Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Reise war für Dina ein unaussprechliches Vergnügen. Viel zu schnell legte der Dampfer an der Landungsdrücke in Neapel an, und sie wollte durchaus nicht aussteigen und bat den Onkel Doktor, nur ein halbes Stündchen noch auf dem Dampfschiffe bleiben zu dürfen. Doch der Doktor verstand bald sie zu überreden.
»Jetzt kommt's noch besser, Dina«, meinte er, »jetzt setzen wir uns hinter eine große Dampfmaschine in die Eisenbahn, und die fährt noch viel, viel schneller als das Dampfschiff.«
Das wirkte. Dina konnte nun nicht schnell genug an Land kommen und saß erwartungsvoll im Koupee, längst ehe der Zug abging.
Als es dann aber pfiff, gerade wie beim Dampfschiff, und die Fahrt vorwärts ging, fand sie es wirklich ganz wunderschön. Sie entsann sich jetzt auch dunkel, daß sie schon einmal, damals als kleines Kind, mit ihrer Mutter in der Eisenbahn gefahren war, aber das war ihr seitdem ganz aus der Erinnerung geschwunden.
Mäuschenstill saß sie da, mit gefalteten Händchen und ganz andächtig, so daß der Doktor ruhig und ungestört seine Zeitungen lesen konnte. Nur jedesmal wenn der Zug hielt, fragte sie: »Sind wir nun schon in Deutschland, Onkel Doktor?«
Der Doktor mußte schließlich lachen und erklärte ihr nun, sie kämen erst nach Rom und dort blieben sie über Nacht und am anderen Tage ginge es wieder weiter, einen ganzen Tag und eine Nacht und noch einen Tag und dann wären sie in Berlin.
»Wie kann das nur bei dem schnellen Fahren so lange dauern«, meinte Dina.
Und der Doktor sagte: »Ja, Dina, der Weg ist sehr weit.«
Auf der nächsten Station fragte er sie dann, ob sie auch wüßte, wodurch sich denn die Eisenbahn so schnell fortbewege.
»Da zieht einer«, erklärte Dina.
Doch der Doktor zeigte ihr, daß das nicht der Fall sei.
»Nun«, meinte Dina, »dann schiebt einer.«
Der Doktor wies ihr, daß auch dies falsch sei. »Aber, Onkel Doktor«, sagte Dina nun, »einer kann doch auch nicht Alles wissen.«
»O, Du Dummerchen«, lachte der Doktor und er setzte ihr nun auseinander, wie vorn im ersten Wagen der Eisenbahn, der sogenannten Lokomotive, ein großer Kessel mit Wasser sei, der mächtig geheizt würde, so daß der Dampf die Maschine vorwärts stieße. Das erregte Dinas lebhaftes Interesse und sie wollte immer noch mehr hören und setzte schließlich den guten Doktor mit ihren eingehenden Fragen wirklich in Verlegenheit.
In Rom stiegen die Beiden aus, und der Doktor begab sich mit seinem Schützling in ein großes Hotel, wo Dina neben dem seinigen ein kleines Zimmerchen für die Nacht angewiesen erhielt.
In der That war sie so müde, daß sie kaum noch ihre Milch zum Abendbrod austrank und dann auf dem Sopha einschlief, so daß der gute Dokter sie mit Hilfe des Zimmermädchens auskleiden und zu Bett bringen mußte.
Es war für Dina die erste Nacht in einem richtigen Bett, und als sie sich am nächsten Morgen die Augen wach rieb, konnte sie sich zunächst gar nicht erklären, wo sie war.
Als der Doktor seinen Morgenkaffee trinken wollte, mußte er aber zuvor lange nach Dina rufen. Diese tollte schon seit einigen Stunden auf dem großen Platze vor dem Hotel umher, wo es so viel zu sehen gab, wie Eselstreiber mit ihren Tieren, Droschken und Karren, Verkäufer und Marktschreier.
Endlich kam sie.
»Du liebe Güte, wie siehst Du denn aus«, rief ihr der Doktor entgegen.
In der That bot Dina einen drolligen Anblick dar. Sie hatte sich, da sie das für ihre Gewohnheiten viel zu lange Kleid Nellys beim Umherspringen hinderte, vom Zimmermädchen eine Scheere zu verschaffen gewußt und den Rock einfach bis zum Knie abgeschnitten.
