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XII.
Sind wir alle Verbrecher?

Bange Minuten verstrichen.

Wir standen unbeweglich und starrten auf die Gestalt. Sie arbeitete wie rasend unter dem Schnee. Die Arbeit schien vergebens. Sie strich sich über die Stirn. Wir konnten es deutlich erkennen.

Es war ein Mann.

Dann stieß er, als wolle er einen letzten Versuch unternehmen, fieberhaft überall im Schnee umher.

Endlich stand er wieder regungslos.

»Er denkt nach«, sagte Nina. »Schau' nur, wie er sein Gehirn plagt!«

»Wer mag es sein?« fragte ich ohne Grund, denn wir ahnten es bereits beide. Für uns war das Geheimnis des Solfjell-Hotels kein Geheimnis mehr.

Die Gestalt dort unten richtete sich langsam auf. Dann ging sie quer über den Hof zum neuen Haus hinüber.

»Die Zeit ist da«, sagte ich und erhob mich. Endlich schien ich von einem drückenden Traum erwacht.

Nina schaute mich mit großen, strahlenden Augen an.

»Ich gehe mit«, sagte sie einfach, aber bestimmt.

Ich hätte es ablehnen müssen, aber ich vermochte es nicht. Und wenn ich ehrlich war, mußte ich zugeben, daß ich sie nur zu gern mitnahm.

»Was machen wir mit dem Orlow?« fragte sie.

»Ich stecke ihn in die Tasche. Da ist er sicher.«

Damit wickelte ich ihn ins Taschentuch, steckte ihn in die Jackentasche und knöpfte sie zu.

»Also gut, gehen wir.«

Ich war aufgeregt, erwartungsvoll, als ob ich einem herrlichen Abenteuer entgegenging.

Leise schlichen wir hinunter. Durch die Haustürscheiben konnten wir den Hof übersehen. Nicht eine Menschenseele war zu entdecken.

»Die Lösung finden wir drüben im neuen Haus«, flüsterte ich Nina zu. »Wir werden hinübergehen, aber seien Sie vorsichtig. Bleiben Sie in meinem Rücken und gehen Sie so leise wie möglich.«

Ich packte meine Pistole fester.

Vorsichtig durchschritten wir den Kreuzgang. Wir hielten uns hauptsächlich im Schatten. Eine Taschenlampe hatte ich nicht. Ich hatte nicht daran gedacht.

Nina war dicht hinter mir.

»Haben Sie Ihre Pistole?« flüsterte ich.

Sie schüttelte den Kopf.

Einen Augenblick dachte ich daran, kehrt zu machen, um Taschenlampe und Pistole zu holen, aber ich war froh und leichtsinnig.

Unser Weg ging vorwärts. Man soll nicht zurückschauen.

Ich öffnete die Tür und tastete mich zur Treppe, die zum Keller hinunterführte.

In der schwärzesten Dunkelheit gingen wir Stufe für Stufe nach unten. Leise, sehr leise …

Ein schwacher Lichtschein fiel durch die Türspalte.

Ich löste die Sicherung meiner Pistole.

Sie war schußbereit, aber ich trug sie in der rechten Jackentasche. Mit dem Fuß stieß ich die Tür auf und trat, so schnell es ging, in den Raum.

Nina folgte.

Ich sah einen nackten, unmöblierten Raum. In der einen Ecke stand ein Waschkessel. Links von mir in einer Ecke leuchtete eine Petroleumlampe. Mitten auf dem Fußboden lag ein größerer Vorleger wie ein bunter Streifen in diesem kahlen Raum. Mehr konnte ich nicht beobachten.

Plötzlich erklang hinter unserem Rücken eine scharfe schneidende Stimme.

»Die Hände hoch! Rühren Sie sich nicht! Nicht umdrehen! Etwas schneller, hoch die Hände, oder ich schieße!«

Man gehorcht unwillkürlich einem solchen Befehl, wenn die Stimme bestimmt ist. Man bedenkt sich nicht. Die Nerven reagieren schneller als das Gehirn.

Meine Hände ruckten automatisch in die Luft.

Es war ein furchtbarer Augenblick.

Nun wurde Nina Newa nach vorn gestoßen.

Ich hörte, wie die Tür hinter uns geschlossen wurde und bemerkte den Atem eines Menschen hinter mir.

Eine Hand tastete meine Taschen ab und fand die Pistole. Dann glitt sie weiter, während ich unbeweglich stehen blieb. Ich fühlte den unverkennbaren Druck einer Pistolenmündung in meinem Rücken. Die Hand sah ich einen Augenblick.

Es war eine wohlgeformte, braune Männerhand.

