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Als Bjelke die vierte Morgenzigarette anzündete, schrillte das Telefon durch das Zimmer. Umständlich legte er die Akten über den Fall des Sittlichkeitsverbrechers aus der Thorwald Meyersgate zusammen – ließ sich im übrigen sehr viel Zeit – und griff erst, nachdem er seine Zigarette fortgelegt hatte, mit der Müdigkeit, die die dunkle und kalte Stimmung eines Märzmorgens hervorruft, zum Hörrohr:
»Hallo, – hier ist Bjelke – –«
»Ja – hier der Chef. Hast du im Augenblick irgendwelche dringenden Sachen zu erledigen?«
Bjelkes Gesicht leuchtete auf. Er warf einen schnellen Blick, in dem auch ein klein wenig das schlechte Gewissen zum Durchbruch kam, auf die eben weggelegten Akten und versicherte, daß er nichts zu tun gehabt hätte, als seine vierte Morgenzigarette unter die Nase zu stecken. Dann gähnte er laut und vernehmlich, warf einen mißmutigen Blick durch das Fenster auf die graue Steinfassade des gegenüberliegenden Hauses, steckte die Zigaretten ein und begab sich zum Chef. Im stillen fand er sich damit ab, daß der Chef auch nicht viel mehr Stoff für Arbeit hätte und sich nur durch ein Gespräch die Zeit abkürzen wollte.
Aber der Chef war durchaus nicht der joviale Freund und Vorgesetzte wie sonst. Er trommelte ausdauernd einen Marsch auf dem Schreibtisch und meinte ohne Übergang oder Einleitung:
»Zum Teufel – immer soll die Osloer Polizei Leute stellen, mag die Geschichte noch so unbedeutend sein und sich in der verlassensten Gegend abspielen. Wir haben – weiß Gott – genügend anderen Kram, und die anderen Distrikte wissen vor Langeweile nicht, welche Fliege sie zuerst totschlagen sollen, aber immer wir – immer wir. Es geht ja auch einfacher mit uns. Wir wohnen gerade Wand an Wand mit den hohen Herren vom Departement. Sie brauchen nur eben zu husten: ›Lieber Oberinspektor‹ – – dann noch ein wenig die Schulter klopfen und – – äh – –«.
»Ah – Dienstsache«, dachte Bjelke und setzte sich.
»Du wirst vielleicht verstehen«, bemerkte er – wobei er die fünfte Zigarette anzündete, »daß mir deine Rede etwas dunkel ist und unverständlich. Selbstverständlich aber teile ich als dein Kollege deine Ansicht. Also laß uns jetzt beginnen mit: – Teufel!«
»Was heißt ›Teufel‹?«
»Damit fingst du soeben an.«
»Der Teufel soll dich holen! Es ist bald Ostern – nicht wahr?« fügte er ruhiger hinzu. »Könntest du nicht jetzt schon deinen Urlaub nehmen?«
Bjelke erschrak allen Ernstes.
»Du weißt – mein lieber Freund«, sagte er einschmeichelnd, »daß ich als einer der wenigen passionierten Skiläufer des Polizeikorps bereits acht Tage von meinem Sommerurlaub zu Ostern zu nehmen pflege. Ich habe mich darauf eingerichtet, meine Kameraden haben ihre Vorbereitungen getroffen und es wäre ein ernster Schlag für die nächste Zukunft, wenn daraus nichts würde. Und außerdem brauche ich die Ferien. Du weißt – ich hatte viel zu tun. Ich habe mich nun einmal auf Ostern verbissen, bin ein regelrechter Osteridiot geworden und Sonne anbeten ist geradezu Religion für mich. Eine Osterwoche im Hochgebirge wiegt einen ganzen Monat Sommerferien auf, also – – –«
»Nach diesem Lobgesang auf das Osterfest mit seinen Freuden kann ich wohl annehmen, daß du nicht viel Wert auf deine Sommerferien legst«, meinte der Oberinspektor.