In der Geschwindigkeit war das noch dazu recht ungleich und ungeschickt besorgt und überdies war das Kleidchen, das hinten zum zuknöpfen war, von Dina umgekehrt angezogen und auch nur einige der Knöpfe und Haken befestigt, so daß die Kleine wirklich wie ein Zigeunerkind aussah.
Der Doktor wollte zuerst schelten, aber Dina sprang ihm so fröhlich entgegen, daß er's nicht über's Herz brachte. Er übergab sie deshalb nur dem Schweizer Zimmermädchen, die sogleich begriff, was man von ihr verlangte, das Kleidchen richtig anzog und zurecht zupfte und über dem abgeschnittenen Ende geschickt eine Spitze anzunähen wußte. Auch bürstete sie Dinas Locken und wusch ihr den Staub aus den Augen, so daß, als diese schließlich im Frühstückszimmerer schien, der gute Doktor leidlich zufrieden gestellt war.
Froh war er, als er erst wieder im Zuge saß, wo Dina keinen Unfug treiben konnte, obgleich sie sich heute lange nicht so still verhielt wie am Tage vorher. Immer gab es etwas zu sehen und zu fragen, von einem Fenster ging's an's andere in ewiger Unruhe.
Als nun gar die hohen Bergspitzen der Alpen in Sicht kamen, war Dina außer sich vor Erstaunen.
»Hier sind die Berge weiß, Onkel Doktor. Onkel Doktor, schau nur«, rief sie und deutete nach den beschneiten Höhen.
Und wo Wolken an den Bergen schwebten, rief sie: »Onkel Doktor, da brennt's.«
Sehr schwer war es ihr auch zu begreifen, daß sie setzt mit der Eisenbahn den Berg hinaufführen. Sie meinte, da müßten sie ja alle hinten aus dem Zuge herausfallen.
Zum Glück wurde es bald dunkel und mit Dunkelwerden schlief Dina immer ein. Und sie schlief fest und süß bis die Sonne am andern Morgen schon hoch am Himmel stand.
Aber erst als die liebe Sonne längst wieder untergegangen war, langten die beiden Reisenden in der Reichshauptstadt an. Der Doktor hob Dina aus dem Zug und nun ging's durch die hell erleuchteten Straßen nach der Vorstadt im Westen, wo die Villa des Consuls lag.
Erst auf wiederholtes Klingeln wurde dem Doktor indessen geöffnet und dann hieß es: »Die Herrschaften sind gestern auf ihr Landgut hinausgefahren.«
Der gute Doktor war recht ärgerlich. Es blieb nichts übrig, als Dina für eine Nacht in seinem Junggesellenheim zu beherbergen, wodurch er sich in hohem Maaße die Ungnade seiner alten Wirtschafterin Barbara zuzog, die ihrem Unwillen über den ungebetenen Besuch recht deutlich Ausdruck gab. Um sie nicht noch mehr zu verstimmen, begab sich der Doktor selbst daran für das Kind eine Lagerstatt auf seinem großen Schlafsopha zu bereiten, und erst als Dina ihm einen herzhaften Gutenachtkuß gegeben und ihr Abendgebet gesprochen, begab er sich selbst zur Ruhe.
Am nächsten Morgen trieb es ihn ganz früh heraus, er wollte die erste Gelegenheit benutzen, seinen Schützling an Ort und Stelle abzuliefern und deshalb saß er schon um acht Uhr wieder mit Dina in der Eisenbahn. Diesmal war es nur eine kurze Fahrt. Schnell zogen die Vororte Berlins am Wagenfenster vorüber, dann ging es eine Strecke weit durch öde Kiefernheide und schließlich durch hochstämmigen Fichtenwald, bis der Zug an einem kleinen, roten Stationshaus Halt machte. Der Doktor sprang aus dem Koupee und Dina ihm nach, dann pfiff die Eisenbahn auch schon weiter, und die Beiden traten durch eine niedrige Bahnhofshalle auf die Straße hinaus. Hier stand ein alter, wackeliger Omnibus mit der Aufschrift: Dorf Stechlin. war das Dorf, das zu dem Gute des Konsuls gehörte.
Mit Dina und dem Doktor, den beiden einzigen Fahrgästen, polterte nun der Omnibus über den gepflasterten Steindamm der bis zum nächsten Flecken ging, dann bog er rechts ab, wo ein Landweg durch wunderschönen, dichten Buchenwald gen Süden führte.
