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»Dina soll zur Schule kommen«, diese Thatsache beschäftigte schon lange vor dem dazu festgesetzten Zeitpunkt die Gemüter der Mühlmannschen Kinder.
Keiner konnte sich den Wildfang Dina in's Schuljoch eingezwängt denken, und Mütchen erklärte ein über das andere Mal, Dina thäte ihm wirklich leid.
Ox aber neckte: »Dinchen, an dem Tage, wo Du zur Schule gehst, bring' ich Dir eine große Zuckerdüte.«
Etwas gereizt versetzte Dinchen: »Ihr werdet schon sehen, daß ich kein solch kleines Kind mehr bin als Ihr denkt, aber Deine Zuckerdüte will ich wohl annehmen. Du weißt ja, daß ich kein Feind von Süßigkeiten bin.«
Ox und Dinchen waren immer in einer Art Fehde begriffen, das heißt sie neckten sich von Morgen bis Abend wenn sie zusammen waren. Dies Zusammensein zwischen Mühlmanns und Dina war ein sehr häufiges. Im September, als die Tage kühler wurden, waren Webers wieder in die Stadt gezogen, in ihre schöne Villa in der Westvorstadt. Mühlmanns aber wohnten ganz nah in der anstoßenden Straße in der zweiten Etage eines großen Mietshauses, und aus einem der Hinterfenster ihrer Wohnung übersahen sie einen Teil des Weberschen Gartens. Durch Zurufen konnte man sich nicht verständigen, aber die Kinder hatten eine Zeichensprache erfunden. Schwenkte Dina an einem Stock angebunden ihr Taschentuch, so hieß das: »Kommt herüber, wir können spielen.« Als Antwort darauf ließen Mühlmanns auch ihr Taschentuch flattern, das bedeutete: »Ja.« Hatten sie zu arbeiten oder konnten nicht kommen, so wurde Nellys schwarzes Zopfband an dem Fensterkreuz angebunden, und wenn diese schwarze Wimpel im Winde wehte, so wußte Dina, heute ist's nichts mit dem Besuch.
In letzter Zeit hatte Fräulein Sauer große Anforderungen an Dinas Fleiß gestellt. Geschichte und Rechnen, das waren ihre schwachen Fächer, während sie in Sprachen und Litteratur sehr weit vorgeschritten war. Es wurden also von früh bis spät Geschichtszahlen und Rechenaufgaben geübt, damit Dina bei der Aufnahmeprüfung gut bestünde.
Als sie zuerst in dem großen Schulgebäude dem Herrn Direktor vorgestellt wurde, war es Dina etwas bänglich zu Mut, aber zum Glück war Fräulein Sauer dabei, die zu Dinas großer Freude vom Oktober an als Lehrerin an der höheren Töchterschule engagiert war, in die Dina eintreten sollte. Das gab Dina ein Gefühl der Sicherheit, denn sie hatte sich sehr an die kluge und freundliche Erzieherin angeschlossen.
Während der Direktor die Fragen an sie stellte, sah sie immer zu Fräulein Sauer hin, und wenn diese ihr zunickte, dann fiel ihr Alles ein, was sie wußte, und ihre Antworten fielen sehr zur Zufriedenheit des Direktors aus.
»Ihre Nichte ist vollauf reif für die zweite Klasse«, wandte er sich an Frau Weber, »die Mädchen sind zwar zum größten Teil älter als unsere neue Schülerin hier, aber ich sehe keinen Grund diese darum zurückzulassen.«
»Ich hoffe, Sie werden uns Freude machen, liebe Dina«, damit verabschiedete er sich von der Kleinen und reichte auch Frau Konsul Weber und Fräulein Sauer die Hand.
Dina sah ganz erstaunt von einem zum andern, es war das erste Mal, daß sie: »Sie« angeredet wurde.
