein anstoßendes Schlafzimmer und wurde dort von einem heftigen Weinkrampf befallen. Während desselben hörte ich, wie im Nebenzimmer der Kriegsrat aufbrach.«

Vor 17 Jahren, auf der Tribüne hatte ihn das zum letztenmal gepackt. Die letzten Worte, die er da in die Versammlung rief, waren diese: »Wenn es wirklich gelingt, auf dem neuen Wege ein einiges deutsches Vaterland ... zu erlangen, dann wird der Augenblick gekommen sein, wo ich dem Urheber der neuen Ordnung der Dinge meinen Dank aussprechen kann. Jetzt aber ist es mir nicht möglich–.« 17 Jahre lang hat der Abgeordnete von Bismarck-Schönhausen diese Frage gewälzt, bald nah, bald fern gesehen, den Knoten gelöst, verstrickt, anders gelöst, niemals ideologisch auf eine Idee, nicht einmal idealistisch auf einen Gedanken zielend, nur stets in zweifelndem Bemühen mit Spott und Ironie, mit Suggestion und Logik dies siebensprachige Östreich, den Stein des Anstoßes, unterhöhlend. Heut ist er fortgerollt, der Weg ist frei. Den destruktiven Elementen, dem Haß ist genug getan: nun will man den Bau beginnen.

Aber aufs neue steht ihm sein König entgegen. Damals hatte ihm der König verboten, die Revolution zu besiegen, gegen die er seine Schönhauser Bauern und mehr als diese symbolische Schar, seine Entschlußkraft anbot; dieser Machthaber war feige gewesen, wurde toll und ist indessen vermodert. Heut steht sein Bruder da, mit gleicher Macht, der ist weder toll noch feig, doch auch er wollte nicht kämpfen. Kaum ist zu seinen Gunsten geschehen, was er nicht wollte, so will er nicht mehr bauen, nur noch erobern. Da sitzt Bismarck vor ihm, krank, gealtert, Zivilist, und niemand, nicht der König noch die Generale erkennen in ihm jenen Urheber der neuen Ordnung, dem sie ihren Dank aussprechen könnten. Da aber erfaßt ihn keine Wut, er droht nicht mit dem Rücktritt; schweigend geht er wie damals fort, von Blicken und Ohren seiner Gegner, und fällt in jenen Weinkrampf zurück, der ihn vor siebzehn Jahren ergriffen. Wer begreift in diesem Schlosse die antike Dramatik dieser Szene?

Aber hier ist keine Zeit zu Gefühlen, und während, etwas verdutzt, der König aufsteht und seine Generale ihm folgen, hört der gebrochene Mann, auch noch im Schluchzen, mit den feinen Diplomatenohren, was nebenan vorgeht, und weiß sogleich, was es bedeutet. Er faßt sich und er schreibt. Er schreibt die Gründe nochmals auf, die ihn bewegen, und knüpft daran die Bitte um Entlassung, wenn man ihm nicht folgen wolle. Als er am nächsten Tage mit diesem Akt zum König geht, hört er im Vorzimmer die neusten Berichte der immer steigenden Cholera, berechnet ihre Ausbreitung in Ungarn, im August, bei mangelndem Wasser und überreichen Früchten und fühlt seine politischen Gründe durch jene militär-hygienischen gestärkt. Drinnen stellt er dem König dar, wie bald Östreich, schwer geschädigt, mit Frankreich, ja selbst mit Rußland zur Revanche gegen Preußen gehen würde, wie eine Zerstörung Östreichs ein Loch erzeugen und neuen revolutionären Bildungen die Fläche freigeben würde; auch daß wir Deutsch-Östreich nicht brauchen, »eine Verschmelzung des deutschen Östreich mit Preußen nicht erfolgen, Wien als ein Zubehör von Berlin aus nicht zu regieren sein würde ... Wir müssen rasch abschließen, ehe Frankreich Zeit zur Entwickelung weiterer diplomatischer Aktion auf Östreich gewönne.«

Der König erklärt solche Bedingungen für ungenügend, fordert Schlesien von Östreich und andere Fetzen Landes von den anderen deutschen Staaten. All dies schlägt der Minister ihm ab, warnt vor verstümmelten Ländern, wie vor der Rache unzuverlässiger Genossen. Aber der König ist Offizier und nichts als das, im Grunde will er ja nur den Siegeslauf der Armee nicht unterbrechen, und da er keine Gegengründe findet, wirft er sich in die Brust und ruft aus:

»Der Hauptschuldige kann doch nicht ungestraft ausgehen! Die Verführten können leichter davonkommen!« Bismarck erwidert:

»Wir haben nicht eines Richteramtes zu walten, sondern deutsche Politik zu treiben. Östreichs Rivalitätskampf gegen uns ist nicht strafbarer als der unsrige gegen Östreich. Unsere Aufgabe ist Herstellung oder Anbahnung deutschnationaler Einheit unter Leitung des Königs von Preußen.« Diese drei Sätze in ihrer übernationalen Gerechtigkeit und aufbauenden Einsicht hat Bismarck nie übertroffen und auch nie wieder formuliert. Er weiß so gut wie wir Nachgeborenen, was es heißt, acht Millionen Deutsche aus einem Reiche auszusperren, zu dem sie ein Jahrtausend lang gehörten. Weiß er auch, daß er damit jenes Östreich aufzulösen beginnt, auf das er später seine Sicherheit nur allzu sehr begründen wird? Die Wunde sogleich zu heilen, ist sein leidenschaftlicher Wunsch: er will weder Land, noch Geld, will nichts als vernünftige Einigung zusammengehöriger Stämme, verzichtet auf die Auswirkung der Kanonen, stellt Klugheit über Macht. Hier und nur hier in Nikolsburg nähert sich Bismarck den Staatsgedanken des zwanzigsten Jahrhunderts.

Aber der Mann ihm gegenüber ist noch im achtzehnten geboren, er kann dies nicht verstehn und gerät in eine so lebhafte Erregung, »daß eine Verlängerung der Erörterung unmöglich war, und ich mit dem Eindruck, meine Auffassung sei abgelehnt, das Zimmer verließ«. Sein erster Gedanke ist, als Offizier beim Regiment einzutreten, also den Krieg, den er für töricht hält, mit dem Degen in der Hand mitzumachen, damit man sieht, es fehlt ihm nicht an Mut. In seinem Zimmer findet er sich »in einer Stimmung, daß mir der Gedanke nahe trat, ob es nicht besser sei, aus dem ... vier Stock hohen Fenster zu fallen; und ich sah mich nicht um, als ich die Türe öffnen hörte, obwohl ich vermutete, daß der Eintretende der Kronprinz sei, an dessen Zimmer ich auf dem Korridor vorübergegangen war. Ich fühlte seine Hand auf meiner Schulter, während er sagte: »Sie wissen, daß ich gegen den Krieg gewesen bin, Sie haben ihn für notwendig gehalten und tragen die Verantwortlichkeit dafür. Wenn Sie nun überzeugt sind, daß der Zweck erreicht ist und jetzt Friede geschlossen werden muß, so bin ich bereit, Ihnen beizustehen und Ihre Meinung bei meinem Vater zu vertreten.«

Nach einer kleinen halben Stunde kehrte er in derselben ruhigen Stimmung zurück und sagte: »Es hat sehr schwer gehalten, aber mein Vater hat zugestimmt.« Dies Eingreifen für seinen Gegner ehrt den Kronprinzen und beweist die Abhängigkeit des Königs von seinem Minister. Denn wütend schreibt er an den Rand von Bismarcks Darstellung: »Nachdem mein Ministerpräsident mich vor dem Feinde im Stiche läßt und ich hier außerstande bin ihn zu ersetzen, habe ich die Frage mit meinem Sohne erörtert, und da sich derselbe der Auffassung des Ministerpräsidenten angeschlossen hat, sehe ich mich zu meinem Schmerze gezwungen, nach so glänzenden Siegen der Armee in diesen sauren Apfel zu beißen und einen so schmachvollen Frieden anzunehmen.«

Wie in der Komödie: ein alter Herr, der gern noch weiter tanzen möchte, doch der Leibarzt verbietet's, droht abzugehen, und da er außerstande ist, ihn zu ersetzen, bleibt ihm nichts übrig, als sich von seinem Sohne raten zu lassen: er winkt und die Musik bricht ab.

XI

Im Kupee von Prag nach Berlin, acht Tage nach der Nikolsburger Krisis, entbrennt ein neuer Kampf zwischen den beiden Männern: darf er sich schon am äußeren Feind nicht rächen, so will es der König doch am innern tun. Alles, was bisher auf der Rechten Bismarck bekämpfte, ist nun ins Hauptquartier geeilt und schwört, jetzt sei der Augenblick, die Verfassung zu stürzen, zumindest zu ändern und die wenigen Liberalen unschädlich zu machen, die in den Neuwahlen übriggeblieben. Konservative Abordnungen umringen den König und machen ihn auch in dieser Sache scharf.

Bismarck rechnet: Wer mit dem Siege in Deutschland unzufrieden sei, würde sich aus einem absoluten Preußen entfernen, die neuen Provinzen gingen in Opposition, »wir hätten dann einen preußischen Eroberungskrieg geführt, aber der nationalen Politik Preußens würden die Sehnen durchgeschnitten worden sein.« Mit solchem Weitblick und Maß wußte er dem König auf der Heimfahrt von seinem Siege klarzumachen, grade jetzt müsse man die Verfassung betonen und – wie das in England Brauch nach rechtswidrigem Vorgehen die Volksvertretung um Indemnität angehen.

Indemnität? Straflosigkeit? Darum soll man bitten, nach einem solchen Siege? Muß nicht der König seinen Minister für feige halten? »Ich kann doch nicht eingestehen, Unrecht getan zu haben!« ruft er aus, wird also wieder moralisch und merkt nicht den Humor davon. Geduldig fängt der Minister an ihm zu beweisen, das bedeute »nur die Anerkennung der Tatsache, daß die Regierung und der König, rebus sic stantibus, richtig gehandelt hätten; die Forderung ist ein Verlangen nach dieser Anerkennung«, was zwar verkehrt, aber dem König verständlich ist. Und alles ist eilig, denn morgen schon soll in der Thronrede ein Satz in diesem Sinne stehn. »Diese stundenlange und mich sehr angreifende Unterredung, weil sie meinerseits in vorsichtiger Form geführt werden mußte, fand im Kupee zu dreien statt, mit König und Kronprinzen ... Der letztere unterstützte mich nicht, obschon er in dem leichtbeweglichen Ausdruck seines Mienenspiels mich wenigstens durch Kundgebung seines vollen Einverständnisses seinem. Herrn Vater gegenüber stärkte ... Schließlich gab der König, mit Widerstreben, auch dazu seine Einwilligung.«

So haben sich die Fronten gedreht: noch vor vier Wochen Bismarcks Feind und Gegner des Königs, vermeidet der Kronprinz jetzt, laut gegen die Indemnität zu reden, weil ihn sein Vater als liberal kennt, aber er feuert durch Zeichen den Feind von gestern an, fest zu bleiben. »Wir wünschen den Frieden, sagt bald darauf der Minister im Landtag. Wir werden die nächsten Aufgaben ... mit Ihnen in Gemeinschaft lösen. Ich schließe dabei Erfüllung der in der Verfassung gegebenen Zusagen keineswegs aus.« Nach diesen Worten hört Bismarck zum erstenmal im Leben lebhaftes Bravo auf allen Seiten. In großen Gedankenbogen fährt er fort: »Die Aufgaben der gegenwärtigen Politik sind noch ungelöst, die glänzenden Erfolge der Armee haben nur unseren ... Einsatz gewissermaßen erhöht, wir haben mehr zu verlieren als vorher ... Gewiß ist, daß in Europa Sie kaum eine Macht finden werden, welche die Konstituierung dieses neuen deutschen Gesamtlebens in wohlwollender Weise förderte ... Deshalb, meine Herren, fordert unsere Aufgabe die Einigkeit des gesamten Landes, der Tat nach und dem Eindruck nach ... Ich bitte Sie, den Blick nur nach außen zu richten und die Notwendigkeit im Auge zu behalten, daß wir Rücken an Rücken stehen und das Gesicht dem Auslande zuwenden müssen.« Metallene Worte. Mit großer Mehrheit wird die Indemnität bewilligt, d. h. wörtlich: das Haus verzichtet auf das Recht der Anklage gegen die gesetzwidrigen Schritte der Regierung.

Auch einige von den liberalen Führern, Lasker und Vincke, sind dafür: das hat Bismarck vorausgesehen und eine Spaltung seiner liberalen Feinde angestrebt; sie bilden fortan die Nationalliberale Partei. Aber die Radikalen haben in dieser Lage so wenig Humor wie der König. Waldeck: »Wir verwahren uns gegen eine Abschwörung dessen, wofür wir gekämpft haben.« Virchow: »Hüten wir uns den Götzendienst des Erfolges zu treiben!« Wäre also Politik wirklich nichts als angewandte Philosophie? Die Kunst des Möglichen nennt sie dieser Minister, und wenn in ihr nichts anderes als der Erfolg entscheidet, so ist es nur der Götzendienst der Prinzipien, der nun noch weiter triumphieren soll. Freilich haben die Kanonen von Königgrätz nicht auch die Frage zwischen Macht und Freiheit zu Bismarcks Gunsten gelöst, und doch muß der Götzendienst des Erfolges an der Stelle beginnen, wo jener Adjutant auf Bismarck zuritt und sagte: Wäre der Kronprinz zu spät gekommen, so wären Sie jetzt der größte Verbrecher!

Erst ein Jahrzehnt später, als diese Kämpfe schon Geschichte waren, sammelte sich Bismarck einmal Virchow gegenüber zu dem Geständnis: »Ich habe volle Achtung vor der Entschlossenheit, mit der die damalige Volksvertretung, was sie für recht hielt, vertreten hat. Sie konnten damals nicht wissen, wo diese Politik hinauswollte, ich hatte auch keine Sicherheit ... Und hätte ich es Ihnen selbst sagen können, so konnten Sie antworten: Uns steht das Verfassungsrecht höher als die auswärtige Politik. Da bin ich weit entfernt gewesen, jemand einen Vorwurf zu machen, – oder ich bin es wenigstens jetzt, wenn auch in der Leidenschaft des Kampfes ich es nicht immer gewesen sein mag.«

Für jetzt dreht sich auch im Landtage der Wind: nun stürmt im Hause und bei Hofe alles Konservative auf ihn ein, er müsse mehr annektieren, denn noch ist der Frieden nicht unterzeichnet. Der König vor allem möchte im letzten Augenblick in Deutschland zusammenraffen, was ihm sein Minister in Östreich weggerissen; derselbe, der vor einigen Jahren in Schönbrunn keine Rechte auf Schleswig zu haben erklärte, der vor drei Monaten nur im Gebet sich Gottes Votum zum Kriege abgerungen, ist jetzt von seinen Erfolgen so verjüngt, daß er an Roon die köstlichen Worte richtet: »Das macht Lust, gleich einen neuen Krieg anzufangen!« Die Kluft zwischen West- und Ostprovinzen muß nun endlich ausgefüllt werden! Wir müssen uns durch Hannover und Kurhessen »abrunden«, und da die Württemberger das kleine Fürstentum Hohenzollern geschluckt haben, so muß man ein Stück ihres Nordens preußisch machen, und Ansbach und Bayreuth, die den Ahnen gehörten, müssen auf alle Fälle zur Hausmacht zurück!

Bismarck lehnt auch davon die Hälfte ab, doch nicht nur dem Könige. Da kommen zur großen Länderbörse in Berlin die Badenser, beweisen, wie ein großes Bayern die deutsche Einigung verhindern kann, nur das Gleichgewicht zwischen den Südstaaten, d. h. ein um ein Stück Bayern vergrößertes Baden gewähre den Ewigen Frieden. Hat der Mann aus Baden die Tür geschlossen, so tritt der Hesse ein, um für ein abgetretenes Stück mit bayrischen Fetzen entschädigt zu werden; als er klagt, wenn Preußen Homburg fordere, so würde die Prinzessin Karl Tränen vergießen, ruft der Royalist: »Wenn wir uns in Berlin um die Tränen der Prinzessinen scherten, so bekämen wir gar nichts!«

Am artigsten geht Bismarck mit den Südstaaten um: hier sieht und streichelt er im voraus die nächste Schöne für seinen Harem. Die Bayern will er haben, »Gefühle und Familienansprüche kümmern mich nicht, auch lehne ich die Rolle der Nemesis ab, dazu mag der König sich an seinen Kultusminister halten!« Zuerst fordert er vom bayrischen Minister Geld und Land; als er ihn hinreichend mürbe gemacht, sagt er: »Sie könnten den Frieden sehr wohlfeil haben, ohne Abtretung.«

– Wie? Und gegen welche Leistung?

»Sofortiger Abschluß des Schutz- und Trutz-Bündnisses.« Hierauf, erzählt Bismarck, umarmte ihn der Bayer und fing an zu heulen. Ähnliches gelingt ihm mit den andern Südstaaten. In diesen geheimen Gesprächen und Akten, die nur ein paar Menschen sehen, liegt Bismarcks Lohn, und wenn er diese Papiere wegschließt: das ist sein Glück.

Drohend bewegen sich Wolken im Westen, man weiß nicht, wann es donnern wird. Als im August 66 Napoleon plötzlich wieder scharf macht und die Grenzen von 1814 fordert, ändert ebenso plötzlich Bismarck gegen Benedetti den Ton: »Wenn Sie auf dieser Forderung bestehen, so brauchen wir alle Mittel: wir rufen nicht bloß die deutsche Nation in ihrer Gesamtheit auf, sondern wir machen unsern Frieden um jeden Preis und lassen Östreich ganz Süddeutschland, wir akzeptieren sogar wieder den Bundestag: dann gehen wir vereint mit 800 000 Mann an den Rhein und nehmen das Elsaß weg. Unsere beiden Armeen sind mobil, die Ihrige nicht: denken Sie an die Folgen!« So blufft er den Franzosen. Doch so schwankend sind in diesen Sommerwochen 66 die Balancen, daß Hohenlohe als bayrischer Premier glaubt, Bismarck will u. a. »einen Teil der bayrischen Pfalz an Napoleon abgeben. Der König sträubt sich dagegen; wenn er nicht nachgibt, so entsteht Krieg zwischen Preußen und Frankreich.« Da fängt es nun von der dritten Seite an und strebt nach einem Bündnis mit Preußen, um Belgien einzustecken. Auch Goltz ist dafür, anfangs September verhandelt er in Berlin eine Woche lang; Bismarck laviert, vielleicht hätte er abgeschlossen, hätten ihn nicht über die Ungewißheit dieser Dynastie peinliche Vorgefühle bewegt. Auf alle Fälle will er es schriftlich haben, er erbittet von Benedetti einen Vertragsentwurf, in dem Frankreich sich Belgien sichert, – und wird ihn zu recht ungelegener Stunde aus seinem Schranke ziehen.

So hält er bis zum Prager Frieden den Franzosen hin, bis zur Gründung des Norddeutschen Bundes. Denn das geschlagene Östreich muß im Frieden nicht bloß die Annektierung dreier deutscher Fürstentümer und Auflösung des Deutschen Bundes anerkennen, vor allem den Bund nördlich des Mains und einverstanden sein, »daß die südlich von dieser Linie gelegenen Staaten in einen Verein zusammentreten, dessen nationale Verbindung mit dem Norddeutschen Bunde der näheren Verständigung zwischen beiden vorbehalten bleibt, und der eine internationale Existenz haben wird.«

Das war der Satz, auf den der kämpfende Staatsmann in Nikolsburg zielte, kein Land und keine Millionen. Östreich ist Ausland, hatte er schon vor 12 Jahren geschrieben: nun sollte es vor aller Welt sich als Ausland bekennen.

Nach dem Kriege will ihn der König belohnen. Was bietet man dem schon zum Grafen erhöhten Minister? Den Generalsrang und 400 000 Taler, und wie es verschämt Mobilisation statt Krieg, Indemnität statt Straflosigkeit geheißen, so nennt man dies geschenkte Geld eine »Dotation«. Dergleichen kommt Bismarck sehr gelegen, aber genießen kann er es jetzt nicht: er steht dicht vor einem Zusammenbruch. Als er an jenem Septembertage, an dem sich die Armee beim Einzug in die Hauptstadt vom Volke bejubeln läßt, neben dem König reitet und alles ringsum strahlt, gebräunt, verjüngt der König und seine Generale: da sitzt er bleich und leidend als Kürassier zu Pferde, »wie vom Krankenlager aufgestanden, das er nicht hätte verlassen sollen.« Er fühlt die Schwäche, klagt über Erschöpfung, er sagt: »Das beste für mich wäre, wenn ich jetzt meinen Abschied nähme. Ich hätte das Bewußtsein, dem Lande etwas genützt zu haben, und diesen Eindruck zu hinterlassen. Ob ich noch schaffen kann, was zu tun übrig bleibt, weiß ich nicht.«

– Gehn Sie im Winter an die Riviera, um wieder frisch zu werden, rät Keudell.

»In Pommern sagen die Frauen, wenn die Stunde der Entbindung kommt: jetzt muß ich meiner Gefahr stehen. Im Frühjahr wird hier die gehobene Stimmung kaum mehr da sein. Wenn ich nicht ganz abgehe, und ein anderer die Sache macht, dann muß ich es drauf ankommen lassen. Ich wüßte auch niemand vorzuschlagen. Also muß ich an die Ramme, sobald meine Nerven wieder geflickt sind. Jetzt nur ein paar Wochen an die Ostsee.«

Gleich nach dem Einzug reist er ab, aber schon in Putbus bricht er in einem Gasthof zusammen, er wird von Freunden aufgenommen. Johanna eilt ihm nach, findet ihn matt und traurig dasitzen, so schlecht wie damals, als er an Venenentzündung niederbrach, sie schreibt: »Politik erregt ihm gleich Wehmuts- und Ärgergefühle. Wenn er aber ganz still sitzt, in blauen Himmel und grüne Wiesen sieht und Bilderbücher blättert, geht's leidlich.«

Da liegt er im Stuhl, irgendwo in der Fremde, weint oder flucht, wenn seine Sachen nur genannt werden, und während die Nation beginnt, in Bismarck den Mann zu feiern, der diese Siege erdacht und erzwungen hat, während sich alles ausbreitet und beglückwünscht, sitzt er im Dienst verwundet da und blättert in Bilderbüchern.

XII

An einem Nachmittage im September 66 hat Bismarck, erfrischt heimgekehrt, dem Freunde Lassalles, Lothar Bucher, die neue deutsche Verfassung diktiert, nachts hat sie Bucher durchstilisiert, am nächsten Tage wird sie im Kronrat durchgesprochen, am übernächsten allen Bevollmächtigten vorgelegt; »so frisch kamen die Abzüge aus der Druckerei, daß während der Sitzung noch immer Exemplare hereingebracht wurden«. Diese Verfassung des Norddeutschen Bundes, vom ersten Reichstag und auch später im Jahre 71 nur wenig geändert, ist fünfzig Jahre lang die Verfassung des Reiches geblieben, bis 1918. So wie sie ihr Schöpfer nach einem Jahrzehnte des Nachdenkens in fünf Stunden herunterdiktiert hat, so ist sie ein Spiegelbild seiner Staatsgedanken, man darf sagen, seiner Seele. Es war Bismarcks Verfassung, und über die Deutschen sagt sie nicht mehr aus, als daß auch Bismarck Deutscher war, d. h. Individualist.

Darum war es eine Verfassung zur Stärkung des Königtums, nicht des Volkes: es war der Sieg jener Revolution von oben, die er vier Jahre lang gegen das Volk gemacht, deren Gegner er für ein halbes Jahrhundert verrichtet hatte. Daß das deutsche Volk damals für eine Selbstregierung noch nicht reif gewesen, ist möglich, doch so wenig entscheidend wie fünfzig Jahre später; gewiß ist nur, daß nicht diese Überzeugung, sondern die volle Verachtung der Menge und ihrer Wortführer, daß die Abneigung gegen den Demos Bismarcks Entschlüsse bestimmte.

Dieser Abneigung und Verachtung entsprach in seiner Seele keine Neigung, keine Verehrung der Königsmacht, denn im Grunde traute er der gekrönten Weisheit nicht mehr zu als der erwählten; aber Selbstgefühl und Menschenhaß stimmten ihn in allen Dingen des Lebens und des Staates gegen gemeinschaftliche Beschlüsse; da er sich niemand koordinieren konnte, wollte er immer allein verantwortlich sein; da er sich für den besten Kopf im Lande halten durfte, glaubte er, es allein am besten zu wissen. Aus diesen Grundgefühlen, aus Stolz, Haß und Mut, entsprang Bismarcks Wille zur Verantwortung, sein Widerwille gegen kollegiale Beschlüsse; diese Motive wirkten zusammen, um ihn gegen die parlamentarische Regierung zu stimmen, die moderne Form der Staatsleitung, die alle liberalen Köpfe für den neuen Staat forderten. Da er die Staatsmacht nur immer in sich sah und damals auch sehen durfte, häufte dieser machtwillige Charakter sich alle Verantwortlichkeit auf, die ein anderer von sich abgelenkt hätte. Dieser Baumeister zeichnete das Schloß, als wollte er ewig darin leben; ähnlich Lassalle, der seine Organisationen durch die gleichen persönlichen Maßstäbe gefährdete.

Sein Entwurf stellte Bundesrat und Reichstag einander als Kämpfer gegenüber: im Bundesrat sollte »die Souveränität der Fürsten ihren unbestrittenen Ausdruck finden«, wie im alten Deutschen Bunde sollten ihre Gesandten, an der Spitze der Bundeskanzler, sitzen, der »nur den Briefboten« des preußischen Ministers des Auswärtigen darstellte. Mit diesem Kniff macht Bismarck die Fürsten, die sich dem Frankfurter Kaiser nicht unterwerfen und im Frankfurter Reich ihre Hoheit nicht verlieren wollten, in ihrer Gesamtheit zu Souveränen des neuen Reiches, wodurch in Wahrheit Preußens Vorherrschaft nur verschleiert wurde. Gesetzgebung und Exekutive lagen beim Bundesrat, in Wahrheit bei Preußen: so schottendicht konnte das gepanzerte Staatsschiff stolz und ungefährdet in die Flut des Parlamentes gleiten.

Der Ruf der Zeit schob dagegen: auch die neue Partei derer, die zu ihrem alten Gegner übergingen, forderte in dem neuen Bunde nicht zwei Fronten wie in Preußen, sondern Einheit von Volk und Regierung, also Reichsminister, die dem Reichstag verantwortlich wären. Grade das war ihm verhaßt: »Da ist niemand, der verantwortlich ist; wird etwas falsch gemacht, so wird man von einer unsichtbaren Macht geohrfeigt. In diesem mysteriösen ... Kollektivum hegt eine femgerichts-ähnliche Macht, die einen immer abhängig hält.«

So, ganz Kämpfer, fing Bismarck, der bisher absolut regiert hatte, nun seine erzwungen parlamentarische Laufbahn an, wohl wissend, vor welchen Kämpfen er stand, doch kaum ahnend, mit welchen Ressentiments er sie beenden sollte. Denn all dies ging nur – und es ging selbst dann kaum, wenn ein bescheidener König in Selbsterkenntnis sich von einem überragenden Staatsmann führen ließ; kamen hochfahrende Könige mit unselbständigen Kanzlern, so suchte die unter solcher Verfassung geeinte Nation vergeblich nach Rechten, um beide matt zu setzen. Das alles wußte Bismarck voraus; aber er konnte nur heute seine eigne Macht oder morgen die Ohnmacht seines Nachfolgers stabilieren: nicht beides. Hätte er den Staat oder auch nur die Krone geliebt, wie etwa Roon, er hätte vor dieser Alternative des Schicksals gewählt wie ein König, der an seinen Erben denkt; so aber, ein Beamter, der jeden Augenblick entlassen werden konnte, mußte er seine Macht, in der er den Staat am besten geborgen fühlte, vor der Laune der Parteien retten und durfte die Schwankungen des Königs trotz aller Widrigkeiten geringer einschätzen als die eines Reichstages.

Zwar, man versucht ihn zu bekämpfen; damit denn doch der Schein moderner Staatsgewalt entstände, setzte man die Formel durch: »Die Anordnungen und Verfügungen des Bundespräsidiums werden im Namen des Bundes erlassen und bedürfen zur Gültigkeit der Unterzeichnung des Bundeskanzlers, der dadurch die Verantwortung übernimmt.« Vor wem: vor dem Reichstag? Dem Bundesrat? Dem König? Dem Staatsgerichtshof? Alle Anträge zur Beantwortung dieser Frage wurden vom Reichstage abgelehnt, Bismarck lachte, und um den Spalt völlig zu schließen, der ihn, den Herrn von Preußen, von jenem Bundeskanzler trennen konnte, entschloß er sich kurz, an Stelle Savignys, der sich als Briefträger, alias Kanzler, zu gut war, sich selber dazu zu ernennen. Der Bundeskanzler in Personalunion mit dem preußischen Minister-Präsidenten: das war der Ausweg, mit dem er sich den Einwurf seiner Gegner zum Gewinn umschuf, denn nun entwickelten sich alle Reichsämter logisch vom Bundeskanzler aus, alle wurden seine Beamten.

Da stand er nun, allein verantwortlich, wem, das wagte niemand zu sagen, wahrscheinlich Gott. Da stand er, freilich auch im Quellpunkt aller Rivalität, die ihm von nun an 23 Jahre lang der Reichstag entgegenwarf. Warum aber nahm der Reichstag an, was ihm der Minister darbot? Wenn das Haus wollte, konnte es den ganzen Entwurf ablehnen! Für ihre Diäten fand sich zunächst im Hause eine Mehrheit zusammen; für die Kontrolle, das Mitregieren, die Volksmacht im Staate fanden sich nur 53 Stimmen. Nur die Volkspartei, ähnlich dem Deutschen Arbeiterverein, sagt in einem klaren Programm: »Einigung Deutschlands in einer demokratischen Staatsform, keine erbliche Zentralgewalt, kein Kleindeutschland unter Preußen, kein Großdeutschland unter Östreich.«

Da diese Verfassung nicht wie die preußische oktroyiert, sondern von den Erwählten des Volkes votiert worden ist, so trägt auch das »Volk« die historische Verantwortung für alle ihre schicksalsreichen Folgen.

Man hatte sogar nach allgemeinem, gleichem Wahlrecht gewählt, und zwar geheim, obwohl dies Bismarck mit dem wunderlichen Hinweis bekämpfte, es widerstrebte dem offenen germanischen Volkscharakter. Lassalle war tot, der dies Wahlrecht ihm zuerst nahegebracht, aber die Wette, die sie beide wortlos eingegangen, hatte er vorderhand verloren, denn in der Tat bestätigte sich Bismarcks Hoffnung auf die monarchischen Preußen. Die Demokraten sahen es kommen, konnten indes von ihrem lange geforderten Wahlrecht nicht abgehen, ohne lächerlich zu werden; Bismarck aber sagte, »wenn sich das allgemeine Wahlrecht nicht bewährt, so müssen wir es wieder abschaffen«, und schloß auf alle Fälle gegen den Wunsch der Mehrheit Diäten aus, um im Reichstage den Besitz zu begünstigen. Mit innerer Verachtung sah er die Mehrzahl seiner liberalen Feinde zu sich übergehen, nur weil Roons und Moltkes Heere seine Politik realisiert hatten: nur 19 Freisinnige lehnten seine Verfassung als »mangelhaft, die Volksrechte beschränkend und gefährdend« ab, mit ihnen der eine Sozialdemokrat, der Lassalles Gedanken in diesem Hause vertrat. Rechtsstaat und Volksrecht verblaßten, seit Blut und Eisen gesiegt, Altkonservative wie Gerlach verblaßten, seit man die deutsche Einigung ohne Östreich vollzogen hatte.