Sie hielt beim Orlow, der sich unter meiner Jacke nur zu gut abzeichnete. Sie suchte ein wenig, dann klang eine leise Stimme in meinem Ohr:

»Sie sind wohl so freundlich und stecken Ihre rechte Hand in Ihre Innentasche und reichen mir den Gegenstand, den Sie darin verborgen halten.«

Es war Oginskys Stimme.

Ich erkannte sie sofort am Tonfall und an der gebrochenen Aussprache. Ich hatte nur zu gehorchen.

Ich reichte ihm also den Orlow, ohne mich umzudrehen.

Ich hörte einen leisen, überraschten Ausruf. Nina wandte sich langsam und vorsichtig um.

»Mein Glücksstern steht in dieser Nacht hoch am Himmel«, hörte ich Oginskys Stimme. »Alles geht nach meiner Berechnung, und die milden Gaben fallen mir in den Turban. Meine Freunde, ich glaube, wir können die gezwungene Unterhaltung ein wenig lockern. Aber zuerst wird Herr Inspektor Bjelke so liebenswürdig sein und sechs Schritte weiter marschieren, ohne sich umzudrehen. Es ist genug! Kehrt Marsch! Und Madame zieht sich vielleicht auch vier Schritt zurück, dann haben wir die nötige gesellschaftliche Distanz – ha – ha –! Madame haben keine Tasche bei sich, ich kann also annehmen, daß Sie unbewaffnet sind. Ich kann Ihnen damit eine nähere Untersuchung ersparen. Wäre auch peinlich, wie? Aber Sie müssen mir Ihr Ehrenwort geben, daß Sie wirklich unbewaffnet sind, bitte, Madame!«

Nina gab es ihm.

Oginsky stand in der Tür mit der Pistole in der Hand. Rechts von ihm brannte die Lampe mit rötlichem Schein. Auf dem Tisch lag der Orlow. Das Ganze schien so unwirklich, so traumhaft.

Oginsky war spottend höflich.

Aber dann und wann leuchtete doch ein höllischer Triumph in seinen Augen. Sie wurden tief und gefährlich, so oft sie den Diamanten erblickten.

»Was soll das alles bedeuten?« fragte Nina.

Oginsky antwortete auf Russisch.

»Ich fragte Sie in deutscher Sprache und nehme also an, daß Sie in der gleichen Sprache antworten«, antwortete Nina mit einer Stimme wie eine Königin.

»Wir sind mit dreien hier, Oginsky.«

»Selbstverständlich«, Oginsky verneigte sich höflich. »Ich muß um Entschuldigung bitten, weil ich nicht die Absicht habe, dem hochgeehrten Herrn Inspektor die Freude einer letzten Konversation zu nehmen. Wollen Sie nicht Platz nehmen?« Er wies auf einen Baumstumpf, der im Schatten einer Ecke stand.

Die Höflichkeit seines Wesens konnte die fatale Situation nicht verdecken, höchstens beißender machen. Sie enthielten eine Drohung – seine letzten Worte.

Nina setzte sich, ohne noch etwas zu sagen.

»Ich bedaure, daß ich nicht mehr Stühle zur Verfügung habe«, fuhr Oginsky im selben Ton fort. »Eine kleine liebenswürdige Konversation in später Nachtstunde hat ihren besonderen Reiz, nicht wahr? Und glücklicherweise habe ich Zeit genug. Ich hatte mir ausgerechnet, daß es ungefähr eine Stunde dauern würde, bis ich den Orlow gefunden hätte oder aber herausbekam, wer ihn neuerdings versteckt hat. Aber nun war Herr Bjelke ja so liebenswürdig, mir den Stein selbst zu überreichen, und ich habe Zeit gewonnen für mich und für Sie. Ich nehme an, Sie sind sich klar darüber, daß das Spiel für Sie vorbei ist,« wandte er sich plötzlich an mich in einem ganz anderen Ton.

»Es sieht so aus«, sagte ich. »Sie sind also der Mörder. Ich bekam es erst heute Abend heraus, aber über einige Punkte bin ich mir noch nicht klar, und in meiner letzten Stunde hätte ich natürlich die Lösung gern vollständig gewußt. Das werden Sie verstehen, Herr Oginsky.«

»Es freut mich, daß Sie die Sache ernst nehmen und vor allen Dingen ruhig«, bemerkte Oginsky. »Man kann ja bis zum letzten als gebildeter Mensch auftreten, nicht wahr? Ich habe nichts dagegen, Ihre berufsmäßige Neugier zufrieden zu stellen. Fragen Sie nur.«

»Wann faßten Sie eigentlich den Plan zur Ermordung Blankensteins?«

»Das erstemal, als ich das Glück hatte, den Orlow zu sehen«, sagte Oginsky, und seine Stimme war fast andächtig. »Ich war von dem Gedanken besessen. Ich konnte nicht schlafen. Ich beobachtete die anderen, belauerte ihre Gesichtsausdrücke und wartete, ob sie nicht auch angesteckt würden. Auch sie wurden endlich vom selben Fieber ergriffen wie ich. Wir konnten stundenlang auf unserem Zimmer zusammensitzen. Sowohl hier wie auch in Stockholm. Wir sprachen nie, wir schauten nur auf den herrlichen Stein.