Sie selbst hatte zwar allmählich gelernt, zu erwachsenen Menschen: Sie zu sagen, aber zu ihr hatte natürlich jeder: Du gesagt. Sogar Nettchen, die Jungfer, die von ihr immer ehrerbietig als dem kleinen Fräulein sprach, hatte zu Dina wie alle anderen mit: Du gesprochen.
»Herr Direktor«, mit diesen Worten wandte sie sich deshalb in der Thür noch einmal um, »wenn ich erst in der Schule bin, sagen Sie doch: Du zu mir.«
Der alte Herr lächelte: »Von der zweiten Klasse an werden unsere Schülerinnen: Sie genannt«, meinte er.
»Aber ich bin erst zwölf Jahre«, erklärte Dina.
»Dann müssen Sie sehr fleißig gewesen sein, daß Sie so weit sind«, entschied der Direktor. »Bedanken Sie sich nur bei Fräulein Sauer, die Ihren Unterricht so gefördert hat.«
Fräulein Sauer war sehr stolz über das Lob ihres neuen Direktors, aber Dina plauderte noch auf dem ganzen Heimweg über die wunderbare Thatsache, daß der Direktor: »Sie« zu ihr gesagt habe.
Oskar und Hellmuth Mühlmann erklärte sie am Nachmittag voll Stolz: »Jungens, jetzt habt 'mal Respekt vor mir, ich bin Schülerin der zweiten Klasse der Mädchenschule und werde mit Sie angeredet.«
»Nun muß ich wohl Fräulein Dinchen sagen?« neckte Ox.
Mütchen aber meinte nachdenklich: »Ach, wenn ich doch auch erst soweit wäre, daß ich mit Sie angeredet würde in der Schule; dann wäre ich bald durch damit.«
Doch Oskar meinte: »Mütchen, Du mußt doch nicht auf ein Mädel neidisch sein. Was auf dem Gymnasium etwas sagen will, hat in der Mädchenschule noch garnichts zu bedeuten. Zum Beispiel giebt's in der Mädchenschule viel bessere Censuren, als bei uns, trotzdem sind aber die Mädchen alle dummer, man macht eben geringere Ansprüche an sie. Auch Tadel kennen sie kaum. Wie selten hat Nelly einen Tadel bekommen, und dabei thut sie doch viel weniger als wir Beide.«
Hiergegen verwehrte sich nun Nelly entschieden und meinte: »Die Mädchen sind eben im ganzen artiger als Ihr ungezogenen Jungen, deswegen kriegen sie nicht so oft Tadel.«
Daß Dina schon in die zweite Klasse kam, verdroß Nelly ein wenig. Sie selbst war erst eben nach der ersten Klasse versetzt und zählte doch beinah fünfzehn Jahre.
Endlich waren die Michaelisferien vorbei und der große Tag gekommen, an dem Dina zum ersten Male die Schule besuchen sollte.
Alle drei Mühlmanns holten sie am Morgen ab, und wirklich hatte Oskar die versprochene Zuckerdüte nicht vergessen. Es war eine große, blaue Düte, gefüllt mit Dinas Lieblingsfruchtbonbons, und darauf stand: »Dem artigen Schulkinde!«
»O, Du ungezogener Junge«, rief Dina, als er ihr mit feierlicher Miene die Düte überreichte.
»Wirf sie ihm an den Kopf«, raunte ihr Mütchen zu.
Einen Augenblick war Dina versucht, seinem Rate zu folgen; aber dann dachte sie doch bei sich: »Es wäre schade um die schönen Bonbons«, und sie suchte Oskar zu strafen, indem sie mit Nichtachtung über seine förmlichen Redensarten hinwegging.
Herr und Frau Konsul Weber hatten auch beschlossen, Dina auf ihrem ersten Schulwege das Geleit zu geben, und so war es ein ganzer Zug, der sich schließlich in Bewegung setzte. Voran schritt Dina, einen langen Regenmantel über dem dunklen Kleide und der sauberen Schulschürze und ihre nagelneue, schwarze Ledermappe, auf der in blankem Nickelschilde ihre Anfangsbuchstaben B. W. prangten, am Arm.