Dina jubelte laut auf bei dem Anblick der herrlichen Laubbäume, wie sie sie in Italien nie gesehen.
»Onkel Doktor, die Sonne ist untergegangen«, rief sie, als der Waldesschatten immer dichter wurde, und der Doktor mußte ihr erst erklären, wie es nicht möglich sei, daß die Sonne durch das dichte Blätterdach hindurch schiene.
An einer Lichtung gab sie keine Ruhe bis der Kutscher einige Augenblicke anhielt und sie hinausspringen und sich schnell eine Hand voll Schlüsselblümchen und Vergißmeinnicht pflücken konnte.
»Die müssen Blausternchen heißen«, erklärte sie dem Doktor. Vergißmeinnicht hatte sie noch nie gesehen, während die Schlüsselblümchen sie an ähnliche Blumenarten in Italien erinnerten.
Durch nichts war sie zu bewegen nun wieder in den Omnibus zu steigen. Lachend sprang sie neben den mageren Kleppern her, die das Gefährt in schwerfälligem Schritt durch den Sand zogen und war manchmal so weit voraus, daß der Doktor sie gänzlich aus dem Gesicht verlor. Endlich kamen die ersten, sauberen Häuser des Dorfes in Sicht und es wahrte nicht lange, da hielt der Omnibus vor dem Postgebäude und der Doktor stieg bedächtig aus.
Dina an der Hand, schritt er auf das unweit gelegene Gutshaus zu und durch das breite, offene Thor den leicht ansteigenden Parkweg bis zum Hauptportal.
»Johann«, befahl er dem herbeieilenden Diener, »melden Sie mich sofort beim Herrn Konsul.«
Dina sah sich neugierig in der großen Eintrittshalle um; dicke Teppiche bedeckten den Boden, und schöne Holztäfeleien zierten die Wände; das hübschste aber waren zwei große Ritterrüstungen, die vor der Saalthür aufgestellt waren und den Anschein boten, als versperrten zwei wilde Recken aus dem Mittelalter jedem Fremden den Eintritt. Dina machte sich deshalb von der Hand des Doktors los und unterzog sie gerade einer näheren Besichtigung, als sich die Thür öffnete und ein älterer Herr mit grauem Vollbart und freundlichen, blauen Augen heraustrat. Seine Gestalt war schmächtig, aber muskulös und der Anzug von gesuchter Sauberkeit und Eleganz.
»Mein lieber Doktor«, rief er seinem Freunde entgegen, »was führt Dich denn zu solch früher Stunde nach Stechlin heraus, noch dazu jetzt, wo wir Dich fern in Capri wähnen.«
Erst jetzt gewahrte der Konsul Dina, deren Lockenkopf hinter dem Schild des Ritters auftauchte.
»I, da ist ja wohl gar Dein Schützling«, rief er, »das sieht mir ganz nach unserm Doktor aus, er setzt sich auf und fährt mit der kleinen Capreserin selbst zu Onkel und Tante, um sie abzuliefern. Ist's nicht so?«
Der Doktor nickte, und der Konsul wandte sich nun zu Dina, die immer noch im Schutze ihres Ritters aus der Ecke hervorlugte.
»Nichtchen«, meinte er, »so komm' doch endlich aus Deinem Versteck heraus und laß Dich einmal anschauen. Komm' gieb mir ein Patschhändchen.«
And der Doktor fügte hinzu: »Na, Dina, Du bist doch sonst nicht schüchtern, wie gefällt Dir denn nun der neue Onkel?«
Langsam war Dina herangetreten; sie hatte dem Konsul ihre Hand hingehalten, und betrachtete ihn schweigend von oben bis unten.
»Onkel Doktor«, erklärte sie schließlich, »Du gefällst mir besser, denn Du bist viel dicker.«
Die beiden Herren lachten, und der Konsul meinte: »Warte nur Kleine, unsere Freundschaft soll schon bald noch dicker werden, wie der dicke Doktor. – Aber nun wollen wir auch Deiner Tante guten Tag sagen, nicht wahr, die möchtest Du doch auch gerne kennen lernen?« »Ach nein«, erklärte Dina offenherzig, da sie für neue Menschen nicht viel übrig hatte, aber der Konsul hatte schon die Thür geöffnet und betrat mit ihr und dem dicken Doktor den Eßsaal, wo die Frau Konsul eben ihr Frühstück einnahm.