Die stärkste Partei war die neue, die schon im Doppelnamen National-liberal den Ausgleich zweier Welten dokumentierte. Lasker, Twesten, Forkenbeck, Unruh waren vom preußischen Landtag, Bennigsen aus Hannover als ihr Führer aufgetreten, Schwerindustrie und Schiffsreeder brachten ihnen Geld, Gelehrte brachten Formulierungen; Bismarck zählte die Stimmen, gab in ein paar Formalien nach und war froh, in seinem Bundesrate die Seele des neuen Reiches allmächtig zu sehen. Denn obwohl er nur 17 von 43 Stimmen hatte, so hielt er darin ein Präsidium von solcher Gewalt, wie es Habsburg niemals in Deutschland besessen. »Die Form, schrieb er an Roon, in welcher der König von Preußen die Herrschaft in Deutschland übt, hat mir niemals eine besondere Wichtigkeit gehabt; an die Tatsache, daß er sie übt, habe ich alle Kraft des Strebens gesetzt, die mir Gott gegeben.«

König, Kanzler und Armee: das war, was Bismarck mächtig sehen wollte, und gleich begann der Kampf im neuen Reichstag dort, wo er im alten Landtag aufgehört hatte: beim Rechte, Geld für die Armee zu verweigern. Jetzt freilich trat er auch im Landtag gewaltig auf: »Wenn man fünf Jahre lang schwer gekämpft hat, um das zu erreichen, was hier vorliegt, wenn man die beste Zeit seines Lebens, seine Gesundheit dabei geopfert hat, ... dann treten Herren, die von allen diesen Kämpfen wenig erfahren haben, in einer Weise auf, ... bei der ich nur empfehlen kann, eine der ersten Szenen von Heinrich IV. nachzulesen, was Heinrich Percy für einen Eindruck hatte, als der dort besagte Kammerherr kam, die Gefangenen abforderte und ihm, der wund und kampfesmüde war, eine längere Vorlesung über Schußwaffen und innere Verletzungen hielt.« Und als man dann für den Reichstag das Budgetrecht fordert, d. h. die Entscheidung über die Armee, da ruft Bismarck pathetisch von der Tribüne: »Was würden Sie wohl einem Invaliden von Königgrätz antworten, wenn er nach dem Ergebnis dieser gewaltigen Anstrengung fragt? Sie würden ihm sagen: ja freilich, mit der deutschen Einheit ist es wieder nichts geworden, die wird sich wohl bei Gelegenheit finden ... Aber wir haben das Budgetrecht des Abgeordnetenhauses gerettet, das Recht, jedes Jahr die Existenz der preußischen Armee in Frage zu stellen ... Darum haben wir um die Mauern von Preßburg mit dem Kaiser von Östreich gerungen!«

16 Jahre zurück, und auf derselben Tribüne steht der Abgeordnete von Bismarck-Schönhausen, bekämpft den Krieg mit Östreich, den alle Liberalen von den Ministern Radowitz und Manteuffel wegen der Schmach von Olmütz fordern, und ruft: »Werden Sie nach einem solchen Kriege den Mut haben ... vor den zusammengeschossenen Krüppel, vor den kinderlosen Vater hinzutreten und zu sagen: Ihr habt viel gelitten, aber freuet euch mit uns: die Unionsverfassung ist gerettet!« Ist keiner der Hörer von Damals heut im Saal, der den Minister an jenes Wort erinnert und erwidert: Genau, was Radowitz wollte, die Deutsche Union unter Preußen mit Ausschluß Östreichs, das ist nach 16 Jahren uns nun erstanden, und Bismarck, der damals, weder Graf noch Staatsbeamter, »die bravoschwangere Stimme des Redners, seinen mystischen Ausdruck und das glänzende Mosaik seiner phrasenreichen Rede« zu Unrecht verspottete, brauchte jetzt im Grunde nur jene Rede von Radowitz zu wiederholen! Denn jener Krieg, den er verhindert, und der, den er geführt, beide hatten zum Ziele nichts als die neue deutsche Verfassung, und dem Invaliden von Königgrätz war Bismarcks Kabinettskrieg nicht trostreicher, als der von Radowitz gewesen wäre.

Denn die deutsche Einheit war auch jetzt nicht geschaffen. Zwar die süddeutschen Demokraten strebten dahin, von ihren Fürsten war aber einer reichsfeindlicher als der andere; nur der Badenser Schwiegersohn des Königs Wilhelm schien loyal. Als Bismarck die Süddeutschen zu einem gemeinsamen Zollparlament beruft, wehren sich alle gegen die Zumutung, hier sei »die Vorstufe zu einem Deutschen Reiche«, und als der Bayerische Gesandte auf den preußischen Konkurrenten seines Königs ein Hoch ausbringen soll, wird es ihm »sehr sauer, aber es ließ sich nicht vermeiden«. Fürst Chlodwig Hohenlohe, der dies vermerkt und damals Bayern führt, ist samt Hof und Gesellschaft gegen den Beitritt zum Bunde, nicht nur als Katholik; wegen der »historischen Stellung des Hauses Wittelsbach« will man dort nur einen Deutschen Staatenbund, lieber Anschluß an Östreich als an Preußen, und Hohenlohe hat nach Königgrätz für den Fall des preußisch-französischen Krieges verzeichnet: »Dann werden wir (Bayern) mit Östreich und Frankreich gehen.« In Württemberg will man noch Anfang 70 »lieber französisch als preußisch« werden, aber aus umgekehrten Motiven, man möchte das Heer dort nach Schweizer Muster zur Miliz umschaffen, nicht »als Werkzeug zum Völkermorde mißbrauchen«, während zugleich die Königin, geborene Russin, Politik gegen Preußen macht. Am schönsten offenbarte der Großherzog von Hessen sein deutsches Herz, indem er, samt seinem Minister Dalwigk, im Herbst 68 dem Gouverneur von Strasbourg persönlich rät, jetzt solle Frankreich losgehen, zugleich Hessen links vom Rhein anbietend, wenn Napoleon es auf Kosten Badens entschädigen würde.

Bismarck wartete gelassen, er ließ Zeit, Staaten und Menschen herankommen. »Strategisch genommen, sagte er dem Württemberger Minister noch im Frühjahr 70, ist die Verbindung mit dem Süden keine Verstärkung für uns, und auch politisch haben wir kein Bedürfnis, uns zu verschmelzen: man weiß nicht, wer Preußens ärgere Feinde sind, Ihre Partikularisten oder Ihre Demokraten ... Für den rechten Politiker kommt zuerst das Notwendige, dann das Wünschenswerte ... Wenn ich einen Kirreplatz anlegen will, schieße ich nicht gleich die ersten Ricken weg, sondern warte, bis das Rudel die Fütterung angenommen hat.«

XIII

Seit 10 Jahren und wiederum seit 10 Monaten war Bismarcks Blick nach Frankreich gerichtet: hier saß die einzige Macht, die ihm sein Ziel entrücken konnte. Deutschland zu einigen, ohne Frankreich zu bekriegen, das war der Ehrgeiz des Diplomaten, denn auf nichts war er so stolz wie auf die Kunst, mit der er in den letzten Kriegen Frankreichs Intervention verhindert hatte. Freilich schien seiner gewaltsamen Natur der Krieg zunächst als »der natürliche Zustand des Menschen«, aber so wenig er aus seiner Volksfeindschaft den praktischen Schluß zog, nur mit Junkern zu regieren, so wenig hat ihn Freude an gefährlicher Jagd und wilden Wäldern, an Duellen und Manövern jemals den Krieg als Ertüchtigung der Nation suchen lassen; nicht einer unter den zehntausenden geschriebener oder gesprochener Sätze, die man gesammelt hat, preist den Krieg als Stahlbad der Jugend, niemals spricht er in seinen Kriegsbriefen von der Großen, nur von der Ernsten Zeit. Seit er aber den Krieg in Böhmen mit Augen gesehn, seit ihm die Söhne heranwuchsen, wurde Bismarck kriegsfeindlich; immer wieder betonte er, nicht bloß gegen die Fremden, die er beruhigen wollte, auch gegen Vertraute, der Anblick der Schlachtfelder, noch mehr der Spitäler habe ihn noch vorsichtiger gemacht.

Dazu trat das entschiedene Bewußtsein seines Handwerks. Je weiter sein Name in und über Europa drang, je größere Kreise sein Zynismus umspannen durfte, um so geringer erschien ihm die Kunst des Feldherrn. »Die Leute sind noch viel dümmer, als ich sie mir dachte!« sagte er allgemein nach den ersten Monaten der Ministerschaft. Da er aber das Fürchten nie gelernt und in diesem einzigen Punkte mit Siegfried, sonst eher mit Hagen Ähnlichkeit hatte, so stellte er ohne Schrecken auch den Krieg in seiner Apotheke auf und beschloß, zu diesem stärksten Gifte zu greifen, wenn sonst nichts hilft. Denn eben, daß Geist und Mut in diesem Mann in gleicher Stärke lebten, das macht ihn fast einzig unter den Deutschen.

Da er überdies an Eroberungen in Frankreich völlig uninteressiert ist, so reizt es ihn weit mehr, Frankreich selber diplomatisch zu schlagen, als es mit den Waffen durch Moltke schlagen zu lassen, und wirklich hat er immer wieder Perioden, in denen er den Krieg für vermeidbar hält. »Wir haben, sagt sein Rückblick im Landtag Ende 66, wir haben bei einem Kriege mit Frankreich, selbst bei einem glücklichen, nichts zu gewinnen. Der Kaiser Napoleon, im Widerspruch zu andern französischen Dynasten, hat in seiner Weisheit erkannt, daß Frieden und Vertrauen im Interesse beider Nationen liege, daß sie von Natur nicht berufen seien, sich gegenseitig zu bekämpfen, sondern als gute Nachbarn die Bahn des Fortschritts miteinander zu wandeln ... Es kann für Frankreich nicht erwünscht sein, daß in Deutschland eine Übermacht ... unter Östreichs Leitung geeint entsteht. Ein Reich von 75 Millionen, ein Östreich bis an den Rhein, – selbst ein Frankreich bis an den Rhein würde kein Gegengewicht bilden ... Nur in einem von Östreich getrennten Deutschland sind die Berührungspunkte, die zu feindseligen Beziehungen führen können, weniger zahlreich ... Ich glaube, daß Frankreich in richtiger Würdigung seiner Interessen weder zugeben könnte, daß die preußische Macht, noch daß die östreichische verschwände.« Vor zehn Jahren hatte er Napoleon im Park von Fontainebleau gesagt: »Sie würden in den Sumpf geraten.«

Fünf Jahre lang hatte er ihn mit Belgien hingehalten, und wenn er sich stark fühlte, ihm Luxemburg als ein Belgien dritter Klasse empfohlen; denn der Landhunger der über Preußens Wachstum nervös gewordenen Franzosen ging im Grunde nur auf Quadratmeilen; ob nun in Nizza, Brüssel, Trier, Landau oder Luxemburg, war beinah gleich. Nichts deutet besser die Prestige-Natur von Napoleons Ansprüchen an als diese Wahllosigkeit, die nicht das Nötigste entschlossen fordert, sondern schwankend ein Erwünschtes zu haschen sucht. Mit Belgien war Bismarck besonders freigebig; jetzt, nach Auflösung des Deutschen Bundes, durfte er es auch mit Luxemburg sein und räumte sofort ein, Preußens Besatzungsrecht sei in Luxemburg erloschen. Es wäre ihm als billigste und bequemste Befriedigung Frankreichs erschienen, wenn der König von Holland, der durch Erb- und Tauschgeschäfte seit 30 Jahren Herr jenes Ländchens war, es auf Napoleons Angebot für ein paar Millionen Franken verkauft hätte: rasch den Kauf unterzeichnen, dann erst uns mitteilen, das war sein Wunsch an Benedetti, um vor dem Reichstag nur ein fait accompli zu vertreten.

Auf die ersten Nachrichten aber erhebt sich in Deutschland ein Lärm, wie damals um Schleswig-Holstein: »kerndeutsches Land darf nicht an den Erbfeind fallen«; auch der Generalstab ist für Krieg, weil Frankreich nicht fertig sei. Bismarck verhindert ihn, warnt die Gegner durch Publikation der Schutz- und Trutzverträge mit den Südstaaten, spielt zugleich mit der Furcht des holländischen Königs, dem er nie sagt, was er selber will, und läßt sich auch von einem geistesgegenwärtigen ungarischen General nicht überraschen, der ihn in plötzlicher Wendung auf den Krieg mit Frankreich bringt. »Noch heute sehe ich den Blick funkeln, der aus seinem Auge sprühte, als er seine Gedanken erraten sah, er wußte sich jedoch in einer Weise zu beherrschen, die ich nur bewundern konnte, und sagte in leutseligem Tone: »Ich will durchaus keinen Krieg mit Frankreich.« Dann ersucht er den Ungarn, Napoleon zu sagen, er möge doch Benedetti abberufen: »Übrigens kennt S. M. meine Ideen über Belgien aus dem Vertragsentwurf, den ich mit Benedetti besprochen habe. Was Luxemburg betrifft, so werde ich gar nicht fragen, ob die Mehrheit dort für Frankreich ist, sondern sagen: nehmen Sie es!« Als der Ungar in den Tuilerien dies erzählt, sagt der Kaiser: »Ich begreife, daß Benedetti ihm unbequem ist, er hat uns schon zu viel versprochen. Übrigens bietet Bismarck uns immer an, was ihm nicht gehört.«

Bismarck will den Krieg vermeiden, einem Abgeordneten stellt er es so dar: »Für absolut unvermeidlich kann ich den Krieg nicht halten, denn ich sehe weder für Frankreich noch für uns ein ernstes Interesse, das die Entscheidung der Waffen fordert ... Nur für die Ehre des Landes – nicht zu verwechseln mit dem sogenannten Prestige! – für seine vitalsten Interessen darf man einen Krieg beginnen, kein Staatsmann bat ein Recht dazu, bloß weil er nach subjektivem Ermessen ihn in gegebener Frist für unvermeidlich hält. Wären zu allen Zeiten die Minister des Äußeren ihren Souveränen oder Feldherren in die Feldzüge gefolgt, so würde die Geschichte weniger Kriege zu verzeichnen haben. Ich habe auf dem Schlachtfelde und, was noch weit schlimmer war, in den Lazaretten die Jugend hinsterben sehen und sehe jetzt aus diesen Fenstern manchen Krüppel durch die Wilhelmstraße gehen, der heraufsieht und bei sich denkt: wäre nicht der Mann dort oben und hätte er nicht den bösen Krieg gemacht, ich säße jetzt gesund bei Muttern. So hätte ich keine ruhige Stunde, wenn ich mir vorwerfen müßte, leichtsinnig oder aus Ehrgeiz oder auch aus Ruhmsucht für die Nation gehandelt zu haben.«

An seinem Schreibtisch, abends im Gespräch, Dinge wie er sie gleichzeitig auch dem vertrauten Keudell mitteilt, Wahrheiten, mehr gefühlt als die berechnete Haltung auf der Tribüne: da sieht man, ohne Gott und ohne König, in ein Menschenherz, wie es die Mathematik des Schachmeisters beunruhigt und kontrolliert, und man glaubt, auf dem Gipfel im einsamen Raum des Observatoriums vor dem Seismographen zu stehen, der mit unbestechlichem Zeiger die Erschütterungen des Erdinnern aufzeichnet.

Aber der König von Holland hatte Angst vor den Ausbrüchen dieses Vulkans und eröffnete Bismarck die Offerte des Franzosen. Die Aufregung im Lande steigt, alle Welt spricht von der Abtretung, die bald erfolgen soll, am ersten April tritt Benedetti vormittags bei Bismarck ein, gratuliert zu seinem preußisch pünktlichen Geburtstag, will ihm »eine wichtige Mitteilung machen«, wird aber unterbrochen:

»Ich habe jetzt keine Zeit zu Geschäften, ich muß in den Reichstag, um die Interpellation wegen Luxemburg zu beantworten. Begleiten Sie mich, dann will ich Ihnen den Inhalt meiner Antwort sagen. Von einem Abschluß der Verhandlungen darf ich nichts wissen, das würde den Bruch mit Frankreich bedeuten. Erfahre ich offiziell vom Verkauf des Landes, so müßte ich das im Reichstag sagen. Da sind wir, ich muß jetzt hinein, also, Exzellenz: haben Sie mir eine Depesche zu übergeben?« Die Auguren lächeln.

Drinnen macht sich Bennigsen durch schwungvoll patriotische Rede mit einem Schlage berühmt. Sein Pathos war vorher mit Bismarck vereinbart, um Frankreich die nationale Bewegung zu demonstrieren. »Ist die Preußische Regierung entschlossen – so schließt Bennigsen – wie es der Reichstag einmütig wünscht, im Verein mit den Bundesgenossen die Verbindung des Großherzogtums Luxemburg mit dem übrigen Deutschland, insbesondere das preußische Besatzungsrecht in der Festung auf jede Gefahr dauernd sicherzustellen?« Eine rhetorische Frage, denn ihr folgt ungeheure Kundgebung aller Parteien. Da erhebt sich Bismarck zu einer seiner klügsten Reden. Heut könnte er volkstümlich werden, nichts leichter, er braucht nur den A-Dur-Akkord der nationalen Ehre aufklingen zu lassen – und alles scharte sich um ihn: das war der Krieg. Aber er wagt es, vor dem aufgeregten Hause den Vorsichtigen statt des Eisen-Mannes zu spielen:

»Aus Schonung für die Empfindlichkeit der französischen Nation, aus Rücksicht auf die friedlichen und freundlichen Beziehungen der preußischen Regierung zu einem mächtigen und ebenbürtigen Volke ... lasse ich die an die königliche Regierung gerichtete Frage unbeantwortet.« Schweigen und Erstaunen. »Die königliche Regierung hat keinen Anlaß anzunehmen, daß ein Abschluß über das künftige Schicksal des Landes bereits erfolgt sei; sie kann das Gegenteil natürlich nicht mit Bestimmtheit wissen, ob, wenn er noch nicht erfolgt wäre, er nicht vielleicht unmittelbar bevorstände.«

Als diese Worte am Abend der König von Holland erfährt, verweigert er die schon zugesagte Unterschrift, der kranke Napoleon schreckt zurück, die Kabinette Europas geraten in Bewegung, Chiffrebücher, Siegellack und Aufmarschpläne wirbeln durcheinander, bis der Zar, wie immer, eine Konferenz vorschlägt, und man darauf in London das kleine Land für neutral erklärt und seine Festung schleifen läßt. Vergebens sucht man in Paris daraus einen preußischen Rückzug, in Berlin einen französischen zu machen. Die Stimmung ist verdorben, Groll bleibt zurück: in drei Jahren wird er sich entladen.

Erst jetzt wird Napoleon Bismarcks entschlossener Feind: zum zweiten Male fühlt er sich düpiert und ist es auch. Nun beginnt er energisch mit Florenz und mit Wien zu verhandeln, man nähert sich in antipreußischer Sympathie; von 67 bis 70 steigt in Europa die Nervosität der Staatsleiter und die Rüstung der Generalstäbe, wie vor dem Weltkrieg. Nach Abschluß des letzten Konfliktes sprüht das Feuerwerk künstlichen Hasses von Paris über die Grenze, denn die Nation als solche war nicht minder friedlich als die deutsche, und erst jetzt gibt auch Bismarck die eigne Presse sozusagen frei: sie müsse »viel patziger ins Zeug gehen, drohend und aggressiv ... Wir müssen, den Revolver in der Tasche und den Finger am Abzüge, unserm verdächtigen Nachbar genau nach den Händen sehen, und er muß wissen, daß wir ohne alle Schüchternheit schnell und tödlich feuern, sobald er über unsere Grenze spuckt.«

Diese Schärfe gegen Frankreich ist bei Bismarck neu, so hatte er früher nur gegen Östreich gesprochen, und wenn man die obige Instruktion an seinen Unterstaatssekretär unterschrieben sieht »schlaftrunken der Ihrige«, so mag man auf die Schärfe schließen, über die der ausgeschlafene Bismarck verfügte.

Seit diesem Luxemburger Handel rechnet er mit dem Kriege. Er sagt im Jahre 68 einem Besucher voraus, Napoleons unsichere Lage werde dazu treiben, und zwar in etwa zwei Jahren; doch zugleich enthüllt er einem andern das Grundmotiv, das ihn selber solche Nötigung wünschen läßt: »Eine größere Einigung der Mehrzahl der Deutschen wäre nur auf dem Wege der Gewalt zu erreichen – oder aber, wenn sie eine gemeinsame Gefahr in Zorn brächte.« Dann wieder verschiebt er innerlich dies Motiv: im vertrauten Gespräch schildert er dem Freunde Keyserling die entsetzlichen Eindrücke aus dem letzten Kriege und resümiert prophetisch: »Und schließlich, wenn Preußen auch über Frankreich siegte, wozu würde das führen? Wenn man auch das Elsaß gewänne, müßte man es behaupten, die Festungen immer besetzt halten. Das ist aber unmöglich, denn schließlich würden die Franzosen doch wieder Bundesgenossen finden – und dann könnte es schlimm werden!«

XIV

»Wenn ich drohe, mein Amt niederzulegen, fängt der alte Herr zu schluchzen und zu weinen an, und sagt: nun wollen Sie mich auch verlassen! Was soll ich dann machen!« So schildert Bismarck dem ihm völlig fremden Karl Schurz sein Verhältnis zum König; freilich, um seine Unentbehrlichkeit in Amerika verbreitet zu wissen, doch unter Preisgabe der königlichen Würde. Auch dem sächsischen Minister sagt er, damit er es zu Hause melde: »Bei großem Pflichtgefühl hat der Herr Bildungsmängel, weil sein Vater nur den ältesten Sohn ordentlich ausgebildet hat; weshalb er in den wichtigsten Dingen ohne eigenes Urteil und von fremdem Rat abhängig ist und solchen von verschiedenen Seiten erhält.« Zur selben Zeit schreibt Bennigsen, der damals viel mit ihm verkehrt, vertraulich, Bismarck verachte alle Minister außer Roon, und »der König und er haben mehr Haß wie Freundschaft gegeneinander. Zu dem Nachfolger hat er ein ganz kaltes Verhältnis.«

Der Begriff Haß scheint fehlgegriffen. Er hat sich an den König und, was noch schwerer war, ihn an sich gewöhnt: die einzige Macht, die er über sich dulden mußte, durch die ihr aufgedrängten Erfolge gezähmt. War er zuerst das Pferd, das seinen königlichen Reiter trug, so ist er nun selber zum Reiter geworden und sagt mit Recht von den Sechsundsechziger Wochen: »Da habe ich verzweifelt die Sporen gebraucht, damit der edle alte Renner das Hindernis nähme und die Sache wagte.« Was Bismarck schon damals mit dem König anstellt, wenn er einmal nicht folgen will, wird in tragikomischer Weise aus dem Gesuch um Entlassung deutlich, mit dem er Anfang 69 die Entfernung Usedoms ertrotzt, der ihm als Nachfolger verdächtig, dem König als Freimaurer vertraut ist:

»Mein einziges Motiv ist die Unzulänglichkeit meiner Kräfte und meiner Gesundheit für die von E. M. geforderte Art des Dienstes ... Die Gesamtheit der mir obliegenden Dienstgeschäfte ist selbst dann nur mit Aufwand jeder Kraft zu erledigen, wenn mir von Allerhöchstdero Seite jede Erleichterung gewährt wird, welche in der Auswahl des mitarbeitenden Personals, in dem vollsten Maße des Allerhöchsten Vertrauens und in der dadurch gestatteten Freiheit der Bewegung liegen kann.« Seine Entmutigung »wird vermehrt durch den Umstand, daß in den Personalfragen E. M. Allerhöchstes persönliches Wohlwollen für jeden Ihrer Diener gegenüber dem strengen Bedürfnisse des Dienstes ein Gewicht hat, welches die Interessen derer benachteiligt, welche die unvollkommenen Leistungen anderer zu ertragen haben ... Die Kämpfe, welche mir im Amte oblagen, haben mir die Ungnade hochstehender und die Abneigung einflußreicher Personen zugezogen ... E. M. wollen mit dieser Schwäche Nachsicht haben, da sie ein Ausfluß, wenn auch ein krankhafter, der Liebe zu E. M. Person ist ... Ich habe nicht das Gefühl, daß mir ein langes Leben beschieden ist, und fürchte, daß meine Organisation zu ähnlicher Schlußentwicklung neigt, wie die des Hochseligen Königs. Ich kann nicht den Anspruch erheben, daß E. M. auf meine krankhaften Zustände in dienstlichen Sachen Rücksicht nehmen.«

Ein Meisterstück. Nachdem er, nach seiner Erzählung, mehrere Tage im Dienst vergeblich gestreikt hatte, scheint er mit diesem Briefe ganz zurückzutreten; da rollt er denn dem Könige das ganze Register seiner Sünden auf: wie er aus persönlichen Gründen ihm Leute vorziehe, die seine Arbeit stören, ihn der allgemeinen Abneigung preisgäbe; auf solche Art verliert man Lebenskraft und gesunde Sinne, so wird man wie der letzte König in den Wahnsinn getrieben. Dagegen gibt es nur eins: Freiheit der Bewegung!

Der gute König erschrickt: »Wie können Sie nur daran denken, daß ich auf Ihren Gedanken eingehen könnte! Mein größtes Glück ist es ja, mit Ihnen zu leben und immer fest einverstanden zu sein! Wie können Sie sich Hypochondrien darüber machen, daß eine einzige Differenz Sie bis zum extremsten Schritt verleitet! ... Ihr Name stehet in Preußens Geschichte höher als der irgendeines preußischen Staatsmannes. Den soll ich lassen? Niemals! Ruhe und Gebet wird alles ausgleichen. Ihr treuester Freund W.« Der Freund ist dreimal unterstrichen. Usedom wird geopfert. Wie schwer das dem Könige fällt, zeigt, daß er dem Maurer die Differenz seines Einkommens aus eigener Tasche hinzuzahlt. Immerhin wagt der Gekränkte doch in einem zweiten Schreiben, das die Streitpunkte erörtert, den Satz: »Daß ich überhaupt mein Ohr den Stimmen verschließen sollte, die in gewissen wichtigen Augenblicken sich vertrauensvoll an mich wenden – werden Sie selbst nicht verlangen.« Als er darauf die Frage stellt, ob er, der sich ebenso müde fühle, sein königliches Amt niederlegen dürfe, schreibt Bismarck an den Rand: »Nein! Aber vertrauen, was man nicht selbst sehen kann, bei 30 Millionen, und glauben, was ein Minister amtlich versichert!« Bald darauf unterzeichnet der König zum ersten Male mit der schönen Wendung: »Ihr ewig dankbarer König Wilhelm.«

Mit dem Kronprinzen geht es leidlich, der Sieg hat beider Härten aufgelockert, Friedrichs liberaler Vertrauter Duncker hat eine Verfassung immerhin entwerfen dürfen, wenn Bismarck sie auch nicht übernommen hat, und die Nationalliberalen werden regierungsfähig. Aber Victoria, passionierter und hochmütiger als ihr Gatte, nimmt ein Tischgespräch wahr, um den Minister, wenn auch »in neckend-liebenswürdigem Tone«, zu treffen:

»Sie haben offenbar den Ehrgeiz, Graf Bismarck, König zu werden oder doch Präsident einer Republik!« Auf diese eigentlich bodenlose Apostrophierung haut Bismarck mit vollendeter Antwort zurück:

»Zum Republikaner bin ich persönlich verdorben, nach den Traditionen meiner Familie brauche ich einen Monarchen zu meinem irdischen Behagen, danke aber Gott, nicht wie ein König auf dem Präsentierteller leben zu müssen. Freilich wird sich meine Überzeugung nicht allgemein vererben lassen, nicht etwa, daß die Royalisten aussterben werden, aber vielleicht die Könige. In Ermanglung eines Königs könnte die nächste Generation dann republikanisch werden.« Drei Gedanken, jeder ein Speerstich, der letzte tödlich, denn er sagt, daß ihrem Gatten zum König alles fehlt.

Die Zahl solcher Geniestreiche in Worten, die den geborenen Diplomaten bezeichnen, scheint von nun an nur deshalb zuzunehmen, weil jetzt jeder aufschreibt, was Bismarck mit ihm gesprochen hat. Karl Schurz, als alter Achtundvierziger verurteilt und entflohen, nun 20 Jahre später als amerikanischer General zurückkehrend, erfüllt von allen Vorurteilen, die er als Privatperson gegen diesen Junker haben muß, ein Mann, der sich nicht biegt, wird von Bismarck im Sturm genommen: »Die sprühende Lebhaftigkeit seiner Rede, die Geistesblitze, sein Lachen, oft behaglich ansteckend, oft bitter sarkastisch, die raschen Übergänge von ergötzlichem Humor zu rührenden herzlichen Tönen, die Freude, die der Erzähler offenbar an seinen eigenen Geschichten hatte, das stürmische Tempo und hinter all dem jene gewaltige Persönlichkeit!« Dann wird Schurz auf morgen abend zu Tische geladen, wo er freilich nur lauter langweilige alte Juristen finden würde, nach deren Fortgang zurückgehalten, – und nun erst, im Fluidum persönlicher Wärme, fragt Bismarck ihn aus: über Amerika.

Einer seiner diplomatischen Tricks ist seine Gesundheit. Will er für schwach, einflußlos, auch für uninteressiert gelten, so gibt er sich krank. Bei einer Parade sagt er, daß es zwei Dutzend Leute hören konnten: »Es geht mir kläglich, ich kann nicht essen, nicht trinken, nicht lachen, nicht rauchen, nicht arbeiten, ich habe Nervenbankrott ... Hier dahinter ist kein Gehirn mehr, nichts als eine gallertartige Masse.« Vor Royalisten ist er loyal und sagt einem Staatsrechtslehrer: wenn die Hohenzollern ihre Macht gegen den widerspenstigen Adel aufgerichtet hätten, »so gehörte meine Familie zu dem Adel, der auf dem linken Ufer der Elbe auf ihrer Seite gekämpft hat, um den Adel rechts der Elbe zu bezwingen,« obwohl es umgekehrt war.

Kommt aber ein Stuttgarter Politiker, so gibt er sich demokratisch und redet bei Tische vom Segen der Wehrpflicht, denn »auch ich bin ein verwöhntes Muttersöhnchen gewesen, und es hat mir sehr gut getan, die Muskete auf die Schulter zu nehmen und mitunter auf Stroh schlafen zu müssen. Sie glauben nicht, welche Wirkung es hat, wenn der Bauer sagen kann: da, neben dem Junker, hab' ich in Reih und Glied gestanden. Damit hebt man auch den Offiziersstand: wenn so viel gebildete Elemente unter den gemeinen Soldaten sind, muß der Offizier sich doppelt anstrengen«. Vor Württemberg will er die Wehrpflicht volkstümlich drapieren, obwohl er selber, gar kein Muttersöhnchen, nur auf Jagd auf Stroh geschlafen und Reih und Glied gehaßt hat.