Am Schulgebäude wurde feierlicher Abschied genommen, und während Nelly noch die jüngere Freundin in ihre Klasse brachte, stürmten die Knaben nach ihrem Gymnasium, das in der nächsten Straße lag, aber mit der Rückseite an die Mädchenschule stieß, und Webers schritten Arm in Arm den Weg zurück.
In der Klasse angelangt, wurden Dina mit noch zwei anderen, neuen Schülerinnen ein paar Plätze auf der vordersten Bank angewiesen. Dies war die letzte Bank, da die Plätze von hinten anfingen, und die neuen Schülerinnen saßen bis zur ersten Setzung zunächst immer auf den letzten Plätzen, gerade unter dem Katheder.
Die erste Stunde: Französisch, hielt ein magerer, kleiner Lehrer, der sehr viel sprach, und wenig Fragen an die Kinder richtete. Er hieß, weil er so klein und dünn war, in der ganzen Schule nur: »das Pünktchen.«
Hieraus hatte der Direktor eine Litteraturstunde, und dann war Pause. In der Pause kam Nelly zu Dina und fragte, wie es ihr gefiele.
Und Dina erklärte, es wäre prachtvoll in der Schule.
Die nächste Stunde war bei einer Dame, einem Fräulein Selle, die die Mädchen: »Sellerie« nannten. Vor Sellerie hatten alle großen Respekt, sie war sehr streng und konnte leicht heftig werden.
Zum Unglück gab sie Rechenstunde, worin Dina so schlecht beschlagen war. Es dauerte auch nicht lange, da wurde Dina aufgerufen.
»Stehen Sie auf, Dina«, hieß es zunächst, und Dina gehorchte.
Sie gab auch erst ein paar richtige Antworten, dann aber sollte sie ein schweres Exempel lösen, und damit kam sie nicht zu Stande.
»Nun antworten, antworten«, mahnte die Lehrerin ungeduldig. Aber Dina stand stumm da und wußte nicht recht was beginnen. Noch einmal wiederholte die Lehrerin, die Dinas Schweigen anscheinend für Trotz auffaßte, streng und kurz die Frage.
»Also was kommt heraus?« fragte sie wiederum.
Dina hatte keine Ahnung, aber ihr war ein rettender Gedanke gekommen; wie wäre es, das Fräulein von der schwierigen Aufgabe abzulenken, und von etwas Anderem zu reden.
Die Lehrerin war nah zu ihr getreten und wiederholte eben nochmals scharf: »Was kommt heraus?«
Dinas Augen irrten durch die Klasse und aus dem Fenster und: »Fräulein Selle, draußen regnet's«, warf sie dann ein, froh, endlich eine Ablenkung gefunden zu haben.
Die großen Mädchen steckten die Köpfe zusammen und kicherten; aber die Lehrerin, die Dinas Einwurf für eine Keckheit und absichtliche Ungezogenheit hielt, ergriff die Kleine jetzt plötzlich derb bei den langen Locken und rief böse:
»Werden Sie mir endlich antworten, wie sich's gehört?«
Dina sah sie starr an und brachte kein Wort hervor; aber kaum ließ die Lehrerin ihre Locken aus der Hand, da war sie mit einem Satze über die Bank fort und aus der Schulstube heraus, deren Thür dröhnend in's Schloß flog. Ihre Bücher im Stich lassend, und ohne sich die Zeit zu nehmen, Mantel und Hut anzulegen, stürmte sie an dem eben die Treppe heraufkommenden Direktor vorbei in's Freie. Und so, mit fliegenden Locken und wehender Schürze, ging's die Straßen entlang nach der Villa des Konsuls. Atemlos langte sie dort an und warf sich vor Erregung bebend ihrer Tante an den Hals.
