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Verurteilung wegen Erpressungsversuchs
(November 1883 bis 6. Juni 1884)
Da, wo die letzten Häuser stehen, im hohen Norden der Stadt, hinter dem alten jüdischen Kirchhof, mündet in die Schönhauser Allee die Franseckistraße. Die Straße zeigt neben den bekannten Mietskasernen noch einige Rohbauten und zahlreiche Baustellen. Eines der zuerst fertig gewordenen Häuser dieser Straße trägt die Nummer 3, und da wohnte im Winter des Jahres 1883 die Familie Hammermann.
Der Vater, Wilhelm Hammermann, kommt aus Süddeutschland. Er hat glückliche und, wie er sagt, ehrenreiche Tage gekannt. Er ist Schieferdeckermeister und Spritzenmeister gewesen und hat in dieser städtischen Vertrauensstellung Gelegenheit gehabt, mit hohen Standes- und Magistratspersonen zu verkehren. Welche Umstände ihn veranlaßt haben, sein ehrliches Handwerk aufzugeben und nach einem anderen, ich will nicht sagen unehrlichen, aber doch etwas zweifelhafteren und jedenfalls in der allgemeinen Schätzung weniger angesehenen zu greifen, weiß ich nicht. Kurzum, eines Tages finden wir ihn als Begleiter und Geschäftsgenossen seines Schwagers, der Zauberkünstler ist, auf den Jahrmärkten. Er scheint auch noch mit anderen Schaubuden herumgezogen zu sein. Er macht schlechte Geschäfte, er trennt sich von dem Zauberkünstler und kommt nach Berlin. Seine Frau ist inzwischen gestorben, und um seiner kleinen Tochter Helene eine andere Mutter zu geben, verheiratet er sich zum zweiten Male.
So besteht denn der Haushalt aus drei Mitgliedern: dem Vater, der zweiten Frau und der Tochter. Alle wollen leben. Da erinnert sich Wilhelm Hammermann, daß seine Schwägerin, die Schwester seiner verstorbenen Frau, mit Modellstehen Geld verdient hat; und da er kräftig und gut gebaut ist, meldet er sich bei den Künstlern und findet in der Tat eine anscheinend ziemlich lohnende Beschäftigung. Um sein Einkommen zu vermehren, nimmt er sein Kind, die damals (1881) zwölfjährige Helene, aus der Schule und veranlaßt auch sie, sich bei den Malern als Modell anzumelden. Das magere, unentwickelte, reizlose Kind findet aber geringeren Anklang.
So vergehen zwei Jahre. Helene steht hart an der Schwelle des vollendeten vierzehnten Lebensjahres. Hammermann kennt, wie wir aus einer seiner gelegentlichen Äußerungen wissen, die gesetzliche Bedeutung dieser Altersgrenze des vollendeten vierzehnten Lebensjahres für ein Kind weiblichen Geschlechts sehr wohl, und es ist durchaus nicht unmöglich, daß gerade der unmittelbar bevorstehende Übergang seiner Tochter aus dem vierzehnten in das fünfzehnte Lebensjahr entscheidend gewesen ist für den Entschluß zu jener Tat, die den Ausgangspunkt des Prozesses Graef bildet.
Hammermanns Äußeres widerspricht den ungünstigen Auffassungen, die man sich über seinen Charakter hat bilden müssen, durchaus nicht. Er ist mittelgroß, stämmig und kräftig gebaut, die Stirn ist hoch, die geschwungene Nase fein geschnitten, volles dunkles Haar und der dunkle Vollbart umrahmen das ziemlich bleiche Gesicht, das namentlich durch die tiefliegenden lauernden Augen einen etwas unheimlichen, raubvogelartigen Eindruck macht. Er spricht sehr gewandt, pathetisch, schwülstig, mit lebhaften Gesten, und er schreibt gerade so, wie er spricht: mit volltönenden Phrasen – ein schreckliches Beispiel anmaßlicher Viertelsbildung. Durch Tatsachen ist erwiesen, daß der Mann für jede Unwahrheit dieselben warmen, gefühlvollen, heuchlerischen Ausdrücke findet. Er weint, wenn es ihm darauf ankommt, zu weinen; er veranlaßt die Seinigen zu schriftlichen Lügen unter feierlichsten Formen; kurz, er scheut vor keinem Mittel zurück. Und doch ist auch in diesem Manne ein menschlich liebenswürdiger und freundlicher Zug: das ist die Liebe zu seiner Frau Antonie, zu seiner Tochter Helene, für die er warm empfindet, wenn er sein Kind auch zum Modellstehen zwingt.