Den eigentlichen Plan faßten wir aber erst an dem Tage, als wir den Stein an den Holländer verkauft hatten. Damals einigten wir uns, den Stein für eigene Rechnung wiederzugewinnen, um ihn zu retten, um zu verhindern, daß er geteilt wurde.«

»Sie blieben also zurück, während die anderen reisten?«

»Sie haben die Zusammenhänge schon entdeckt?« Oginsky lachte unterdrückt. »Natürlich hatte ich in der Zwischenzeit bereits meine Vorbereitungen getroffen. Ich hatte Majas Hilfe gewonnen dadurch, daß ich ihr 500 Dollar gab – ein ganz feiner Trick. Ich dachte daran, daß ich dadurch den Verdacht, der ohnehin schon auf dem Amerikaner ruhte, noch verstärken könnte. Unsere Aufklärungen über Orsini waren schon richtig, und wir hatten nichts weiter zu tun, als diesen Gedanken lebendig zu halten. Eines Tages trank ich mich vor allen Augen voll, zusammen mit Mansfeld, weil es besser in meine Pläne hineinpaßte. Am nächsten Tag bestellte ich Getränke in meine Zimmer, die ich aber in den Ausguß schüttete. Dadurch machte es sich ganz natürlich, daß Davidow und Churgin mich förmlich in den Schlitten schleppen mußten. Die Beine Oginskys knickten da unter ihm zusammen, er war fast bewußtlos vor Trunkenheit. Betrunken, wie nur diese maßlosen Russen sein können, nicht wahr? Glücklicherweise war der Skandal nicht allzu öffentlich, weil, seltsam, nicht wahr, gerade zu diesem Zeitpunkt die Petroleumlampe auf dem Flur ausging. Maja hatte vergessen, sie neu zu füllen. Die Schelte, die sie dadurch erhalten würde, waren im voraus in klingender Münze gutgemacht.«

»Und wo waren Sie in der Zwischenzeit?«

»Zwei Nächte verbrachte ich in einem Zimmer der zweiten Etage. Maja hatte es für mich zurechtgemacht. Es war sehr kalt. Licht konnte ich nicht anzünden, aber sonst gefiel es mir dort sehr gut. Maja brachte mir zu essen, und ich gab ihr nähere Instruktionen für den nächsten Tag.

Das war die Nacht zum Montag.«

»Es wäre übrigens interessant, Ihre Meinung über die Vorgänge am Montag zu hören?«

Er wartete mit höflichem Interesse auf meine Antwort.

»Das ist kurz gesagt«, gab ich ihm zur Antwort. »Ich nehme an, daß Sie aus besonderen Gründen die Zeit für den Mord nach dem Mittagessen verlegten, weil dann die meisten Gäste sich auf ihren Zimmern befanden. Sie sandten Maja als Ihre Avantgarde voraus. Sie sollte Sie vor jeder Überraschung bewahren. Sie selbst durften ja unter keinen Umständen gesehen werden. Unterwegs nahmen Sie aus Harringtons Ulster ein Paar Handschuhe mit. Einmal brauchten Sie Handschuhe, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen und dann paßte es ja vortrefflich in ihre Absicht, den Verdacht auf den Amerikaner zu verstärken.

Dann begaben Sie sich in das Zimmer Blankensteins. Er war erstaunt, aber ohne Mißtrauen, als er Sie sah, den er längst über alle Berge glaubte. Sie erschlugen ihn mit einer Stahlkeule oder einem anderen Instrument.

Unterdessen hielt Maja Wache.

Die Kassette warfen Sie durchs Fenster in den Schnee und um den Verdacht auf den Amerikaner noch mehr zu verstärken, ließen Sie einen Handschuh im Zimmer liegen. Das ganze ging genau nach Ihrem Plan, aber als Sie wieder auf den Korridor kamen, erzählte Ihnen Maja, daß Gefahr im Anzuge sei, weil ich nach dem Holländer gefragt hätte. Im Augenblick wäre ich nach unten gegangen. Während ihr dort noch standet, hörtet ihr, daß ich zurückkam und Sie versteckten sich hinter der Tür, bis ich vorbeigegangen war – das einzige, was ich nicht genau weiß, ist, ob Sie oder Maja hinter der Tür standen?«

»Vortrefflich«, rief Oginsky. »Nein, ich stand dort, während Maja etwas weiter auf der Treppe zum Boden stand.«

