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§ 43. Nach diesen allgemeinen Bemerkungen ist es nun wohl Zeit, die einzelnen Teile der Kinderzucht etwas näher zu zergliedern. Ich habe soviel von der Einschränkung gesagt, in welcher man die Kinder halten soll, daß ich in den Verdacht zu kommen fürchte, als hätte ich auf das zarte Alter und die Schwäche derselben zu wenig Rücksicht genommen. Allein diese Meinung wird bald verschwinden, wenn man nur etwas weiter lesen will; denn ich bin sehr geneigt zu glauben, daß eine zu harte Behandlung bei der Erziehung wenig Gutes, ja im Gegenteil viel Böses stiftet. Kinder, die zu hart gezüchtigt worden sind, werden selten recht gute Menschen. Das, was ich bisher über diesen Punkt gesagt habe, zielt bloß dahin, daß, wofern ja Strenge nötig ist, solche bei kleinen Kindern angewendet werden muß. Hat man nun durch einen vorsichtigen Gebrauch derselben die gewünschte Absicht erreicht, so muß die Strenge nachlassen und eine mildere Behandlung gewählt werden.
§ 44. Wenn Kinder durch ein standhaftes und festes Betragen ihrer Eltern so früh zum Gehorsam und zur Unterwerfung gewöhnt werden, daß sie sich selbst in der Folge nicht erinnern können, wenn oder wie dies geschah: so wird ihnen diese Folgsamkeit so zur Natur werden, daß es ihnen nie einfallen wird widerspenstig zu sein oder sich zu widersetzen. Die Hauptsache ist nur, daß man früh damit anfängt, und mit der größten Standhaftigkeit damit fortfährt, bis Ehrfurcht und Unterwürfigkeit ihnen so natürlich geworden sind, daß auch nicht ein Schatten von Widerspenstigkeit dabei wahrzunehmen ist. Hat man ihnen einmal eine solche Ehrerbietung gehörig eingeprägt, so kann man sie in der Folge bloß dadurch lenken und regieren, auch nach Maßgabe, wie sie größer und verständiger werden, etwas mehr Nachsicht damit verbinden, dafern sie keinen üblen Gebrauch davon machen. Dergestalt wird man auch nicht nötig haben, zu Schlägen, Schelten und anderen niedrigen Züchtigungen seine Zuflucht zu nehmen. Ich wiederhole es aber, es muß frühzeitig geschehen: sonst wird es sehr viel Mühe und Schläge kosten, und zwar um so mehr, je weiter man es hinausgeschoben hat.
§45. Daß dem also sei, wird ein jeder leicht eingestehen, der die Hauptabsicht einer guten Erziehung reiflich erwägt, und worauf es dabei hauptsächlich ankommt.
1. Wer seine Neigungen nicht beherrschen kann, wer dem Eindruck eines gegenwärtigen Vergnügens oder Schmerzes nicht zu widerstehen vermag, sobald es die Vernunft befiehlt, dem fehlt es an der wahren Grundlage zur Tugend und Tätigkeit: kurz, er ist in Gefahr, ein Taugenichts zu werden. Diese Gemütsfassung aber, die in der Tat den rohen ungebildeten Neigungen des Menschen nicht behaglich ist, muß beizeiten bewirkt werden; denn die daraus entstehenden Fertigkeiten sind der Grund aller künftigen Glückseligkeit und Brauchbarkeit. Sobald daher Kinder nur einige Spuren von Erkenntnis- und Begriffsvermögen äußern, muß jene Seelenfähigkeit (die Selbstbeherrschung) in ihnen geübt werden, und diejenigen, denen die Erziehung derselben anvertraut ist, müssen alle nur ersinnliche Mittel und Sorgfalt anwenden, sie darin zu bestärken.
§ 46. 2. Wenn aber auf der anderen Seite der Geist zu sehr niedergedrückt und gedemütigt wird, wenn man ihre Lebhaftigkeit durch übertriebene Einschränkung zu sehr niederschlägt, so verlieren sie oft allen Mut und Tätigkeit und verfallen sodann in einen weit gefährlicheren Zustand, als der vorhergehende ist. Ausgelassene junge Leute voll Geist und Feuer kommen zuweilen noch auf gute Wege und werden große und vortreffliche Männer. Aber schwache, furchtsame, blöde und niedrige Seelen erheben sich selten, und es hält schwer, etwas aus ihnen zu machen. Diese beiden einander entgegengesetzten Klippen zu vermeiden, ist die größte Kunst des Erziehers. Wer hier die wahre Mittelstraße zu treffen weiß, wer ein Kind mit Leichtigkeit und ohne großen Zwang von solchen Dingen abzuhalten versteht, wozu seine Begierden es reizen, für andere Dinge aber, die ihm zwar unangenehm, aber nützlich sind, ihm Neigung einzuflößen; wer, sage ich, diese scheinbaren Widersprüche zu vereinigen weiß, hat, nach meiner Einsicht den pädagogischen Stein der Weisen gefunden.
§ 47. Das gemeinste und kürzeste Mittel, dessen sich Erzieher bedienen, ist der Stock und die Rute; es ist aber zu diesem Zweck gerade das unschicklichste, weil eben daraus jene einander entgegengesetzten Übel entstehen, die ich soeben als die gefährlichsten Klippen dargestellt habe, welche, sobald man ihnen zu nahe kommt, den ganzen Zweck der Erziehung zugrunde richten.