Seine Frau ist eine kleine, hagere, kränklich nervöse Person, sehr kurzsichtig, mit scharfer Brille, in gebückter Haltung, mit schlechter Gesichtsfarbe, Ausgang der zwanzig oder Anfang der dreißig Jahre. Sie besitzt eine unsagbare Zungenfertigkeit. Wenn die Schleusen ihrer Beredsamkeit geöffnet werden, so ergießt sich der Wortschwall unaufhaltsam. Diese wenig beneidenswerte Gabe scheint ihr Verderben gewesen zu sein, denn auf sie hat vermutlich Hammermann gebaut, um durch sie seine Zwecke zu erreichen. Er hat angenommen, die Frau werde alles in Grund und Boden schwatzen, was ihr in den Weg trete.
Helene ist jetzt noch, obwohl sie bald das sechzehnte Lebensjahr erreicht, ein wenig entwickeltes Kind; sie ist nicht hübsch und nicht häßlich, sie hat die schlechte Gesichtsfarbe der Kinder aus Kellerwohnungen, sie ist blutleer, ihre fahlen Ohren sind durchsichtig. Das berufsmäßige völlige Entkleiden in den Ateliers, die geschäftliche Enthüllung ihres Körpers vor Künstlern hat auf die moralischen Eigenschaften des Kindes sehr ungünstig eingewirkt; sie besitzt eine Dreistigkeit, die Staunen und Schrecken erregt. Der feierliche Apparat des Gerichtshofes schüchtert sie nicht ein. Es bedarf nicht der Mahnung des Präsidenten, alles frei herauszusagen, sie sagt es unaufgefordert, ohne den geringsten Zwang. Sie sagt die widerwärtigsten Dinge, deren Widerwärtigkeit sie sehr wohl begreift, mit schauderhafter Ruhe. Sie lügt mit einer geradezu unbegreiflichen Frechheit. Ihre Lügen sind wenigstens in einem Falle augenscheinlich erwiesen – wir werden darauf zurückkommen; es handelt sich um die ihr von ihrem Vater diktierten Briefe, deren Urheberschaft sie trotz aller Mahnungen des Vorsitzenden, die Wahrheit zu sagen, für sich allein in Anspruch nimmt. Helene Hammermann ist das echte Erzeugnis häßlicher großstädtischer Frühreife.
Das also ist die Familie, die im Winter 1883 in der Franseckistraße ihr Quartier aufgeschlagen hat.
Im November 1883 meldete sich nun Helene Hammermann bei Professor Hermann Kretzschmer, dem bekannten Maler. Er prüfte Helene auf ihre Brauchbarkeit als Modell und ließ sie dann noch ein zweites Mal kommen. Dieses zweite Mal zeichnete er etwa zwei Stunden nach ihr.
Unmittelbar darauf erhielt der Professor den Besuch der Stiefmutter seines Modells, der beredten Frau Antonie Hammermann, die behauptete, daß Helene in großer Erregung unter heftigem Weinen nach Hause gekommen sei und erzählt habe, sie sei von dem damals 72jährigen Maler in schändlicher Weise behandelt worden: sowohl das erste als auch das zweite Mal habe sich Professor Kretzschmer in einer nicht zu beschreibenden Weise an dem Kinde vergriffen. Der alte Künstler hat uns erzählt, wie ihn diese Beschuldigung überrascht hat. Auf ihn hat das Auftreten der Frau Hammermann den Eindruck gemacht, als ob sie aus der Sache Geld herausschlagen wolle, wenn sie auch einstweilen mit einem solchen Ansinnen noch nicht hervorgetreten sei. Kretzschmer wurde schließlich grob und wies der vorgeblich in der Ehre ihrer Stieftochter beleidigten Frau Hammermann die Tür.