»Er meint, urteilt damals Roon, durch diplomatische Dialektik und menschliche Klugheit übrigens alle gewinnen und über den Gänsezucker führen zu können, redet mit den Konservativen konservativ, mit den Liberalen liberal und bekundet durch dies alles entweder eine so souveräne Verachtung aller seiner Umgebungen, oder so unbegreifliche Illusionen, daß mir dabei ganz greulich zu Sinne wird. Er will à tout prix möglich bleiben, jetzt und künftig, und zwar, weil er wohl die Empfindung hat, daß der begonnene Bau unter dem Hohngelächter der Welt zusammenfällt, sobald er die Hand davon tut. Das ist auch nicht unrichtig, aber – die Mittel zum Zwecke! Werden sie dadurch geheiligt?« So fragt mit Freundeswärme, doch beklommen, der stählerne Pflichtmensch und schaudert vor dem Geiste, den er rief.

Während Bismarck durch seine persönlichen Variationen die Wirkung jedes, auch privat gesprochenen Satzes berechnet, wird er gleichgültig und bleibt es gegen den Ruhm: jenes ist ihm als Politik wichtig, dies aus Verachtung gleich. Von Eitelkeit frei, ist es ihm nur lästig, »auf jeder Station angegafft zu werden wie ein Japanese« oder im Wiener Volksgarten »wie ein neues Nilpferd für den zoologischen Garten«. Titel und Orden sind lächerlich, im schriftlichen Amtsverkehr schafft er einige geschnörkelte Anreden ab, gibt sich ganz so original, wie er ist, und fragt, um zwei Uhr mit zwei andern Ministern zum König befohlen, den Flügeladjutanten: »Sind denn die beiden andern Schwindler noch nicht da?« Beim Hofball macht ihm im Anfang das Tanzen Spaß, aber bald verbietet der König den Prinzessinnen, ihn zum Tänzer zu wählen, »weil man mir ohnehin schon vorwirft, einen leichtsinnigen Ministerpräsidenten zu haben«. Von einem Hofbeamten läßt er sich das immer rutschende Großband des Roten Adlers feststecken, zeigt während dieser Geduldsprobe auf einen Prinzen und sagt: »Bei solchen Herren sind die Orden an ihrem Platz. Ich glaube, die haben an der Haut eine angeborene Saugvorrichtung, derartige Sachen festzuhalten.«

Wenn ihn aber der Kladderadatsch als Jäger karikiert, so sagt er zu Hohenlohe, der ihm Gleichmut anrät, wütend: »In meiner Politik mögen sie mich anfeinden, da lache ich nur, aber bei der Jagd hört der Spaß auf, da wird's Ernst!« Auch seiner Frau, die immer sparen will, verbietet er, die Rolle bescheidener Hausfrauen vom Lande zu spielen, wenigstens im Bade. Überhaupt tritt er, der die geheimrätlichen Formen verspottet, überall, im Parlament und zu Hause – an einem dritten Platze sieht man ihn kaum – als Aristokrat auf und gibt nur den Vertrauten, die meist Verwandte sind, und wenigen Sekretären Gelegenheit, Zeuge und Überlieferer seiner Nervositäten zu werden.

Schon jetzt ist sein Ruhm europäisch. Der große Zauberer und Sarastro wird er unter Berliner Diplomaten genannt, Briefe und Memoiren der fremden Hauptstädte füllen sich mit seinem Namen, Mérimée schreibt immer wieder, dies und jenes werde eintreten, wenn nicht Monsieur de Bismarck etwas anderes beschlossen. In herrlichem Bilde zeichnet ihn Zola als Gast in den Tuilerien: »Als der Gründer Saccard wie ein Triumphator, am Arm seine Geliebte, die er mit dem Kaiser teilte, und gefolgt von deren Gemahl durch den Saal schritt, hielt Graf Bismarck, der sich wie ein zu Scherzen aufgelegter Riese mit einigen Gästen unterhielt, im Lachen ein und sah neugierig dem sauberen Kleeblatt nach.«

Sein Ruf ist damals realistischer als später, man sieht in ihm den großen Amoralisten, an dem die Menschenkenner ein Gemisch von Offenheit und Verschlagenheit anstaunen. »Er hat die Franzosen in einer ganz fabelhaften Weise hinters Licht geführt, urteilt Bennigsen in der Luxemburger Affäre. Die Diplomatie ist eines der verlogensten Geschäfte, aber wenn sie im deutschen Interesse in einer so großartigen Weise der Täuschung und Energie getrieben wird, wie von Bismarck, kann man ihr eine gewisse Bewunderung nicht versagen.« Ohne ihn durch Heroisierung zu tünchen, reden und schreiben damals die Diplomaten der Epoche einander seine Streiche, etwa wie Beust, der berichtet: »Wir denken gar nicht daran, Deutschöstreich für das Reich zu erwerben, sagte Bismarck in Gastein, eher würden wir an Holland denken. Einige Monate später erzählte mir der holländische Gesandte, der von Berlin nach London versetzt worden, Bismarck habe ihm versichert, auf Holland ziele niemand, eher könnte man an die deutsche Provinz Östreich denken.«

In Wahrheit hat Bismarck nie das eine und nie das andere haben, immer aber hat er Nachbarn und Gegner in Unsicherheit und deshalb in Furcht halten wollen, wie er es schon als Student gemacht, und vielleicht beide Bemerkungen im Bewußtsein getan, daß es die Fremden einander erzählten. Vor niemand scheut er sich, die schwersten Invektiven gegen jedermann laut auszusprechen, nennt seine Gegner am liebsten ruchlos und sagt nur bei guter Stimmung und als sein freundlichstes Urteil: »Der ist ein ganz dummer Kerl!« Dieser Grad von Freiheit, den er sich erst jetzt nimmt, ist seinem Stolz und Menschenhaß beglückende Nahrung, und vielleicht hat das Gefühl, dies alles zu dürfen und im Urteil über niemand, auch nicht über den König gebunden zu sein, Bismarck die angenehmsten Augenblicke geschenkt.

Feindlich, aber bedeutend ist das Urteil Gustav Freytags: »Bismarck ist doch nur möglich in einer Tageszeit, welche aus der Nacht in das helle Licht herüberführt ... Zwischen den Romantikern und Schöngeistigen liegt eine schmale Bildungsschicht der touristischen Dilettanten, das Junkertum in seinen eleganten Typen ... Der größte Spätling in dieser Vegetationsperiode ... scheint mir Bismarck. Das Charakteristische ist Mangel an Ehrfurcht, alles launisch und persönlich fassen, dabei die ersten Anfange frischer und kecker Lebenskraft. Deshalb wird dieser Mann auch keine Schule haben, seine Fehler sind nicht vorzugsweise die unserer Zeit ... Der gegenwärtige König wird ihn nicht los, wenn Bismarck nicht will; das Frondieren im stillen Gemüte hilft zu nichts ... Ein unsicherer, grilliger, aus schlechter Gesellschaft heraufgekommener Mann hatte durch Verwegenheit und wahrhaft große Qualitäten, verstanden, sich so mit dem Ruhm und der Größe Preußens zu identifizieren, daß, wer ihn schlug, zugleich dem Staat wehe tat«.

So irregulär erschien er damals aller Welt, und wenn auch viele jenen großen Qualitäten zustimmten, die ihm Freytag einräumt, weil sie dem Lande nutzten, so blieb er doch sogar in dieser Epoche, die seinen größten Parteikämpfen folgte und voraufging, allen Parteien und allen Ständen unheimlich, besonders der seinen und dem seinen; sein öffentliches Auftreten, d. h. die Reden, aus denen allein sich die Nation ein Bild zu machen suchte, konnten anders nicht wirken. »Ich will, was Sie wollen, nur auf anderem Wege – wagte er etwa im neuen Reichstage zu sagen –, und wenn ich aufhören wollte, gegen Ihren Widerspruch in irgendeiner Weise zu reagieren, so müßten Sie daraus schließen, daß er mir gleichgültig wäre; ich glaube, Sie sollten es günstig aufnehmen, wenn er das niemals ist.« (»Bewegung«.) Oder gegen das Drängen, Baden in den Nordbund aufzunehmen: »Drängen Sie nicht so auf neue Etappen, meine Herren, genießen Sie doch einen Augenblick froh, was Ihnen beschieden, und begehren Sie nicht, was Sie nicht haben ... Ich kann darin irren, und Sie können irren, da kann ich nur sagen, ich teile Ihre Ansicht nicht und werde nach meiner handeln.«

Wer so die Vertreter des Volkes behandelt, der wird seinen Mitarbeitern zum vollen Autokraten: indem er im Norddeutschen Bunde sein Werk sieht, beansprucht er, dies Werk und damit zugleich Preußen buchstäblich allein zu regieren. Schon damals klagen seine nächsten Freunde »über Ottos Herrschsucht, die seit Roons (zeitweiligem) Abgang unerträglich geworden ist, gar nicht mehr Widerspruch duldend.« Roon: »Bismarck ... ist in den Sitzungen überlebhaft, spricht fast allein und scheint in dem alten Irrtum befangen, daß er durch geistige Regsamkeit ... alle Schwierigkeiten der Lage überwinden werde ... Politisch gehöre ich der konservativen Opposition an, weil ich nicht wider meinen Willen mit verbundenen Augen geführt werden mag, wer weiß wohin. Aber Bismarck vernachlässigt wie bisher seine treusten und ergebensten Freunde, er wird nicht Anstand nehmen, sie eventuell auch zu brüskieren.« Unterstaatssekretär Thiele: »Der Chef more solito eigensinnig, quenglich, bald in minima ohne Aktenkenntnis hineintapsend, bald auf erhebliche Dinge jedes Eingehen störrisch abweisend. Aber was tut's? Wenn seine Gesundheit gehörig wieder hergestellt wird, dann können wir dreist fragen: was kostet Europa?«

Da alle den Tyrannen fürchten, wagt niemand die kleinste Entscheidung: darüber gerät er dann erst recht in Wut. »Sie glauben nicht – schreibt Johanna vom Lande an Keudell, und man hört ihres Mannes Stimme –, wie entrüstet Bismarck ist, über die babyartige Ängstlichkeit, mit der die Berliner Herren gar keine Verantwortung übernehmen zu können glauben und alles, jeden Quark herschicken zum Begutachten oder Entscheiden ... Sie kennen ja unsern großen Staatsschiffer hinlänglich und wissen, was ihn peinigt und was ihm wurscht ist.« Geschieht in seiner Abwesenheit nicht alles genau, wie er es wollte, so schreibt er: »Ich bedaure, daß meine Anregungen bei der Zweiten Abteilung so wenig Effekt haben. Mich dünkt doch, daß ich die Herren nicht oft belästige, und einen kranken Menschen zu nötigen, dreimal auf eine solche Sache zurückzukommen, grenzt wirklich an Geringschätzung.«

Während er sich so zum Solisten entwickelt und als Star geriert, verstummt um ihn der Chor. Niemand drängt sich, bei diesem mächtigsten und zugleich interessantesten Deutschen zu verkehren, und noch bevor es fertig ist, zieht sich vom neuen Deutschen Reich das geistige Deutschland, ohne Programm oder Opposition, wie unwillkürlich zurück. Nirgends begegnet man in Briefen oder Gesprächen den Trägern der Ideen als Bismarcks Gästen, und wenn Treitschke ein Teil der Akten eröffnet wird, wenn einmal ein neuer Roman von Spielhagen erwähnt oder Fritz Reutern für seine Bücher gedankt wird, so ist auf Jahre: hinaus die Liste erschöpft, und staunend fragt der kluge v. Eckart, der bei seinen ersten Besuchen nur Junker im Hause traf, die Bismarck drinnen duzten und oft draußen bekämpften: »Wie ist die intime und gewohnte Gesellschaft dieses ersten Deutschen zu erklären, indessen die geistigen Führer der Nation dem Hause entweder fremd bleiben oder nur zu außergewöhnlichen Gelegenheiten in dasselbe gezogen werden?«

Die einzigen, von deren Unterhaltung Bismarck in jener Epoche anerkennend berichtet, sind Juden. Lassalle nannte er einen der geistreichsten Menschen, dessen Unterhaltung er spät nachts ungern enden sah. Bleichröder, den er als Agenten benutzt, hat immer freien Zutritt, erhält Generalvollmacht zur selbständigen Anlage seines Vermögens und wird auf Bismarcks Antrag in seinen Stand, in den erblichen Adel, erhoben. Jahrelang ist ein Doktor Cohen sein befreundeter Hausarzt bis zu dessen Tode; so vertraut er Gesundheit und Vermögen zwei Juden an. »Der Verkehr mit Simson hat mir wirklich Vergnügen gemacht ... Er ist ein recht geistvoller Mann, als er mich besuchte, war er wirklich unterhaltend, was ich von den meisten Leuten, die zu mir kommen, nicht behaupten kann. Das ist ein von reinster Vaterlandsliebe getragener Mann, ein edles Gefäß, in dem stets die lautersten Empfindungen zusammengeströmt sind.« Ein solches Urteil hat unter Bismarcks Charakteristiken nicht seinesgleichen, und doch hat er über denselben Simson 20 Jahre zuvor als Sekretär im Erfurter Parlament gespottet, »mein Vater würde sich im Grabe umdrehen, wenn er mich hier als Schreiber eines jüdischen Gelehrten sähe«, und im Konflikt hat Simson den Minister sogar einen Seiltänzer genannt: das alles hatte Bismarck nicht vergessen. Über Disraeli ist er später des Rühmens voll. So fragt man unwillkürlich: warum Bleichröder statt Hansemann, Cohen statt Frerichs, Lassalle statt Liebknecht, Simson statt Richter, Disraeli statt Salisbury?

Alle Zeichen des Antisemitismus hat Bismarck mit anderen reaktionären Vorurteilen seiner Jugend um diese Zeit längst abgelegt. Wir finden keine, auch nicht die privateste Äußerung mehr von ihm gegen die Juden, obwohl wir nicht zweifeln, daß das überlieferte Vorurteil seiner Klasse in ihm gegen alle Gründe seiner Vernunft nie ganz erloschen sein mag. Zwanzig Jahre nach seiner Rede gegen ihre Zulassung zu Staatsämtern ist er es, der die Emanzipation der Juden durchführt und betont, wir hätten keine Staatsreligion, die Regierung könne also auch nicht konfessionell auftreten; im Reichstag rühmt er ihnen »besondere Befähigung und Intelligenz für Staatsgeschäfte« nach, privatim rühmt er als ihre Tugenden: Respekt vor den Eltern, eheliche Treue, Wohltätigkeit und wünscht ihre Kreuzung mit dem Adel, zählt die Lynars, Stirums, Kusserows und andere Häuser auf, deren jüdische Verbindungen »alles ganz gescheite, nette Leute hervorgebracht haben ... Übrigens ist es wohl umgekehrt besser, wenn man einen christlichen Hengst von deutscher Zucht mit einer jüdischen Stute zusammenbringt. Das Geld muß in Umlauf kommen, und es gibt keine üble Rasse. Ich weiß nicht, was ich meinen Söhnen einmal raten werde.« Und ganz allgemein faßt er im Alter ihren sozialbiologischen Wert in das schlagende Wort zusammen: »Die Juden bringen in die Mischung der verschiedenen deutschen Stämme einen gewissen Mousseux, den man nicht unterschätzen sollte.«

Im Grunde steht er allen kalt gegenüber, Christen und Juden, Ministern und Parteiführern, eignen und fremden Fürsten, und auch unter den alten Kameraden erhält er sich einige Wärme nur noch für Roon. Ergreifend ist es, zugleich komisch, wie diese Freunde im Jahre 69 sich wechselseitig am Kragen nehmen und ins Amt zurückführen, wenn einer entlaufen will. Als Roon in seinem naiven Ernst Bismarcks oben zitiertes Abschiedsgesuch als dessen wirkliche Absicht nimmt, schreibt er ihm: »Seit ich Sie gestern Abend verließ, mein verehrter Freund, bin ich unausgesetzt mit Ihnen und Ihrer Entschließung beschäftigt. Es läßt mir keine Ruhe. Fassen Sie Ihr Schreiben so, daß ein Einlenken möglich bleibt ... Bedenken Sie, daß das gestern empfangene Billett (des Königs) den Anspruch auf Wahrhaftigkeit macht ... und erwägen Sie, daß das beigemischte unechte Gut nichts anderes ist als das Kupfer der falschen Scham, die nicht eingestehen will und in Betracht der Stellung des Schreibers vielleicht auch nicht kann: ich habe Unrecht getan und will mich bessern. Es ist ganz unzulässig, daß Sie die Schiffe verbrennen. Sie dürfen das nicht. Sie würden sich damit vor dem Lande ruinieren, und Europa würde lachen ... Man würde sagen: er verzweifelte, sein Werk zu vollenden; deshalb ging er. Ich mag mich nicht ferner wiederholen, höchstens in dem Ausdruck meiner unwandelbaren und treuen Anhänglichkeit.«

Mit welcher Noblesse wird hier der König entschuldigt, ohne verteidigt zu werden, wie geschichtlich sind diese Zeilen empfunden und gesetzt! Welch eindringliche Zurückhaltung! Als ein paar Monate später Roon selber, gekränkt über Bismarcks Gegnerschaft in einer Marinefrage, zurücktreten will, und das im Ernst und ohne Hintergedanken, mahnt ihn Bismarck aus Varzin: »Als ich im September 62 ohne Bedenken in Ihre Hand einschlug, da habe ich wohl an Kniephof gedacht, aber nicht an die Möglichkeit, daß wir nach sieben glorreichen Kampagnejahren über die aktenmäßige Bezeichnung der Marine in prinzipielle Meinungsverschiedenheiten geraten könnten ... Lesen Sie die Losung vom 14. August mit weltlicher Interpretation ... Vor allem scheint mir diese Frage nicht von der Bedeutung, daß Sie vor Gott und Ihrem Vaterlande durch dieselbe berechtigt würden, dem König in seinem 73. Jahre den Stuhl vor die Tür zu setzen und auf Ihre Kollegen, mich eingeschlossen, durch Ihr Ausscheiden einen Schatten zu werfen.« Hier ist alles auf Pflichtgefühl und Frömmigkeit des Empfängers berechnet, aber ganz egozentrisch gesehen, auf echt Bismarckische Art wird die Verantwortung zu Anfang und zum Schlusse dem zugeschoben, der ihn einst aus seiner Ruhe gestört hatte und nun durch seinen Abgang schädigen wollte.

48 Stunden später – und die Feder des eben für Pflicht und Fassung in geistlichem Tone Mahnenden rast am selben Schreibtisch an denselben Roon: »Niemand kann verlangen, daß ich Gesundheit, Leben und selbst den Ruf der Ehrlichkeit oder des gesunden Urteils opfere, um einer Laune zu dienen. Ich habe seit 36 Stunden nicht geschlafen, die ganze Nacht Galle gespien, und mein Kopf ist wie ein Glühofen trotz Umschläge Es ist aber auch, um den Verstand zu verlieren! Verzeihen Sie meine Aufregung, nachdem Ihr Name unter der Sache steht, aber ich kann ja nicht annehmen, daß Sie bei der Form der Unterschrift die Sache ... auch nur geprüft haben ... Wenn der Karren, auf dem wir fahren, zerschlagen werden soll, so will ich mich wenigstens vom Verdachte der Mitschuld freihalten ... Wir sind vielleicht beide zu zornig, um die Galeere weiterrudern zu können. Man muß Herz und Gewissen aus bergisch-märkischem Aktienpergament haben, um das zu ertragen!« Was war geschehn? Hat der König mit den in Berlin anwesenden Ministern vielleicht ein auswärtiges Bündnis verabredet oder gekündigt? Ist der Reichstag aufgelöst, eine Vorlage Bismarcks zurückgezogen, ein Minister verabschiedet worden?

Ein Postbeamter aus Hannover, den er zum Oberpostdirektor vorgeschlagen, ist vom Kabinett mit einer törichten Begründung abgelehnt worden.

XV

»Wenn ich gefrühstückt und gezeitungt habe, wandere ich in Jagdstiefeln in die Wälder, bergsteigend und sümpfewatend, lerne Geographie und entwerfe Schonungen. Sobald ich heimkehre, wird gesattelt und dasselbe Geschäft ... fortgesetzt ... Es gibt doch sehr dicke Büsche hier, auch Balken und Blöcke, Wüsteneien, Schonungen, Bäche, Moore, Heide, Ginster, Rehe, Auerhähne, undurchdringliche Buchen- und Eichenaufschläge und andere Dinge, an denen ich meine Freude habe, wenn ich dem Terzett von Taube, Reiher und Weih lausche oder die Klage der Pächter über die Untaten der Sauen höre. Wie soll ich Dir da schreiben!«

Das ist Varzin, nicht weit von Reinfeld gelegen, und wie er es bei seinem ersten Besuch durchstöbert, da fühlt sich Bismarck buchstäblich von seiner Nation für Kämpfe und Siege belohnt. Erstaunlich ist nur, daß er das Geld annahm, mit dem er diese Wälder kaufte. »Man hätte es nicht in Geld geben sollen, gesteht er ein paar Jahre später. Mir wenigstens widerstand es lange, aber endlich unterlag ich doch der Versuchung. Bei mir war es übrigens auch schlimmer, da man es nicht vom König, sondern vom Landtag bekam. Ich wollte kein Geld nehmen von Leuten, mit denen ich mich jahrelang so bitter herumgeschlagen hatte.« Öffentlich hatten damals die Liberalen beantragt, von Dotationen für die Minister Roon und Bismarck abzusehen, durch Gewährung der Straflosigkeit sei schon genug getan; daß er es dennoch annahm, spricht für seinen mit den Jahrzehnten steigendem Sinn für Geld und Familiengut, mit dem übrigens Geschäftssinn für seine Privata nicht verbunden war; zumindest hatte er nicht Zeit und Sammlung, sein Vermögen durch Anlagen selber zu vergrößern.

Seit Jahren kämpfte dieser Wunsch nach Geld mit dem Stolze. Als im Beginn des Konfliktes der Landtag beschlossen hatte, für verfassungswidrige Ausgaben die Minister mit ihrem Vermögen haftbar zu machen, erwog er, seine Güter auf den Bruder zu übertragen. Aber »die Zession an meinen Bruder, um das Objekt der bei einem Thronwechsel nicht absolut unmöglichen Konfiskation zu entziehen, hätte den Eindruck von Ängstlichkeit und Geldsorgen gemacht, der mir widerstrebte. Auch war mein Sitz im Herrenhause an Kniephof geknüpft.« So gewiß ihm diese Zession widerstrebte, so sicher wollte er sie durchführen, obwohl das Erlöschen seines Sitzes im Herrenhause die Sache öffentlich gemacht und grausamen Kommentaren ausgeliefert hätte. Denn zur gleichen Zeit bietet er das Gut dem Bruder an, mit der erstaunlichen Begründung: »Ich trenne mich schwer von dem Gedanken, dort meine alten Tage zu beschließen. Ich bin jedoch abergläubisch und gewisse Dinge bestimmen mich, zu verkaufen ... Aber meine Vermögensverhältnisse oder doch die meiner Kinder sind nicht so, daß ich von Dir erheblich weniger als von einem Fremden fordern könnte.« Rätselhaftes Motiv! Gewiß ist nur, daß aus dem Verkaufe damals nichts wurde.

Nun aber, vier Jahre später, von demselben Landtage für dieselben Taten, die damals als Untaten galten, mit Geld belohnt, reich geworden, beeilt er sich, dasselbe Kniephof dennoch wegzugeben. Und doch hatte es seine ganze Jugend umschlossen, vom 2. bis zum 28. Jahr! Hat er nicht schon bei der ersten Verpachtung schwere Leiden der Reue erduldet? Noch jetzt, da er es von Varzin aus besucht, »lassen sie mich nur niemals allein, und ich habe mir dort mit den Bäumen doch mehr zu sagen, als mit den Menschen«; bis ins Greisenalter wird ihm diese Stätte der Kindheit das Paradies bedeuten. Und doch schreibt er dem Bruder sofort aus Varzin, er will Kniephof nun rasch verkaufen, »am liebsten an Philipp oder an Dich, aber doch nicht sehr viel wohlfeiler, als ich überhaupt dafür erhalten kann.« Nichts mehr von Aberglauben, aber auch nichts von jener tiefen Zugehörigkeit an Land und Haus, wie er's in Kniephof, auch noch in Schönhausen empfunden.

Freilich gefallen ihm die Wälder von Varzin, aber niemals werden es die Wälder seines Herzens werden, und mit dem mächtigen Schönhausen kann sich auch das Varziner Haus nicht messen, »von außen im Lazarett-Geschmack gebaut, d. h. mit zwei langen Flügeln, aber im übrigen ganz ordinär, mit vielen Fenstern, nichts von Schloß- oder Villenstil«: so beschreibt es Keyserling als Gast. Da der Wald keine Renten bringt, muß man hier Dampfsäge und Papierfabrik bauen, »die zwar 100 000 Taler kostet, aber jeden Tannenbaum bis zum Abend in eine große Anzahl Papierblätter verwandeln kann.« Wie praktisch ist der Naturschwärmer geworden: ein Volkswirt, ein Vater!

Da er nicht ruhen kann und immer wirken muß, fängt er beim ersten Besuch gleich an, Wald und Haus von Varzin zu beleben: »Aus Schönhausen lasse Gläser, die roten, und die geschnitzten Stühle, wenigstens einen verschließbaren Sekretär oder zwei, und was an Betten übrig ist, kommen ... Von Berlin könnte man die ... Tische hernehmen, dafür das Zylinder-Bureau aus dem Vorzimmer des Sitzungssaales in mein altes Kabinett stellen. Wozu sollen wir S. M. Zimmer möblieren! ... Jetzt fahre ich, Wald, Rehe und Sonnenschein sehen ... Schreiben aber kann ich nicht sehr. Die Tinte haßt mich ... Komme nur schnell her, und laß die Jungen alleine folgen. Betten werden hoffentlich in Köslin liegen ... Bringe kein Mädchen außer Deiner Jungfer mit. Du brauchst auch die vielleicht nicht, hier ist ein junges Waschmädchen, die 3 Jahre bei Blumenthal das Weißzeug versorgt hat ... Bringe also weder (den Koch) noch die Magd, wenn es nicht aus persönlichem Wohlgefallen geschieht. Schicke etwas grünes, undurchsichtiges Zeug für dunkle Fenstervorhänge und zum Vormachen auf der inneren Seite der Glastüren, durch welche man nicht gesehen zu werden wünscht. Daß ich vor Deiner Herkunft nochmals in Berlin erscheine, glob' ich schwerlich. Schildere nur meine Stimmung so angegriffen, daß ich den sichtbaren Erfolg der Kur nicht durch die Strapazen dieser Reise gefährden könnte, und komme Du bald. Dein Treuster.«

Das sind Bismarcks glücklichste Stimmungen, die Geschäfte eben verlassen, die Gefährtin erwartend, keine Gäste, keine Depeschen, nur Förster und Inspektor, Pferde gesund, Abrechnung leidlich: so gefällt ihm das Leben, zuweilen sogar eine ganze Woche lang. Dann zieht ihn der Ärger wieder zu den Geschäften, und fehlt einmal der Ärger, so zieht ihn die Gewohnheit des Handelns und Befehlens. Doch auch hier verläßt ihn nicht der Wille zur Macht, und es ist ein tief symbolisches Wort, wenn er auf das angrenzende Landgebiet zeigt und sagt: »Jeden Abend bekomme ich einen Heißhunger, diese Güter zu annektieren; morgens kann ich sie dann wieder ruhig betrachten.« Bismarcks Leidenschaft und Mäßigung: der Rhythmus seiner Politik steht in diesem einen Satze.

Auf dem Gute fällt der Stumpfsinn der Gäste doppelt auf, denn hier hätte er Zeit, die besten Köpfe aus deutschen Landen zum Gespräch zu holen; wenn aber nicht ein Minister, Sekretär oder Parteiführer kommt, so sitzt er etwa »mit 12 Verwandten, worunter drei taube und viele sehr laut schreiende, immer im Chor sprechende Stimmen. Dabei brillierte er in so großer Liebenswürdigkeit gegen jeden, daß alle ... entzückt erst um halb elf nach Hause strebten.« Zuweilen kommt noch Keyserling, da sitzt man »zusammen auf dem Feldbett ... und hört unter einzelnen gemütlichen Gesprächen die Musik an, die uns Herr von Keudell machte«. Manchmal aber ist er so nervös, daß er Keudell vertraut, auch dieser sein Jugendfreund ermüde ihn, und er freue sich im stillen auf den Moment seiner Abreise.

Am liebsten bleibt ihm durch alle Epochen Motley, und daß Bismarck sein Herz grade an einen heiteren und naiven, in jedem Betracht wohlgebildeten und klugen Amerikaner gehängt hat, spricht von seiner Sehnsucht, im Spiegel harmonischer Naturen die eingeborene Unruhe zu beschwichtigen. Dazu ist weder der König imstande noch Johanna, denen allein er besondere Stellen in seinem Inneren eingeräumt, die er von der allgemeinen Verachtung ausgenommen hat; beiden fehlen Frische, Anregung und Selbständigkeit: die Frau ist zu zärtlich und unerfahren, der König zu alt und dickköpfig, als daß ihre beruhigten Naturen ihn selber beruhigen könnten. Motley aber ist ruhend, männlich, mit der Welt zufrieden, natürlich und doch vornehm, ihm herzlich zugetan, ohne das Geringste zu wünschen, vor allem aber unabhängiger als irgendein Mensch ringsum; das ist im Getümmel böser oder beschränkter Menschen ein Mann, auf den man bauen kann: das ist Bismarcks Freund. Und wirklich hat nie ein Mann in Bismarcks Handschrift Briefe erhalten, wie dieser in Abständen durch die Jahrzehnte immer wieder empfängt. Bismarck, der Hunderte und auch seine Nächsten auf Antwort warten läßt, ist es immer, der plötzlich wieder anfängt:

»Lieber Jack, where the devil are you and what do you do, that you never write a line to me? Ich schufte von früh bis spät wie ein Nigger, Du hast gar nichts zu tun, Du könntest mir ebensogut eine Zeile schreiben, statt Deine Beine zu betrachten, die Du gegen die Fensterbrüstung von Gott weiß was für trauriger Farbe stemmst. Ich kann nicht regelmäßig korrespondieren ..., aber was hält Dich faulen Kerl ab, an Deinen alten Freund zu denken? Eben, wie ich zu Bett gehen wollte, begegnete mein Blick dem Deinigen auf Deinem Bild ... Warum kommst Du nie nach Berlin? Meine Frau und ich würden glücklich sein, Dich in diesem trübseligen Leben einmal wiederzusehn ... Ich schwöre, ich werde Zeit finden, mit Dir Alt-Logierhaus zu besuchen und eine Flasche bei Gerold zu trinken, wo man Dir einmal nicht erlauben wollte, Deine schlanken Beine auf einen Stuhl zu legen. Hänge die Politik an den Nagel und komm! Die Unionsflagge soll über unserm Hause wehen, und unser Gespräch und der beste Hochheimer sollen Verdammnis strömen über alle Rebellen. Sei gut und komm oder schreibe! Dein Bismarck.« Daß er ihm sogar das »von« in der Unterschrift opfert, ist seit 1848 völlig ohne Beispiel.