»Gut. Dann trennten Sie sich beide. Sie ging auf den Boden, um Ihre Instruktionen auszuführen und dafür zu sorgen, daß Schnee genug vom Dach auf die Kassette fiel. Sie dagegen gingen ganz ruhig wieder in Ihr Versteck zurück. Unterwegs steckten Sie den zweiten Handschuh in Harringtons Ulster. Sie setzten sich dabei der Gefahr aus, von jemandem gesehen zu werden, und es ist ein reines Wunder, daß Sie nicht von Mr. Davis gesehen wurden.«

»Ich sah seinen Rücken auf dem Flur verschwinden«, sagte Oginsky lächelnd. »Aber was mich am meisten interessiert, warum war mein Trick mit den Handschuhen eigentlich vergebens? Dachten Sie wirklich keinen Augenblick an Harrington?«

»Nein«, sagte ich. »Sie hatten nämlich einen Fehler gemacht. Sie steckten den Handschuh so in die Tasche des Ulsters, daß er sofort auffallen mußte. Dadurch wurde das Beabsichtigte allzu deutlich. Ich merkte, daß jemand die Schuld auf den Amerikaner schieben wollte. Und obgleich später viele Dinge auf den Amerikaner wiesen, konnte ich doch die Sache mit dem Handschuh nicht vergessen.«

»Es geht ein ausgezeichneter Polizist an Ihnen verloren«, sagte Oginsky im höflich bedauernden Ton.

»Danke«, antwortete ich ebenso höflich, »aber ich muß zugeben, daß Madame Newa einen wesentlichen Anteil an meinen Entdeckungen hat.«

Oginsky zog erstaunt die Augenbrauen hoch und verbeugte sich anerkennend vor Nina Newa. »Aber jetzt sind Sie wieder an der Reihe. Wie hielten Sie sich versteckt, während wir das ganze Hotel untersuchten?«

»Oh, das war durchaus nicht so schwierig«, meinte Oginsky und zog die Schulter hoch. »Frau Mohn redete die ganze Zeit deutlich genug. Ich konnte genau verfolgen, wo Sie sich gerade befanden. Sie begannen im Keller. Da befand ich mich auf dem Boden und während Sie in den Zimmern der zweiten Etage suchten, spazierte ich gemütlich in den Keller. Das Haus hat zwei Ausgänge – es ging also einfach genug. Aber von Montag nacht bis Mittwoch hielt ich mich hier verborgen.«

»Und Ihre nächste Aufgabe war es dann, einen gefährlichen Mitwisser zu beseitigen«, sagte ich fast gleichgültig.

»Tscha, es war leider nötig. Es war ihre eigene Schuld. Ihre Nerven ließen sie im Stich. Sie war der ganzen Situation nicht gewachsen. Das ist zu bedauern, aber es ist nun einmal so, daß man immer seinen Preis zahlen muß. Sie kam zu mir in der Nacht nach – wir wollen sagen – Blankensteins Tod. Sie war außer sich und übernervös. Sie hatte nicht damit gerechnet, daß es Menschenleben kosten würde, sagte sie. Ich bot ihr mehr Geld, aber sie wollte es nicht annehmen, ich hatte meine Last, sie zu beruhigen und sie daran zu hindern, alles zu erzählen, was sie wußte. Es glückte zuletzt – ich brauchte sie noch den Dienstag über.

Im Grunde genommen überdachte ich die weiteren Dinge am darauffolgenden ewig langen Dienstag. Ich mußte mir überlegen, wie ich nun am besten den Orlow verschwinden ließ. Die Hauptschlacht wollte ich in der nächsten Nacht schlagen. Ich wollte die Kassette ausgraben und rechnete dabei mit der Müdigkeit der Gäste im Hotel, die nach den vergangenen Ereignissen sehr tief schlafen müßten. Dann sollte Maja verschwinden und mit der Kassette wollte ich so weit wie nur eben möglich ins Tal hinunter. Dort würde sich ein weiterer Weg finden.

»Dienstag sah ich dann, wie Sie Schnee im Kreuzgang streuten. Das gab mir einen guten Gedanken ein.«

»Wie konnten Sie mich sehen?«

»Durch das Fenster dort!«

»Nun verstehe ich alles«, rief ich.

»Sie machen mich neugierig, Monsieur«, sagte Oginsky.