Hammermanns beruhigten sich dabei natürlich nicht, sie suchten einen jener bekannten Wohltäter der leidenden Menschheit auf, einen Volksanwalt, wie man jetzt sagt, einen Winkeladvokaten, wie man früher sagte, und gerieten dabei zufällig an die Adresse des Herrn Krischen, der sich zwar energisch dagegen verwahrt, Volksanwalt zu sein, aber die Geschäfte des Volksanwalts mit allen Schikanen besorgt hat; der Biedermann ist »Kaufmann«. Er wohnte nicht weit von Hammermanns, in der Fehrbelliner Straße Nr. 3. Er hat ausgesagt, daß er eine Blattgold- und Schlagmetallhandlung besessen habe. Diese Angabe ist, wie manche andere des Herrn Krischen, nicht ganz unanfechtbar. Das Adreßbuch (1883) verzeichnet allerdings den genannten Herrn Krischen als Kaufmann, seine Ehefrau aber als selbständige Inhaberin des genannten Geschäftes. Wenn man sich die Mühe gäbe nachzuforschen, so würden sich gewiß manche Gläubiger des Herrn Krischen auffinden lassen, die an die Firma der Frau Krischen keinerlei Ansprüche hätten. Aber der unliebsamen Aufgabe, in dem Vorleben dieses Mannes herumzusuchen, sind wir enthoben; wir wissen nur die eine Tatsache, daß er wegen Unterschlagung bereits zu neun Monaten Gefängnis verurteilt worden ist. Das genügt allenfalls. Trotz alledem ist Herr Krischen vielleicht ein ehrenwerter Mann. Wenn aber ein Charakterdarsteller sich die Maske eines ausgesuchten Halsabschneiders machen wollte, so könnte er kein besseres Vorbild wählen als diese merkwürdige Erscheinung. Er trägt das spärliche graue Haar mit einem Querscheitel tief im Nacken in einer künstlichen Anordnung, die es ihm ermöglicht, durch geschicktes Vorkämmen die Höhe des Schädels ungefähr mit Haaren zu bedecken. Der graue Backenbart ist kurz geschoren, die schmalen Lippen sind rasiert, die Augen haben einen unsicheren Ausdruck und werden von den müden Lidern halb bedeckt, die großen Ohrmuscheln sitzen hoch; am merkwürdigsten wirken aber die schrägstehenden sehr schwarzen Brauen, die, hoch über den Augen anfangend, sich zur Nasenwurzel senken und, wenn sie zusammenwüchsen, einen rechten Winkel bilden würden. Er ist mit peinlicher Sauberkeit gekleidet. Er hält in der Hand seinen tadellosen Zylinder und einen großen Stock mit Elfenbeinkrücke. Man kann sich sehr leicht vorstellen, daß es einem ruhigen Menschen, der an nichts Arges denkt, etwas unheimlich zumute werden muß, wenn er diese Gestalt in sein Zimmer hereintreten sieht.
Zu diesem feinen Herrn Krischen in der Fehrbelliner Straße begab sich also der Modellsteher Hammermann, erzählte ihm, was Frau Hammermann dem Professor Kretzschmer erzählt hatte, und Herr Krischen, der eigentlich mit Blattgold handelte, merkte sofort, daß auch aus der Sache vielleicht etwas Goldiges herauszuschlagen war. Er erbot sich also, die Denunziation aufzusetzen. Der feine Herr verlangte dafür von dem weniger feinen Modellsteher drei Mark, erhielt aber bloß zwei Mark und fünfzig Pfennige. Mit diesem Schriftstück, das einen Kostenaufwand von zwei Mark und fünfzig Pfennigen verursacht hatte, hat das bürgerliche Trauerspiel begonnen!