Als der Freund dann Botschafter in London und dadurch nahe gerückt ist, liest er aus Varzin: »Du solltest uns die Freude machen ... Deinen Wigwam in die pommerschen Wälder zu verlegen. Die Sache ist heut so leicht, für einen ozeanischen Reisenden, wie es früher war, von Berlin nach Göttingen zu fahren. Du gibst Deiner Frau Gemahlin den Arm, besteigst mit ihr ein Cab, bist in 20 Minuten auf dem Bahnhofe, in 30 Stunden in Berlin und von dort in einem halben Tage hier ... Es wäre reizend; meine Frau, Tochter, ich und die Söhne würden sich kindisch freuen, wir wollen dann wieder einmal ganz so lustig sein wie in alter Zeit ... Ich bin so in den Gedanken schon eingelebt, daß ich krank werde, wenn Du Nein sagst, und das würde die übelsten Einflüsse auf die ganze Politik haben. Dein treuer Freund.«

Hier ist die einzige Hingabe seines Herzens. Denn auch Frau und Kinder hebt er mit der Eifersucht des Besitzers; diesen Amerikaner hebt Bismarck ohne Zweck und Gründe, und da er ihn mit 17 Jahren ausgesucht und unter so vielen beinah allein über zwei Menschenalter hinweg sich erhalten hat, so muß seine Gestalt ihm etwas Ersehntes bedeuten oder doch ersetzen, – wie Zelter für Goethe – das, was er unter Frauen nur in seiner Schwester sah: den harmonischen Menschen, der doch nicht simpel, den heiteren, der doch erfahren ist und ernst. Nicht zufällig findet dieser deutsche Charakter den Freund in einer jüngeren Welt.

Johanna ist leidend. In der Zeit des Konfliktes raubt ihr die Sorge vor Attentaten alle Ruhe, oft schildert er sie schlaflos, mit nervösem Herzklopfen, verzagt, er schickt sie allein in Heilbäder und fürchtet dabei für sie und sich; schon mit 40 unterschreibt sie sich an ihre Kinder »die alte Mama«. Als diese groß werden, und ihre häufigen Krankheiten abnehmen, wird sie vollends die Mutter ihres Mannes: für seine Gesundheit zu sorgen, seine Aufregungen zu mildern, ihn zu pflegen und zu schützen, sind die einzigen Aufgaben ihrer zweiten Lebenshälfte. Alles gibt sie auf, Wünsche, Liebhabereien, ihr Urteil selbst, wagt nie ihm etwas zu raten, und selbst nach Königgrätz riskiert sie nicht, ihre Gefühle ihm selber zu schreiben, steckt sich nur hinter den Freund Keudell, ob man nicht doch nach Wien gehen und dort »einziehen« solle; der aber hält es für geraten, dem gefährlichen Chef diesen Gedanken seiner Frau gar nicht vorzulesen. So löscht sie sich liebend aus, und wenn er sie auf einem Ausflug in Keyserlings Gesellschaft fragt, ob sie weiterfahren oder heimkehren will, so erwidert sie: »Tu nur, was dir lieb ist, ich habe keinen anderen Willen als den deinen.« Ist er aber leidend in Varzin, so bleibt sie »immer und immer, Tag und Nacht bei ihm und mit Ausnahme der Frühstücks- und Mittagsminuten, ganz still, lesend oder arbeitend oder ihm etwas besorgend; ihn griff jedes selbst gesprochene oder gehörte Wort an, und ich ängstigte mich dauernd halb tot.«

Auch die Kinder bleiben passiv, sie wagen nichts, aber er fordert nichts, und klagt er, Marie sollte doch einmal schreiben, so gibt er doch gleich nach, als es heißt, das fiele dem 16jährigen Mädchen so schwer. Ein lebenslanger Groll auf seine eigene Jugend läßt ihn die Kinder verwöhnen. Der Ingrimm dieses erfolgreichsten Menschen, das stete Mißtrauen in die Welt entschleiert sich, wenn er Keyserling sagt, er wolle seine Söhne nicht im Staatsdienst erziehen, »denn wir werden doch am Ende schlecht angesehen sein und es in der Welt quer haben.« Einmal, aus Nikolsburg, wo er ganz Deutschland in Erwartung weiß, schreibt er dem jüngeren Sohne zum Geburtstag politische Neuigkeiten, kommt aber gleich ins Gedränge zwischen Staatsmann und Erzieher, denn »in der Politik muß man, wenn man viele Gegner hat, zunächst den stärksten außer Spiel setzen und die Schwächeren schröpfen, was im Privatleben eine sehr unritterliche Gemeinheit wäre«. Was er den Söhnen wünscht, ist Gesundheit und Kraft. Rühmt er sie einmal, so ist es, weil sie stark in den Armen sind, und ein junger Gast sieht »mit Erstaunen die Portionen, die von Bismarck und seinen Kindern konsumiert werden: der leibhaftige Löwe mit seinen Jungen!«

Seine eigene Gesundheit ist ganz von den Nerven, diese sind ganz von den Geschäften abhängig. Seine Heilmittel sind gewaltsam wie sein Leben; und wie er niemals mit Schirm oder Gummischuhen ausgegangen und immer im offenen Wagen gefahren ist, so verachtet er bei Krankheit die Ärzte und kuriert sich auf eigene Faust. »Seine Krankheit ist unheilbar, schreibt Blanckenburg aus Varzin, wenn er fortfährt, so ungesund zu leben, wie bisher. Sehr spätes Aufstehen und dann wie ein Förster bis 5 Uhr draußen. Essen – und wie! – um 5, 6, 7 Uhr anfangend, je nachdem, eine halbe Stunde Billard, und dann die eigentlich nicht zu vermeidende Arbeit bis 10, 11 Uhr. Das bewußte kalte Nachtessen, natürlich kein Schlaf bei zerstörter Verdauung ... Er sprach fast unter Tränen seine Sorge aus, daß ihn alles verließe, ohne mir auch nur die äußere Möglichkeit zu gewähren, ihm in die Redespeichen zu fallen ... Die Folge von dieser Selbsterregung war ein heftiger Magenkrampf.« Als er in einer hannoverschen Finanzfrage mit nur 5 Stimmen Mehrheit siegt, wird er dadurch gleich »tieferschüttert, Fußleiden, gallige Ergüsse und Neuralgien im Gesicht traten sofort ein«. Roon mahnt ihn vergebens: »Sollte Ihre Energie wirklich nicht hinreichen, um Ihrer extravaganten Natur die ... Lebensordnung eines ehrsamen deutschen Hausvaters aufzunötigen? Das müssen Sie können!« Dies Wort Müssen riskiert nur noch der alte Mitkämpfer; vergebens.

Die angeborene Reizbarkeit nimmt in den Reibungen des Dienstes stärker zu als in den seltenen Stunden großer Entscheidungen. Regnet es ein paar Tage in Gastein, so klagt er sogleich über die Nebelkammer und Waschküche, der Wasserfall neben dem Gasthaus bringt ihn um, der Mangel eines weiten Horizontes quält ihn überall in den Bergen, und daß nach einem Brief der Frau an den Zähnen der Kinder gefeilt wird, »das ist mir ängstlich und ich fühle es hier bis in die Nerven!« Als ihn ein hessischer Führer über die Zukunft seines Landes befragt, »da zog ein wahres Gedankengewitter über das nicht eben schöne, aber ausdrucksvolle Gesicht ... Schweigend und brütend griff er bald zur Bleifeder, bald zur Papierschere, kurze Augenblicke hindurch spielte eine gewisse Heiterkeit um den Mund, dann aber flogen wieder wahrhaft dämonische Züge über das Gesicht, während die buschigen Brauen sich senkten.«

Indem er so in allen Formen des Lebens und des Körpers altert, obwohl die eingeborenen Kräfte mit den Jahren ringen, nähert er sich wieder dem Unglauben der Jugend: mit Riesenschritten kehrt er zum Skeptizismus seiner ersten Epoche zurück, und was er aus der Zeit der Glaubenskämpfe behält, ist beinah nur noch eine Geste. Nennt ihn ein frommer Nachbar aus Pommern gewissenlos, so nimmt er vor solchem Standesgenossen, der ihm geistlich kommt, in langem Weihnachtsbriefe diese christliche Haltung an: »Ich gebe bereitwillig zu, daß ich öfter ein Gotteshaus besuchen könnte, aber es ist nicht so sehr aus Zeitmangel, als aus Rücksicht auf meine Gesundheit, daß es unterbleibt, namentlich im Winter ... Wer mich einen gewissenlosen Politiker schilt, tut mir Unrecht und soll sich sein Gewissen, auf diesem Kampfplatze erst selbst einmal versuchen.« Wenn aber Verzeihung und Reue zwei Grundpfeiler des Christentums bedeuten, so muß man Bismarcks Entzücken hören, als er den alten wendischen Spruch vernimmt, den ein Offizier sich ins Wappen setzte: Nie bereue, nie verzeihe! »Das habe ich als besten Grundsatz schon lange im Leben verwendet!« Und einige Tage vor Kriegsbeginn gegen Östreich schreibt er einem Grafen den ganz verteufelten Rittersatz: »Der Würfel ist gefallen, wir haben gute Zuversicht, aber vergessen wir niemals, daß der allmächtige Gott launenhaft ist!«

Heut wie einst hängt er an der Formel seines Christentums den Royalisten auf, wie ein Schild an einen Baum, und lagert sich unter seinem Schatten; mit seinem Stolze müßte Bismarck zugrunde gehn oder Revolution machen, wenn er sich den göttlichen Ursprung der Königsmacht nicht beständig suggerierte. »Wäre ich nicht mehr Christ – sagt er in einem Tischgespräch in großem Kreise, – so diente ich dem König keine Stunde mehr ... Ich hätte ja zu leben und wäre vornehm genug und brauchte ihn nicht ... Titel und Orden reizen mich nicht. Der entschlossene Glaube an ein Leben nach dem Tode: deshalb bin ich Royalist, sonst wäre ich von Natur Republikaner. Ja, ich bin Republikaner, im höchsten Grade! Ich habe die Standhaftigkeit seit 10 Jahren nur aus meinem entschlossenen Glauben ... Hätte ich die wundervolle Basis der Religion nicht, so wäre ich dem ganzen Hofe schon längst mit dem Sitzzeug ins Gesicht gesprungen!« Jemand erwidert, daß viele Männer aus bloßem Staatsgefühl dem Könige dienten. »Diese Selbstverleugnung und Hingabe an die Pflicht gegen Staat und König, erwidert Bismarck, ist bei uns eben der Rest des Glaubens der Väter und Großväter in verwandelter Gestalt, unklarer und doch wirksam, nicht mehr Glauben und doch Glauben. Wie gerne ginge ich! Ich habe Freude am Landleben, an Wald und Natur. Nehmen Sie mir den Zusammenhang mit Gott, und ich bin ein Mensch, der morgen einpackt, nach Varzin ausreißt und seinen Hafer baut. Sie nehmen mir dann meinen König. Denn warum, wenn es nicht göttliches Gebot ist, warum soll ich mich denn diesen Hohenzollern unterordnen? Es ist eine schwäbische Familie, die nicht besser ist als meine, und die mich dann gar nichts angeht. Ich wäre dann schlimmer als Jacoby, den man sich schon gefallen lassen könnte als Präsident der Republik ... Er würde in mancher Hinsicht verständiger sein und jedenfalls weniger kosten.«

Diesen Gedankengang, dem Bismarck wiederholt ganz ähnlichen Ausdruck gegeben, hat er doch nirgends fester ad absurdum geführt als hier. Indem er den Staatsgedanken als letzten Ausläufer des Glaubens bezeichnet, stabiliert er ein allgemeines Pflichtgefühl, das er im einzelnen niemand zuerkennt. Denn wie er bis ins kleinste zu jeder Handlung jedes historischen oder mitlebenden Menschen persönliche Motive findet, so ist er selbst nur durch Ehrgeiz und Machtwillen in die politische Arena gelockt, in den Staatsdienst getrieben, zur Staatsmacht gehoben worden: nie hat ihn Demut vor Gott, wie Luther, Hilfsbereitschaft für den König, wie Roon, Pflicht gegen Deutschland, wie Stein, angetrieben, zu tun, was er, ein dämonischer Mensch, durchaus nicht lassen konnte.

Wie er sich als Republikaner bekennt, so war er mit seinen revolutionären Gefühlen der Mann, in Motleys Lande geboren, die Präsidentschaft anzustreben. Seine Nation, seine Klasse, seine Familie, wollte sein Selbstgefühl stark, hochgeehrt an der Spitze sehen; daß er dazu diese schwäbische Familie brauchte, deren Ahnen tüchtiger oder glücklicher waren als die Bismarcks, daß er sich Menschen unterwerfen mußte, die er an Geist und Temperament, durch Leidenschaft und durch Genie überragte, das war ihm nur durch die Autosuggestion seines Glaubens möglich, die jener gekrönten Familie Gottes Gnade zuerkannte.

Oder woher kommen sonst die Junkergefühle seiner zwanziger Jahre, in denen er sich als Pantheist bekannte und das Christentum verspottete? Warum haßte der ungläubige Standesherr die Liberalen, die eine sanfte Republik erstrebten, während der gläubige Minister heut mit ihnen regiert? War er damals Gottes Feind, so durfte er nach seiner künstlichen Logik zum mindesten Parteigegner des Königs sein; war er heut Gottes Knecht, so mußte er das Königtum verehren. Verehrt er es? Was ein Fürst lernen sollte, fragt man, und er erwidert im Vertrauen: »Ein Fürst müßte eigentlich auf persische Art erzogen werden, d. h. er müßte reiten und fechten lernen. Wollte er noch dazu sein eigentliches Metier studieren, so müßte er lernen: sehr lange zu stehen, jedem Fremden eine angenehme Phrase zu sagen, zu lügen; eine unangenehme Wahrheit brauche er ja nie zu sagen, das sei Aufgabe seiner Minister. Unser König versteht aber das Lügen gar nicht, man sieht es ihm schon von zehn Schritt an, wenn er Anstalten dazu macht.«

Und wie spricht er von der gekrönten Familie? »Wenn ich jetzt mit dem König in Letzlingen jage, so ist es der alte Wald unserer Familie, Burgstall ist uns von den Hohenzollern abgedrückt worden vor 300 Jahren, aus reinem Jagdneid, damals gab es dort wohl noch einmal so viel Wälder als heut. Da war es viel wert, außer der Jagd, heut sind es Millionen. Damals haben sie's uns mit allerlei Zwang und Gewalttaten abgepreßt, Rechtsverletzungen, Einsperrungen bei salziger Speise ohne Getränk, als der Besitzer nicht wollte, und die Entschädigung war nicht der vierte Teil des Wertes.« Das also ist Bismarcks Glaube an Gottes Gnade, die ihm die Hohenzollern vor die Nase gesetzt hat.

Wenn man ihn resolut hassen sieht, erkennt man ihn besser. Nicht umsonst zitiert er gern den Mephisto, überhaupt weiß er ganze Strecken weit den Ersten Faust auswendig und rezitiert ihn schlagend; Bismarck hat das erstaunliche Wort gesprochen: »Von Goethe schenke ich Ihnen auch dreiviertel, das übrige freilich – mit 7 oder 8 Bänden von den 40 wollte ich wohl eine Zeit auf einer wüsten Insel leben.« Im übrigen erklärte er ihn für einen Schneidergesellen: »Selig, wer sich vor der Welt ohne Haß verschließt, einen Freund am Busen hält und mit ihm genießt: wer so dichten kann, ist ein Schneidergeselle! Denken Sie doch: ohne Haß und am Busen halten!« Als ein andermal Keyserlings Tochter von der Tragödie schwärmt, in der man sich so gern in den Helden versetze, sagt er sehr märkisch: »Wollen Sie wie Wallenstein ermordet werden von einem Spitzbuben, in einer elenden Kneipe?« Keudell spricht von Furcht und Mitleid. Darauf Bismarck »ganz wild«: »Ja, Furcht und Mitleid empfinde ich so sehr, daß ich im Theater gleich dem Bösewicht an den Hals springen möchte!« Aber der humanistische Keudell klammert sich an die siegreiche »Idee« im Drama. »Bismarck wandte sich jetzt dem Gänsebraten zu und fragte: ›Werden in den Ostsee-Provinzen die Gänse mit Kartoffeln gegessen oder mit Äpfeln? Ich ziehe sie mit Kartoffeln vor.‹«

Musik hört er jetzt nur noch lesend an oder arbeitend; später, als Reichskanzler, lehnt er es ganz ab, sie zu hören, weil sie ihm den Schlaf vertreibe.

Im allgemeinen wird die Grundstimmung seiner Seele in gesteigertem Maße die des »Wanderers«. Mit wachsenden Erfolgen, mit der Erreichung einer Macht, wie er sie anfangs kaum geträumt hat, steigt seine innere Unruhe; es ist, als hätte er von diesem faustischen Gefühle Heilung durch Verwirklichung seiner Wünsche erhofft, und steht nun enttäuschter da als zu Beginn. »Faust klagt über die zwei Seelen in seiner Brust, ich beherberge aber eine ganze Menge, die sich zanken. Es geht da zu wie in einer Republik ... Das meiste, was sie sagen, teile ich mit, es sind aber da auch ganze Provinzen, in die ich nie einen andern Menschen hineinsehen lasse.« Diese Worte, die er auf einer Wagenfahrt in Gesellschaft zweier seiner Gehilfen spricht, deren einer ihm ganz fern steht, drücken im Grunde mehr Unzufriedenheit aus als Einsamkeit; sonst würde er sie verschweigen. Offener schreibt er an Festtagen zu den Seinen: »Die Ruhelosigkeit der Existenz ist unerträglich ... Es ist kein Leben für einen rechtschaffenen Landedelmann ... Ich habe Heimweh nach ruhigeren Tagen, wo ich Herr meiner Zeit war, und wie ich es mir jetzt oft einbilde, glücklicher, obschon ich mich genau erinnere, daß das alte Wort post equitem sedet atra cura auch auf Kalebs Sattel seine Wahrheit behielt.« Am tiefsten klingen diese Töne ohnmächtigen Trotzes gegen den eingeborenen Charakter in einem Briefe wider, in dem er der Schwester zur Silbernen Hochzeit schreibt:

»Ich hätte so gern ... ganz abgetragene Betrachtungen über die traumhafte Flüchtigkeit des Lebens mit Dir neu aufgebügelt. Man verzichtet so spät auf die Illusion, daß das Leben nun bald anfangen soll, und hält sich so lange bei der Vorbereitung auf, daß es solcher Meilensteine von 25 Jahren bedarf, um sich durch den Rückblick klarzumachen, wie lang die zurückgelegte Strecke ist und wie viele gute und schlechte Stationen man passiert hat. Ist es ein Beweis unserer Ungenügsamkeit ... oder ist es nur mein Fehler, daß mir die gegenwärtige Station immer unbehaglicher erscheint als alle früheren, und daß man nicht aufhört, rastlos vorwärts zu treiben, in Hoffnung auf eine bessere? Ich wünsche Dir von Herzen, daß Du ... Dein Fest mit der befriedigten Stimmung feierst, in der man dem Zeit-Postillon zurufen möchte: Schwager, fahr sachte! Ich finde mich recht undankbar gegen Gott, daß ich zu dieser Stimmung des Behagens niemals gelange, und doch nach meiner eignen Einsicht so viel Grund dazu hätte, wenn ich an Frau und Kinder denke, und vor allem an meine Schwester, und an so manches andere, in Staat und Haus Erstrebte, und wenn es erreicht war, nicht Gewürdigte.«

Wie zart wird hier die grausame Analyse in Melancholien eingesponnen, wie fein sind zugleich diese Ironien umrankt! Mit welcher Zurückhaltung ist das ganze Lebenswerk in Eine Silbe gedrängt! Und doch, mit welcher Kälte wird hier Bismarck von seiner eigenen Feder seziert, der ewig Unbehauste bloßgelegt, und alle Siege, alle Kämpfe, die großen Resultate eines zwanzigjährigen Ringens werden für nichts als schlechte Stationen erklärt, denen endlich doch einmal die bessere folgen soll!

XVI

Napoleon wollte keinen Krieg, aber er brauchte ihn. Was Frankreich wollte, ob es aus Ehrgeiz die immer näher rückende deutsche Einheit nicht ertrug, scheint zweifelhaft; die Entrüstung, zu der es in den Juli-Tagen kam, war auf Paris, und nur auf einen Teil der Pariser Straßen beschränkt, auch dort von ein paar Zeitungen gemacht, die der Regierung dienten, hat also wenig Beweiskraft nach rückwärts. Das einzige Lot, mit dem man die Tiefe der französischen Volksgefühle messen könnte, ist die Volksabstimmung vom Mai, in der sich trotz Druck und Korruption nur sieben Millionen für Napoleon, anderthalb laut und mindestens drei durch Stimmenthaltung gegen ihn erklärt haben. Da aber Napoleons Regime mit der populären Phrase nichts als Ruhm und Größe Frankreichs erstrebte, so stimmten jene andern Millionen redend oder schweigend für eine stetige Politik der Arbeit und des Friedens. Diese Nation, von Natur ruhig und genießend, nur durch glänzende Führer oder durch Not leidenschaftlich aufzustacheln, hatte offenbar keine Lust, mit jemand Händel anzufangen. Grade diese Stimmung seines Volkes war für einen Eroberer gefährlich, der strahlen mußte, um sich zu halten. Die Friedensliebe der Nation wollte die Republik, deshalb suchte der Kaiser Siege, vor deren Ungewißheit dem leidenden Manne graute.

Seit dem Luxemburger Handel sah Napoleon den Krieg als unvermeidlich an, Bismarck hatte es leichter, aber nicht leicht, ihn schon im Luxemburger Lärm zu verhindern. Mit Italien und Östreich hatte Napoleon angeknüpft, schließlich im Frühjahr 70 mit einem Erzherzog den gemeinsamen Feldzugsplan gegen Preußen entworfen, zugleich den Herzog von Gramont zum Minister des Äußeren gemacht, den er nicht leiden konnte, den aber die preußenfeindlichen Strömungen des Hofes, besonders die Kaiserin, forderten. Als dieser im Jahre 66 den Aufmarsch gegen Preußen gewünscht hatte, soll er Bismarcks Wort: »Gramont ist ein Dummkopf« erfahren und Rache geschworen haben. So war für einen Kabinettskrieg alles vorbereitet; fehlte nur noch der Vorwand. Der kam schnell!

Die Spanier hatten ihre Königin verjagt, suchten vergebens Ersatz und wandten sich an deutsche Fürstenhäuser, die halb Europa mit Königen versorgten. Eine Seitenlinie der Hohenzollern, die eben erst den Rumänen einen Fürsten geliefert, wurde angefragt, wandte sich an König Wilhelm, erfuhr dessen Abneigung, fand aber in Bismarck zugleich einen Verfechter der Politik, so viele Filialen wie möglich für seine Firma zu eröffnen. Daß er es damit zum Kriege mit Frankreich treiben wollte, wäre unsinnig anzunehmen; will man eine Klimax aufstellen, wie er es anno 64 getan, so dürfte man höchstens sagen: er hielt einen Hohenzollern in Madrid für besser als die beruhigte Pariser Stimmung, einen diplomatischen Sieg für besser als den Hohenzoller und eine Verständigung für besser als den diplomatischen Sieg. Da er kein Motiv und nicht die geringste Lust zu einem Krieg, etwa des Elsaß wegen hatte, ihn aber der Einigung wegen von drüben her kommen sah, und einzig um dieses Motives willen entschlossen war ihn anzunehmen, so suchte er keine Vorwände, rechnete aber zweifellos, daß Frankreich in der spanischen Sache den dort gesuchten Vorwand finden konnte. Vor allem war er auch hier entschlossen, zu warten.

Als daher Benedetti, im Mai 69, noch vor dem offiziellen Antrag einen Konflikt erster Ordnung ankündigte, wenn man die Spanische Krone annähme, vermeidet Bismarck zwar, den König auf ein Verbot festzulegen, behandelt das Ganze als Familiensache, in der die Nebenlinie frei entscheiden könne: keine Bindung, aber den Gegner in Furcht gehalten. Die Gefährlichkeit der Frage erkannte er sofort. Wie aber den König geneigt machen, der es schon in Rumänien nicht wollte?

»In den Spaniern könnte sich ein Gefühl der Dankbarkeit gegen Deutschland regen, wenn man sie aus den anarchischen Zuständen reißt, denen sie entgegenzugehen fürchten. Für die Beziehungen zu Frankreich würde es von Nutzen sein, jenseits Frankreichs ein Land zu haben, auf dessen Sympathien wir rechnen könnten, und mit dessen Empfindungen Frankreich zu rechnen genötigt wäre.« Übrigens würde man dadurch ein bis zwei Armeekorps sparen. Durchschlagend wirkten beim König die zwei Armeekorps.

Daß er mit diesem Schritte den Krieg selber und zugleich früher herbeiführen könnte, weiß und riskiert er. Da er ausschließlich für Preußens Macht, für diese aber nur nach politischen Zielen arbeitet, da ihm heute das Elsaß so gleichgültig ist wie anno 66 das östreichische Schlesien, da er weder jetzt noch jemals deutsche oder fremde Länder für Preußen erobern, sondern jetzt wie damals nur die politische Führung in Deutschland will, so bereitet er heute den Krieg gegen Napoleon vor, wie damals gegen Franz Joseph: beide haben den Norddeutschen, dann den Deutschen Bund sich erst abzwingen lassen. Der vernünftige Wunsch eines deutschen Staatsmannes, seine Landsleute auch gegen ihren Willen zusammenzuschließen, ist der Grund für beide Kriege gewesen: weder gab es in Deutschland eine elsässische noch gab es in Frankreich eine linksrheinische Frage, die nur von ein paar Maulhelden auf beiden Seiten zur Verhetzung friedlicher Völker erfunden wurden. Die Politiker in Wien und Paris hatten dasselbe Recht, eine geeinigte Macht an ihrer Grenze zu verhindern, wie die deutschen Stämme und Fürsten, sie, wenn auch lückenhaft und nach sehr verschiedenen Rezepten, zu erstreben. Bismarcks Worte in Nikolsburg, Östreichs Kampf gegen uns sei nicht unmoralischer als der unsrige gegen Östreich, gilt in seiner ganzen klaren Kälte auch für den französischen Krieg. Solange das kleine Europa unter der Verblendung von Führung und Hegemonie, Großmächten und Bündnissen leidet, wird keinem Volke Einheit und damit erhöhte Macht ohne Krieg von den andern erlaubt.

Bismarck aber, der immer nur das Mögliche erstrebte, nie das Wünschenswerte, wurde durch Zerrissenheit und Feindschaft der Deutschen in einen Konflikt seiner Motive gerissen. Als Bayer hätte er jede Einigung unter Preußen durch seinen mächtigen Willen verhindert, als Preuße wollte er sie, aus dem Grundgefühl seines Stolzes: als Person, als Stand, als Nation. Doch zugleich erkannte er als Staatsmann die Vernünftigkeit seines Gedankens auch im deutschen Sinne. Diese platonische Erkenntnis gesellt sich zu seinem natürlichen Wunsche, machte diesen moralisch repräsentabel und erleichterte dem Manne selbst in seinem geschichtlichen Empfinden den uneingestandenen Zwang auf die Südstaaten. War die Nation »nur in einem allgemeinen Zorn zusammenzuschließen«, wie war dieser Zorn leichter zu mobilisieren, als durch die Einmischung eines Fremden! Auf solchen psychologischen Umwegen ist Bismarck, dem Analytiker, die französische Drohung sympathisch und der Krieg, den er nicht suchte, dem Staatsmann erwünscht geworden.

In der spanischen Sache wittert er die Elemente der Entscheidung, an den Widerständen entfacht sich aufs neue sein diplomatisches Feuer, jetzt schickt er zwei Agenten nach Spanien, Bucher und einen Offizier, um die dort schon halb aufgegebene Sache wieder zu beleben: alles geheim, um Napoleon mit dem fait accompli zu überraschen und, wenn er Einspruch erhöbe, sogleich ins Unrecht zu setzen. Warum soll das souveräne Spanien nicht seinen König suchen, wo es mag? Folgt Antrag und Annahme in Sigmaringen, und zwar hinter Wilhelms Rücken, der schließlich unwillig seine Zustimmung gibt, alles »nach schweren inneren Kämpfen«.

Da, kurz vor der amtlichen Publikation, wird die Sache in Paris bekannt, der Krach ist da, mit einem einzigen offiziösen Artikel entfacht Gramont das Geheul der Pariser Presse, man affektiert Wut über »Frankreichs Überrumpelung durch eine deutsche Königswahl«, Gramont will den berühmten Bismarck endlich öffentlich schlagen, weil ihn dieser verachtet.

Bismarck sitzt ruhig in Varzin. Es hat gefroren, mitten im Sommer, das schildert er seiner Frau: »Ich aß Hecht und Hammel, heut Hecht und Kalb, auch Spargel, der besser ist als der Berliner. Der Frost hat junge Buchen an Waldecken gebräunt, manche Eichbüsche geschwärzt ... Schlimmer ist es Deinen Rosen gegangen, ... von den hochstämmigen sind 6 oder 8 bisher ohne Lebenszeichen. Im Felde zeigt der Roggen stellenweise geringe Frostschattierungen, die Kartoffeln, Pommerns Trost, scheinen gesund ... Dann aß ich in betrüblicher Vereinzelung. In der Hitze Berge steigend, war all mein Denken auf Grätzer Bier gerichtet; es ist aber ausgegangen, auch Klette; Schöps mein einziger Trost, er hat aber doch etwas Bock in sich, der sich dem Massenverbrauch widersetzt. Nach dem Essen ging ich durch Park und Gehege, habe vier Rehe gesehen, darunter drei Böcke ... Deine Erlplantage im Weißen Moor war angewachsen, aber erfroren. Der schwarze Boden unter den blühenden Kiefern ganz weiß von beifolgenden Blüten (ich schrieb das Wort noch nie, hat es ein h?), drei Fuß hoch wie blühende Myrte; sedum palustre, auf Pommersch Schwiene-Pors, auch wilder Rosmarin ... Ich gehe um 10 zu Bett. Dein Treuster.«

Kurz darauf – denn indes ist die Bombe in Paris geplatzt – geht er in seinem Zimmer auf und ab, diktierend, inspirierend, was er als Antwort auf den Pariser Lärm gedruckt sehen will, »wahre Haufen von Notizen für Artikel, ganze ausgeführte Aufsätze,« offiziell alles ruhig darzustellen, offiziös Frankreichs Anmaßung zu geißeln: »Es scheint, als ob die Kaiserin, die das angeregt hat, einen neuen Spanischen Erbfolgekrieg entbrennen zu sehen wünscht ... Die Franzosen gleichen dem Malayen, der sich geärgert hat und nun, Schaum vor dem Munde, mit gezücktem Dolch auf die Straße rennt und jeden niedersticht, der ihm quer über den Weg kommt ...« Am 7. Juli liest er in Gramonts gestriger Kammerrede: »Wir glauben nicht, daß die Achtung vor den Rechten eines Nachbarvolkes uns zu dulden verpflichtet, daß eine fremde Macht einen ihrer Prinzen auf den Thron Karls V. setzt, so zu unserem Schaden das gegenwärtige Gleichgewicht in Europa zerstört und Interessen und Ehre Frankreichs in Gefahr bringt. Sollte dem so sein, so würden wir unsere Pflicht ohne Zaudern und ohne Schwäche zu erfüllen wissen!« Tosender Beifall. Als Bismarck das gelesen, sagt er zu Keudell: »Das sieht ja aus wie der Krieg! Diese Sprache könnte Gramont nicht führen, wenn er nicht entschlossen wäre ... Jetzt über Frankreich herfallen: das wäre der Sieg! Leider geht das aber nicht – aus verschiedenen Gründen.«

Am selben Tage läßt Gramont seinen Botschafter den König Wilhelm aufsuchen, mit Recht, denn Bismarck hatte jede amtliche Verhandlung in der Familienfrage abgelehnt.