»Nun, Sie hatten Maja zu einer bestimmten Zeit bestellt, aber als Sie hinauswollten, um die Kassette zu holen, kam jemand durch den Kreuzgang. Sie sahen auch, daß es eine Frau war, nicht Maja, sondern Frau Martier. Also war doch jemand wach im Hotel. Das war eine unwillkommene Entdeckung für Sie, bedeutete es doch, daß Sie nicht über den Hof gehen konnten, um die Kassette zu holen, ohne daß Sie von jemandem gesehen werden konnten. Sie mußten also Ihren Plan ändern und das schnellstens. Sie gingen zum alten Gebäude hinüber, aber nicht durch den Kreuzgang, sondern außen herum. Dann zogen Sie Harringtons Galoschen über und gingen im Kreuzgang hin und zurück, um den Verdacht noch mehr auf Harrington zu lenken. Dann lauerten Sie auf Ihr Opfer.«

»Schade«, lachte Oginsky, »daß wir beide in Zukunft nicht zusammenarbeiten können. Ihre Darstellung stimmt auf den Punkt genau, aber nur muß ich Sie wieder fragen:

Wie fanden Sie die Kassette und wann?«

»Vor zwei Stunden fand ich sie«, antwortete ich, »aber Madame Newa fand sie bereits am Dienstag.«

Oginsky pfiff langgezogen vor Überraschung.

»Da sieht man«, meinte er endlich, »man macht Pläne über Pläne, aber sie zerschlagen sich, weil man nicht mit der Frau rechnet. Das hätte ich mir nicht träumen lassen, und ich muß Ihnen nochmals für die Liebenswürdigkeit danken, mit der Sie mir den Stein gaben. Ich hätte ihn wohl nie gefunden. Sie hatten ihn natürlich im Koffer?« Er wandte sich an Nina.

Nina Newa aber beachtete ihn überhaupt nicht.

»Und Ihre Kameraden?« fragte ich ihn, um abzulenken.

»Die werde ich in den nächsten vierundzwanzig Stunden wiedersehen.«

»Sie sind verdammt offenherzig, Oginsky.«

»Warum nicht. Persönlich beklage ich, daß ich mit einem Mann zu tun habe, der in solch verblüffend kurzer Zeit meine Sympathie gewann und mit einer Frau, die ich in meinem Leben immer sehr verehrt habe, aber es wird nichts ändern. Was geschehen soll, muß geschehen. Nichts wird mich aufhalten können. Als ich draußen im Schnee suchte und suchte, tauchte mein letzter Plan in mir auf.«

»Wann werden Sie uns in Ihren Plan einweihen?« fragte ich kalt. »Sie werden verstehen, daß es uns interessiert, zu erfahren, was Sie noch vorhaben. Die Sache ist ernst genug. Ich schlage vor, wir lassen die Masken jetzt fallen und reden ohne Umschweife!«

»Nun gut«, sagte Oginsky mit einem unbehaglichen Lächeln, »ich habe vor, sie beide zu erschießen.«

Nina sagte kein Wort und machte auch keine Bewegung. Ich war stolz auf sie. Etwas Seltsames kam in meinem Innern hoch, etwas, was ich nie vorher gekannt hatte.

In den nächsten Minuten sprach keiner von uns.

»Meine Pläne«, rief Oginsky plötzlich laut. »Sie wollen meine nächsten Pläne wissen, wissen, warum ich, Fedor Oginsky alles über Bord werfe, alles auf eine Karte setze und eine flammende Hölle für meine Zukunft öffne, so, das wollt ihr wissen?«

Ich verstand seinen Ausbruch und wußte, daß seine Nerven vor dem Bersten sein mußten. Seine Stimme wurde leiser, beinahe unverständlich.

»Wegen des Orlow«, flüsterte er hingerissen. »Wegen des heiligen Steines, der von heute ab mir gehören wird. Alles opfere ich für den Orlow, alles schlage ich seinetwegen nieder. Was bedeuten ein Dutzend Menschenleben gegen ein Jahrtausend, erfüllt von Schönheit und Erleben?«

Seine Stimme verging in einem undeutlichen Gemurmel.

Er war kein normaler Mensch mehr, irrsinnig, aber dennoch war er wachsam und ständig auf der Lauer. Als ich einmal versuchte, den Abstand zwischen uns zu vermindern, forderte er mich scharfen Tones auf, zurückzugehen. Ich war ohne Waffe, was sollte ich tun? Ich hatte nicht einmal etwas in der Hand, das ich nach ihm werfen konnte, um dann sein Erschrecken auszunutzen. Nicht einmal die Lampe konnte ich auslöschen.

Mein Hirn arbeitete und arbeitete.

»Was meinten Sie mit einem Dutzend Menschenleben?« fragte ich, um Zeit zu gewinnen.

»Es ist jetzt ein Viertel vor zwei Uhr«, antwortete er und in seinem Augen flackerte der Wahnsinn. »Um zwei Uhr werden zwei Schüsse fallen hier drinnen, niemand wird sie hören, im Hotel schläft man ruhig weiter.

Den letzten Schlaf.