Nach einiger Zeit begab sich nun Herr Krischen zu Kretzschmer, »aus reiner Menschenliebe«, wie er uns versichert, bloß um ihn von der Gefahr, die ihm drohte, zu benachrichtigen und um ihm aus Mitgefühl den guten Rat zu geben, sich einen Rechtsbeistand zu nehmen. Geld wurde nicht verlangt, behauptet Herr Krischen, Hammermanns begehrten keinen schnöden Mammon, es war ihnen nur darum zu tun, Professor Kretzschmer moralisch abzustrafen. Kretzschmer gibt nun allerdings über diesen Besuch des »freiwilligen Volksanwalts aus Mitgefühl« eine andere Darstellung. Er sagt, Krischen habe ihm geraten, sich mit den Leuten zu verständigen – sie »abzufinden«, wollen wir lieber sagen. Aber auch ihm hat der Künstler die Tür gewiesen. Darauf wurde die Anzeige losgelassen. Frau Hammermann machte indessen noch einmal einen Besuch bei Professor Kretzschmer, und bei diesem erneuten Besuch soll sie ihm vorgeschlagen haben, gegen ein Opfer von tausend Mark die Sache totzumachen. Darauf erstattete der Professor Anzeige an die Staatsanwaltschaft wegen Erpressung.
Es ereignete sich nun etwas Sonderbares. Helene Hammermann, die seit zwei Jahren Modell stand und niemals irgendwie belästigt worden war, kam, wie die Eltern erzählen, wenige Tage, nachdem die Erfolglosigkeit ihres Bemühens bei Professor Kretzschmer feststand, von Professor Graef, dem sie sich ebenfalls als Modell angeboten hatte, mit dem ebenso auffälligen wie traurigen Bericht nach Hause, daß sie auch hier dieselben schmählichen Angriffe zu erleiden gehabt habe wie bei Professor Kretzschmer. Ich sage: auffällig, denn es ist in der Tat verwunderlich, daß das Mädchen zwei Jahre lang keinerlei Klagen über ungebührliche Behandlung von Seiten der Künstler geäußert hat und daß sie nun auf einmal – an der Schwelle des gesetzlich bedeutsamen vierzehnten Lebensjahres – in wenigen Wochen zweimal hintereinander denselben häßlichen Widerwärtigkeiten anheimgefallen sein will. Es ist auffällig, daß diejenigen, denen die Übeltat vorgeworfen wird, nicht etwa junge, leichtsinnige, leidenschaftliche Menschen sind, sondern zwei sehr bekannte Künstler in vorgerückten Lebensjahren, in hoher gesellschaftlicher Stellung. Beide Professoren hatten in der Tat auf ihr öffentliches Ansehen und das ihrer Familie Rücksicht zu nehmen und ein sehr ernsthaftes Interesse daran, jeden Skandal, der sich um ihre Namen erheben würde, zu unterdrücken. Sie besaßen also gerade die Eigenschaften, die bei den Opfern von Erpressern als die wesentlichen zu betrachten sind.
Dieses wunderliche Zusammentreffen fiel selbst Herrn Krischen, der sich doch sonst nicht leicht wundert, auf; und als Hammermann ihn wiederum aufsuchte und wiederum bat, eine Anzeige – nunmehr gegen Professor Graef – aufzusetzen, weigerte sich sogar Herr Krischen und fragte: »Sie machen doch nicht etwa ein Geschäft daraus?« So hat er uns selbst erzählt. Aber der Argwohn, der in ihm aufstieg, war doch nicht stark genug, um ihn seinem Klienten Hammermann gänzlich zu entfremden; vielmehr begab er sich – wiederum aus reiner Menschenliebe und aus uneigennütziger Teilnahme – nun zu Professor Graef und sagte ihm dasselbe, was er früher Kretzschmer gesagt hatte, daß Helene Hammermann ihren entrüsteten Eltern erzählt habe, sie sei am 17. Dezember von Seiten des Professors Graef in abscheulicher Weise angegriffen worden, sie habe sich zur Wehr gesetzt und laut geschrien. Professor Graef war diese Mitteilung keine neue mehr, denn er hatte bereits den Besuch der Frau Hammermann empfangen, die ihm dieselbe Geschichte erzählt hatte. Er hatte darauf ruhig erwidert, daß kein wahres Wort an der Sache sei, daß er Helene allerdings als Modell geprüft, ihr verschiedene Stellungen gegeben, aber durchaus nichts Unerlaubtes mit ihr vorgenommen habe. Sie habe deshalb auch keine Veranlassung gehabt zu schreien, und wenn sie geschrien hätte, so würde man sie im Nebenzimmer jedenfalls gehört haben, in dem seine Tochter zur selben Zeit sich aufhielt und beschäftigt war.