Diese war ernstlich erschreckt ihre Nichte in dem Zustand zu sehen: »Was ist denn passiert, Bernhardine, mein Kind, sei doch ruhig? Bist Du krank?« so redete sie begütigend auf Dina ein.
Endlich stammelte Dina ihre Erlebnisse hervor.
»Tante, Tante«, schloß sie ihren Bericht, »schicke mich nie wieder zur Schule. Ich will lieber bei Fräulein Sauer lernen, die zerrt mich nicht an den Haaren, wenn ich etwas nicht weiß.«
Erst allmählich begriff die Tante, um was es sich handelte, und daß die Lehrerin, wohl ergrimmt über Dinas vermeintliche Verstocktheit, sie so derb angefaßt hatte.
Am Nachmittag begab sie sich also selbst zu dem Direktor, der auch schon die Sache erfahren hatte, und nun mit der Lehrerin sprach, die jetzt wohl einsah, daß Dinas anscheinende Unart mehr aus Unkenntnis der Schulordnung entstanden war.
Frau Weber ließ Dinas Sachen abholen und redete dann dem Kinde gut zu, sie müsse doch zur Schule gehen, wie alle die anderen Mädchen, und was denn aus ihr werden sollte wenn sie nicht lernen wollte.
Schließlich ließ sich Dina überzeugen. Besonders waren es einige Worte des Konsuls gewesen, die sie dazu bewegten. Dieser hatte nämlich eingeworfen: »Die Mühlmannschen Knaben werden Dich schön auslachen, wenn sie Deine Streiche erfahren.«
Das hatte gewirkt. Dina war der Gedanke schrecklich, daß die Knaben sie verspotten könnten, und sie schämte sich vor ihnen.
»Aber Nelly wird doch Alles erzählen«, äußerte sie betreten.
Da schlug der Konsul denn vor, gleich einmal zu Nelly herüberzuschicken und sie holen zu lassen.
Die Tante meinte zwar, Dina würde schließlich noch denken, sie sei im Recht, während man sie doch fühlen lassen müsse, daß solches Betragen den Spott herausfordere.
Aber der Konsul, der stets seinen Liebling in Schutz nahm, erklärte: »Liebes Malchen, dann hätten wir von Anfang an das Mädchen an harte Behandlung und böse Worte gewöhnen müssen, und das wolltest Du doch ebensowenig wie ich.«
Als Nelly kam, flog ihr Dina entgegen.
»Na, Dinchen, Du machst ja schone Geschichten«, redete die ältere Freundin auf sie ein; sie hatte natürlich von den Schulkameradinnen längst Alles gehört. »Wie kamst Du bloß dazu, Du großes Mädchen, wie ein kleines Kind auszureißen?«
Dina schmeichelte es, von der altklugen Nelly, die sonst immer auf sie herabsah, »großes Mädchen« genannt zu werden, und sie stellte ihr noch einmal eindringlich die ganze Geschichte vor, indem sie ihr den Zorn der Lehrerin so gewaltig ausmalte, daß schließlich Nelly ganz außer sich war.
»Ja, die Sellerie ist ein schlimmes Küchengewächs, so sagen wir immer«, stimmte sie ärgerlich bei. »Sie ist ungerecht und heftig, aber weißt Du, wenn Du schlau bist, lernst Du bei ihr die Aufgaben doppelt gut, dann kann sie Dir nichts anhaben.«
Dieser Rat leuchtete Dina ein, und sie befolgte ihn in Zukunft.
Zunächst aber zog sie Nelly, ehe diese ging, auf die Seite und fragte: »Du, Nelly, wissen's die Jungen schon?«
»Was denn?« fragte Nelly. »Das mit der Sellerie?«, und lachend fügte sie hinzu: »Nein, Dinchen, wenn auch das Gymnasium direkt an unsere Mädchenschule stößt, Schulwände haben doch keine Ohren.«
»Du hast ihnen nichts erzählt?« fragte Dina von Neuem.
»I bewahre«, lautete die Entgegnung.