Dann gehe ich hinaus, schließe alle Türen von außen zu und lege Feuer an die Gebäude. Es wird brennen wie dürres Reisig – ein Riesenfeuer – und während es brennt, gehe ich umher, achte darauf, daß niemand herauskommt. Vielleicht nehme ich den Orlow hervor und zeige ihm das mächtige Opferfeuer. Ähnliches wird er seit Nadirs Tagen nicht erlebt haben. Es soll die Nacht des Orlow werden.«

Wieder starrte er fanatisch auf den Orlow, der noch auf dem Tisch lag, aber er ließ uns dabei nicht aus den Augen.

Der Mann war tatsächlich wahnsinnig geworden.

Aber was er sagte, würde er auch ausführen. Darüber konnte kein Zweifel bestehen. Er redete sich immer mehr in ein Feuer hinein, vielleicht lag hierin unsere letzte Gelegenheit.

Meine Augen gingen umher.

Aber nur leere, trostlose Wände starrten mich an.

Keine Hoffnung – kein Ausweg.

Da redete Nina plötzlich.

»Fedor«, sagte sie mit ihrer schönen, melodischen Stimme, die um so stärker wirkte, weil Oginskys leidenschaftlicher und heiserer Ton dagegenstand. »Warum hast du damals ›Tres giorini son che Nina‹ gesungen. Erinnerte es dich an etwas? Sehntest du dich zurück nach den unbekümmerten, glücklichen Tagen auf unserem Gut am Peipus-See?«

»Ich weiß nicht«, sagte Oginsky dunkel, »wir haben wohl alle einmal unsere schwachen Augenblicke.«

»Das Lied war das erste, was mich aufmerksam machte«, sprach ich dazwischen, denn ich wußte, wo Nina mit ihren Reden hinwollte, »es knüpften sich also schöne Erinnerungen an Pergoleses Lied um Nina?«

»Ja«, sagte Nina, wobei sie sich direkt an Oginsky wandte. »Wir hatten ein großes Gut am Peipus-See. Dort waren wir immer im Sommer. Es war ein alter Herrensitz, und auf ihm verbrachten wir auch den Sommer 1917. Fedor, mein Bruder und ich. Fedor war verwundet worden und verbrachte seinen Erholungsurlaub bei uns. Mein Bruder war noch zu jung für Kriegsdienste. Und während es überall im großen Rußland gärte von der Wolga bis zur Dwina, verbrachten wir den Sommer unserer Jugend, es war der letzte glückliche Sommer für Mütterchen Rußland.

Eines Tages wurden wir uneinig, und ich war heftig und taktlos. Ich hielt mich während dreier Tage in meinem Zimmer auf. Niemand wollte ich sehen, mit niemandem reden. Ich war gekränkt und rasend. Aber am Abend des dritten Tages kamen Fedor und mein Bruder mit einer Balalaika vor mein Fenster und sangen ›Tres giorni – –‹, es war ein heißer Abend mit einer unbeschreiblich schweren Stimmung. Dann kam dieser befreiende Gesang, ich mußte lachen und vergeben.

Du hast also an diesen Abend gedacht?«

Fedor Oginsky nickte.

»Wir feierten ihn und alles war hell und glücklich, nun müssen wir uns vierzehn Jahre später hier wiedersehen.«

Und ganz leise und innig begann sie Pergoleses Lied an Ninetta zu singen. Langsam wie eine Hymne. Es stieg und fiel bis es erstarb:

»– – – ac – cio – non dor – ma più!«

»Accio non dorma più –« wiederholte Oginsky mit einem weichen Tenor.

»Es kann nicht dein Ernst sein.« Nina schaute bittend auf Oginsky. »Du kannst dich in diesen Jahren nicht so verändert haben.«

Einen Augenblick schien es, als ob ihre Stimme einen tiefen Eindruck auf Oginsky machte.

»Ninutschka«, sagte er weich, brach dann aber ab und schnarrte wie vorher:

»Es gibt keinen anderen Weg, keinen Weg zurück für den, der den Orlow gesehen hat. Ich habe meinen Weg gewählt und alle Brücken hinter mir verbrannt. Ihr müßt beide sterben. Sterben ist nicht schlimm, Ninutschka, schlimmer ist es zu leben.«

»Besinne dich, Fedor, denke an die vergangenen Tage – denke an unsere Familie. Ein Oginsky kann alles tun, aber keinen gemeinen Mord begehen.«

»Ach, zum Teufel damit«, schrie Oginsky wild. »Ich gebe euch noch fünf Minuten.«

Aber Nina gab es nicht auf. Vielleicht bemerkte sie, daß ihre Worte Eindruck auf ihn machten.