Am Abend desselben Tages notierte Graef in sein Tagebuch, in dem er alle bemerkenswerten Kleinigkeiten verzeichnete, folgendes: »Helene Hammermann hat sich heute einer wahnsinnigen Verdächtigung gegen mich schuldig gemacht, ich muß meinen Rechtsbeistand darüber befragen.«
Frau Hammermann hatte zur Beschwichtigung ihrer verletzten Mutterwürde nach der Versicherung des Professors Graef auch von diesem tausend Mark gefordert. Er hatte selbstverständlich sich auf nichts eingelassen, der Frau jedoch endlich, um die unermüdliche und nervös machende Schwätzerin loszuwerden und da er Helene noch nicht bezahlt hatte, zehn Mark – er hatte just kein kleineres Geld bei sich – gegeben. Krischen machte Professor Graef darauf aufmerksam, daß diese großzügige Geste argen Mißdeutungen ausgesetzt und gewissermaßen als ein Zugeständnis zu der von Frau Hammermann behaupteten Tatsache aufgefaßt werden könne. Ob Herr Krischen wirklich geglaubt hat, Professor Graef könne so töricht sein zu meinen, daß er einer Erpresserin, die tausend Mark forderte, mit zehn Mark den Mund stopfen werde? Ob er diesem Künstler, der mit dem Geld überhaupt sehr leichtsinnig umging, der allen möglichen Personen, die sich an ihn gewandt, zwanzig, vierzig, fünfzig Mark und mehr gegeben hat und sich der verausgabten Summen nicht einmal mehr erinnert, nicht zutraut, daß er einer lästigen Person zehn Mark in die Hand drücken könne, um sich erst einmal von ihr zu befreien? Auch Professor Graef schickte also Herrn Krischen unverrichtetersache heim. Krischen forderte auch hier kein Geld, er drohte auch nicht, aber er erzählte, so wie er es bei Professor Kretzschmer getan hatte, ganz nebenbei schaurige Geschichten von all den schrecklichen Unannehmlichkeiten, die bei derartigen Prozessen immer mit unterliefen. Er ließ sogar die unvorsichtige Äußerung fallen: »Wenn Sie auch freigesprochen werden, die Welt glaubt doch, daß an der Geschichte etwas ist.«
Durch die von Krischen aufgesetzte Anzeige Hammermanns sowie durch die Gegenanzeige des Professors Kretzschmer war die Sache zur Kenntnis der Gerichte gekommen. Die Untersuchung des Falles führte dazu, daß gegen Frau Hammermann und Krischen von der Staatsanwaltschaft Anklage wegen Erpressungsversuchs erhoben wurde.
In dem jungen, noch nicht dreißigjährigen Rechtsanwalt Bernstein fand Hammermann den gesuchten Rechtsbeistand. Es mochte den noch ganz unbekannten Advokaten reizen, einen Prozeß zu führen, in dem zwei sehr bekannte Namen eine entscheidende Rolle spielten. Im Interesse seines Klienten war es seine Pflicht, was zur Belastung der entscheidenden Zeugen dienen konnte, zusammenzutragen, und Hammermann sorgte dafür, daß in der Tat in bezug auf den Professor Graef eine Angabe gemacht wurde, die, wenn sie sich bewahrheitete, allerdings die Glaubwürdigkeit Helenes erheblich verstärkt und gelinde Zweifel an der Ableugnung ihrer Darstellung durch Professor Graef wachgerufen hätte.
Hammermann war überall herumgelaufen, um auszukundschaften, ob sich über die Sittlichkeit des Professors nichts Nachteiliges feststellen lasse. Da hatte er denn beim Glas Schnaps in der Destillation von einem gewissen Lehmann, der früher ebenfalls Modell gestanden hatte und jetzt Bierkutscher ist, gehört, daß Professor Graef mit der Tochter eines Freundes von Lehmann, dem Töpfergesellen Rother, ein offenkundiges Verhältnis habe. Lehmann hatte das vom alten Rother selbst gehört, und zwar im Atelier des Professors Brunow, in dem Lehmann Modell gestanden hatte, während Rother bei dem genannten Bildhauer zeitweilig als Atelierdiener beschäftigt war. Durch diesen Bierfahrer Lehmann, einen kräftigen Menschen mit hellgelbem Schnurrbart und einem Stiernacken, mit einem nicht eben feinen, aber energischen Gesicht – durch diesen Lehmann wird also die Brücke geschlagen, welche von der Gruppe Hammermann zur Gruppe Rother hinüberführt.