»Und Du wirst ihnen auch nichts sagen?« fragte Dina nochmals, um ganz sicher zu gehen.
Aber Nelly antwortete bloß wegwerfend: »Ich bin doch keine alte Klatschbase.«
Für diese Antwort erhielt sie von Dina zur Belohnung einen stürmischen Kuß, und mit dem Versprechen, nie gegenseitig etwas von einander zu erzählen, trennte sich die Beiden.
Dina gefiel es in der Schule in der Folge bald ganz gut. Bei der Sellerie hatte sie nur wenige Stunden, und da sie Nellys Rat befolgte und zu diesen immer besonders gut lernte, so war auch Fräulein Selle sehr mit ihr zufrieden. Leider unterrichtete Fräulein Sauer nur in den tieferen Klassen, so daß sie Dina außer in den Freiviertelstunden in der Schule kaum sah. Aber jede Woche einen Tag regelmäßig kam Fräulein Sauer noch zu Webers zu Tisch, und dann berichtete Dina ihr von allen ihren Erlebnissen und neuen Freundinnen.
Ihre Mitschülerinnen hatten sehr bald Gefallen gefunden an der lustigen, übermütigen Kameradin, und besonders zwei Schwestern, Ella und Käte Mohr, hatten sich gleich an Dina angeschlossen. Käte war etwa in demselben Alter wie Dina, ein kluges, gewecktes Kind, Ella war zwei Jahre älter. Sie lernte schwer und kam nur langsam mit, aber sie war ein herzensgutes Mädchen und immer bereit, auf alle die drolligen Ideen ihrer jüngeren Schwester einzugehen. Auch hielt sie sich immer zu den Kleinen in der Klasse, während die anderen älteren Schülerinnen sich sehr erhaben über die etwas jüngeren fühlen. Besonders waren da zwei, die sich sehr abschlossen von den Anderen, obgleich sie auf der vorletzten Bank saßen und gar keine Musterschülerinnen waren. Sie hatten auch fortwährend etwas mit Dina vor und hänselten und neckten sie, wo sie konnten. Die eine, Lieschen Müller, hatte sie gleich am ersten Tage nach Oskar Mühlmann gefragt. Sie hatte stets mit Nelly Verkehr gesucht, aber diese mochte das »vorlaute Ding«, wie sie sie nannte, nicht leiden. Als sie daher Dina soviel mit Nelly zusammen sah, machte sie sich an diese heran.
Nelly selbst interessierte sie auch nicht weiter, aber Oskar Mühlmann mit seinen Gefährten hatte sie öfter auf der Straße getroffen, er hatte ihr gefallen, und sie wollte gern Gelegenheit haben, öfter mit ihm zusammen zu kommen.
Sie schlug deshalb Dina schon am zweiten Tage vor, sie wollten gemeinsam nach Hause gehen.
Doch Dina lehnte es ab, sie ging immer mit Nelly.
Am anderen Tage zog Lieschen Müller Dina auf die Seite und flüsterte ihr zu: »Dinchen, komm' heute mit mir in die Konditorei. Ich habe mir dreißig Pfennige Taschengeld gespart, da halte ich Dich frei. Die Knaben vom Gymnasium kommen auch hin, und dann ist's immer sehr lustig.«
Der Gedanke an die Konditorei lockte unser Süßmäulchen, aber sie meinte, sie wollte lieber erst Nelly fragen, ob sie auch wirklich mitgehen dürfte.
Doch Lieschen meinte: »Die superkluge Nelly brauchst Du schon garnicht zu fragen, die erzählt es höchstens Deiner Tante.«
»Aber«, warf Dina ein, »der Tante müßte ich doch überhaupt selber sagen, wenn ich später nach Hause komme, wo ich gewesen bin.« »Ach, Du liebe Unschuld«, seufzte Lieschen, »da sagt man doch, man hat sich auf dem Schulweg versäumt oder hat noch eine Freundin ein Stück weit begleitet oder sonst etwas.«
»Aber Lieschen«, fiel ihr ganz betroffen Dina in's Wort, »das wäre ja gelogen.«
»Notlügen sind erlaubt«, warf Lieschen hin.