Der König ist milde gestimmt, mag sich weder die Badekur noch den Ruhm noch das Alter stören lassen, verhandelt mit Benedetti, statt, wie Bismarck will, ihn sogleich abzuweisen. Am 9. sagt der König, dem die ganze Sache unheimlich war, dem Franzosen: recht gern, als Familienhaupt wolle er seinen Vetter zum Rücktritt veranlassen, und schickt einen Adjutanten nach Sigmaringen. »Gebe Gott, schreibt er seiner Frau, daß die Hohenzollern ein Einsehen haben!« Als Bismarck diese Nachricht in Varzin liest, fährt er wütend auf und ruft: »Der König fängt an zu kneifen!« Jetzt fühlt er sich dupiert, empfindet des Königs Schritt als Rückzug Preußens. Sofort bietet er drahtlich an, zum Könige zu stoßen, erhält aber erst am 11. Befehl. Schrecklicher Wartetag! Am 12. sitzt er mit Keudell im Reisewagen nach Berlin, das er passieren will. Als er nach zehnstündiger Fahrt in den Hof seines Amtshauses einfährt, wird Bismarck eine Depesche gereicht, er ist so gespannt, daß er sie noch im Wagen erbricht: sie spricht von erneutem Gesuch Benedettis in Ems und von erneut höflicher Antwort des Königs. Moltke und Roon, eilends zu Tische geladen, treten bald nach dem Minister ins Haus. Da kommt während des Essens drahtliche Meldung, der Prätendent sei zurückgetreten.

»Mein erster Gedanke, schreibt Bismarck im Rückblick, war, aus dem Dienste zu scheiden, weil ich ... in diesem erpreßten Nachgeben eine Demütigung Deutschlands sah, die ich nicht amtlich verantworten wollte ... Ich war sehr niedergeschlagen, denn ich sah kein Mittel, den fressenden Schaden, den ich von einer schüchternen Politik für unsere nationale Stellung befürchtete, wieder gutzumachen, ohne Händel vom Zaune zu brechen ... So gab ich die Reise nach Ems auf und bat Graf Eulenburg, dorthin zu reisen und S. M. meine Auffassung vorzutragen ... Durch die Neigung, die Staatsgeschäfte persönlich und allein auf sich zu nehmen, war der König in eine Lage gedrängt worden, die er nicht vertreten konnte ... Bei dem hohen Herrn ... war die Neigung, wichtige Fragen persönlich zwar nicht zu entscheiden, aber doch zu verhandeln, zu stark, um ihm eine richtige Benutzung der Deckung zu ermöglichen ... Davon lag die Schuld zum großen Teile in dem Einflusse, den die Königin von dem benachbarten Koblenz her auf ihn ausübte. Er war 73 Jahre alt, friedliebend und abgeneigt, die Lorbeeren von 66 in einem neuen Kampfe aufs Spiel zu setzen; aber wenn er vom weiblichen Einflusse frei war, so blieb das Ehrgefühl ... in ihm stets leitend. Gegen die Konkurrenz, welche seine Gemahlin mit ihrer weiblich berechtigten Furchtsamkeit und ihrem Mangel an Nationalgefühl machte, wurde die Widerstandsfähigkeit des Königs abgeschwächt durch sein ritterliches Gefühl der Frau ... gegenüber.«

Noch 20 Jahre nach den Ereignissen hat Bismarck diese Anklagen gegen sein Herrscherpaar geschleudert, und zwar nicht nach politisch verlorener Schlacht, wie etwa Gramont seine Schilderung derselben Tage mit Vorwürfen gegen Kaiser und Hof anfüllt, vielmehr nachdem er den Mangel an Ehrgefühl seines Königs, an Nationalgefühl seiner Königin durch Taten und Siege im Eindruck der Welt getilgt hat. So groß ist seine Wut, daß sich der König erlaubt, in dieser »Familiensache« selbständig zu verhandeln. Auf alle Fälle läßt er nach Hause sagen, er käme bald wieder, ob als Minister, wisse er nicht.

Schlaflose Stunden: eine Nacht der Kombinationen und Entwürfe, des Stolzes und Hasses! Am Morgen des 13. erhält er zwar nicht aus Ems, aber von der Russischen Botschaft die Nachricht: in Paris sei man immer noch nicht befriedigt. Erlösung! Nun darf er vor dem Englischen Botschafter den Grollenden spielen: »Wenn Paris weitere Forderungen erhebt, so wird die Welt sehen, daß die wahre Absicht der Revanchekrieg ist. Wir sind entschlossen, keinen Schimpf zu dulden, sondern die dargereichte Herausforderung anzunehmen ... Wir können nicht zusehen, wie Frankreich uns mit seinen Rüstungen zuvorkommt ... Wir brauchen Sicherungen, Garantien gegen Gefahr eines plötzlichen Überfalls! Widerruft man nicht Gramonts drohende Rede, so muß Preußen Genugtuung fordern.«

Schon hat er die verfahrene Sache zurechtgerückt und kann sie wiedergewinnen. In der Tat spielt ihm sein blinder und unterlegener Gegner alle Trümpfe zu: gestern, während Bismarck im Reisewagen saß und der Prinz auf die Krone verzichtete, hat Gramont auf eigene Faust Benedetti drahtlich angewiesen, er solle den König zu einer amtlichen Erklärung über den Verzicht bringen. Zugleich hat er durch den Preußischen Gesandten den König um einen Brief an Napoleon ersuchen lassen, daß er Frankreichs Interessen und Würde nicht verletzen wollte. Mit beiden Dokumenten in der Mappe, hofft Gramont morgen vor der Kammer glänzend zu siegen; abends in St. Cloud gebärdet er sich wütend und aufgeregt. Vier Tage zuvor hat der schwerkranke Kaiser eine dringend angeratene Operation aus Furcht vor tödlichem Ausgang abgelehnt; drei Jahre später wird er wirklich an ihr zugrunde gehen. Hätte er jetzt eingewilligt, so wäre er durch das Messer, dafür aber kein anderer durch die Kugel umgekommen.

Als Bismarck von dem Antrag an seinen Gesandten erfährt, wird er wütend, daß dieser nur höflich abgeraten, entsetzt ihn auf der Stelle seines Amtes, worauf er drohend dem König nach Ems drahtet: wenn er Benedetti noch einmal empfange, nähme er seine Entlassung. Nachmittags erscheinen bei ihm als Tischgäste wieder Moltke und Roon. Vor den Generalen, die ihm noch gestern den Krieg bedeuteten, grollt er aufs neue auf und erklärt, er ginge; Roon sagt, das hieße kneifen, während die Militärs aushalten müßten. Bismarck richtet sich auf: »Sie beide in der Unfreiheit Ihrer Entschlüsse als Soldaten brauchen die Gesichtspunkte des verantwortlichen Ministers nicht zu teilen. Ich kann mein Ehrgefühl nicht der Politik zum Opfer bringen.« Da wird ein neues Chiffretelegramm aus Ems zu Tisch gebracht, von Abekens Hand, und Bismarck liest das stilistische Ungetüm vor:

»S. M. schreibt mir: ›Graf Benedetti fing mich auf der Promenade ab, um auf zuletzt sehr zudringliche Art, von mir zu verlangen, ich sollte ihn autorisieren sofort zu telegraphieren, daß ich für alle Zukunft mich verpflichtete, niemals wieder meine Zustimmung zu geben, wenn die Hohenzollern auf die Kandidatur zurückkämen. Ich wies ihn zuletzt etwas ernst zurück, da man à tout jamais dergleichen Engagements nicht nehmen dürfe noch könne. Natürlich sagte ich ihm, daß ich noch nichts erhalten hätte, und da er über Paris und Madrid früher benachrichtigt sei als ich, er wohl einsähe, daß mein Gouvernement wiederum außer Spiel sei.‹ S. M. hat seitdem ein Schreiben des Fürsten Karl Anton bekommen. Da S. M. dem Grafen Benedetti gesagt, daß er Nachricht vom Fürsten erwarte, hat Allerhöchstderselbe mit Rücksicht auf die obige Zumutung, auf des Grafen Eulenburg und meinen Vortrag beschlossen, den Grafen Benedetti nicht mehr zu empfangen, sondern ihm nur durch einen Adjutanten sagen zu lassen: daß S. M. jetzt vom Fürsten die Bestätigung der Nachricht erhalten, die Benedetti aus Paris schon gehabt, und dem Botschafter nichts weiter zu sagen habe. S. M. stellt E. E. anheim, ob nicht die neue Forderung Benedettis und ihre Zurückweisung sogleich sowohl unseren Gesandten als in der Presse mitgeteilt werden sollte.«

Dies war, dem Kurialstil enthoben, ein Zeichen maximalen Zorns, das war »Eulenburgs Vortrag«, nach Bismarcks Instruktion: das war Teils Geschoß! Die ganze Wut des Bundeskanzlers hatte sein Minister in Ems dem Könige geschildert, Moltkes und Roons Stimmung berichtet, Bismarcks Gekränktheit, durch des Königs Vorgehen alleruntertänigst nicht verschwiegen, – und dazu kam Bismarcks Weigerung, selber zu kommen, und seine drohende Depesche! Zum Franzosen ist der König höflich, nur »etwas ernst« geblieben, in camera müssen sie alle gewütet haben, denn wenn der zierliche Abeken, der keine Fliege, viel weniger einen Herzog schlagen kann, amtlich von Zumutung und Zurückweisung spricht, so müssen in der Konferenz ganz andere Kasinoworte gefallen sein. Ja, selbst der Adjutant darf und soll dem Botschafter einer Großmacht sagen, der König wolle ihn nicht mehr empfangen, er habe ihm nichts weiter zu sagen! Schließlich kommt der alte Herr, vielleicht auch Eulenburg oder ein Flügeladjutant auf die Idee, man müsse diese Zurückweisung sofort verbreiten und das in der denkbar schärfsten Form: durch Gesandtschaften und Presse! Wieder, wie anno 62 im Kupee zwischen Jüterbog und Berlin, nur diesmal durch einen Vertreter, hat Bismarck den König am Porte-epee fassen und auf höfische Manier andeuten lassen, daß er nicht schneidig war.

An Bismarcks Tische wirkt die Depesche zunächst niederschmetternd, beiden Generalen ist der Appetit vergangen, sie »verschmähten Speise und Trank. Bei wiederholter Prüfung des Aktenstückes verweilte ich bei der einen Auftrag involvierenden Ermächtigung S. M. ... Ich stellte an Moltke einige Fragen in bezug auf das Maß seines Vertrauens auf den Stand unserer Rüstungen, resp. auf die Zeit, deren dieselben bei der aufgetauchten Kriegsgefahr noch bedürfen würden«. Moltke erklärt schnellen Ausbruch für vorteilhafter als Verschleppung. Darauf nimmt Bismarck seinen Riesenbleistift und kürzt in Gegenwart seiner Gäste die unlesbare Depesche für die Öffentlichkeit auf folgende Fassung:

»Nachdem die Nachrichten von der Entsagung des Erbprinzen von Hohenzollern der Kais. Franz. Regierung von der Kgl. Spanischen amtlich mitgeteilt worden sind, hat der Französische Botschafter in Ems an S. M. den König noch die Forderung gestellt, ihn zu autorisieren, daß er nach Paris telegraphiere, daß S. M. der König sich für alle Zukunft verpflichte, niemals wieder seine Zustimmung zu geben, wenn die Hohenzollern auf ihre Kandidatur wieder zurückkommen sollten. S. M. der König hat es darauf abgelehnt, den Französischen Botschafter nochmals zu empfangen, und demselben durch den Adjutanten vom Dienst sagen lassen, daß S. M. dem Botschafter nichts weiter mitzuteilen habe.«

In dieser Fassung ist nicht ein Wort erfunden, einiges weggelassen, nichts hinzugesetzt, es wird sogar die scharfe Wendung: »nichts weiter zu sagen habe« abgeschwächt in die höflichere Form »nichts weiter mitzuteilen«. Die Publikation an Gesandte und Presse aber, an der die ungeheure Wirkung hing, ist vom König erfunden, empfohlen, im Grunde befohlen worden. Schon hört der Redakteur der Depesche ihre Übersetzung heraus, er hört sein »Refusé« in Extrablättern auf den Boulevards. Und doch ist hier nichts gefälscht, aber alles komprimiert: aus einem langen, formlosen Ballon, der zu wenig Gas und sich deshalb am Boden hielt, ist durch Abschnürung eines Teiles ein kleiner runder geworden, der schnell in die Luft steigt, um tausend Blicken sichtbar zu werden. In dieser Fassung ist nur die Antwort nachgeholt worden, die Bismarck mit Recht dem Franzosen gegeben und mit der er ihn zu Krieg oder Unterwerfung gezwungen hätte. Nannte Liebknecht diese Depesche später »ein Verbrechen, wie die Geschichte ein zweites kaum gesehen«, so lag das Verbrechen in einer Gesellschafts- und Staatsform, die zwei oder drei Männern ermöglichte, Kriege zu entzünden, ohne ihre Völker zu befragen.

Auch seinen König wollte Bismarck überrumpeln; an ihn denkt er in der Schnelligkeit dieses Entschlusses, der wieder, wie in seinem ganzen Leben, eine jahrelange Gedankenkette abschließt: den König will er auf sein Wort festlegen, den morgen seine Frau und übermorgen sein Sohn zum Frieden beraten wird. Faktisch macht Bismarck mit dieser Depesche den Krieg unvermeidlich, ohne seinen Herrn auch nur gefragt zu haben; wie kriegerisch aber der König momentan gewesen, zeigt eine zweite Emser Depesche, abgegangen, als die erste schon in die Welt gesandt war: darin wurde noch eine dritte Ablehnung des Besuches von Benedetti vom selben Tage gemeldet, wobei es hieß: »Was S. M. heute morgen gesagt, wäre Allerhöchst sein letztes Wort in jener Sache, und er könne sich lediglich darauf berufen«: bis in die Worte hinein Bismarcks Fassung nachträglich bestätigend!

Dieser handelt logisch, nachdem ihm der Feldherr die Gunst der Stunde bekräftigt, und nachdem die Entwicklung der letzten Jahre den Krieg als unvermeidlich erwiesen hat, wofern man überhaupt Deutschland will. Da er als Psycholog die Hälfte des Erfolges von der Stimmung Europas abhängig weiß, erkennt und ergreift er diese Konstellation als die denkbar beste, um nicht nur im Grund, um auch im Anlaß der Geforderte zu scheinen. Und wenn dem Nachgebornen die vernünftige Einigung einer Nation überhaupt einen Krieg wert scheint, so konnte der Nachbar moralisch in keiner schlechteren Stellung zu einem Kampf genötigt werden, mit dem er in jedem Falle diese Einigung verhindern wollte.

Vor allem aber fand Bismarck an diesem Nachmittag ein Motiv und eine Situation, die auch den letzten frankophilen Bayern und borussophoben Württemberger zu jenem gemeinsamen Zorn entflammen konnte, den Bismarck brauchte. Drei Tage später hat der Volksmund die Brunnen-Promenade des friedlichen alten Königs und den bösen Welschen nachgeschaffen, der ihm im Boskett auflauerte wie ein Attentäter. Dies alles hat Bismarcks Blick in einem Augenblick vorausgesehn, als er vor 6 Uhr die Depesche redigierte, um vor Mitternacht in allen Hauptstädten Europas das furchtbare Geschoß zur Entladung zu bringen.

XVII

Eine Woche später betonten die Thronreden in Berlin und Paris synonym, der Feind habe der Nation das Schwert in die Hand gezwungen, Gott, der mit unsern Vätern war, würde auch mit uns sein usw.; beide Parlamente schlugen an die Waffen ihrer Wähler, bewilligten deren Geld, schnaubten Wut, ohne den Gegner zu kennen oder gar zu hassen. Aber zum erstenmal in der neuen Geschichte erhoben sich in diesen Julitagen in beiden Ländern Menschen, vorläufig mehr Gruppen als Massen, gegen den Krieg. An die Arbeiter aller Nationen wandte sich ein Pariser Aufruf: »Krieg wegen einer Frage des Übergewichts oder wegen einer Dynastie kann in den Augen aller Arbeiter nichts sein als eine verbrecherische Torheit«; und eine Menge Adressen rief ein Gleiches. Aus sächsischen und bayrischen Versammlungen kam das Echo übern Rhein zurück; nur in Preußen wagte sich niemand vor, und in Berlin durfte der sozialistische Redner nur die Franzosen gegen Napoleon in Schutz nehmen und deshalb den Krieg gegen den Kaiser empfehlen. Dann erklärte der Generalrat der Internationale, der deutsche Verteidigungskrieg müsse vom Arbeiter mitgekämpft, dürfe aber nicht bis zur Offensive geführt werden.

Dies Gefühl des französischen Angriffs bestimmte auch die Radikalen in den Kammern: in Paris stimmten nach Thiers und Gambettas feurigen Reden 10 Mann gegen die Kriegskredite, in Berlin enthielten sich Liebknecht und Bebel der Abstimmung, um weder Bismarcks noch Napoleons Politik zu verteidigen. Diese Haltung wurde in der sozialistischen Partei selbst umstritten, zuerst schrieb man: »Napoleons Sieg bedeutet die Niederlage der Arbeiter in Europa und völlige Zerstückelung Deutschlands ... Unser Interesse erheischt Napoleons Vernichtung, denn es steht in Harmonie mit den Interessen des französischen Volkes.« Drei Tage später hieß es im selben Volksblatt: »Mag sich deutscher und französischer Zäsarismus in Begleitung des Geldprotzentums allein schlagen: wir Proletarier haben mit dem Krieg nichts gemein!« Am nächsten Tage erklärte ein Manifest das Gegenteil. Bald sprach man in den Parteien von der Monarchie Liebknecht, obwohl grade er für Ablehnung der Kredite gewesen, und spaltete sich nicht nur international.

Mit europäischem Weitblick schrieb Karl Marx an Engels schon in den ersten Tagen: »Das Singen der Marseillaise Parodie wie das ganze Zweite Kaiserreich ... In Preußen sind solche Faxen nicht nötig: Jesus meine Zuversicht, gesungen von Wilhelm I., Bismarck zur Rechten und Stieber (Polizeichef) zur Linken, ist die deutsche Marseillaise. Der deutsche Philister scheint förmlich entzückt, daß er seiner eingebornen Servilität jetzt ungeniert Luft machen kann. Wer hätte es für möglich halten sollen, daß 22 Jahre nach Achtundvierzig ein Nationalkrieg in Deutschland solchen theoretischen Ausdruck besitzen würde!« Aber das Zwiegespräch der beiden Exilierten blieb noch ohne Echo.

Europa fühlte mit Frankreich und fürchtete Preußen. Um England umzustimmen, läßt Bismarck in den Times jenen Vertrags-Entwurf faksimilieren, den er sich während des Luxemburger Handels von Benedetti ausgebeten, und in dem Napoleon die deutsche Einheit zulassen, dafür aber Belgien einstecken wollte. Benedetti antwortet öffentlich, die Idee stamme von Bismarck, die Niederschrift sei sein Diktat. Bismarck repliziert, er habe mit Napoleon öfters davon gesprochen, und hätte er es jetzt nicht publiziert, so hätte ihm der Kaiser nach Vollendung der Rüstungen, an der Spitze einer Million gewappneter Streiter, dem bisher unbewaffneten Europa gegenüber sicher vorgeschlagen, sich auf Kosten Belgiens wieder zu vertragen: so wie es Bismarck selber vor dem ersten Schuß im Jahre 66 Östreich vorgeschlagen hatte.

Der Hauptpunkt ist bei Benedetti richtig, und wenn ihm Europa glaubt, so zeigt das nur, daß man Bismarck die Verschlagenheit zutraute, mit der er hier zu Werke ging. »Die Sache hat nur das Gute, resümierte damals Engels, daß jetzt der ganze Dreck an den Tag muß, und dann, daß zwischen Bismarck und Bonaparte die Mogelei jetzt am Ende ist.«

Was aber niemand in Deutschland wußte, und was erst im Jahre 1926 in der Korrespondenz der Königin Victoria ans Licht kam, ist Undank und Tücke, mit denen nicht nur bei Kriegsbeginn Victoria von Preußen, die immerhin englisch geboren war, sondern auch ihr Mann das eigene Vaterland aus blindem Haß gegen dessen Führer zu schädigen wußte. Der Kronprinz war nach dem Kriege nach England gefahren, die Königin schreibt in ihr Journal:

»Osborne, 31. Juli 71: Den guten Fritz gesehen und mit ihm über den Krieg gesprochen. Er ist so gerecht, freundlich und gut und hat den intensivsten Abscheu vor Bismarck, sagt, er sei ohne Zweifel energisch und schlau, aber schlecht, habe keine Grundsätze und sei allmächtig, er sei der wirkliche Kaiser, was Fritz' Vater gar nicht lieb sei, wogegen er aber nichts tun kann. Und was den Vertrag betrifft, den Bismarck veröffentlicht hat, und von dem er behauptet, Benedetti habe ihn ihm vorgeschlagen, so meint Fritz, daß er mindestens ebensosehr Bismarcks wie des Kaisers Napoleon Werk gewesen sei. Er habe das Gefühl, sagt er, daß sie auf einem Vulkan lebten und daß es ihn nicht überraschen würde, wenn Bismarck versuchte, England eines Tages mit Krieg zu überziehen!« Das war der Dank vom Erben Hohenzollern an den Mann, der ihm die heißersehnte Kaiserkrone sechs Monate vorher errungen hatte!

Wieder, wie Anno 66, geht sogleich alles zu Bismarcks Politik über, als die Kanonen, die er nicht gerichtet, ihm recht zu geben scheinen; wieder, wie am Abend von Königgrätz, hätte nach der ersten Schlacht jener Offizier ihn anreden können: Da die Attacke gelungen ist, sind Sie ein Genie; wäre der Feind über den Rhein gedrungen, so wären Sie der größte Verbrecher!

Auch diesmal muß der Staatsmann schon nach wenigen Wochen eingreifen. Als in der Nacht nach der Schlacht von Sedan der unglückliche Wimpffen von Moltke Schonung der Armee erbittet und rät, die Nation durch Großherzigkeit zu verpflichten, nimmt Bismarck das Wort: »Man kann auf die Erkenntlichkeit eines Fürsten bauen, nicht auf die eines Volkes, am wenigsten auf die der Franzosen. Ihnen fehlen alle dauerhaften Verhältnisse, unaufhörlich wechseln Regierungen und Dynastien, von denen die eine nicht zu halten braucht, was die andere versprochen hat. Die Franzosen sind ein eifersüchtiges Volk, sie haben uns Königgrätz übelgenommen, obwohl es ihnen doch nichts geschadet hat: wie sollte irgendeine Großmut sie bewegen, Sedan uns zu verzeihen!« Man fordert Übergabe der ganzen Armee ohne Waffen und Fahnen.

Mit dieser nächtlichen Hartnäckigkeit beginnt Bismarck seine Politik gegen die Republik Frankreich, deren morgige Ausrufung er leicht voraussehen kann, und wird sie in den Verhandlungen der nächsten sechs Monate kaum ändern. Es ist eine unerbittliche, reine Siegerpolitik, in allem unterschieden von der von Nikolsburg. Von den Gründen hat er einen, die Unbeständigkeit der Pariser Regierung, heut nacht schon genannt, andere werden folgen. Diese Politik führt ihn zur Annexion von Lothringen und hat unermeßliche Folgen.

Als er am 2., sehr früh, zu Napoleon gerufen wird und ihn auf der Landstraße trifft, umgeben von Offizieren zu Pferde und im Wagen, »hatte ich meinen Revolver umgeschnallt, und wie ich mich ihm und den sechs Offizieren allein gegenübersah, mag ich unwillkürlich einen Blick nach dem hingetan haben. Vielleicht, daß ich auch instinktartig danach gegriffen habe: das wurde vermutlich vom Kaiser bemerkt, denn er wurde aschfahl.« In dieser Sekunde sind beide Charaktere, zugleich ist ihre Begegnung wie in ein Epigramm gefaßt: Der Sieger sieht sich plötzlich dem Feinde leibhaftig gegenüber, einer gegen sechs, und greift in natürlicher Regung nach dem Revolver, den er auf alle Fälle mit hat; der Besiegte, in seinem Wagen, sieht es und wird bleich; beide wissen, daß hier keiner schießen wird, und doch reagieren beide instinktiv, als könnte es in jedem Momente knallen.

Nach diesem Augenblick ist das Gespräch, das beide in einem armen Weberstübchen an der Straße führen, von geringem Belang; Bismarck, ritterlich und vorsichtig, hat es später ein Kotillon-Gespräch genannt und sich auf alle Fälle mit dem Kaiser zu spät dahin geeinigt, daß beide den Krieg nicht wünschten. Der große Hasser empfindet in dieser Stunde nichts von der Wollust der Rache, die er in andern Lagen genossen; es war ja nicht Gramont, der da vor ihm saß und leidend seine Ohnmacht beklagte, es war Napoleon, den er schon vor anderthalb Jahrzehnten als nicht bedeutend, aber gutmütig bezeichnet, den er nie: gehaßt, zuweilen gefürchtet, immer aber zu gewinnen getrachtet hat: jetzt mochte er ihn wie eine lang umworbene, spät eroberte Frau anschauen, der man nur noch Mitgefühl entgegenbringt.

Im Grunde war ihm dieser gefangene Kaiser unbequem, und er hat schon am Abend der Schlacht nach Napoleons Übergabe mit seinem pfeilschnellen Denken gesagt: »Dann ist der Friede in weite Ferne gerückt.« Ja, er erschrickt so sehr über die Wendung, daß er, ganz wie nach Königgrätz, jeden weiteren Vormarsch widerrät, nur das schon besetzte Frankreich als Faustpfand zu behalten wünscht! Denn das Heer des Feindes sei vernichtet, gefangen oder hoffnungslos zerniert, die führerlose Nation würde sich in Parteien zersetzen und aus Schwäche nachgeben. Hätte Bismarck diesen Gedanken durchgesetzt, heut wie vor vier Jahren, er hätte die Staatskunst von Nikolsburg gekrönt. Aber wenn es schwer war, König und Generale von Wien fernzuhalten, so wurde das jetzt, im Angesichte von Paris, unmöglich. Diesmal war der Generalstab auf solche Laien-Tollheiten vorbereitet, und der Zivilist wußte, wie vergebens er inzwischen General geworden. Als Bismarck in den Zug gestiegen war, um nach der Front zu fahren, hatte er aus dem offenen Halbkupee Podbielskis Erklärung gehört: »Diesmal ist also dafür gesorgt, daß uns Bismarck nicht wieder dreinredet!«

Vor allem aber drängte ihn jetzt der Ruf des gesamten Deutschlands, das damals die Einnahme von Wien mehr fürchtete als wünschte: plötzlich forderte die Presse das Elsaß »zur Sicherung vor künftigen Überfällen des Erbfeindes«.

Nur die Sozialisten erklärten mit dem Sturze Napoleons den Krieg für beendet. Am 4. September war in Paris die Republik, am 5. in vielen deutschen Massenversammlungen die Sympathie mit dieser Republik ausgerufen worden, und von nun an schrieb die Arbeiterpresse über jede Nummer: Gerechter Friede mit Frankreich! Keine Annexion! Bestrafung Bonapartes und der Mitschuldigen! Zugleich wurde ein Manifest von Karl Marx durch ganz Deutschland verbreitet, in dem er aus einer Annexion des Elsaß die »tödliche Verfeindung beider Länder, einen Waffenstillstand statt eines Friedens« prophezeite. Darauf ließ irgendein General im Hinterlande den Ausschuß der Partei verhaften und in Ketten auf eine Festung schleppen; als auch Johann Jacoby verhaftet wurde, der in Königsberg eine Rede gegen Annexionen gehalten, rührten sich die alten Demokraten. »Das Elsaß-Lothringen-Gelüst, hatte Marx schon Mitte August geschrieben, scheint in zwei Klassen vorzuherrschen, in der preußischen Kamarilla und im süddeutschen Bier-Patriotismus. Es wäre das größte Unglück, welches Europa und ganz spezifisch Deutschland treffen könnte ... Die Preußen hätten doch aus ihrer eignen Geschichte lernen sollen, daß man ewige Sicherheit gegen den geschlagenen Gegner nicht durch dismemberment usw. erreicht.« Dies alles aber schien zuerst auch Bismarck zu glauben:

»Das deutsche wie das französische Volk – so hatte er in der Thronrede bei Ausbruch des Krieges bekräftigt –, beide die Segnungen christlicher Gesittung und steigenden Wohlstandes gleichmäßig genießend und begehrend, sind zu einem heilsameren Wettkampf berufen als zu dem blutigen der Waffen. Doch die Machthaber Frankreichs haben es verstanden, das wohlberechtigte, aber reizbare Selbstgefühl unseres großen Nachbarvolkes durch berechnete Mißleitung für persönliche Interessen und Leidenschaften auszubeuten.« Klarer und vornehmer konnte kein Weltbürger am ersten Tag eines Krieges zum Feinde, zugleich zu Europa reden, deutlicher hat nie ein Staatsmann die Nation von ihrer Regierung abgetrennt. Das einzige, woran Bismarck im Drange dieser Stunde nicht gedacht haben mag, war ein so rascher Zusammenbruch von Napoleons Herrschaft und Person, und wenn er ihn für möglich hielt, so vergaß oder mißachtete er doch den Eindruck solchen Wechsels auf einen Teil seiner eigenen Mitbürger.

Noch mehr! Mitte August, als König Wilhelm Frankreichs Boden betrat, begann Bismarck seine Proklamation: »Nachdem der Kaiser Napoleon die deutsche Nation, welche wünschte und noch wünscht, mit dem französischen Volke in Frieden zu leben, zu Wasser und zu Lande angegriffen hat ...«; zugleich erließ Friedrich Karl einen Armeebefehl: »Das französische Volk ist nicht gefragt worden, ob es mit seinem Nachbar einen blutigen Krieg führen wollte, ein Grund zur Feindschaft ist nicht vorhanden.«

Doch nun? Als 5 Wochen mich diesen Manifesten der erste republikanische Minister des Äußeren ins Hauptquartier des Siegers tritt, um Waffenstillstand zur Wahl einer Nationalversammlung zu erbitten: darf da Jules Favre nicht hoffen, daß diese resolute Unterscheidung zwischen Napoleon und seinem Volke mehr als eine Phrase war? Dürfen die Gegner dieses Krieges in beiden Ländern nicht mit der Anerkennung einer friedlichen Gesinnung rechnen, die jenes Volk durch Sturz der alten, kriegslustigen Regierung und Erhebung ihrer Gegner zur Macht, durch plötzlich radikalen Umsturz des Kaiserreichs zur Republik bewies? Waren es nicht Thiers und Favre, die damals am entscheidenden Tage mit ihren Freunden den Krieg verurteilt, das Geld verweigert und die nun die Führung der Republik übernommen hatten?