»Ist es Geld, was du brauchst, Fedor? Ich werde es dir beschaffen. Ich verdiene gut, sehr gut. Ich bin durch meinen Gesang beinahe reich geworden. Du sollst alles von mir erhalten, was soll ich mit dem Geld? Ich habe etwas anderes, für das ich jetzt zu leben und zu kämpfen habe.«

Und zum ersten Male schaute sie mir gerade in die Augen. In den ihren lag ein tiefer, dunkler Glanz.

»Ich habe den Orlow gesehen«, stöhnte Oginsky heiser, »du brauchst nicht zu versuchen, mich zu überreden. Ich bin irrsinnig, böse. Gut, aber ich habe in das weiße Auge des Orlow gesehen. Ich fühle das wildeste Begehren in mir. So habe ich noch nie in meinem Leben etwas begehrt und alles, was zwischen mir und dem Orlow steht, muß sterben. Verstehst du das, kleines Mädchen, du, Ninutschka?«

Und wieder lag diese Weichheit in seiner Stimme.

»Und wenn du jetzt von Bjelke das Ehrenwort erhältst, daß du ungehindert abreisen kannst und den Orlow mitnehmen?« setzte Nina den hoffnungslosen Kampf fort.

Oginsky sah mich einen Augenblick prüfend an.

Da geschah das Seltsame, daß etwas Hartes in mir wuchs, etwas, worüber ich keine Beherrschung mehr hatte. Eine Erbitterung, eine Begierde erfüllte mich ganz. Ich schaute auf den glitzernden Stein und hatte dabei das Gefühl, als hätte ich ihn selbst in den Augen, als ich Nina antwortete:

»Oginsky hat recht, nur einer von uns wird diesen Raum mit dem Orlow verlassen. Aber es sieht leider so aus, als wenn er die besten Karten in der Hand hat. Ich muß Sie dennoch bitten, Ihre Bemühungen aufzugeben.«

»Herr Inspektor Bjelke ist ein vernünftiger Mann«, sagte Oginsky, »er weiß, daß wir mit der rechten Gelegenheit alle zu Verbrechern werden können.«

»Meinetwegen bitte ich nicht um Barmherzigkeit«, sagte Nina stolz. »Du bist Bolschewik, nicht wahr, Fedor? Du und die deinen haben schon viele von uns ermordet, und du wirst wissen, daß wir euch nicht fürchten. Ich will dich nur bitten, diesen Auftritt abzukürzen. Es widerstrebt mir, im selben Raum zu atmen, zusammen mit einem Roten.«

Oginsky antwortete nicht.

Nina fuhr weiter fort, ihn zu verhöhnen und fragte ihn, ob er nicht Mitglied der Tscheka gewesen sei und wieviel er verdiente an seinen Opfern. Vielleicht verkaufte er auch noch Kleider und andere Schmuckstücke? »Hier hast du vorläufig einen Ring«, sagte sie und warf ihn auf den Fußboden.

Oginsky wurde immer gelber im Gesicht.

»Bist du fertig?« fragte er. »Wir sind heute nacht drei Menschen, die mit ihrer Vergangenheit abrechnen. Die Zeit ist um. Willst du noch beten, dann bete.«

»Oginsky«, sagte ich, »worum ich Sie bitte, ist nur, uns noch zwei Minuten zuzugeben. Auch ich habe mein Leben gelebt und es ist nicht immer so gewesen, wie ich es erträumt hatte. Ich war gebunden durch Fesseln und konventionelle Rücksichten. Aber die letzten Tage waren für mich ein großes Erleben. Ich kann jetzt glücklich sterben. Ich kann sagen, daß ich das, was wir Leben nennen, gelebt habe, weil ich jetzt zum ersten Male den großen Schmerz verspüre, den man empfindet, wenn man scheiden muß von einem Menschen, den man liebt. Ich bitte Sie nur, einige letzte Worte an Nina richten zu dürfen, mit der ich hier gemeinsam stehe, Angesicht zu Angesicht mit dem Tode.«

Ich wandte mich an Nina.

»Nina«, sagte ich, »ich liebe Sie, ich bete die Erde an, auf der Sie schreiten. Sie haben mein Dasein mit einem Inhalt erfüllt, ich habe nicht vergebens gelebt.«

Und ich kniete vor ihren Füßen nieder und küßte den Saum ihres Kleides. Mit voller Absicht tat ich es. Oginsky stand unterdessen ernst, aber beobachtend und betrachtete uns.

Nina hatte Tränen in den Augen.

»In dieser letzten Nacht darf ich es Ihnen eingestehen«, fuhr ich fort. »Vorher wäre der Unterschied zwischen uns zu groß gewesen.«

Ich machte eine Pause, während ich zum letztenmal alle Möglichkeiten überdachte. Und in dieser Pause hörte ich, wie Oginsky seine Pistole entsicherte.

Die Zeit war um.

Er hob die Pistole.