Doch Dina blieb dabei: »Ich frage lieber erst Nelly und komme morgen mit.«
»Dummes Ding«, brummte Lieschen und wandte ihr den Rücken. Natürlich kam Dina auch am nächsten Tage, und den darauffolgenden nicht.
Nelly hatte ihr gleich gesagt, als Dina ihr von Lieschen und der Konditorei gesprochen: »Mit Lieschen Müller mußt Du Dich nicht einlassen, Dinchen, sie ist ein abscheuliches Mädchen. In der Schule thut sie nichts und ihr Geld vernascht sie, dabei ist sie so keck, daß auch die Knaben nichts von ihr wissen mögen. Ox sagt, die dürfte gar nicht in einer höheren Töchterschule mit netten Mädchen zusammen sein.«
»Wenn mich nun aber ein andermal eine Andere als Lieschen Müller auffordert, mit in die Konditorei zu gehen, darf ich es dann thun?« fragte Dina.
Doch Nelly entschied: »Nein, Dina, ich bin auch nie mitgegangen in die Konditorei, sondern habe mir lieber mein Taschengeld gespart und mir dann ein hübsches Buch oder sonst etwas dafür gekauft. Mama sagt immer, das viele Naschen macht schlechte Zähne, und wenn man vor Tisch Süßes ißt, hat man hernach zu Mittag keinen Appetit«
Dina blickte nachdenklich vor sich hin, es schien ihr doch leid zu thun, die Konditorei aufzugeben, doch Nelly meinte:
»Möchtest Du denn wirklich nicht mehr mit mir nach Hause gehen, Dinchen? Der Heimweg ist doch immer so hübsch.«
Und da stimmte ihr Dina bei. Aus dem Rückwege von der Schule hatte sie sich mit Nelly stets sehr vieles zu erzählen gehabt, und die jüngeren Gefährtinnen hatten sie beneidet, daß sie mit der Schülerin aus der ersten Klasse ging.
Manchmal hatte auch Oskar sie aus dem Heimwege eingeholt; Mütchen kam meist erst eine ganze Weile später nachgetrabt, da er stets noch irgend eine Schlägerei mit seinen Kameraden auszufechten hatte.
Wenn Dina und Nelly wußten, daß Oskar zur gleichen Zeit Schulschluß hatte wie die Mädchen, verlangsamten sie ihren Schritt oder warteten an der Straßenecke.
Eines Tages war es Dina sehr lange erschienen, bis Ox sich blicken ließ. Sie spähte mit Nelly rückwärts, ob er noch nicht auftauchte, und plötzlich, ehe es Nelly verhindern konnte, hatte Dina ihre Schulmappe auf die Erde geworfen, und war eins, zwei, drei an dem Laternenpfahl in die Höhe geklettert um die Straße besser zu überschauen.
Lieschen Müller kam gerade des Weges und rief ihr spöttisch zu: »Willst Du am hellen lichten Tage die Laternen anstecken, Dina?«
Und Nelly mahnte: »Dina, Dina, bitte, komm doch herunter; was sollen denn die Leuten denken.«
Aber Dina dachte nicht daran, ihren Auslugsposten aufzugeben, und als Ox daher kam, sah er sie schon von weitem, wie sie ihr Taschentuch ihm entgegenschwenkte.
Am nächsten Tage, als Dina in die Klasse trat, war an der Wandtafel eine Laterne aufgezeichnet an der ein Mädchen emporklomm, und darunter stand mit Lieschens Handschrift:
Das Mädchen auf dem Laternenpfahl,
Wer dieses ist, das ratet 'mal!
Lieschen nannte fortan Dina nur noch Fräulein von Laternenpfahl, oder Laternenpfahl-Dina.