Aber die Realität darf sich nicht ohne weiteres erlauben, eine Theorie zu verwirklichen, und man hat nicht ungestraft ein halbes Dutzend Schlachten gewonnen. Derselbe Bismarck, der in der Thronrede das große Nachbarvolk wegen seiner Mißleitung für persönliche Interessen bedauert und in dem Manifest erklärt hat, wir wünschten noch heute mit ihm in Frieden zu leben, sagt jetzt in zwei Rundschreiben an alle Gesandten, die ganze Nation sei für den Eroberungskrieg verantwortlich. Und als Favre ihm erklärt, wir haben den Kriegskaiser weggejagt, wollen Frieden und bieten Entschädigung an, da erwidert Bismarck, zu dem sich auch ein abenteuerlicher Unterhändler der Kaiserin Eugenie durchgeschlagen:

»An der Form Ihrer Regierung liegt uns nichts. Finden wir Napoleon unseren Interessen günstig, so werden wir ihn nach Paris zurückführen ... Wäre ich sicher, daß Ihre Politik die Frankreichs ist, so würde ich den König bewegen, sich zurückzuziehen, ohne ein Stück Land oder einen Heller zu fordern. Aber Sie stellen nur eine verschwindende Minderheit dar, wir haben keine Gewähr, weder bei Ihnen noch bei einer Regierung, die nach Ihnen kommt. Wir müssen an unsere Sicherheit in der Zukunft denken und werden das ganze Elsaß und ein Stück Lothringen mit Metz fordern.«

Da steht Jules Favre, Pariser Advokat, das feine Gesicht mit der dicken Lippe blaß, der große Bart in Unordnung, nimmt seinen »staubigen Überzieher und seinen zerknitterten Hut« und erklärt: »Kein Stein aus unseren Festungen!« Und doch gefällt ihm der böse Bismarck, er nennt ihn »imposant und hart, was aber durch eine natürliche, fast gutmütige Einfachheit gemildert wurde. Er empfing mich höflich und ernst, frei von jeder Affektation und Steifheit, nahm sogleich eine wohlwollende und aufgeschlossene Miene an und behielt sie bis zum Schlüsse.«

Entscheidende Dinge, für ein halbes Jahrhundert gefährlich, gehen von dieser verwandelten Stimmung Bismarcks aus, denn daß er mit einem friedlichen König trotz aller Generale allein bestimmen konnte, wird die Geschichte der nächsten Monate bekräftigen. Daß er zur Sicherung des Reiches und des Friedens Elsaß und Lothringen fordert, zeigt eine Verdunkelung seiner eigenen, tieferen Erkenntnisse. Es ist erst ein Jahr, da sagte er im vertraulichsten Gespräch zu Keyserling:

»Und schließlich, wenn Preußen siegte, wozu würde es führen? Wenn man auch das Elsaß gewänne, müßte man es behaupten, Straßburg immer besetzt halten. Das ist aber unmöglich, denn schließlich würden die Franzosen doch wieder Bundesgenossen finden, – und dann könnte es schlimm werden!«

Der Gedanke von Karl Marx: Waffenstillstand statt Frieden! Den Krieg hatte Bismarck kommen sehn und dies nicht ungern, weil sein einziges Kriegsziel damals die Vollendung des Reiches war. Nie haben sich Bismarcks Gedanken und Wünsche gegen einen Nachbar gerichtet, nur weil er unruhig auftritt. Seit 55 Jahren hat dieser Nachbar den letzten Einzug der Deutschen halb vergessen, erst seit 4 Jahren hat ihn das Wachstum Preußens nervös gemacht. In keiner seiner Denkschriften und Reden, in keinem Privatbrief oder Gespräch seit 20 Jahren ist dies Motiv bei Bismarck zu finden, nirgends taucht die Phrase vom Erbfeind auf! Er liebt die Franzosen nicht, aber wen liebt er überhaupt? Jetzt erst, plötzlich, ganz unverhofft nach seinen letzten Proklamationen, entwickelt er vor sich selber das Kriegsziel einer Sicherheit des Reiches, das erst durch diesen Krieg entstehen soll. Ein völliger Umschlag seiner weltpolitischen Grundstimmung: mit einem Male wird Bismarck, der Architekt, zum Eroberer.

Warum aber, fragt Europa, werden diese Länder nicht neutral, wie sie es selber wünschen? »Es wäre dann, erwidert Bismarck später im Reichstag, eine Kette von neutralen Staaten hergestellt gewesen, von der Nordsee bis an die Schweizer Alpen, die es uns allerdings unmöglich gemacht haben würde, Frankreich zu Lande anzugreifen, weil wir gewohnt sind, Verträge und Neutralitäten zu achten. (Zwischenruf: Sehr gut!) ... Frankreich hätte einen schützenden Gürtel gegen uns bekommen, wir aber wären, solange unsere Flotte der französischen nicht gewachsen ist, zur See nicht gedeckt gewesen. Es war dies ein Grund, aber nur in zweiter Linie.« Der Hauptgrund: Belgien und die Schweiz wollen unabhängige, neutrale Staaten bleiben, nicht aber Elsaß und Lothringen ... »sondern es ist zu erwarten, daß die starken französischen Elemente, welche im Lande noch lange zurückbleiben werden, die mit ihren Interessen, Sympathien und Erinnerungen an Frankreich hängen, diesen neutralen Staat ... bei einem neuen französisch-deutschen Kriege bestimmt haben würden, sich Frankreich wieder anzuschließen ... Es blieb daher nichts anderes übrig, als diese Landstriche mit ihren Festungen vollständig in deutsche Gewalt zu bringen, um sie selbst als ein starkes Glacis Deutschlands gegen Frankreich zu verteidigen, und um den Ausgangspunkt etwaiger französischer Angriffe um eine Anzahl von Tagemärschen weiter zurückzulegen.«

»Der Verwirklichung dieses Gedankens ... stand in erster Linie die Abneigung der Einwohner selbst entgegen ... Es waren anderthalb Millionen Deutsche, die alle Vorzüge des Deutschen in einem Volke, das andere Vorzüge hat, aber gerade nicht diese, zu verwerten imstande waren; sie hatten durch ihre Eigenschaften eine bevorzugte Stellung ... Es liegt dabei im deutschen Charakter, daß jeder Stamm sich irgendeine Art von Überlegenheit, namentlich über seinen nächsten Nachbarn vindiziert; hinter dem Elsässer und Lothringer, solange er französisch war, stand Paris mit seinem Glänze und Frankreich mit seiner einheitlichen Größe. Er trat dem deutschen Landsmann gegenüber mit dem Gefühle: Paris ist mein! ... Tatsache ist, daß diese Abneigung vorhanden war, ... und daß es unsere Pflicht ist, sie mit Geduld zu überwinden. Wir Deutsche haben viele Mittel. Wir haben im ganzen die Gewohnheit, mitunter etwas ungeschickter, aber auf die Dauer doch wohlwollender und menschlicher zu regieren als die französischen Staatsmänner (Heiterkeit) ... Aber wir dürfen uns nicht schmeicheln, sehr rasch an dem Ziele zu sein, daß im Elsaß die Verhältnisse sein würden wie in Thüringen, in bezug auf deutsche Empfindungen.«

Durch all diese maßvoll gerechten Erwägungen hört man die Sorge des Staatsmannes, und wenn er es wagt, nach siegreichem Frieden vor seiner Nation vom Siegespreise zu sagen, mir blieb nichts übrig, als ihn zu nehmen, so zeigt dies noch einmal alle Bedenken an, die er zu überwinden hatte. Warum aber nahm er sie? Noch nach Jahren wird er Vertretern der neuen Provinzen versichern, daß er sie widerwillig, nur den Militärs gehorchend, nahm.

Die Gründe liegen zunächst in der Stimmung des Heeres und in der militärischen Stimmung: große Schlachten, schwere Verluste, ein schlechtgerüsteter Gegner, Festungen, die sich meist nicht lange halten, ringsum nichts als siegestrunkene Fürsten und Generale; dazu trat eine entschiedene Aversion gegen den Hochmut eines Volkes, das keinen gleich mächtigen Nachbar dulden wollte. Schließlich eine deutschnationale Erwägung: die Ungedecktheit gegen Frankreich, hatte der König von Württemberg ihm einmal erklärt, würde für Süddeutschland immer ein Hindernis vor der Einigung bilden. »Der Keil, so formuliert er selber im Reichstage, den die Ecke des Elsaß bei Weißenburg in Deutschland hineinschob, trennte Süddeutschland wirksamer vom Norden als die politische Mainlinie.« Doch diese einzige realistische Erwägung bezog sich nur auf das Elsaß und nur auf einen Teil davon.

Dabei lachte er über die alldeutschen Phrasen, mit denen sich das Hinterland moralisch echauffierte: »Was wir brauchen, sind die Festungen; das (deutsch gewesene) Elsaß ist Professorenidee.« Er wußte, daß das Elsaß wesentlich durch die Haltung des Großen Kurfürsten gegenüber Ludwig XIV. verloren gegangen war, daß also grade die Hohenzollern die geringsten Ansprüche darauf hatten. Auch erkannte er sofort die Gefahr der Annexion von Lothringen, denn er sagte schon am 6. September: »Mir ist die Erwerbung von Lothringen unerwünscht, aber die Generale halten Metz für unerläßlich, da es den Wert von 120 000 Mann repräsentiert«, und gleich darauf amtlich zu einem englischen Diplomaten: »Wir tragen kein Verlangen nach Elsaß oder Lothringen, Frankreich mag diese Provinzen unter Bedingungen behalten, die sie zu Stützpunkten in der Kriegsführung gegen uns unbrauchbar machen; was wir haben müssen, das ist Straßburg und Metz.«

Aber der tiefste Grund, mit dem sich Bismarck diese ihm gefährlich scheinende Annexion abrang, war der Gedanke an das Reich, das eben entstehen sollte. Nur in »gemeinsamem Zorne« schienen ihm die starren Gemüter flüssig und biegsam zu werden; nun war auch ein Pfand da, der junge Besitz der Verbündeten, und er schloß, daß dieser gemeinsam zu erziehende Sprosse die gefälligste Nötigung zur Ehe abgeben könnte.

Am Tage von Sedan sagte Delbrück, sein Vertrauter, das Wort: »Aus dem Reichslande erwächst das Reich.«

XVIII

Mit der Ruhe des Meisters nähert sich Bismarck seinem Reiche. Als man nach der ersten Schlacht, in der Preußen neben Bayern fielen, in Berlin schrieb, Wilhelm müsse Kaiser werden, da läßt er dem bayerischen Gesandten seine Entrüstung erklären, niemand dächte daran, Bayerns Selbständigkeit zu schmälern, »vielmehr bewahren wir ewige Dankbarkeit dem herrlichen Bundesgenossen. Die Einheit Deutschlands braucht man nicht zu suchen und zu machen, sie ist schon da«. Als die reichste Firma von den kleineren sich bitten zu lassen: diese Politik wird er zunächst drei Monate treiben. Nach Dresden schickt er Delbrück, um Vorschläge nur entgegenzunehmen, den Württembergern sagt er: Wir erwarten Ihr Anerbieten. Er war entschlossen, alle Stimmen anzuhören, und dann zu tun, was er für richtig hielt.

Und wirklich, als das Volk der Individualisten dazu schritt, sich zusammenzutun, hatte jeder ein anderes Mittel bereit: alle Stämme und Stände, alle Parteien, schließlich alle Träger von »Weltanschauungen« bekämpften sich, entschlossen, lieber gar kein Deutschland, als das nach dem Rezept des Nachbarn zu errichten. Die nationalen Preußen wollen ein deutsches Fürstentum unter Hohenzollern, die Liberalen wollen dies nur bei voller Souveränität des Volkes, der König will überhaupt nichts von Kaiser und Reich wissen, nur den Ausbau der Heeresverträge, der Kronprinz will das Kaisertum und Unterwerfung seiner Vettern unter die Kaiserkrone. Nur in Baden wollen Fürst und Volk das Reich unter Preußen, in Bayern will die Regierung einen süddeutschen Bund mit Östreich, während die großen Städte in den Nordbund eintreten und der König am liebsten gar nichts hören möchte. In Württemberg intrigiert die Königin gegen Preußen, die Liberalen wollen den Eintritt nur in ein demokratisches Norddeutschland, in Hessen schlägt der mächtige Minister eine Verfassung vor, wie er sie nicht will, nur weil sie der Kanzler auch nicht will, um so das ganze gleich zu verwirren. Schließlich fährt alles nach Versailles, denn dort sitzt Bismarck am Ofen und bereitet in der Phiole den Homunkulus.

Träger der Zukunft, zumal der erste Kaiser Mitte Siebzig war, und so in gewissem Sinn die wichtigste Figur war der Kronprinz von Preußen; seit Kriegsbeginn hatte Bismarck mit ihm die schwersten Differenzen. Preußen in Deutschland aufgehen lassen, den Deutschen Fürsten nur Titel, Ehrenrechte und ein Oberhaus lassen und geben, den Hohenzollern die Kaiserkrone und Gewalt, einem Reichsministerium die Regierung, verantwortlich dem Reichstag: das war des Kronprinzen romantisch-dynastisch-demokratischer Reichstraum; er hatte ihn schon Mitte August beim Vormarsch in einem Vogesendorf dem vertrauten Gustav Freytag vorgetragen: »Da brach er stark heraus, und seine Augen leuchteten: Nein, er muß Kaiser werden!« »Betroffen sah ich auf den Herrn, berichtet Freytag, er hatte seinen Generalsmantel so umgelegt, daß er wie ein Königsmantel seine hohe Gestalt umfloß, und auch die goldene Kette des Hohenzollern umgeschlungen, die er doch sonst in der Ruhe des Lagers nicht zu tragen pflegte, und schritt gehoben auf dem Dorfanger dahin. Offenbar hatte er, erfüllt von der Bedeutung, die der Kaisergedanke für ihn hatte, auch sein Äußeres der Unterredung angepaßt.«

Vergebens hatte ihn der Freund und Dichter gewarnt, ihm alle Gefahren und sogar dies prophezeit: »Der einfache blaue Rock der Hohenzollern wird zuletzt nur noch als altertümliche Erinnerung vorgeholt werden ... Bei der Steigerung des Wohlstandes ist es ja jetzt schon schwer, in den Offizierskasinos die alte Zucht und Einfachheit zu erhalten, für die Zukunft wird das nur möglich, wenn unsere Fürsten unablässig ein gutes Beispiel der Einfachheit geben ... Und wie bisher, so wird auch im Volk ein höfisches und serviles Wesen sich einschleichen, das unserer alten preußischen Loyalität nicht eigen war ... Jede Einseitigkeit ruft auch ihren Gegensatz hervor, und durch unser Jahrhundert geht eine starke demokratische Unterströmung. Wird einmal durch große Unfälle und ein Mißregiment im Volke Unzufriedenheit verbreitet, dann drohen auch den altheimischen regierenden Familien Gefahren. Schon jetzt sind unsere Fürsten in der Lage, gleich Schauspielern auf der Bühne, zwischen Blumensträußen und lautem Beifall begeisterter Zuschauer dahinzuwandeln, während in der Versenkung die vernichtenden Dämonen lauern!«

Der Kronprinz hörte Freytag zu; am Ende dieser großartigen Vision brach er lebhaft heraus: »Hören Sie an!« Und nun kommt, als Antwort auf so bedeutende Warnungen nichts, als daß König Wilhelm, von Napoleon befragt, wie er auf der Pariser Ausstellung die Rangfrage gegenüber dem Zaren lösen solle, dem Zaren der Vorrang zuerkannt habe: »Das soll kein Hohenzoller mehr sagen! Das darf für keinen Hohenzollern mehr gelten!« schloß der Kronprinz heftig. »Diese Worte, endet Freytag, gestatteten tief in sein Gemüt zu sehen, er war erfüllt von dem fürstlichen Stolze ..., so daß alles weitere Einreden nichtig sein mußte.« Und durch ein Dutzend anderer Szenen bekräftigt der Dichter diese Gefühle des Prinzen.

Nach Sedan stellt der Kronprinz an Bismarck die Kaiserfrage, dieser weicht aus; sobald sie aber nach Versailles kommen, bringen diesen Neffen Friedrich Wilhelms IV. die Prunkgemächer des Sonnenkönigs darauf, »daß grade hier die Wiederherstellung von Kaiser und Reich gefeiert werden möchte«. Aber rasch resigniert er: »Ich hätte freilich früher mir vergegenwärtigen sollen, daß Graf Bismarck als ›unser großer Staatsmann‹ niemals eine wahre Begeisterung für die deutsche Frage gekannt hat ... Aber wenn nicht einmal infolge solcher Siege ... ihn das heilige Feuer ergreift, dann bleibt eben für unsereinen nichts übrig, als sich in das Unvermeidliche zu fügen, denn königlich preußische Beamte vermögen nun einmal nicht, sich über die Berliner Kleinstaaterei zu erheben ... Wehe aber über die, welche nicht einmal aus solchen gewaltigen Zeiten, wie den gegenwärtigen, die Wahrheit erkennen und überhaupt niemals lernen und klug werden wollen!«

So lautet das intime, dem Tagebuch anvertraute Urteil des preußischen Erben über den preußischen Minister, im Punkte des Deutschen Reiches. Der große Staatsmann, den er durch Anführungszeichen verspottet, ist ein königlich preußischer Beamter; wehe ihm, daß er nicht einmal aus den deutschen Kriegen etwas lernt! Dies Urteil aus dem Oktober 70 neben jenen Indiskretionen aus dem August 71 zeigen die Dekadenz der Dynastie in vollem Lauf, und der gute alte König, von dem Bismarck später sagt, auf seinen Schultern habe er ihn auf den Kaiserthron getragen, erscheint neben seinem Sohn als Held.

Bald darauf tritt der Erbe seinem Beamten persönlich entgegen: er fordert von ihm Drohung an die Südstaaten, sich endlich zum Anschluß zu bekennen, »und zwar ist gar keine Gefahr dabei im Spiele, wenn wir nur jenen Staaten unseren festen Willen zeigen wollen. Treten wir erst einmal entschlossen und gebührend auf, so werden Sie sehen, ... daß Sie sich Ihrer Macht noch gar nicht genügend bewußt sind!«

Bismarck: »Wir stehen mit unsern Bundesgenossen gemeinsam im Felde und können ihnen schon deshalb niemals drohen. Das würde diese Staaten nur in Östreichs Arme treiben.«

Kronprinz: – Darauf können wir es ankommen lassen! Nichts einfacher, als von den in der Mehrzahl hier anwesenden Fürsten den Kaiser ausrufen zu lassen und eine Verfassung einfach zu verkündigen! Diesen Druck würden alle Könige annehmen müssen!

Bismarck: »Zu solchen Schritten ist der König selbst nicht zu bringen.«

Kronprinz: – Wenn Sie nicht wollen, Exzellenz, so genügt das freilich, um eine Sache beim König unmöglich zu machen.

Bismarck: »Man muß die Entwicklung der Deutschen Frage jetzt der Zeit anheimstellen.«

Kronprinz: – Ich aber, der ich die Zukunft repräsentiere, kann solches Zaudern nicht gleichgültig ansehen!

Bismarck: »Der Kronprinz sollte dergleichen Ansichten nicht äußern.«

Kronprinz: – Ich verwahre mich auf das bestimmteste dagegen, daß mir auf diese Weise der Mund verboten wird. Es steht nur bei S. M., mir über Dinge, die ich besprechen dürfte oder nicht, Weisungen zu geben!

Bismarck: »Wenn der Kronprinz befiehlt, so werde ich nach seinen Ansichten handeln.«

Kronprinz: – Ich habe dem Grafen Bismarck keine Befehle zu erteilen und protestiere gegen diese Äußerung!

Bismarck: »Ich bin jederzeit bereit, jeder anderen Persönlichkeit Platz zu machen, die Sie zur Leitung der Geschäfte für geeigneter halten.«

Zu jeder Kritik war der Kronprinz berechtigt, zu Neigung nicht verpflichtet, sein Vater hatte einem Manne die Macht gegeben, dessen Staatsgedanken den seinigen zuwiderliefen, und wenn ein Teil des Bürgertums ein selbständigeres Deutschland wollte, so war ein Gleiches dem Erben der Krone nicht verwehrt: nur mußten seine Staatsgedanken erfahren, gefühlt, sie mußten ihm Religion sein. Daß sie nur aus der Überredung einer klügeren, von ihm bewunderten Frau kamen, deren Heimat ihm freilich imponieren durfte, daß dies blaue englische Gewebe nicht von ihm gesponnen war, zeigt der preußische Purpurfaden, mit dem es nachträglich überall durchschossen ist. Wenn dieser Hohenzoller sein Volk zur Mitregierung im englischen Stil aufrufen will, so ist er zugleich entschlossen, seine Standesgenossen, die Fürsten zu mediatisieren, bis auf Titel und Formen zu entmachten.

Herrschen will Friedrich Wilhelm, Purpur und Krone tragen und seine Frau tragen lassen, doch niemals primus inter pares sein, was doch grade sein Motto sein müßte: bedrohen und zwingen soll man diesen rebellischen Adel, zu dem sein Hochmut die deutschen Könige degradiert, und wenn er gegen Bismarck erklärt, dieser sei sich seiner Macht gar nicht genug bewußt, so trifft der Vorwurf grade diesen Beamten gewiß zum ersten Male, und man lächelt. Daß er seine Waffengenossen verrät, indem er die mit ihrer Hilfe errungene Macht nun gegen sie kehren will, das ficht diesen Offizier nicht an, in solcher Treulosigkeit ist er von seinem Vater völlig unterschieden. Wie viel echter erscheint neben diesem Pseudodemokraten der Junker Bismarck, der den »gott- und rechtlosen Souveränitätsschwindel der deutschen Fürsten« verspottete, am liebsten sie sämtlich absetzte, wie die von Hannover und Nassau, doch nicht um der Insignien, nur um der faktischen Macht willen, die er sich von keinem Reichstag schmälern läßt. In solchen Augenblicken, die die Charaktere enthüllen, werden die Zeiten »gewaltig«, nicht in Kanonaden und Attacken, wobei wir gar nicht von der Gewaltsamkeit eines schwachen Armes reden, die vor der Taktik einer mächtigen Intelligenz verschwand.

Und doch segelt das starke Genie gegen den Wind der Zeit, der blasse Erbe aber läßt sich von ihr treiben! Denn es ist derselbe Kronprinz, der sich am Silvesterabend das treffende Resumé notiert: »Zur Stunde will es scheinen, als seien wir weder geliebt noch geachtet, sondern lediglich gefürchtet. Man hält uns jeder Schlechtigkeit fähig, das Mißtrauen gegen uns steigert sich mehr und mehr. Das ist nicht die Folge dieses Krieges allein – so weit hat uns die von Bismarck erfundene und seit Jahren in Szene gesetzte Theorie von Blut und Eisen gebracht! Was nützt uns alle Macht, aller kriegerischer Ruhm und Glanz, wenn Haß und Mißtrauen uns überall begegnen ... Bismarck hat uns groß und mächtig gemacht, aber er raubte uns unsere Freunde, die Sympathien der Welt und unser gutes Gewissen. Ich beharre noch heute fest bei der Ansicht, daß Deutschland ohne Blut und Eisen, allein mit seinem guten Rechte, moralische Eroberungen machen und einig, frei und mächtig werden konnte ... Der kühne, gewalttätige Junker hat es anders gewollt. 64 haben seine Ränke und Intrigen den Sieg einer guten Sache geschädigt, 66 hat er Östreich zerschlagen, ohne Deutschland zu einigen ... Wie schwierig wird es sein, die blinde Anbetung der rohen Gewalt und des äußeren Erfolges zu bekämpfen und die Gemüter aufzuklären, Ehrgeiz und Wetteifer wieder auf schöne und gesunde Ziele zu lenken!«

Das ist die Sprache, die Aristides oder Lincoln ziemte, die hier und heute Freytag oder Liebknecht sprechen dürfte, nicht aber der Heerführer einer Armee, der die siegreichen Fahnen des Feldmarschalls Blumenthal unter seinem Namen flattern ließ, der seine verbündeten Vettern zur Unterwerfung zwingen, das Volk nicht befragen, die Verfassung einfach verkünden und dann den Hermelin mit Anmut und Würde tragen will, so, wie er es auf der Dorfwiese probierte. Zudem hat er die Historie des letzten Jahrzehntes nicht begriffen: denn warum war der dänische Krieg eine »gute Sache«, wenn die Herzogtümer nicht zu Preußen kamen? Wodurch ist Östreich zerschlagen worden, für dessen Erhaltung er selber Bismarcks Forderungen in Nikolsburg unterstützt hat? Warum verzögerte der Kanzler des Norddeutschen Bundes den Anschluß des Südens, den er vielmehr erst jetzt durch Blut und Eisen errang? Freilich konnte Deutschland ohne Waffen fertig werden! Nur hätten dann die Dynastien zumindest ihre Macht verloren, und dem Kritiker dieser Sylvesternacht wäre nichts übriggeblieben, als derselbe Hermelin, den 22 Vettern neben ihm trugen. Glückliches Schicksal eines Prinzen, den das überbiblische Alter seines Vaters zeitlebens vor der großen Probe aufs Exempel schützte und ihm in der Geschichte die Gloriole des unerprobten Idealisten schenken wird!

Entschlossen neben diesem Anti-Machiavell schreitet der große Realist seinem Staatsziele zu. Will der demokratische Kronprinz die Verfassung im Lager »ausrufen« lassen, so erwägt der reaktionäre Minister, den ganzen Deutschen Reichstag nach Versailles zu berufen, und erscheint dies zunächst nur als Drohung gegen die zögernden Fürsten, so ist er doch der Mann, die Drohung wahrzumachen: er läßt schon die Quartiere im Schloß auszählen. Indessen kommen und gehen die Minister der vier Südstaaten, Bayern allein beanstandet 22 Punkte des Entwurfes. Bismarck schlägt alles ab, die Minister reisen nach München, wieder steht alles still.

Jetzt gibt sich Bismarck den Anschein, als wolle er mit Baden und Württemberg allein abschließen, wozu besonders Baden bereit, aus dessen Pfalz sich Bayern vergrößern lassen will. Aber da erheben Post, Eisenbahn und Telegraphie ihre schnellen Stimmen, zugleich fordern die Militärs besondere Abzeichen, die deutsche Einheit droht an der Farbe eines Kragens zu scheitern. Die »wunderbar zarte Empfindung« rühmt jetzt ein badischer Minister an Bismarck, »womit er das kleinste Staatsinteresse nicht ohne Not verletzte, andrerseits über die bedeutendsten Bayerns zur Tagesordnung übergehen würde, wenn höhere Interessen des Reiches es verlangten.« Da er das Reich will, gibt er in Uniformen und andern Delikatessen nach, man einigt sich, bis auf Bayern scheint alles fertig: man will unterschreiben. Da mischt sich die Stuttgarter Königin hinein, eine Russin; unter Druck eines intriganten Barons läßt sie ihren schwachen Gatten abtelegraphieren: man wolle doch lieber auf Bayern warten. Bismarck, nach außen immer ruhig, denn er scheint niemand zu suchen, bricht unter den Seinen in Wut aus, wird krank und erwägt, die süddeutschen Massen gegen ihre Regierungen zu mobilisieren.

Jetzt sind die Bayern wieder geschwollen, und als sie zwei Wochen später aufs neue erscheinen, muß ihnen weit mehr eingeräumt werden: ein diplomatischer Ausschuß unter Bayerns Vorsitz wird in die Verfassung eingefügt, Post, Bahn und Telegraph, das Heer im Frieden werden selbständig, und als sie gar die Steuern auf Bier und Schnaps erzwingen, hat Bismarck schließlich, was er erstrebt: »ein zufriedenes Bayern«, das unterschreibt.

An diesem Novemberabend tritt, einen Becher in der Hand, nach der Konferenz Bismarck in den Salon und setzt sich zu seinen Mitarbeitern: »Der Bayerische Vertrag wäre fertig und unterzeichnet. Die deutsche Einheit ist gemacht und der Kaiser auch. Es ist ein Ereignis. Die Zeitungen werden nicht zufrieden sein, und wer einmal in der gewöhnlichen Art Geschichte schreibt, ... kann sagen, der dumme Kerl hätte mehr fordern sollen, sie hätten gemußt, und er kann recht haben, mit dem Müssen. Aber was sind Verträge, wenn man muß. Ich weiß, sie sind vergnügt fortgegangen. Der Vertrag hat seine Mängel, aber er ist um so fester, was fehlt, mag die Zukunft beschaffen ... Ich rechne ihn zum wichtigsten, was wir in diesen Jahren erreicht haben.«

Als er dann skeptisch über den Bayernkönig spricht, sagt der immer loyale Abeken: – Aber er ist doch ein so netter Mensch.! – Bismarck sieht ihn groß an:

»Das sind wir alle hier auch.«

Mit so nachdenklicher Schlichtheit quittiert sich Bismarck selber die große Rechnung am Abend der Vollendung seines Werkes. Als er aber noch länger beim Champagner sitzen bleibt, immer in einer Art sinnierenden Überblicks, dem die Zuhörer gleichgültig sind, sagt er plötzlich, ohne Übergang: »Ich werde im 71. Jahre sterben« und leitet dies aus einer den Zuhörern unverständlichen Zahlenkombination ab.

– Das dürfen Sie nicht, zu früh! Da muß man den Todesengel wegjagen! –

»Nein, sagt Bismarck ruhig, im Jahre 86. Sechzehn Jahre noch. Es ist eine mystische Zahl.«

XIX

Mitten in der Realistenarbeit hat Bismarck in Versailles zuweilen historische Gefühle: »Eine wunderbare Welt heut, sagt er einmal. Alles auf den Kopf gestellt, was bisher auf den Füßen stand: der Papst vielleicht bald in einer protestantischen deutschen Stadt, der Reichstag in Versailles, das Corps Législatif in Kassel, Garibaldi französischer General, päpstliche Zuaven Seite an Seite mit ihm fechtend!« Und als man den König Ludwig erwartet: »Das hätte ich auch nicht gedacht, daß ich noch einmal den Haushofmeister von Trianon spielen würde. Und Napoleon? Und Ludwig XIV.? Was würde der dazu sagen?«

Im allgemeinen geht sein Leben in diesen fünf Monaten in Kleinarbeit auf; seine Stimmungen, in Hunderten von Gesprächen aufgezeichnet, steigen nicht aufwärts, und auf die Frage, wie er diese Augenblicke genieße, gibt er nur die Antwort: »Im politischen Leben gibt es keinen Höhepunkt, der befriedigende Rückschau zuläßt. Ich weiß nicht, was aus dem heut Gepflanzten morgen wird.« Wiederum ein Bekenntnis zwischen Faust und Mephisto. Überhaupt sind seine Gespräche mehr von Ärger und Feindschaft erfüllt als von Pathos und Geist, und wenn die Tischgespräche, die er monologisch beherrscht, das Heut und Morgen verlassen und alle Anekdoten aus seinem eigenen Leben erschöpft sind, so kreisen sie fast immer um Jagd und Reisen, Küche und Wein; von kulturpolitischen Dingen, die ganz Deutschland bewegen, wie etwa die Briefe zwischen Renan und Strauß, ist keine Rede. Was hier von Pilzen und Fischen, Braten und Würsten, von Médoc und Deidesheimer, Sekten und Süßweinen gesprochen wird, zeigt die große Bedeutung an, die diese Dinge in Bismarcks Tageslaufe haben, denn er braucht nicht nur Mengen, auch Finessen: auch hierin erweist sich seine aus Kraft und Nerven gefährlich gemischte Natur.