»Amalie«, rief er ihr zu, »sieh' nur, was ich Dir hier für eine Überraschung bringe, das ist unser Nichtchen aus Capri.
»Ja, wo kommt denn die her?« rief die Frau Konsul anscheinend nicht allzu freudig überrascht, als sie aber den Doktor Reinhart sah, schien auch ihr der Zusammenhang alsbald klar zu werden. Sie warf ihm einen etwas befremdeten Blick zu, der wohl heißen sollte: »Was mischst Du Dich eigentlich in unsere Angelegenheiten.« Doch sprach sie das nicht aus. Was half es auch. Das Kind war nun einmal da. Fortschicken konnte man es nicht wieder, über kurz oder lang hatten sie es doch zu sich nehmen wollen, es galt also der elternlosen Waise gegenüber die Pflichten der Verwandten zu erfüllen.
»Komm' einmal näher, mein Kind«, sprach die Frau Konsul deshalb ermunternd. »Du heißt ja wohl Berhardine?«
»Nein«, Dina schüttelte den Kopf. »Ich heiße Dina. Bist Du die Tante?«
»Die bin ich«, bestätigte die alte Dame. »Der Onkel und ich haben beschlossen, Dich in unserm Hause aufzunehmen und hoffen, daß Du uns Vertrauen und Gehorsam entgegenbringen wirst. Willst Du das thun, Berhardine?«
»Ja, aber ich heiße Dina«
»Das ist nur eine Abkürzung Deines eigentlichen Namens, mein liebes Kind«, sprach die Frau Konsul freundlich, aber bestimmt, »ich werde Dich, wie Du getauft bist, Bernhardine nennen.«
»Nennst Du mich auch Bernhardine«, wandte sich das Kind ängstlich an den neuen Onkel, die fremde Anrede wirkte befremdend aus sie.
»Ich sage Dina, oder Dinchen oder wie's dem kleinen Fräulein Nichte gefällt«, entschied der alte Herr und zu seiner Frau gewandt fügte er hinzu: »Die Sorge für die Erziehung des Kindes habe ich ein für alle Mal an Dich abgetreten, Malchen!«
Die Frau Konsul hatte nichts dagegen. Es war ihr fester Entschluß gewesen, sobald die Kleine zu ihnen käme, es sich angelegen sein zu lassen, aus ihr einen tüchtigen, brauchbaren Menschen zu machen. Freilich halte sie lieber gesehen, wenn Dina in einer guten Erziehungsanstalt erst etwas vorgebildet worden wäre für die Tochterstelle in ihrem Hause. Es wollte ihr nicht recht gefallen, daß das in der Wildnis aufgewachsene Italienerkind ihnen so in's Haus schneite, zumal sie gegen den jüngeren, sehr liebenswürdigen aber leichtsinnig veranlagten Bruder ihres Mannes stets sehr voreingenommen gewesen war und daher von seiner Tochter auch nicht allzuviel Gutes erwartete. Sicherlich, meinte sie, hatte die Kleine viele schlechte und böse Anlagen und von Anfang an wollte sie es sich zur Ausgabe machen, diese dem Kinde abzugewöhnen. Als sie in Dinas offene Augen geblickt halte, war die Überzeugung in ihr gewachsen, daß ihr dies gelingen müßte. Auch hatte sie wider Erwarten sogleich eine gewisse Zuneigung zu dem kleinen Ding gefaßt, das so mutterseelenallein in der Welt dastand. Denn wenn die Frau Konsul auch eine ernste und strenge Frau war, so hatte sie im Grunde doch ein gutes, warmes Herz, und als der Doktor daher gegangen war und sie mit ihrem Mann allein blieb, sprach sie guten Mutes: »Lieber Mann, durch die Ankunft des Kindes in unserm kinderlosen Hause erwachsen uns ernste Pflichten. Aber mit Gottes Hilfe hoffe ich, daß wir sie glücklich lösen und an unserm Schützling Freude erleben werden.«
»Und ich habe die feste Zuversicht, daß das Kind uns einsamen Leuten ein Sonnenschein im Hause sein wird«, fügte der Konsul hinzu.