Eines Tages hatte es Lieschen aber doch fertig gekriegt, sich Dina anzuschließen, als diese nach Hause ging. Nelly hatte noch einen Gang zu machen und Dina ging allein, als sie nach kurzer Zeit Käte und Ella Mohr, denen sich Lieschen zugesellt hatte, einholten. Als sie ein Stück weit gegangen, kam auch Ox des Weges und schloß sich ihnen an. Er hatte Käte und Ella ganz gern, mochte aber Lieschen nicht leiden. Als daher Käte und Ella an ihrer Wohnung angekommen waren und sich verabschiedeten, während Lieschen sich anschickte mit Ox und Dina weiterzugehen, raunte Oskar dieser zu:
»Wenn Du Lieschen mitnimmst, so gehe ich meiner Wege.«
»Wir wollen ihr weglaufen«, erwiderte Dina ebenso leise und laut schlug sie vor, als Mohrs im Hause verschwunden waren:
»Wie wäre es, wenn wir hier entlang Wettrennen machten. Die Straße ist leer, wer zuerst unten nur Baumrondel ankommt, hat gewonnen.«
Ehe Lieschen etwas erwidern konnte, stürmten Oskar und Dina in wilder Jagd davon, und sie konnten gut laufen die zwei, so daß es für Lieschen gar kein Gedanke war sie einzuholen. Lachend, daß die List so gut gelungen war, und ganz erhitzt von dem schnellen Lauf kamen sie zu Hause an. Lieschen Müller aber, die den Plan auch ihrerseits durchschaut hatte, ging verdrossen von dannen.
Am nächsten Tage sprach sie kein Wort mit Dina, aber in der Stunde bei dem französischen Lehrer, dem Pünktchen, bekam Dina plötzlich von hinten ein paar Federn an den Kopf geworfen, als sich Herr Bong, – so hieß das Pünktchen eigentlich, – gerade nach der anderen Seite gewandt hatte. Dina that, als ob sie es nicht bemerkte, aber kaum sah der Lehrer wieder fort, da folgten eine kurze Bleifeder, ein zusammengerolltes Frühstückspapier und schließlich ein Tintenwischer. Dieser traf Dina empfindlich an der Schläfe und ärgerlich sprang sie auf.
Einen Augenblick zielte sie, dann traf der Tintenwischer wohlgeschleudert, gerade Lieschen Müller mitten auf die Nase.
Sprachlos hatte der Lehrer, der sich bei Dinas heftigem Aufschnellen umwandte, dem Manöver zugeschaut.
»Bernhardine«, sprach er dann streng, »ich schreibe Ihnen einen Tadel wegen schlechten Betragens ins Klassenbuch.«
Dagegen sträubte sich aber Dinas Gerechtigkeitsgefühl.
»Herr Bong«, sagte sie ruhig, »dann müssen doch vor allem diejenigen einen Tadel bekommen, die zuerst warfen. Ich habe den Federwischer nur dahin zurückgeworfen, woher er kam.«
»Also Luise Müller ist wieder die Anstifterin«, meinte Herr Bong. »Sie großes Mädchen sollten sich doch wirklich schämen, solche Thorheiten in der Stunde anzugeben und den neuen Schülerinnen mit schlechtem Beispiel voranzugehen.«
Dina bekam keinen Tadel im Klassenbuch eingeschrieben, aber Lieschen Müller hatte sie sich jetzt endgültig zur Feindin gemacht.
Diese sah sie gar nicht mehr an und einmal, wie Dina mit Ella und Käte Mohr ging, rief sie höhnisch hinterher:
»Dina von Capri, willst eine feine Prinzessin sein und bist doch nur von der Straße aufgelesen.«
»Was will sie?« fragte Dina erstaunt, die den Sinn der Rede nicht verstand.
Aber Ella Mohr meinte: »Auf die höre nur gar nicht, mit der wollen wir Alle nichts zu thun haben.«