Ist er zum König geladen, so speist er vor- oder nachher in seinem Hause, denn »dort ist es dürftig bestellt. Wenn ich die Zahl der Koteletts überblicke, nehme ich nur eins, da ich fürchten muß, daß einer der andern Gäste sonst leer ausgeht, denn auf jeden Geladenen ist nur eins gerechnet. Ich kann keinen ordentlichen Frieden schließen, wenn man mir nicht ordentlich zu essen und zu trinken gibt! Das gehört zu meinem Gewerbe. Also esse ich lieber zu Hause.« Diese Bemerkungen macht er wiederholt, wenn ein Adjutant des Königs dabei ist. Bei Tische wird er sogar nationalistisch, erklärt, »so ein französischer Lampe ist doch gar nichts gegen einen pommerschen Hasen, kein Wildgeschmack, ganz anders als unser Schmandhase, der sich seinen Wohlgeschmack von Heidekraut und Thymian holt ... In unserer Familie sind lauter starke Esser. Wenn viele von solcher Kapazität im Lande wären, könnte der Staat nicht bestehen, ich würde auswandern.«

Dann beklagt er sich, daß er nach seinem Riesenabendbrote nicht schlafen kann, denn obwohl er nicht vor Mitternacht ins Bett geht, wacht er meist gegen eins auf, »und dann fällt mir allerhand ein, besonders, wo mir Unrecht geschehen ist ... Darauf schreibe ich Briefe, auch Depeschen, natürlich ohne aufzustehen, im Kopfe. Früher, als ich noch nicht lange Minister war, stand ich auf und schrieb es nieder. Wenn ich's aber am Morgen überlas, war es nichts wert, lauter Plattitüden ... wie es der Serenissimus von X sagen würde. Ich ... möchte schlafen, aber ich muß: es denkt, es spekuliert in mir«. Der Morgenschlaf wird ihm unentbehrlich, niemand wagt, ihn vor 10 oder 11 Uhr zu wecken, und so versäumt er die militärischen Vorträge.

Um dies Leben vollends ungesund zu machen, reitet er nur noch wenig und geht, wenn er nicht Fußschmerzen hat, höchstens nachts einsam durch den von hohen Mauern umgebenen Garten. Einmal sieht er da eine Leiter angelehnt, »und fühlte sogleich das unüberwindliche Bedürfnis, darauf an der Mauer hinaufzusteigen. Wenn nun da eine Schildwache stand? Ich unterhielt mich zuletzt mit dem Posten: ob er glaube, daß wir nach Paris hinein kämen«. Geht er aus, so tut er es ohne Degen, »wohl aber mit Revolver, denn ich will mich unter Umständen gern ermorden lassen, möchte aber nicht ungerochen sterben!« Und doch ist er in diesem Lande verhaßt, auf dem Vormarsch war man einem Attentäter auf der Spur, und er schreibt seiner Frau: »Die Leute müssen mich hier für einen Bluthund halten, die alten Weiber, wenn sie meinen Namen hören, fallen auf die Knie und bitten um ihr Leben. Attila war ein Lamm gegen mich.«

Selten tauchen die alten träumerischen Stimmungen in ihm auf: »Ich entfloh heute der Plage, schreibt er nur einmal, um in der weichen Herbstluft durch Ludwigs XIV. lange grade Parkgänge, durch rauschendes Laub und geschnittene Hecken, an stillen Teichflächen und Marmorgöttern vorbei ... zu galoppieren und nichts Menschliches als Josephs klappernden Trainsäbel hinter mir zu hören und dem Heimweh nachzuhängen, wie es der Blätterfall und die Einsamkeit in der Fremde mit sich bringen, auch Kindererinnerungen an geschorene Hecken, die nicht mehr sind.« Diese dichterischen Stimmungen findet er sonst nicht wieder, obwohl er hier ein äußerlich ruhigeres Leben führt als in Berlin.

Den Söhnen hat er im Anfang befohlen: »Wird einer von euch beiden blessiert, so telegraphiert mir nach des Königs Hauptquartier, ... eurer Mutter aber nicht vorher!« Als er im August nach der Schlacht bei Mars la Tours abends beim Könige ist, tritt ein Offizier ein und macht Moltke, der dabei steht, leise eine Meldung, die ihn erschreckt. Bismarck, sofort: »Geht es mich an?«

Der Offizier: – Bei der letzten Attacke der Ersten Gardedragoner ist Graf Herbert Bismarck gefallen, Graf Bill tödlich verwundet worden.

»Woher kommt die Nachricht?«

– Vom Kommandierenden General des Zehnten Korps.

Darauf läßt er satteln und, ohne ein Wort, reitet er ab, sucht mit seinem Vetter die Lazarette ab, findet nachts Bill gesund, der nur mit dem Pferde gestürzt war, Herbert durch Lanzenstich verwundet. Diese Stunden des Suchens sind für Bismarck schwerer gewesen als alles, was er seit seiner russischen Krankheit erlebt hat. Fand er die Söhne tot, wie er fürchten mußte, so war, wie damals, als man ihm das Bein abnehmen wollte, die Lebenskraft dahin; er wäre nach dem Kriege abgegangen. Ein Leben ohne Söhne kam ihm zwecklos vor, niemals hätte er in seiner Arbeit Ersatz gefunden, und obwohl er ihrer Erziehung fast keine Sorge zuwandte, brauchte sein Rittertum die Gewißheit des männlichen Erben, sein Menschenhaß ein Objekt der Neigung, sein Blut die Gewähr der Dauer.

Deshalb denkt er im Kriege stärker als sonst an die Söhne, und während er von Versailles aus die Wirtschaft von Varzin zugleich mit dem Königreich verwaltet, während er drahtlich einen Brief an seine Frau aufhalten läßt, weil er nach ihrer Abreise aus Reinfeld vom 80 jährigen Schwiegervater geöffnet, dem Pastor gezeigt werden und so in die Presse gelangen könnte, denkt er zugleich daran, ob Bill nicht friert, fragt seine Frau an, ob die Söhne Unterwäsche haben, ärgert sich, daß sie das wohlverdiente Eiserne Kreuz lange Zeit nicht bekommen, hütet sich aber beim König mit einem Worte zu mahnen, schenkt dem genesenden Herbert zu Weihnachten eine schöne Säbelklinge und unterläßt es, ihm nachher eine neue Frontstellung zu suchen, besonders auf Roons Rat, der dabei seinen Sohn einbüßte. Wenn man hört, wie er bei Gravelotte neben dem König die Ruhe verlor, weil er die Söhne im Getümmel wußte, und dastand »nach vorn gebeugt und die sonst so festen Züge voll leidenschaftlicher Erregung«, dann wird darin das Unbeweisbare zur Gewißheit: daß Bismarcks politischer Wunsch, den Frieden zu beschleunigen, von seinem Vaterwunsche vorwärts getrieben wurde.

Unter solchem Druck von vielen Seiten leiden die Nerven des verantwortlichen Mannes, die Beamten leiden unter seinen Nerven. Sind einmal seine mit Bleistift geschriebenen Marginalien mit Tinte nicht nachgefahren worden, weil das Aktenstück indessen gedruckt ist, so fährt er gleich die Geheimen Räte an: »Sie halten das Bureau nicht in Ordnung! Wir machen hier keine Vergnügungsreise! Wenn Sie mich alle im Stiche lassen und krank ärgern, so ist der Moment schlecht gewählt, da ich jetzt sehr schwer zu ersetzen bin.« Als ihn, der bei Tische fast allein spricht, einmal ein Baron unterbricht, sagt er schneidend: »Wenn jemand erzählt, muß man ihn nicht unterbrechen. Ich bin ganz herausgekommen. Was Sie bemerken wollten, konnten Sie nachher sagen.« Sogar der gute Abeken klagt seiner Frau, das Schlimmste sei, »wenn er nicht hören will, während man ihm nur einfache Tatsachen vorlegen will, die er kennen müßte ... Er antwortet sehr oft gar nicht darauf, sondern auf etwas ganz anderes, hört nicht, was ich sage, denkt nur an das, was er sagen will, und das alles geschieht ... sehr oft absichtlich«. Zugleich fühlt sich Bismarck auch hier verkannt und gehaßt und klagt seiner Frau, »wie der kalte Sumpf von Mißgunst und Haß einem allmählich höher und höher bis ans Herz steigt; man gewinnt keine neuen Freunde, die alten sterben oder treten in verstimmter Bescheidenheit zurück, und die Kälte von oben wächst, wie das die Naturgeschichte der Fürsten, auch der besten, so mit sich bringt ... Mich friert, und ich sehne mich, bei Dir zu sein und mit Dir in Einsamkeit auf dem Lande«.

Behutsam geht er im Hauptquartier nur mit Ausländern um. Einem amerikanischen General beteuert er, von Jugend auf selber »all toward republicanism« gewesen, durch Familie aber davon abgebracht worden zu sein; Deutschland sei noch nicht genug fortgeschritten für die Republik. Den Times-Korrespondenten zieht er oft heran und erfährt von ihm manchmal mehr, als dieser von Bismarck. Als er hört, ein Vertreter der Neuen Freien Presse sei bei Bucher, tritt er unerwartet bei ihm ein; das ist ein pommerscher Adliger, im Jahre 48 zum Tode verurteilt, dann 6 Jahre eingesperrt: hier ist ein heimlicher Gegner zu besiegen. Zuerst behauptet Bismarck, seinen Kopf zu kennen, obwohl er ihn nie gesehn; »wir sind im gleichen Alter, sagt er dann, Sie haben sich sehr gut erhalten.«

– Dafür könnte ich Ihnen ein gutes Mittel nennen, sagt Corvin heiter: sechs Jahre Zellengefängnis! – Das gefällt Bismarck, nun erkundigt er sich nach allerlei Vettern, plötzlich zieht er diese Parallele:

»Wir beiden sind ungefähr in denselben Verhältnissen aufgewachsen. Ich habe auch durch liberale Ideen in meiner Familie Bedenken erregt, ich habe auch schon sehr früh für ein einheitliches Deutschland geschwärmt, wurde aber angewidert von der Unfähigkeit vieler populärer Führer von Achtundvierzig. Ja, in der Jugend ist man eben leidenschaftlicher, von einer gewissen Höhe gesehen verschwimmen die Parteifarben, und dann wissen Sie ja, den Junker wird man nie ganz los ... So sehen Sie, wie das Schicksal die Dinge fügt. Dieselbe Gesinnung hat Sie ins Gefängnis geführt und mich auf den Platz, auf dem ich stehe.«

Staunend hört ihm der Journalist zu: welche Kunst, durch schiefe Vergleiche, durch falsche Deutungen einen politischen Gegner zu verführen, welche Galanterie des Geistes, ihn an den Junker zu erinnern, als der jener geboren, an verklungene Liberalismen, in denen er selber aufgewachsen sei, und so dem Fremden mit einer Parallele zu schmeicheln! Ja er erreicht's, denn wirklich berichtet dieser von dem Eindruck, den ihm Bismarcks Wärme, Bedauern und Anerkennung seines Schicksals gemacht hat.

Bismarcks Feinde in Versailles teilen sich in Zivile und Uniformierte, Bureaukraten und Fürsten; leidlich stand er eigentlich nur mit den Franzosen. »Ich habe noch nie solche Erbitterung gegen einen Menschen erlebt, schreibt Stosch aus dem Großen Hauptquartier, wie sie augenblicklich gegen Bismarck herrscht, der grade jetzt alles auf die Spitze treibt, um seine Ideen durchzusetzen.« Am schlimmsten stand er mit dem Generalstab. »Dieser Undank der Militärs, rief er aus, gegen mich, der ich im Reichstag immer für sie gesorgt habe! Aber die sollen sehen, wie ich mich verwandle: militärfromm bin ich in den Krieg gezogen, ganz parlamentarisch komme ich nach Hause! Eisernes Budget is künftig nich!« Er nennt es Militärboykott, und in der Tat suchte man ihn mit allen Mitteln außer Kenntnis der Beratungen zu halten, die man recht gern in seiner Schlafenszeit abhielt. Russel, der Times-Korrespondent, »war in der Regel über die Absichten und Vorgänge besser wie ich unterrichtet und eine nützliche Quelle für meine Informationen«. Ja, man notiert im Generalstab, wer mit dem Bundeskanzler verkehrt und ihm offen oder heimlich Nachrichten bringt; Bismarck wurde von den Generalen beobachtet wie ein unzuverlässiger Neutraler. Der Widersinn, dem verantwortlichen Staatsmann die Operationen zu verheimlichen, von deren Ansatz und Ablauf seine Kalküls mitbestimmt wurden, stammte aus der Eifersucht der Militärs gegen seine Machtstellung, besonders aber aus dem Verdruß über seine autokratische Manier, alles leiten zu wollen. »Es ist eine Schande, sagte Manteuffel, daß ein solcher Politiker mehr Einfluß hat als die Heerführer!«

Er wiederum sollte seit einem Jahrzehnt zum erstenmal in seiner Nähe Dinge ohne sein Votum, auch gegen seine Anschauung geschehen lassen, er sollte seinen König, den er nie aus den Augen Heß, dem Umgang von Generalen überlassen, die ihn auch politisch beeinflußten. Sein Stolz, seine Diktatur, die Gewohnheit als stärkster Kopf zu entscheiden, widersetzten sich dieser Isolierung in gleichem Maße, als sie die Generale darin bestärkten, und während sie seine Friedens- und Reichs-Politik kritisiertem, tadelte er laut ihren Feldzug, damit sie es erführen. »Die Oberleitung ist Strategie der Studierstube, der Soldat hat alles geleistet. Unsere Erfolge kommen daher, daß unsere Soldaten physisch stärker sind als die französischen, und daß sie besser marschieren, mehr Geduld und Pflichtgefühl haben, ungestümer draufgehen; hätte Mac Mahon preußische Soldaten unter sich gehabt, Alvensleben französische, so wäre er geschlagen worden.« An seiner Tafel spricht er tadelnd gegen Steinmetz und Alvensleben, bittet den Minister Eulenburg ins Lager, »um unter den Uniformen einen sympathischen Menschen zu sehen,« und wenn er, leidend, in überheiztem Räume Waldersee vorklagt: »Große Operationen werden mir verheimlicht, Ereignisse, die für mich von höchstem Werte sind, erfahre ich zufällig,« so werden nach diesem Berichte »die Augen immer größer, der Schweiß trat ihm ins Gesicht, außer der schweren Zigarre, die er rauchte, hatte er auch, wie ich an der Flasche sah, schon schweren Wein getrunken.«

Dem Prinzen Hohenlohe aber erklärt er kurz, seit Sedan habe man lauter Torheiten gemacht: »Ich bin ein sehr unbedeutender Kopf und habe keine Fähigkeiten, nur eine nehme ich in Anspruch: die Strategie, die verstehe ich. Statt mit konzentrierten Kräften am Argonner Walde stehen zu bleiben und den Feind anlaufen zu lassen, sind wir wie unsinnig nach Paris gerannt, ohne zu wissen, wozu. Ich protestierte, aber Moltke wollte keine Vernunft annehmen.« Denn Bismarcks innerster Gegner vor Paris ist Moltke; eine langjährige Antipathie kommt jetzt zum Durchbruch.

Schon in den Jünglingsbildern, wo dem Menschen noch die Wahl gestellt zu sein scheint, was er aus sich machen will, ist der Gegensatz da: alles Muskel, Fülle, Wille bei Bismarck, bei Moltke alles Knochen, Linie, Gedanke; und Mitte Zwanzig, als jener seine hochmütigen Selbstironien in Briefen niederlegt, schildert sich Moltke in einer autobiographischen Novelle: »Blonde Locken umgaben ein ziemlich blasses, aber höchst ausdrucksvolles Gesicht, welches, ohne Anspruch auf Schönheit machen zu können, von überaus ernsten und edlen Zügen belebt war. Seine Haltung war elegant, seine Züge wurden nur durch das bewegt, was in ihm selbst vorging; er war wie ein tiefer Strom, der mit glatter Oberfläche unaufhaltsam hinzieht und nur da, wo Felsen auf seinem Grunde sich ihm entgegen setzen, sie schäumend überwältigt;« während Bismarcks ewig bewegte Seele schon in der Jugend dem Meere glich.

Wohlwollend, verbindlich gegen jedermann, sachlich wie Roon, aber kühler, mäßig in allem, fast körperlos, braucht Moltke die Arbeit nie zur Besänftigung innerer Unruhe, erhält sich vielmehr das innere Maß über alle Unruhe der Arbeit hinweg, und ist wortkarg nicht aus Tiefe oder aus Menschenhaß, sondern weil er nichts zu klagen, aus Ichsucht zu sagen, durch kluge Worte nichts zu verschließen braucht; weder aus Hochmut noch aus Melancholie schweigt Moltke, nur, weil er lieber zuschauen als mitspielen will, und, wo er mitspielt, keinen Zuschauer benötigt. Bis in die Formen der Erholung, bis in Schlaf, Trunk, Lektüre ist er in allem eine helle, eine Morgennatur, zieht seinen Park den Wäldern vor, fertigt alles mit eigner Hand, von den Berichten an den König bis zum Baumsägen und Okulieren. Kinderlos, immer für andre denkend, stets ohne Diener, Novellist, Mozartianer und Übersetzer fremder Verse: so ergibt Moltke, wenn man vor jedem Zug seines Wesens das Vorzeichen wechselt, aufs Haar einen Bismarck.

Erhöht wird diese Antinomie durch seine Heimatlosigkeit, er ist so viel Deutscher wie Bonaparte Franzose; obwohl er erst mit 22 als dänischer Leutnant sich ein neues Vaterland wählte, richtet er 40 Jahre später ohne Gemütsbewegung, wie ein Kondottiere seine Kanonen gegen dieselben dänischen Hügel, Fahnen und Truppen, deren Verteidigung er einst beschworen. Da er mit Zahlen rechnet, nicht wie Bismarck mit Größen, im Dienst ganz Fachmann, nicht wie jener ganz Persönlichkeit, vermag er diese Wendung leichter vor sich zu verteidigen, als Bismarck den Entschluß, auf Deutsche zu schießen; auch wird ihm die Richtung seiner Angriffe vorgeschrieben, die Bismarck beschließt und verantwortet. Am liebsten auf Reisen, jahrelang in fremden Ländern, seit Anfang Vierzig Gatte einer Engländerin, die seine Tochter sein könnte, zeigt er weder im Bildnis noch im Wesen noch im Weltleben deutsche Züge und wäre, durch Zufall als Leutnant in die russische Armee verschlagen, dort ebenso wie auf dem damals grade angebotenen schlesischen Gute heimisch – und doch auch dort wie in Berlin durch seine Strategie – die internationalste aller Gaben und Geschäfte – der Erste geworden.

Ein solches Gleichmaß in Anlagen und Lebensführung, ein so eingezogener, schweigsamer Charakter mußte Bismarck unheimlicher sein als dieser jenem, und nur das große Mißtrauen ist beiden gemein, mit dem sie eine so völlig antagonale Natur wie die des andern betrachteten: Moltke begriff nicht, wie man mit so viel, Bismarck begriff nicht, wie man mit so wenig Geräusch leben konnte. Darum ist nie ein Freundeswort von einem zum andern gewandert, wie sie Roon mit beiden tauschte; jetzt aber, als sie zusammen wirken sollen, häufen sich die Reibungen. Als am Abend von Sedan Moltke den ermüdeten Bismarck vom Pferd zu steigen und in seinen Wagen eingeladen und die Truppen ihrem Führer Moltke Hurra zurufen, sagt Bismarck: »Merkwürdig, daß sie mich alle schon kennen!« Moltke schweigt, erst nach ein paar Tagen erzählt er es und lächelt.

Im Oktober beschwert sich der Kanzler über den General, der einer Darlegung nicht gefolgt sei, »während sein Gesicht immer raubvogelartiger wurde;« wogegen ihn andere »fast jungfräulich« aussehend nennen.

Als man es zu einem Problem macht, ob man Paris beschießen dürfe oder nicht, als »englische und andere humanitäre Eingriffe fürstlicher Damen« es nach Bismarcks Worten für menschenfreundlicher erklären, die Weltstadt auszuhungern, statt sie zu beschießen, als Wochen vergehen, in denen der Heeresbericht bis zur Ermüdung meldet: Nichts Neues vor Paris, da beginnt der Staatsmann vor neutraler Einmischung zu zittern wie in Nikolsburg, und richtet seinen ganzen Zorn auf Moltke, der erklärt hat, große Städte fallen von selber, wenn man sie einschließt.

Diese Theorie, die später von der Kriegswissenschaft abgelehnt wird, bringt Bismarck jetzt außer sich, leidenschaftlich klagt er über König und Moltke zu Blumenthal, man hört ihn wüten: »Sie haben mich ohne Kenntnis gelassen, unhöflich und grob behandelt ... Wenn der Krieg vorbei ist, bleibe ich keine Stunde mehr Minister. Diese Nichtachtung kann ich nicht länger ertragen. Ich bin davon krank geworden und muß ein Ende machen, wenn ich überhaupt noch weiterleben soll! Ich habe immer gegen die Belagerung von Paris gesprochen, ich halte sie für einen großen Fehler. Am liebsten setzte ich Napoleon mit den ihm anhänglichen Armeen wieder ein, denn der kranke Mann ist nicht gefährlich. Aber das will durchaus der König nicht. Als Royalist bin ich in den Krieg gezogen, aber anders komme ich heraus!« Und zu Bennigsen: »Ich besehe mir die Sache noch kurze Zeit: hält der Stillstand der Operationen an, so werde ich mit meinem Reitknecht an die deutsche Grenze reiten!« Zugleich beklagt sich Moltke beim Kronprinzen über Bismarck, »weil er auch in militärischen Dingen allein bestimmen will, ohne die verantwortlichen Sachverständigen zu hören. Außerdem macht Graf Bismarck Anfragen und Schreiben an den Generalstab, die so geheime strategische Fragen betreffen, daß ich sie mehrfach kurzerhand zurückweisen mußte. Ich bin der militärische Ratgeber des Königs und werde mich durch das Urteil des Grafen Bismarck nicht irremachen lassen.«

Mitte Dezember greift Bismarck zu seinem alten Mittel: er streikt, bleibt eine Woche unsichtbar, läßt einen Journalisten genug von diesem Streit wissen, daß er ihn in Amerika publiziert; erst nachdem die Beschießung endlich beschlossen ist, zeigt er sich wieder. Als dann der Kronprinz Bismarck und Moltke zu Tische lädt, um sie zu versöhnen, muß er wiederholt herzutreten, um das Gespräch wieder in ruhiges Fahrwasser zu leiten, da Bismarck jetzt den ganzen Feldzug seit Sedan auch gegen Moltke selber tadelt.

Nächst den Generalen sind es die deutschen Fürsten, die Bismarck im Hauptquartier zur Verzweiflung bringen. Schon 8 Tage nach dem Aufbruch klagt er seiner Frau: »Es ist wahrhaftig empörend, wie die fürstlichen Zuschauer jeden Platz wegnehmen, Roon und mich nötigen, unsre Arbeitskräfte zurückzulassen, damit diese zuschauenden Königlichen Hoheiten mit ihren Dienern, Pferden und Adjutanten Platz finden.« Auf dem Vormarsch tut er alles, um sie zu meiden; trifft er sie aber beim König, so macht er nachher seinen Mitarbeitern das ganze Theater vor: »Es waren zuviel Fürsten da, als daß die Menschen Platz finden konnten ... Ein solcher Hohlkopf mit seinen nichtssagenden Redensarten ... in überspanntem Gefühl seiner Bedeutung als Fürst, wo ich doch auch sein Bundeskanzler bin! ... Das macht zum Teil die Erziehung, wenn man sie zu Phrasen abrichtet. Hier der Stuhl im Schlosse ist der Bürgermeister von X, der seine Aufwartung macht: Das freut mich sehr, Sie zu sehen, Herr Bürgermeister! Wie geht es in der guten Stadt? Sie macht Tabak und Strumpfwaren ... An des Königs Tafel ... setzen sie mich etwa zwischen den bayerischen Prinzen und den Großherzog von Weimar, und dann ist das Gespräch höchst ledern.«

Eine seiner Anfechtungen ist eben dieser Großherzog: »Da es jetzt zu Unterhandlungen kommt, sagt ihm dieser, so hoffe ich, daß mein Bundeskanzler mir auch die erforderlichen Mitteilungen machen wird, die ich eventuell nach Rußland gelangen lassen kann.« Das ist es grade, was Bismarck vermeiden will, und er verneigt sich mit den ironischen Worten: »Ich werde nichts unterlassen, was meinem Großherzog erwünscht sein kann.« Als dann der Großherzog zu ihm schickt, läßt er dessen Minister nur sagen, er hätte mit Verwunderung gehört, daß sein gnädiger Herr solche Ansprüche an seine Zeit und Gesundheit mache. Der Coburger schreibt ihm 12 Seiten über deutsche Politik und erhält den Bescheid, von allen Vorschlägen wäre nur einer noch nicht in Ausführung begriffen, und dieser eine wäre nicht der Erörterung wert.

Als der Weimaraner seiner Frau im Stile König Wilhelms drahtet: »Meine Armee hat sich tapfer geschlagen,« läßt Bismarck, durch dessen Hände diese Depesche geht, seinen Sekretär spät abends rufen, nur, um sie ihm zu zeigen und diese Lächerlichkeit weitertragen zu lassen. Als der Meininger Herzog für seine Privata den überlasteten Draht mißbraucht, läßt er ihm sagen, »daß die Benützung des Feldtelegraphen für sein Theater unstatthaft sei; er nimmt ihn fast allein in Anspruch mit Baumschulen, Choristinnen, Pferdekauf und dergleichen, und der Coburger macht es noch schlimmer.« Der Hesse aber, der im Juli sich »die Freiheit der Entschließung« vorbehielt, auch ein deutscher Patriot, läßt im November sagen, er komme nach Versailles, wenn man ihm für den Fall eines Einzuges garantiere, daß er dann nicht zu Pferde steigen brauche.

Ein andermal trifft er sie alle beim Könige: »Die Allerhöchsten umflatterten mich wie die Krähen den Uhu, ... und jeder war über die zwei, drei Minuten froh, die er mehr von mir hatte als der andere ... Zuletzt war aber irgendwo im Nebenzimmer ein gerettetes Bein oder der Rücken von einem allen Krönungsstuhl zu sehen: da gingen alle hin, das Wunder zu betrachten, und diesen Moment nahm ich wahr, um mich zu drücken.« Als er in seinem Hause von Tisch abgerufen wird, weil der Großherzog von Baden da sei, kommt er nach 10 Minuten wütend an die Tafel zurück: »Das ist zu arg! Nicht einmal beim Essen Ruhe! Zuletzt laufen sie mir noch ins Schlafzimmer nach! In Berlin melden sich die Leute schriftlich an, warum nicht hier! ... Wer jemand unangemeldet zu mir läßt, kommt in Arrest ... Was trinkt man nur auf solchen Ärger! Ich leide an galligem Erbrechen, wenn ich mich beim Essen erzürne! Die denken, man ist nur für sie da!«

Aber nach solchen Komödien-Szenen, nach solcher Verachtung dieses »Royalisten« gegen die Fürsten, dringt das alte Stöhnen des zum Dienst verurteilten Diktators ergreifend hervor. An einem Novemberabend, nach langen Verhandlungen mit den süddeutschen Ministern, kommt er spät in den Salon, läßt sich Bier bringen, seufzt, dann sagt er: »Ach, ich dachte eben wieder einmal, was ich schon oft gedacht habe: wenn ich nur Einmal auf fünf Minuten die Gewalt hätte, zu sagen: so wird es, und so nicht! Daß man sich nicht mit Warum und Darum abzuquälen, zu beweisen und zu betteln hätte bei den einfachsten Dingen! Das ging doch viel rascher bei Leuten wie Friedrich, die selber Militärs waren und zugleich was vom Gang der Verwaltung verstanden und ihre eigenen Minister waren. Auch mit Napoleon. Aber hier, dieses ewige Reden- und Bettelnmüssen!« Und bald darauf: »Was mir auf der Brust liegt, daß ich nicht atmen kann! ... Ja, wenn man Landgraf wäre! Das Hartsein traute ich mir schon zu, aber Landgraf ist man nicht!«

Hier ist sie, die Problematik seiner Stellung, die Tragödie des Bismarckischen Lebens, in ein paar dumpfgrollenden Worten des ermüdeten Mannes, abends beim Biere vor sich hin gesprochen: zum Herrschen geboren, zum Dienen erkoren, mißfällt ihm die Welt. Zum Greifen nah die Dinge, die man machen müßte, doch wenn man sie greifen will, läßt ein Fürst von oben die gläserne Wand herunter, und der Staatsdenker ist ausgesperrt und hat draußen zu warten.

Ja, wenn man Landgraf wäre!

XX

»Die Lage ist nicht mehr die vom September. Wenn Sie noch immer sagen, kein Stein aus unseren Festungen, so ist es überflüssig zu reden.« Das sind Bismarcks erste Worte zu Jules Favre, als dieser Ende Januar zum zweitenmal bei ihm erscheint, während man nun schon über drei Monate vor Paris liegt, und erfährt fort: »Sie sind stark ergraut seit damals, Herr Minister. Übrigens sind Sie zu spät gekommen. Dort hinter der Tür steht der neue Abgesandte Napoleons. Mit dem will ich verhandeln ... Warum sollte ich denn eigentlich mit Ihnen unterhandeln? Warum sollte ich Ihrer Republik einen Schein von Gesetzlichkeit geben? Im Grunde ist es nur ein Haufen Empörer! Ihr Kaiser hat, wenn er zurückkehrt, das Recht, Sie als Verräter niederschießen zu lassen.«

Favre: – Dann gibt es Bürgerkrieg und Anarchie.

Bismarck: »Wissen Sie das so genau? Übrigens sehe ich nicht ein, wie uns Deutschen Ihr Bürgerkrieg schaden soll!«

Favre: – Fürchten Sie denn nicht, uns zum äußersten zu treiben? Unsren Widerstand noch erbitterter zu machen?

Bismarck: »Ach ja, Ihr Widerstand! ... Man hat kein Recht – hören Sie wohl! – im Angesichte der Menschheit, vor dem Antlitz Gottes, um eines armseligen militärischen Ruhmes willen, eine Stadt von mehr als zwei Millionen dem Hunger preiszugeben! Die Schienen sind unterbrochen, und wenn wir sie nicht in zwei Tagen wiederherstellen, so werden Ihnen täglich hunderttausend Menschen wegsterben. Sprechen Sie nicht von Widerstand, er ist ein Verbrechen!« Darauf wendet er sich zur Tür, hinter der jener Agent warten soll.