§ 48. Denn diese Gattung der Strafen trägt 1. nicht das geringste dazu bei, den natürlichen Hang besiegen zu lernen, der uns zum Genuß jedes vorübergehenden sinnlichen Vergnügens und zur Vermeidung jeder widrigen Empfindung antreibt, es koste übrigens, was es wolle. Sie vermehren vielmehr diesen Hang, welcher die Wurzel aller lasterhaften Handlungen und Ausschweifungen ist und bestärken uns in demselben. Welch ein anderer Bewegungsgrund als ebendiese Sinnlichkeit kann wohl bei dem Kinde stattfinden, wenn es gegen seine Neigung beim Buche sitzt oder eine ungesunde Frucht, die seinen Appetit sehr reizt, nicht anrührt, bloß weil es sich vor Schlägen fürchtet? Es tut hierbei weiter nichts, als daß es das größere körperliche Vergnügen dem geringeren vorzieht oder von zwei körperlichen Übeln das kleinere wählt. Den Willen durch solche Gründe bestimmen, was heißt dies anders, als diejenigen Keime in dem Herzen des Kindes nähren, die wir mit aller nur möglichen Sorgfalt auszurotten bemüht sein sollten? Ich kann daher auch nicht glauben, daß irgendeine Züchtigung von Nutzen sein könne, wenn bei Erduldung derselben die Scham, daß es seiner Unart wegen leidet, nicht stärker wirkt als der körperliche Schmerz.
§ 49. 2. Diese Art von Strafen bringt natürlicherweise einen Widerwillen gegen dasjenige hervor, was der Erzieher dem Zöglinge liebenswürdig machen sollte. Wie oft geschieht es nicht, daß Kinder diejenigen Dinge, die ihnen sonst angenehm waren, zu hassen anfangen, sobald sie um derselben willen geschlagen und übel behandelt werden. Montaigne ist ebendieser Meinung. »Ich mißbillige,« sagte er, »jede Art von Gewalttätigkeit in der Erziehung einer zarten Seele, die man für Ehre und Freiheit bilden will. Es ist so etwas Sklavisches bei Strenge und Gewalt, und ich halte dafür, daß das, was nicht durch Vernunft, Klugheit und Geschicklichkeit erhalten wird, niemals durch Zwang geschieht. Ich habe von der Rute nie eine andere Wirkung gesehen, als daß sie das Gemüt noch niederträchtiger, boshafter und eigensinniger machte.« Versuche 2. Buch, 8. Kap. Coste. Es ist dies auch nicht zu verwundern, da man auch erwachsenen Leuten auf diese Weise Abneigung gegen viele Dinge einflößen kann. Wem sollte das unschuldigste Vergnügen nicht ekelhaft und verhaßt werden, wenn man ihn, sobald er etwa keine Lust dazu hat, mit Schlägen und, übeln Worten dazu zwingen oder ihm schlecht begegnen wollte, wenn er etwa einen kleinen Umstand dabei nicht beobachtet hätte? Dieses ist sehr natürlich. Die unschuldigste Sache kann durch unangenehme Nebenumstände sehr zuwider werden. Es gibt Personen, die bis zum Erbrechen gereizt werden, wenn sie nur die Tasse erblicken, woraus sie einmal eine sehr ekelhafte Arzenei genommen haben; sie werden nie mit Vergnügen daraus trinken, sie mag auch noch so rein und kostbar sein.
§ 50. Solch eine knechtische Behandlung verursacht 3. eine sklavische Gemütsart. Dem Schein nach unterwirft sich das Kind und stellt sich gehorsam, solange die Rute noch über ihm schwebt. Ist diese aber entfernt, sieht es sich von niemand bemerkt, so wird es im Verborgenen, wo es darauf rechnen kann, ungestraft zu bleiben, seinen Leidenschaften desto freier den Zügel schießen lassen; denn diese werden durch eine solche Behandlung keineswegs gedämpft, sondern nur noch mehr gestärkt und brechen dann mit desto größerer Heftigkeit hervor, sobald der Zwang vorüber ist.
§ 51. Wenn nun 4. die härteste Strenge auch endlich über die Natur des Kindes und dessen Unordnungen siegt, so entsteht daraus oft ein noch gefährlicheres Übel, indem der Geist des Kindes ganz niedergeschlagen wird. Dann wird aus dem kleinen mutwilligen Knaben ein niedriges, kleinmütiges Geschöpf, das durch seine unnatürliche Sittsamkeit zwar schwachen Menschen gefällt, die überhaupt blöde und untätige Kinder loben, weil sie kein Geräusch machen. und ihnen keine Unruhe und Beschwerlichkeit verursachen. Aber seinen Freunden wird es in der Folge lästig genug fallen und sein Lebenlang weder sich selbst noch andern etwas nütze werden. Schläge und alle andere sklavische Behandlungen und körperliche Strafen sind also nicht die zweckmäßigen Mittel, durch deren Anwendung weise, tugendhafte und verständige Menschen gebildet werden können. Sie dürfen daher nur selten, nur in wichtigen Fällen, und wenn sie wirklich unvermeidlich sind, gebraucht werden.