Hammermann verfehlte nicht, die interessante Nachricht seinem Rechtsbeistand zu übermitteln, und dieser legte derselben eine genügende Bedeutung bei, um noch im letzten Augenblick die Vorladung des Kutschers Lehmann und der Tochter des Töpfergesellen Rother, Anna, zu bewerkstelligen. Es war ihm darum zu tun, nachzuweisen, daß dem unbequemen Zeugen Graef eine für dessen Alter überraschende Sinnlichkeit zu eigen sei und daß deshalb der Professor ein Zeuge sei, bei dem man sich der ihm von der Familie Hammermann zur Last gelegten Tat »wohl versehen könne«. Die vorgeladene Zeugin Anna Rother wurde am 3. Juni 1884 polizeilich verhört.
Was sich in den drei Tagen vom 3. bis zum 6. Juni, dem Tag des offiziellen Verhandlungsbeginns, zugetragen hat, ist bei den widersprechenden Angaben nicht zu entwirren. Die Anklage behauptet, daß die ältere Schwester der Anna, Bertha Rother, und Professor Graef diese Zeit benutzt hätten, um die geistig etwas schwache und lenkbare Anna zu einem Meineid zu überreden. Professor Graef und Bertha Rother stellen dies natürlich vollkommen in Abrede. Anna selbst, die derartiges einmal zu Protokoll gegeben hat, hat es seitdem beharrlich widerrufen und erklärt, daß sie sich zu dieser Lüge habe hinreißen lassen, aus Wut darüber, in die Angelegenheit hineingezogen worden zu sein, und aus Haß gegen den Professor Graef, der sie aus dem väterlichen Hause getrieben habe. Die Dinge sind so wenig aufgeklärt und die Anhaltspunkte für die Berechtigung einer Anklage wegen Anstiftung zum Meineid so gering, daß schließlich der Staatsanwalt selbst die Freisprechung der Bertha Rother beantragt hat.
Am 6. Juni 1884 war nun also die entscheidende Verhandlung des Falles Hammermann, welche die Grundlage für den späteren Prozeß Graef geschaffen hat und als dessen Prolog zu betrachten ist.
Vor der Ersten Strafkammer des Berliner Landgerichts I wurde unter Vorsitz des Herrn Landgerichtsdirektors Bachmann der Prozeß gegen Frau Hammermann und den Agenten Krischen wegen Erpressungsversuchs verhandelt. Als Zeugen waren verschiedene Maler geladen: Professor Graef, Professor Kretzschmer, Professor Thumann, Konrad Dielitz.
Außerdem natürlich Helene Hammermann. In der Sitzung selbst meldete der Rechtsanwalt der Frau Hammermann, Herr Bernstein, noch zwei Zeugen an: den Bierfahrer Lehmann und die unverehelichte Anna Rother, die darüber aussagen sollten, daß Professor Graef mit der Anna Rother ein intimes Verhältnis habe, sie aushalte und ihr erhebliche Zuwendungen an Geld und Geschenken mache.
Die Beweisaufnahme machte auf den Gerichtshof einen für die Angeklagten durchaus ungünstigen Eindruck. Alle hatten die Empfindung, daß es sich um ein heimtückisch angelegtes Bubenstück handle. Alle Richter, ohne Ausnahme, empfingen von der Helene Hammermann den denkbar schlechtesten Eindruck, sie hielten die Geschichte, die sie vortrug, für eine eingelernte Lüge.