»Nina«, rief ich laut, »könnte ich jetzt noch leben, würde ich das Leben für das Ihre hingeben, aber jetzt kann ich Ihnen nur wiederholen, daß ich sterbe in dieser Liebe – –«

Ich beugte mich noch tiefer, und während ich sprach, konzentrierte ich all meinen Willen, meine ganze Energie in einen einzigen kurzen Augenblick.

Ich beugte mich vornüber, meine Hände griffen blitzschnell zu und mit einem kräftigen Ruck riß ich den Vorleger, auf dem Oginsky stand, unter seinen Füßen fort. Er fluchte laut, während er fiel.

Im Fallen griff er um sich, der Tisch polterte und fiel um. Im Fall zerbarst die Lampe. Es wurde. dunkel.

Aus meiner zusammengekauerten Stellung heraus machte ich einen Sprung, den ich wohl nie bei einer anderen Gelegenheit fertig bekommen hätte.

Es blitzte vor meinen Augen auf.

Eine Kugel fuhr an meinem Kopf vorbei, und dann hatte ich ihn gepackt.

Glücklicherweise packte ich sofort seine rechte Hand und klammerte mich daran fest: Ein Jiu-Jitsu-Griff ließ ihn mit einem Schmerzensschrei die Pistole loslassen, die klirrend irgendwo im Keller niederfiel, aber dann versuchte er auf die Beine zu kommen.

Seine Finger umklammerten meinen Hals mit hartem Griff und wir wälzten uns auf dem Boden in einem Handgemenge.

Ich war nahe daran zu unterliegen.

Ich riß mich zusammen. Meine rechte Hand suchte eine Stütze, tastete: Ein Lampenfuß, eine Waffe!

Ich ergriff sie, sie war sehr schwer.

Und während seine Finger meinen Hals umklammerten, schlug ich zweimal zu.

Ich hörte, daß meine Schläge trafen. Ein schwaches, peinvolles Stöhnen – aber ich wußte auch so, daß ich getroffen hatte, denn der Griff an meiner Kehle wurde lockerer und seine Hand fiel langsam nieder.

Alles wurde still – so still.

Ich blieb liegen, ermattet und abgespannt. Ein paar Sekunden nur, aber mir schien es eine Ewigkeit. Ich atmete und atmete, das Blut hämmerte in meinen Schläfen. Es war die Reaktion nach dieser übergroßen Spannung.

»Nina«, flüsterte ich, und es war, als ob ich Furcht hätte vor etwas Unbekanntem, das plötzlich in den Raum getreten war.

Ich hörte, wie sie irgendwo aus dem Dunkel antwortete.

»Es ist vorbei.«

In tiefstem Entsetzen versuchte ich, mich zusammenzureißen und suchte in meinen Taschen nach Streichhölzern.

Im flackernden Schein eines Streichholzes sah ich Oginskys wachsbleiches Gesicht.

Ich schloß die Augen.

Das Streichholz erlosch, und ich folgte zum ersten Male der schlechten und verwerflichen Gewohnheit mancher Pfeifenraucher, das Streichholz wieder in die Schachtel hineinzutun.

Mein Hirn begann wieder zu arbeiten. Warum sollte dieses Streichholz morgen als ein Zeugnis für die Tat gefunden werden?

»Wir müssen weg«, sagte ich leise.

Dann entzündete ich ein neues Streichholz, aber diesmal weit von Oginsky entfernt, um Nina den Weg zu zeigen.

Ein länglicher, bebender Lichtstrahl traf in diesem Augenblick mein Auge. Er kam vom Fußboden.

Es war der Orlow. Ich nahm ihn auf.

Er war eiskalt, aber ich hatte das Gefühl, als ob er in meiner Hand brannte.

Dann verließen wir den Raum, ohne ein Wort zu sagen.

*

So ging es zu, daß ich Oginsky tötete.

Ja – ich war es – ich – Inspektor Finn Bjelke.

Ich weiß, daß es in den Augen des Richters reine Notwehr war, und daß ich keine strafbare Handlung beging, aber ich weiß auch ebenso sicher, daß ich in dieser schicksalsschweren Nacht dennoch mordete. Daß ich zuschlug, um zu morden.

Ich war boshaft, besessen, desperat und alle Mordinstinkte beherrschten mich.

Ich kannte in jenem Augenblick nur einen Wunsch:

Oginsky sollte den Orlow nicht haben!

Wir gingen wieder auf Ninas Zimmer.

Ich legte den Orlow auf seinen alten Platz in das Etui mit dem zweiköpfigen, kaiserlichen Adler der Romanows und der Stein funkelte satt und zufrieden.

Ein roter teuflischer Schein schien aus seinem Innern zu kommen.

Ich ging weg und wusch meine Hände.

Blut war daran.


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