»Bedeutet deine Frage eine Gefahr für meine Osterferien?«
»Nein, aber für deine restlichen drei Wochen im Sommer. Ginge es an, wenn du jetzt deine ganzen vier Wochen auf einmal nehmen würdest? Wir haben noch eine Woche bis Ostern.«
»Warum soll ich weggeschickt werden wie der zweite Urias?« fragte Bjelke. »Begehrst du das kleine Fräulein Randi Lind von mir – sie sei dein ohne Schwertschlag. Ich opfere sie auf dem Altar der Freundschaft.«
»Allen Ernstes«, meinte jetzt der Oberinspektor kurz. »Du mußt die Sache übernehmen. Ich habe keinen anderen dafür und Dienst ist Dienst.«
»Ist es nicht etwas stark, daß ich meine Ferien dem Dienste opfern soll?« fragte Bjelke im vorwurfsvollen Tone. »Erst bittest du schön, daß ich meine Ferien umlegen soll. Dann enthüllst du mir deine Nöte und daß du niemanden anders senden kannst. Du bist kein Taktiker – lieber Oberinspektor – aber laß hören.«
»Es handelt sich um eine etwas ungewöhnliche Affäre«, begann der Oberinspektor, »viel kann dahinter stecken, aber es kann ebensogut blinder Alarm sein. Der Justizminister hat mich gestern zur Konferenz befohlen. Ein Herr mit einem von diesen unbeschreiblichen Namen, von der russischen Legation – ich glaube, er war Legationsrat, – hatte sich durch das Außenministerium an ihn gewandt. Kurz und gut handelt es sich darum, daß die Sowjets einige wertvolle Gegenstände an ein ausländisches Konsortium abliefern wollen und die Zusammenkunft zwischen den Geschäftspartnern soll in Norwegen stattfinden. Erst hatte man sich für Oslo entschlossen, aber später wählte man das Hochgebirgshotel in den Solbergen, um jede Aufmerksamkeit abzulenken. Aus Sicherheitsgründen unterrichteten die Russen die norwegischen Behörden. Ich soll jetzt Verhaltungsmaßregeln treffen. Am liebsten würde ich die ganze Sache an den Nagel hängen, aber es geht nun einmal nicht.«
Der Oberinspektor seufzte tief und fuhr dann fort: »Solche Aufgaben sind delikat und zugleich undankbar. Man darf nicht offen auftreten. Geht es gut, dann spricht kein Mensch davon. Geht es dagegen schief, dann haben wir ganz Europa gegen uns. Dann sind wir unfähige Teufel. Um die Wahrheit zu sagen, bin ich sehr unruhig. Ich verlangte von diesem russischen Herrn Aufklärungen, um die Verantwortung besser tragen zu können, aber er versteckte sich hinter Redensarten, die nichts sagten und nichts versprachen. So viel konnte ich jedenfalls entnehmen, daß es sich um Juwelen für eine holländische Firma handelt, und daß die russische Regierung nicht als offizieller Verkäufer auftreten will. Der Verkauf wird auch nicht durch die Legation getätigt.«
»Was haben wir dann mit einem reinen Privathandel zu schaffen?« flocht Bjelke gelangweilt ein.
»Was die Sache so bunt und verzwickt macht, ist, daß die Russen allem Anschein nach sichere Meldungen darüber haben, daß der Chicagobandit Orsini hinter den Juwelen her ist. Von seinen Leuten sollen sich bereits mehrere unter falschen Namen in Oslo aufhalten. Es ist wohl erklärlich, daß wir nicht tatenlos zuschauen können, wenn diese Banditen einen Coup landen wollen – aber die Zeit für gründliche Vorbereitungen ist kurz.«
Bjelke pfiff langgezogen.
»Wir kommen auf den Berg – russische Juwelen und amerikanische Revolverbanditen. Es ist geradezu spannend, Polizeimann zu sein.«
»Das Fatale ist nur, daß die Juwelen – woraus sie auch bestehen mögen – unterwegs sind. Sie kommen bereits heute Abend nach Oslo. Die Russen werden ihre Leute teilen. Drei Mann werden heimlich mit den Juwelen ins Hochgebirgshotel gesandt, während zwei andere ganz offen im Grandhotel Wohnung nehmen werden. Ich sagte ihnen natürlich, daß man unter solchen Umständen ja keine besonderen Maßnahmen zu treffen brauchte, aber die Russen bestanden darauf. Es gibt da etwas, womit sie nicht herauskommen wollen. Gott mag wissen, ob sie sich wirklich am meisten vor den Leuten Orsinis fürchten. Nervös sind sie jedenfalls sehr.«
»Auf wen spielst du an?« fragte Bjelke.
»Du weißt, daß die Bolschewiken wegen Raubs alles Privateigentums unter den früheren russischen Machthabern viele Gegner haben«, sagte der Oberinspektor ausweichend.
»Und das Resultat?«
»Ich mußte zuletzt nachgeben. Sie bekamen ihren Willen mit ihrem Hochgebirgshotel, und jetzt darf die Polizei wieder Leute stellen, um einen Tauschhandel zwischen Juden zu bewachen – zum Teufel noch einmal!«
»Und jetzt soll ich also meine Ferien opfern und das nur wegen dieser Kerle, die du mir so liebenswürdig charakterisiert hast«, sagte Bjelke mit leichtem Vorwurf.
Der Oberinspektor, fuhr ratlos mit den Armen in der Luft umher und sah niedergeschlagen aus.
»Was soll ich denn tun? Hätte man die Sache in Oslo erledigt, dann wären unsere Wachtmeister ausreichend, aber in einem hochmodernen Hotel kann man unsere Leute kaum unterbringen, ohne Aufsehen zu erregen. Dort brauchen wir einen Mann, der ins Milieu paßt, der die Angelegenheit unauffällig behandeln kann und außerdem sprachkundig ist – – –«
»Trop de fleurs«, murmelte Bjelke.