Nun wurde Anna Rother nach ihren Beziehungen zu Professor Graef gefragt, und sie sagte auf ihren Eid aus, daß sie ihm nur Modell gestanden, aber niemals andere Beziehungen zu ihm gehabt habe; und Professor Graef antwortete auf die ihm vorgelegte Frage des Vorsitzenden Bachmann bezüglich des intimen Verhältnisses mit der Anna Rother und der an sie gemachten Geschenke mit der ebenfalls auf seinen Zeugeneid genommenen Verneinung. Landgerichtsdirektor Bachmann machte den Professor ausdrücklich darauf aufmerksam, daß er die Aussage verweigern könne, da er verheiratet sei, daß die Bejahung der vorgelegten Frage aber für ihn die strafrechtliche Konsequenz einer Verfolgung wegen Ehebruchs haben könnte. Professor Graef machte von diesem Recht der Aussageverweigerung aber keinen Gebrauch.
Soweit waren die Verhandlungen gediehen, als der Verteidiger der Frau Hammermann, Herr Bernstein, bemerkte, daß die Ladung der Anna Rother auf einem Irrtum beruhe. Nicht Anna, sondern die ältere Schwester Bertha sei gemeint gewesen! Damit sind wir bei einem entscheidenden Punkt angelangt. Denn als nun Professor Graef erneut vorgerufen und gefragt wurde, ob ein »derartiges« Verhältnis, wie es nach der Behauptung der Verteidigung zwischen ihm und Anna Rother bestanden haben solle, ein Verhältnis intimster Art, zwischen ihm und Bertha Rother bestehe beziehungsweise bestanden habe, antwortete Professor Graef, nach neuerlichem Hinweis auf sein Recht zur Zeugnisverweigerung, wiederum mit einem entschiedenen Nein. Der Zeit vorausgreifend, bemerken wir schon an dieser Stelle, daß diese Aussage die Grundlage für die spätere Anklage gegen den Professor, einen Meineid begangen zu haben, darstellt.
In der Sitzung der Ersten Strafkammer am 6. Juni 1884 wurden nun aber zunächst die beiden Angeklagten, Frau Hammermann und Herr Krischen, wegen Erpressungsversuchs verurteilt, da die Beweisaufnahme den Gerichtshof von der Schuld der beiden überzeugt hatte. Entgegen der ungewöhnlich hohen Strafe von fünf Jahren Freiheitsentzug, die der Staatsanwalt beantragt hatte, erhielt Frau Hammermann jedoch nur eine Strafe von zwei Jahren und Herr Krischen eine Verurteilung zu achtzehn Monaten Gefängnis.
Die Maler, die Zeugen jener Verhandlung gewesen, waren über die eidliche Ableugnung des Verhältnisses zwischen Professor Graef und Bertha Rother aufs höchste überrascht. In Künstlerkreisen wurde nämlich ziemlich allgemein angenommen, daß zwischen Graef und Bertha, die er seit einigen Jahren als Modell benutzt und für die er, wie man wußte und wie er auch in der Verhandlung angegeben, Geldopfer von ungewöhnlichem Betrage gebracht hatte, allerdings ein Verhältnis ungewöhnlicher Vertraulichkeit und Zärtlichkeit bestände. Das erzählten die Künstler, und die Modelle erzählten es. Und dies als notorisch angesehene Verhältnis wurde, wie das ganz natürlich ist, eben als eines der allerintimsten Art, mit einem Wort als ein geschlechtliches, angesehen. Da aber Professor Graef in Ehren ergraut war und sich in seinem langen Leben niemals die geringste Handlung, die seine Ehrenhaftigkeit auch nur im entferntesten hätte in Frage stellen können, hatte zuschulden kommen lassen, da dieser liebenswürdige und verehrte Mann die diesbezügliche Frage in der feierlichsten Weise verneint hatte, so sagten sich die Künstler, daß sie sich also in ihren früheren Auffassungen getäuscht haben müßten und auch in diesem Falle wieder einmal der Schein getrogen habe. An einen Meineid wollte natürlich kein Mensch denken.
Damit hat das Vorspiel zum Prozeß Graef sein Ende erreicht. Wir treten nun in eine Phase, in der Professor Graef und Bertha Rother die Hauptrollen haben, die restliche Familie Rother einen wichtigen Platz einnimmt, die Familie Hammermann im Hintergrund agiert und Professor Kretzschmer ausscheidet.