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§ 100. Ist dieser Grund einmal recht gelegt und zeigen sich bereits die Früchte jener Ehrerbietung, so muß man sodann die Eigenart des Kindes und die besondere Beschaffenheit seines Gemüts genau studieren. Widerspenstigkeit, Lügen und Bosheiten dürfen, wie ich schon gesagt habe, von Anfang an ihm nie verstattet werden, seine Gemütsart sei übrigens welche sie wolle. Diese Keime des Lasters müssen schlechterdings nicht Wurzel fassen, sondern sorgfältig ausgerottet werden, sobald sie nur hervorsprossen. Eure Autorität muß bei dem ersten Erwachen der Erkenntnisfähigkeit in seiner Seele Platz nehmen, damit sie sozusagen zu einem natürlichen Grundtrieb werde, dessen Entstehung das Kind selbst sich nicht bewußt ist, damit es nicht wisse, daß es je anders gewesen oder anders sein könne. Ist aber die Ehrerbietung, die es euch schuldig ist, so früh gegründet worden, so wird sie ihm gewiß heilig sein und es wird ihn: ebenso schwer werden, ihr zu widerstehen wie den Trieben seiner Natur.
§ 101. Hat man nun seine Autorität so frühzeitig festgesetzt und durch gelinde Behandlung das Kind von alledem, was unmoralische Fertigkeiten nach sich ziehen könnte, gleich bei den ersten Äußerungen zurückgebracht (wozu keineswegs Schelte und noch weniger Schläge gebraucht werden müssen, es sei denn, daß Hartnäckigkeit und Unsträflichkeit es erfordern), so muß man nun untersuchen, wohin die natürliche Anlage des Gemüts sich neigt. Einige Menschen sind vermöge der unveränderlichen Form ihres Naturells stolz, andere furchtsam, manche sind zuversichtlich, andere bescheiden, biegsam oder hartnäckig, neugierig oder unachtsam, lebhaft oder schläfrig. Mit einem Wort, die Menschen sind nach ihren inneren Anlagen und Neigungen ebenso verschieden als nach ihren Gesichtszügen und der Bildung des Körpers. Nur darin liegt der Unterschied, daß der unterscheidende Charakter in. der Gesichtsbildung und in den Umrissen des Körpers mit den Jahren und mit dem Alter immer sichtbarer wird und sich mehr entfaltet, dahingegen die Physiognomie der Seele im Kindesalter unverhüllter und in die Augen fallender ist, weil sie noch nicht gelernt haben, durch Kunst und Gleisnerei ihre Häßlichkeiten zu verbergen und ihre bösen Neigungen unter einer täuschenden Außenseite zu verhehlen.
§ 102. Man fange also beizeiten an, die Gemütsart eines Kindes genau zu beobachten, und zwar, wenn es den wenigsten Zwang empfindet, bei seinen Spielen, wenn es gar nicht bemerkt zu werden glaubt; man sehe, welches seine herrschenden Leidenschaften und überwiegenden Neigungen find; ob es wild oder sanft, kühn oder blöde, mitleidig oder grausam, offen oder zurückhaltend ist usw.; denn nach diesen Verschiedenheiten muß sich auch die Behandlung richten und die Art und Weise, das Kind zu lenken und zu regieren. Diese natürlichen Anlagen, welche in der individuellen Konstitution oder im Temperament ihren Grund haben, lassen sich jedoch weder durch Vorschriften noch durch direkten Widerstand abändern, und am wenigsten solche, die ihre Quelle in der Furcht und Niedergeschlagenheit des Gemüts haben, obgleich sie durch Kunst großenteils verbessert und zu guten Zwecken hingeleitet werden mögen. Allein wenn man auch in dieser Ansicht alles tut, was man kann, so bleibt doch das Übergewicht immer auf der Seite, wo die Natur es zuerst hinlegte, und wer den Charakter eines Kindes in den ersten Lebensszenen sorgfältig beobachtet, wird in der Folge den Gang seiner Gedanken und seine Absichten leicht erraten, wenn auch die Entwürfe des erwachsenen Jünglings verwickelter und die Gestalten, worunter er sich verbirgt, mannigfaltiger werden.