»Du mußt also reisen. Du bekommst die Zeit, die du brauchst und kannst außerdem deine Ferien ausgiebig verlängern. Du mußt vollkommen selbständig handeln. Brauchst du Aufklärung oder Hilfe, dann telefoniere oder telegrafiere. Bist du dort oben bekannt?«
»Ich bin ein paarmal oben gewesen – herrliches Skigelände.«
»Es liegt weit vom Dorf entfernt und vom Bahnhof – nicht wahr?«
»Wenn ich mich recht entsinne, fünf Stunden Schlittenfahrt. Mit dem Auto ist während dieser Jahreszeit überhaupt nicht dort hinaufzukommen.«
»Der Gedanke ist gar nicht einmal so dumm«, murmelte der Oberinspektor. »Die Gäste, die jetzt schon oben sind, scheiden für uns für die Sache von vornherein aus. Du brauchst also nur zu prüfen, wer mit dir oder nach dir dort ankommt. Die Verhältnisse in einem derartigen Hochgebirgshotel sind ja sehr durchsichtig, denn die Menschen leben da so dicht beieinander, daß es nicht schwer fällt, sie zu beobachten.«
»Was sind es eigentlich für Wertsachen, um die es sich hier handelt, weißt du denn gar nichts Genaueres darüber?« fragte Bjelke.
»Ich weiß ebensowenig wie du auch. Wie ich dir schon sagte, deutete man nur an, daß es sich um Juwelen von einem schwindelnd hohen Wert handeln soll. Vermutlich ›beschlagnahmtes Privateigentum‹, wie man es im bolschewistischen Jargon wohl nennt.«
»Also drei Russen reisen mit diesem Schatz? Wann fahren sie?«
»Darüber wirst du später genau Bescheid bekommen. Vermutlich nehmen sie morgen den Frühzug. Du wirst die Abteilnummer noch erfahren und einen Platz beschaffe ich auch vorher noch im selben Wagen. Ob du dich den Leuten vorstellen willst, überlasse ich natürlich dir. Aber sei auf der Hut. Wir wissen nicht, wie die Geschichte ausläuft. Es kann gefährlich genug werden.«
»Meinst du wirklich, daß etwas geschehen wird? Hast du besonderen Grund zu dieser Annahme?«
»Einen besonderen Grund – nein – aber du solltest dennoch die Augen offen halten. Nach den Aussagen der Russen ist die ganze Sache von großer Bedeutung, und in unseren Tagen kann man alles mögliche annehmen, wenn Vermögen ihre Besitzer wechseln. Du bist dort oben allein und müßtest aus diesem Grunde schon doppelt vorsichtig sein. Ich würde dir raten, dich sofort mit dem Kommissar unten im Tal in Verbindung zu setzen.«
»Du hast zu viel gelesen – lieber Oberinspektor. Du bist Spezialist in blutrünstigen und unwahrscheinlichen Geschichten. Du kennst alle Verbrechertricks, die überhaupt jemals am Schreibtisch konstruiert wurden, aber wieviel von ihnen sind dir eigentlich schon in der Praxis begegnet?«
»Nun das Lesen hat mir doch schon oft Nutzen gebracht. Aber, um von etwas anderem zu sprechen, hast du deine Zigarette bald aufgeraucht?« Der Oberinspektor schaute auffallend lange auf den Aktenstapel, der auf seinem Schreibtisch aufgeschichtet war.
»Noch ein Wort – Oberinspektor. Wir werden eine kleine Abmachung treffen müssen. Du liest ja so gern Rapporte und trockene, staubige Akten, und weil ich in meiner frühesten Jugend so leichtsinnig war, mich mit der Schriftstellerei zu beschäftigen, werde ich dir ständig schriftliche Rapporte senden. Die brauchst du dann nicht im Amtszimmer zu lesen sondern kannst sie abends mit ins Bett nehmen. Wir könnten sie ja Reiseschilderungen nennen, wenn nichts weiter geschieht. Sollte aber tatsächlich etwas hinter der ganzen Geschichte stecken, dann werden wir diese Rapporte ›der Kampf um die Juwelen‹ oder ähnlich nennen. Den Titel kannst du dir selbst aussuchen. Darin hast du mehr Übung. Als Gegenleistung werden wir die Frage über meine Sommerferien wieder anschneiden, je nachdem, wie dir meine Berichte gefallen.«
»Und wenn wir deine Berichte später als Material für die Angelegenheit anwenden müssen?«
»Dann werde ich die Stellen ausdrücklich anmerken, die für die holde Frau Justitia Interesse haben.«
»Einig«, meinte der Oberinspektor abschließend.