Favre: – Nicht doch! Wälzen Sie nicht auf Frankreich nach allem Unglück noch die Schande, einen Bonaparte ertragen zu müssen!

Fünf Minuten später ist der Grundsatz der Abtretung und der Kriegsentschädigung angenommen; darauf Diner, bei dem alle aufpassen, wieviel der Gesandte der hungernden Weltstadt essen wird. Dann setzt man sich zur Formulierung der Präliminarien, Bismarck bietet Zigarren an, die der Franzose ablehnt.

»Sie haben unrecht, sagt der Deutsche, fängt man ein Gespräch an, das zu heftigen Erörterungen führen kann, so muß man rauchen. Man darf dann die Zigarre nicht fallen lassen, dadurch wird heftige Körperbewegung vermieden, außerdem bringt sie uns in den Zustand gemütlicher Ruhe, der blaue Rauch, der aufsteigt, bezaubert uns, macht uns entgegenkommender, das Auge ist beschäftigt, die Hand festgehalten, der Geruch befriedigt, man ist glücklich.« Als er bald darauf über Garibaldi sich ereifert, bietet ihm der französische Graf, der Favre begleitet und all dies aufgezeichnet hat, lächelnd Zigarren an.

Welche vollkommene Meisterschaft, bei ständiger Courtoisie, die die Franzosen an ihm rühmen! Zwar spielt er wie die Katze mit der Maus, aber er spielt im Geiste der Anwesenden mit gallischem Geist, um seinen Gegner zu fangen, denn er will den Frieden und braucht ihn beinah so rasch wie sie; mit Engländern würde er ganz anders reden. Als später Thiers dazukommt, sich in schönen Reden ergeht, Bismarck nun 6 Milliarden fordert und Thiers ruft: »C'est une indignité!«, fängt Bismarck plötzlich an deutsch zu reden und fordert einen Dolmetscher: »Meine Kenntnis Ihrer Sprache reicht nicht hin, die letzten Worte des Herrn Thiers zu verstehen.« Als sie sich bereden, fassen und sachlich zu verhandeln fortfahren, spricht Bismarck sofort wieder französisch.

»Ich erkannte in ihm einen politischen Geschäftsmann, berichtet Favre, allem weit überlegen, was man sich in dieser Hinsicht denken kann. Er scheint nur mit dem zu rechnen, was ist, sein Augenmerk nur auf praktische Lösungen zu richten ... Jedem Eindruck zugänglich und von nervöser Natur, ist er nicht immer Herr seiner ungestümen Regungen. Ich war Zeuge einer Nachsicht sowie einer Schonungslosigkeit, die ich mir nicht erklären kann ... Er hat mich nie getäuscht. Oft hat er mich durch seine Härten verletzt und empört, aber in den großen wie in den kleinen Dingen habe ich ihn immer grade und pünktlich gefunden.« Dies Urteil, vom Feinde gesprochen, ist im Grunde das höchste Lob, das Bismarck je gespendet wurde.

Lange Beratungen mit König und Generalen störten die Verhandlungen, jeder Unbefugte mischte sich ratend hinein, Augusta an der Spitze. »Ich kenne diese schmachvollen Intrigen genau, sagte Bismarck, aber der König hat ihr auf meine Bitte einen großen Brief geschrieben, daß sie so bald nicht wieder schreiben wird!« Als er 200 Millionen Kontribution der Stadt Paris zur Rückgabe an die anno 66 geschröpften, jetzt verbündeten deutschen Fürsten verwenden will, lehnt der König ab. An den Festungen hält alles fest, außer Bismarck; schließlich aber fordert er doch das Elsaß mit Belfort, ein Stück von Lothringen mit Metz, nur weil Moltke dies unbedingt zur Sicherheit brauchte, ja einen Tag vor Abschluß nochmals forderte, ferner 6 Milliarden und den Einzug in Paris. Die 5 Milliarden, auf die er heruntergeht, berechnet er aus der preußischen Kriegsentschädigung von 1807 im Verhältnis zur Einwohnerzahl, nach dem Gutachten Bleichröders, den er berufen hat. Schließlich stellt er dem Gegner die Wahl zwischen Belfort und Einzug, worauf der Franzose sofort die Festung rettet und die Kränkung annimmt, was der üblichen Schätzung des französischen Charakters zuwiderläuft.

Doch während alles jubelt, bleibt der Staatsmann skeptisch, ihm ist bei dieser Annexion nicht wohl, er sagt zum Kronprinzen: »Nur die Rücksicht auf unsere Militärs hat mich bestimmt, an Metz festzuhalten. Außerdem hat der König Äußerungen getan, als ob er um den Besitz grade dieser Festung geneigt wäre, den Krieg fortzusetzen.« Und seiner Frau schreibt er, wir haben »mehr erreicht, als ich für meine persönlichen politischen Berechnungen nützlich halte. Aber ich muß nach oben und nach unten Stimmungen berücksichtigen, die eben nicht rechnen. Wir nehmen ... Metz mit sehr unverdaulichen Elementen.«

Als sie endlich mit Thiers und Favre einig sind, atmet er auf, die schweren Neuralgien, die ihn in den letzten Tagen quälten, sind plötzlich fort, er geht ins Zimmer der wartenden Offiziere und pfeift bloß das Halali. Abends hat er den Bayerischen Minister und Bleichröder zu Tische: die Symbole für Einheit und für Milliarden. Als sie weg sind, verlangt er seit langer Zeit nach Musik, bittet Keudell, ihm zuerst den Hohenfriedberger Marsch zu spielen.

Als Thiers andern Tages zur Unterschrift wiederkommt, verwandelt sich der geschlagene Minister wieder in den platonischen Historiker, er sieht den Sieger an und sagt: – C'est nous, du reste, qui avons fait votre unité!

Wie einen Pfeil ins Zentrum seiner Gedankenkreise muß Bismarck dies Wort empfinden, er sieht den Gelehrten an und erwidert nur dies eine Wort: »Peut-être.«

Nach allen Kämpfen und Intrigen, Lügen und Schlauheiten der tagelangen Gespräche führt die Höhe dieses Dialoges aus dem Dunstkreis bloßer Zahlen und Interessen wieder in reine Luft des Geistes empor. Das ganze Problem zwischen den beiden Nachbarn, von denen einer dem anderen die Einheit nicht gönnte, der andere aber sie ohne Kampf überhaupt nicht erreicht hätte, die Abhängigkeit des nationalen Fortschritts von der internationalen Feindschaft steht so am Ende aller Beschießungen durch Granaten und Gründe plötzlich im Lichte, und der Glücklichere leugnet sie nicht. Er möchte diesen klugen Greis nicht am Ende brüskieren, auch nicht dessen Geringschätzung über mangelnde Erkenntnis wecken – und doch noch weniger dies Siegespfand des Geistes ihm überlassen, damit er es nach Hause trage und in der Kammer von Paris Bismarcks Zugeständnis wie einen unerwarteten Lorbeer von der Tribüne schwenke. Dies alles in einer Sekunde zu fühlen, zu berechnen, und gleichzeitig gefällig zu lösen: eine Frage an das Genie, und es erwidert nur: Vielleicht.

Der Einheit fehlte, als sie Ende November fertig schien, nur noch die Spitze. Hier wurde noch einmal der Kampf Aller gegen Alle zu einer Komödie, wie sie die Kaisergeschichte Europas nicht kennt, seitdem der erste Cäsar die Krone dreimal fortgeschoben. Gegen ein Kaisertum waren alle liberalen Elemente, auch ein Mann wie Freytag bekämpfte diesen Weltherrschafts-Titel, mit dem er »einen falschen Idealismus« heraufkommen sah; dagegen waren ferner aus kollegialer Eifersucht die meisten Fürsten und alle deutschen Könige; dagegen war vor allem die Hauptperson selber. Hatte er sich dazu vor zehn Jahren mit eigener Hand gekrönt, damit jetzt ein Chor von Fürsten, am Ende gar das Volk ihm eine zweite Krone anbiete, die schon sein Bruder einen Reif aus Dreck und Letten genannt und verweigert hatte? Ich bin ein Preuße, sagte König Wilhelm, dachte an seine Ahnen, seine 74 Jahre und beschloß, sich dieser Anmaßung zu widersetzen. »Was soll mir der Charakter-Major!«, so fuhr dieser Offizier seinen Minister an, er meinte die Verleihung eines Ehrentitels oder modernen Amtes, und Bismarcks Humor konnte nur erwidern: »E. M. wollen doch nicht ewig ein Neutrum bleiben: das Präsidium!«

»Das Aufreibendste und mich durch und durch Erschütterndste ist die deutsche Titelfrage, sagte der bescheidene König noch Silvester zu seinem Sohne. Wenn ich bedenke, wie die Frage einer größeren Einigung Deutschlands fast die Lebensaufgabe des seligen Königs war, ja daß ihm sogar die – papierne – Krone schon dargeboten war, die er Gott sei Dank so nicht annehmen konnte! ... Und dennoch soll ich es mit meinem ... Preußenherz erleben, den Namen, der so Großes erreicht und geschaffen, zurücktreten zu sehen vor einem anderen, der ... ein Jahrhundert lang dem preußischen feindlich entgegenstand! ... Die Verhängnisse verschwören sich gegen mich!«

Tausend Jahre zurück, und von der gleichen Ahnung wurde Karl der Große befallen, den der Papst mit der Kaiserkrone wider Willen des zu Krönenden überraschte und der dann bekannte, »se eo die, quamvis praecipua festivitas esset, ecclesiam non intraturum, si pontificis consilium praescire potuisset.«

Auch Bismarck, immer in Realitäten denkend, war anfangs gegen die »Kaiserei«, warnte noch im Oktober den Kronprinzen, den altpreußischen Hof zur Entfaltung größeren Glanzes zu nötigen, wurde aber allmählich wärmer, als er darin ein werbendes Element für Einheit und Zentralisation erkannte.

Für das Reich war ein großer Teil der deutschen Stämme, der Großherzog von Baden, vor allem der Kronprinz, dem »die Erfindung einer eigenen neuen Krone und eines neuen Wappens für ihn und für die Kronprinzessin ernste Angelegenheiten waren ... Ich meine, – urteilt Freytag, der ihn damals häufig und intim sprach, – er ist der erste Urheber und die treibende Kraft für die neue Gestaltung gewesen.« Er war es dann auch, der bei Eröffnung des ersten Deutschen Reichstages, zum Staunen der Abgeordneten, den uralten Stuhl der Sachsen-Kaiser in die moderne Feier hineinschieben ließ.

Jetzt aber konnte weder der Sohn noch der Schwiegersohn des Königs den Antrag stellen; der mußte vom mächtigsten deutschen Könige ausgehen – und der saß in seinem Traumschloß, bezaubert: von Musik, und fuhr als Lohengrin über den muschelumsäumten See. Die schönen Briefe seines Vetters von Baden ließ er unbeantwortet, denn König Ludwig brauchte weder Kaiser noch Reich; nur als man ihm sagte, er könne in einem noch schöneren Schlosse wohnen, im Trianon, wurde er aufmerksam und schickte seinen Ober-Stallmeister auf den Kriegsschauplatz, um Wohnung und Ställe vor Paris zu begutachten.

Diesen Stallmeister, den Grafen Holnstein, nahm Bismarck beim Schopfe. Ihm soll nach aller Mühe passieren, daß ein König die Krone nicht annehmen, der andere nicht anbieten will? Und er schreibt drei seiner geistvollsten Briefe »sofort, an einem abgedeckten Eßtisch, auf durchschlagendem Papier und mit widerstrebender Tinte.« Da beweist er dem in seiner Art naiven König Ludwig, eine Einwirkung des Königs von Preußen auf und in Bayern sei für ihn nicht erträglich; ein deutscher Kaiser dagegen sei nicht der im Stande verschiedene Nachbar Bayerns, sondern der Landsmann: darum könne König Ludwig die Konzession nur dein Deutschen Kaiser, nicht dem König von Preußen machen. Wenn aber dies Argument nicht durchschlägt, so soll man ihn hören, stärker beschwören. Läßt sich – denkt Bismarck – denn gar keine Verbindung schlagen zwischen den Wittelsbachern und den Bismarcks? – Natürlich! Es sind ja erst 300 Jahre, da bestand diese Verbindung! Und sogleich dankt er dem König in einem zweiten Briefe, den dasselbe Kuvert umschließt, »für das besondere Wohlwollen, welches die bayerische Dynastie zu der Zeit, wo sie in der Mark Brandenburg regierte, während mehr als einer Generation meinen Vorfahren betätigt hat«.

Da hätten wir ein argumentum ad regem, eines ad hominem; doch was wird König Ludwig schreiben, wenn er schreibt? Wenn er den Antrag anders begründet, als Bismarck es ihm nahelegt, ja, wenn er nur um Haaresbreite den dynastischen Nerv des Herrn Vetters streift, so ist alles verloren, dieser wartet ja nur auf einen Vorwand, um Nein zu sagen. Denn auch Wilhelm ist, nach Bismarcks Urteil, »nicht frei von dem Bestreben, den andern Dynastien die Überlegenheit der eigenen unter die Augen zu rücken, ... grade das überlegene Ansehen der angestammten preußischen Krone, mehr als das des Kaisertitels zur Anerkennung zu bringen«.

Also muß dieser Nervenarzt seinen beiden Patienten auf verschiedene Art dieselbe Medizin einflößen. So tut er das Klügste, was ihm einfallen kann, er legt alleruntertänigst dem Brief an König Ludwig gleich den Entwurf für den Brief an König Wilhelm bei; (bitte nur abzuschreiben). Mit den drei Briefen reist der Oberstallmeister zurück, aber der König ist unpäßlich, d. h. er will auf Hohenschwangau nur von König Heinrich und zwar drei Wagnerische Akte lang, nicht von einem Kaiser Wilhelm hören; übrigens hat er Zahnweh. Doch Holnstein gelingt es vorzukommen, der König liest die Briefe zweimal, fühlt sich geschmeichelt, wie es Bismarck berechnet, läßt gleich von einem Reitknecht Tinte und Feder holen und schreibt, ohne einen Minister zu befragen, im Bette aufsitzend, den Werbebrief ab, den der Vertreter des Umworbenen diktiert hat. Holnstein eilt nach Versailles zurück.

Dort wird eben der Geburtstag irgendeiner Prinzessin gefeiert, wobei ein bayerischer Prinz »den ihm natürlich ganz außerordentlich unangenehmen Auftrag unmittelbar vor dem Diner« durch Übergabe des Briefes an den König ausführt. Ein Staatsschreiben? Das muß zuerst Bismarck lesen, den geht es am nächsten an, und nach Tische gibt der König Bismarck den Brief, um ihn in Gegenwart seines Sohnes vorzulesen. Mit ernster Miene und schöner Betonung rezitiert Bismarck seinen eigenen Brief. Was wird der Empfänger erwidern? Rücksicht auf den Schreiber braucht er nicht zu nehmen, der ist ja fern, und wir sind unter uns, und so ruft der alte Herr entrüstet aus: »Das kommt mir sehr zur Unzeit!« Ja, nach seines Sohnes Berichte ist er »über den Inhalt dieses Briefes ganz außer sich vor Unwillen, und wie geknickt.« Dann entläßt er beide, ohne die Verschwörung zu entdecken. Draußen aber tut der Kronprinz ein übriges, sein tiefster Wunsch scheint sich zu erfüllen: da tauscht er einen Handschlag mit Bismarck und schreibt zugleich in sein Tagebuch: »Mit dem heutigen Tage sind Kaiser und Reich unwiderruflich wiederhergestellt, jetzt ist ... die kaiserlose, die schreckliche Zeit vorbei, schon dieser stolze Titel ist eine Bürgschaft.«

Der Kandidat übt zunächst passive Resistenz, niemand wagt, ihm von der neuen Krone zu sprechen, er will sie ja nicht haben; aber alles ist vorbereitet, und nun darf sogar die Nation Ja und Amen sagen. Im Reichstag spielt der zweite Akt der Komödie. Ein Abgeordneter darf anfragen, ob das deutsche Volk nicht ein Oberhaupt bekomme. Darauf liest Delbrück »mit blecherner Stimme das Schreiben des Bayernkönigs vor ... Es war, als ob er die arme deutsche Kaiserkrone in Zeitungspapier gewickelt aus der Hosentasche gezogen hätte«, und Bismarck sagt: »Ja, dieser Kaiserscherz brauchte einen geschickteren Regisseur, man müßte eine wirksamere mise en scène haben.«

Trotzdem lädt man 30 Vertreter des Reichstages nach Versailles, nicht etwa, um die Kaiserkrone, nur um eine Adresse zu überreichen; zugleich zeigt der Bayerische Landtag große Lust, dem Vertrage nicht beizutreten. Der König ist wütend, noch am Abend der Ankunft erklärt er, diese Deputation nicht zu empfangen, bevor die Aufforderung aller Fürsten schwarz auf weiß förmlich vor ihm liege, »weil sonst der Schein verbreitet würde, als ob der Antrag auf Wiederherstellung von Kaiser und Reich früher vom Reichstage als von den Fürsten ausgegangen sei«. Herren des Hofes äußern, nach des Kronprinzen Berichte, »laut, was diese Kerls eigentlich hier zu suchen hätten«, und Stieber, Polizeichef des Hauptquartiers, schreibt seiner Frau, »die Hof- und Militärpartei waren kühl, ich vertrat hier das deutsche Volk«, und da er früher Kommunist gewesen, kann er freilich hinzufügen: »Wunderbare Zeiten!«

Schließlich bleibt doch nichts übrig, als die Herren zu empfangen, aber die Fürsten und Generale entschließen sich erst eine Stunde vorher, dabei zu sein, und so improvisiert man die Szene in der Präfektur: »Leider ward die schöne Marmortreppe daselbst heute nicht benutzt«, klagt der Kronprinz. Da hält der würdige Simson eine Rede und mag sich in diesem Augenblicke jener andern erinnern, mit der er vor 21 Jahren dem Bruder dieses Königs dieselbe Krone antrug und einen überraschenden Korb bekam. Dann verliest er eine Adresse, in der es heißt: »Vereint mit den Fürsten Deutschlands naht der Norddeutsche Reichstag mit der Bitte, daß es E. M. gefallen möge, durch Annahme der Deutschen Kaiserkrone das Einigungswerk zu weihen.« Ebenso »nebelhaft« wird in der Antwort des Königs die Rechtslage gelassen: »Nur in der einmütigen Stimme der Deutschen Fürsten und Freien Städte und in dem damit übereinstimmenden Wunsche der Deutschen Nation und ihrer Vertreter werde ich den Ruf der Vorsehung erkennen, dem ich im Vertrauen auf Gottes Segen folgen darf.« Also hatten die Fürsten Stimmen, die Untertanen nur Wünsche, und so sind Dreck und Letten übergoldet. Dafür ist Deutschland diesmal durch zwei Juden vertreten, denn was Simson verlas, hatte Lasker verfaßt, und der König sagte nachher: »Ei, da verdanke ich ja Herrn Lasker eine hohe Ehre!«

In diesen Kaiser-Tagen wurden Bebel und Liebknecht wegen Vorbereitung des Hochverrats verhaftet: sie hatten gegen die Formen der neuen Verfassung gesprochen und mit sechs anderen die neuen Kriegskredite wegen Eroberungen verweigert. Der Zweck war, sie vom Wahlkampf auszuschalten.

Das Schlimmste stand als dritter Akt dem alten Herrn noch bevor. Zum 18. Januar lud das Hofmarschallamt folgendermaßen ein: »Die Feier des Ordensfestes findet in der Glasgalerie des Schlosses zu Versailles, mittags 12 Uhr, ein kurzes Gebet und demnächst die Proklamation statt.« Dieser Einladung, durch ihr Deutsch wie durch das aus dem Französischen übersetzte Wort gleich denkwürdig, verweigerte der Gastgeber zu entsprechen: den Tag zuvor lehnte es der König ab, deutscher Kaiser zu werden, und erklärte bündig, er wollte Kaiser von Deutschland oder gar nicht Kaiser sein. Vergebens sucht ihm Bismarck klarzumachen, das bedeute einen landesherrlichen Anspruch, zitiert den russischen Kaiser, der auch nicht Kaiser von Rußland heiße, was der König durch irrige Übersetzung eines Wortes bestreitet. Jetzt zieht Bismarck die Taler heran, auf denen Friedrich rex Borussorum, nicht Borussiae heiße, dann kommt er auf den Wortlaut seines eigenen Briefes zurück, den der Bayer für den König abgeschrieben, nachher kommt die Rede auf den Rang zwischen Kaisern und Königen, Erzherzogen und Großfürsten, er erzählt von dem Pavillon für die Zusammenkunft eines Preußenkönigs mit einem Kaiser: lauter historische Beispiele hat er parat, um seinem König zu beweisen, daß er morgen bestimmt nicht erhöht werden soll. Aber der alte Herr wird nur immer böser und ruft: »Und wenn es so gewesen wäre, so befehle Ich jetzt, wie es sein soll! Die Erzherzöge .,. haben stets den Vorrang vor den preußischen Prinzen gehabt, und so soll es auch ferner sein!«

Plötzlich verfällt er in Schluchzen und Weinen, jammert, »in welcher verzweifelten Stimmung er sich befände, da er morgen vom alten Preußen Abschied nehmen müßte, ... und rief in wallender Erregung aus: Mein Sohn ist mit ganzer Seele bei dem neuen Stande der Dinge, während ich mir nicht ein Haar breit daraus mache und nur zu Preußen halte! ... Im höchsten Zorn sprang er schließlich auf, brach die Verhandlungen ab und erklärte, von der zu morgen angesetzten Feier nichts mehr hören zu wollen.« Das war der letzte ahnungsvolle Ruf des letzten Preußenkönigs. Es war derselbe Mann, der auf dem Vormarsch sich in das prunkvolle Schlafzimmer eines Rothschild-Schlosses sein Feldbett stellen ließ und das Badekabinett als Arbeitszimmer benutzte, der böse wurde, wenn man ihn Heldengreis nannte und über die Phrase vom Hohenzollern-Aar zankte, sie hätten gar keinen Aar im Wappen. Und nachdem Wilhelm im Jahre 48 zur Rettung der Lage seines Bruders, im Jahre 62 zur Rettung seiner Ehre im Kampf um die Armee zurücktreten wollte, will er es jetzt zum dritten Male tun »und Fritz alles übergeben«, weil er an Preußen hängt und sein prophetisches Gemüt den prunkvoll neuen Titel scheut.

»Ich war, schreibt der Kronprinz, nach dem Auftritt so unwohl geworden, daß ich medizinieren mußte; später erfuhr ich, daß der König abends gar nicht zum Tee erschienen war.« Was wird morgen geschehn? Niemand weiß es. Aber das Hofmarschallamt ist stärker als die Könige, und die Disziplin eines altpreußischen Offiziers gehorcht, – und wenn er Kaiser werden sollte! Am andern Vormittag ziehen unter Regie des Kronprinzen in der Spiegelgalerie im Schlosse die Ehrenposten auf, 60 Standarten, 600 Offiziere, auch einige Mannschaften, schließlich kommen die deutschen Fürsten, nach ihnen König Wilhelm. Da niemand weiß, unter welchen Symbolen er Kaiser werden will, wird das Wichtigste, die Aufstellung der Fürsten, erst von ihm selber improvisiert, an Ort und Stelle neu geregelt, umständlich, doch ganz in seiner ritterlich-bescheidenen Weise:

»Ich hatte mich, erzählt er andern Tages in seiner ehrlichen Art, gar nicht um das militärische Arrangement gekümmert, ich wußte auch nicht, wo die Fahnen stehen würden. Die Herren wollten mir einen Thron aufbauen, das habe ich mir aber verbeten. Ich wollte während der ganzen Zeremonie vor dem Altar mitten unter den Fürsten stehen bleiben. Als ich aber sah, daß man meine Fahnen und Standarten auf jenen haut pas gestellt hatte, ging ich natürlich dorthin, denn wo meine Fahnen sind, da bin auch ich. Nun war aber der haut pas so voll, daß die Fürsten fast keinen Platz gehabt hätten, dann würden sie aber unter mir haben stehen müssen. Ich ließ sie also zuerst herauftreten und befahl nur, daß die Fahnen des Ersten Garderegiments, bei dem ich überhaupt in die Armee eingetreten bin, die Fahne meines Grenadierregiments und die des Garde-Landwehr -Bataillons, dessen erster Kommandeur ich so lange gewesen, dicht hinter mich treten sollten. Meine Absicht, vor dem Altare stehenzubleiben und vor ihm die neue schwere Verpflichtung zu übernehmen, ist mir durch die Fahnen auf dem haut pas vereitelt worden. Es tut mir nur leid, daß nicht die sämtlichen Gardefahnen dabei waren!«

Nachdem so der Thron vom Altar und dieser von den Fahnen verdrängt worden, und sich der neue Kaiser selber die gekrönten Vettern auf die gleiche Stufe gerufen, aber durch seine Standarten von ihnen abgetrennt hat, hält der Pfarrer statt des befohlenen kurzen Gebetes eine Strafrede auf Ludwig XIV. und eine Abhandlung über den 18. Januar, über deren »preußische Selbstvergötterung« Bismarck wütend ist. Dann tritt Bismarck vor und verliest die Proklamation, beginnend: »Wir Wilhelm von Gottes Gnaden, König von Preußen, nachdem die deutschen Fürsten und Freien Städte den einmütigen Ruf an Uns gerichtet haben, mit Herstellung des Reiches die seit mehr denn 60 Jahren ruhende Kaiserwürde zu erneuern und zu übernehmen ..., bekunden Wir hiermit, daß Wir es als Pflicht gegen das gesamte Vaterland betrachten, diesem Rufe der verbündeten deutschen Fürsten und Freien Städte Folge zu leisten und die deutsche Kaiserwürde anzunehmen«. Diese Ansprache richtet sich »An das deutsche Volk«, es ist aber lediglich Hörer, kommt nur in dieser passiven Rolle, der Reichstag kommt gar nicht vor. So geht mit feierlichen Worten die Botschaft in die Welt, daß die deutschen Fürsten sich einen Kaiser erkürt haben wie im Mittelalter, kund und zu wissen den getreuen Untertanen, am Ende des 19. Jahrhunderts.

»Mit einer vor Erregung keuchenden Brust, bleich im Antlitz und mit so blutleeren Ohren, daß sie fast durchsichtig waren, ... stieß Bismarck die ersten Sätze aus der Brust.« So beschreibt ihn ein Arzt als Zeuge, und so mag er den gefährlichen Augenblick überwunden haben. Der Kronprinz freilich bemerkt nur eine »geschäftliche Art, ohne jegliche Spur von Wärme oder feierlicher Stimmung«, er vermißt also den Schauspieler, hat sich aber für den Augenblick der Hochs und Hurras noch eine besondere Gruppe ausgedacht: »Dieser Augenblick war mächtig ergreifend ... ich beugte ein Knie vor dem Kaiser und küßte ihm die Hand, worauf er mich aufhob und mit tiefer Bewegung umarmte. Meine Stimmung kann ich nicht beschreiben«, doch zugleich beobachtet er die Wirkung und erkennt »selbst bei den Fahnenträgern eine unverkennbare Gemütsbewegung«.

Aber schon rafft sich der alte Preuße zusammen, dem auch diese Schaustellung nicht lange behagt, er verläßt sein Podium, man sieht an der Richtung des Blickes und Ganges: jetzt will er auf die Männer zu, die so viel geleistet haben. Die Generale stehn in Front zu den Fürsten, dazwischen, auf dem freien Platze ist nur Einer: die Proklamation noch in Händen steht er aufgereckt da, er wartet, denn dieser Händedruck, der nun folgen muß, ist ein Symbol, und Bismarck wird das Knie keineswegs beugen wie Friedrich Wilhelm: er huldigt durch die Tat, nicht durch Vergötterung, durch gestraffte, nicht durch entspannte Sehnen. Jetzt mag er diesen seltenen, stummen Dank vor so viel hundert Blicken in innerer Erregung erwarten. Aber trotz allem kennt er seinen alten Herrn noch nicht: der wollte gar nichts werden, höchstens aber Kaiser von Deutschland, und nun hat ihm dieser Kanzler die ganze Feier verdorben! So ignoriert er, herabsteigend, den Schuldigen, geht an ihm vorbei, um nur den Generalen die Hand zu bieten.

Es ist der schwächste Augenblick im Leben Wilhelms des Ersten: nicht etwa, weil er den Schöpfer verkennt, er weiß sehr wohl, wer dies alles erdacht hat; aber er läßt den Eigensinn des Alters über den angeborenen Takt des Herzens siegen und zeigt in dieser Feierstunde vor Fürsten und Fahnenträgern, Journalisten und Generalen, die meist des Kanzlers Feinde und Neider, mindestens die Zeitung sind, um morgen alles in die Welt zu tragen: wen er bevorzugt, wen er nicht leiden kann. Da der Minister symbolisch allein steht, muß jeder den Affront mit Blicken greifen, und wie jetzt in den hundert Spiegeln der Galerie, so wird sich dies Vorübergehen morgen in tausend Herzen wiederholen: ein Akt von solcher Kraft des Gleichnisses, wie ihn die Nibelungensage zum Anlaß eines Geschlechterkampfes machte.

Bismarck nimmt ihn als Stoiker, er registriert ihn nur, da er der Politik nichts schadet, und konstatiert, daß nach einigen Tagen »allmählich die gegenseitigen Beziehungen wieder in das alte Geleise kamen«. Der König – lassen wir ihm noch eine kleine Weile diesen schöneren Titel, den Bismarck nie aufgehört hat zu brauchen – beruhigt sich über die ihm angetane Kaiser-Beleidigung. Gewohnt, zur Rücksendung der Akten dasselbe Kuvert zu benutzen, in dem sie kamen, erledigt er auch an diesem Abend seine Pflichten, sendet die auf den Tag bezüglichen Papiere zurück; als er aber auf dem Kuvert liest: »An des Kaisers Majestät vom Bundeskanzler«, streicht er das letzte Wort und schreibt darüber: Reichskanzler.

So behutsam, sparsam und ohne Anspruch begann das Deutsche Reich.

»Ich hoffte,« schreibt Roon, der sich von der Proklamation fernhielt, seiner Frau, »das nun glücklich gelegte Kaiser-Ei würde Bismarck vorläufig Befriedigung gewähren, aber es ist leider nicht der Fall«, und Bismarck schreibt der seinigen: »Ich habe Dir schrecklich lange nicht geschrieben, verzeih, aber diese Kaisergeburt war eine schwere, und Könige haben in solchen Zeiten wunderliche Gelüste, wie Frauen, bevor sie der Welt hergeben, was sie doch nicht behalten können. Ich hatte als Accoucheur mehrmals das dringende Bedürfnis, eine Bombe zu sein und zu platzen, daß der ganze Bau in Trümmer gegangen wäre.« Und als am dritten Abend an seiner Tafel über Deutscher Kaiser, Kaiser von Deutschland und dergleichen gestritten wird, schweigt Bismarck dazu, dann fragt er:

»Weiß einer der Herren, was auf lateinisch Wurscht heißt? – Farcimentum? – Nescio, quid mihi magis farcimentum esset!«


 << zurück weiter >>