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Der alte Herrgott mag wissen, woher es kommt, daß ich es überhaupt fertig bekomme, über alle diese nebensächlichen Dinge so ausführlich zu schreiben. Andererseits kann ich dir anvertrauen, daß es hier sonst eben nicht viel zu tun gibt. Besonders nicht, wenn Mittagsschlaf gehalten wird. Es ist eine dumme Angewohnheit, die ich mir noch nicht zugelegt habe.
Ich trennte mich erst eben von Nina Newa.
Sie ging auf ihr Zimmer um auszuruhen.
Aber ich erzähle besser der Reihe nach:
Es ist immer noch alles ruhig. Im Grunde gebe ich dir mit meinen Berichten gerade keine spannende Bettlektüre.
Heute abend soll also der Holländer kommen. Die Russen wollen sofort abreisen, wenn die Angelegenheit geregelt ist.
Als ich heute vormittag an der großen Stube neben dem Speisesaal vorbeikam, hörte ich Gesang drinnen. Ich bedachte mich einen Augenblick, dann trat ich ein und tat, als ob ich etwas suchte. Natürlich entschuldigte ich mich wegen der Störung.
»Oh – es macht nichts«, sagte Nina Newa liebenswürdig, »ich sitze hier nur und summe. Ich habe manchmal solche seltsamen Stimmungen, dann singe ich gern. Sie dürfen sitzen bleiben.«
Und dann sang sie: »Ich trage meine Minne –«, mit einer Innerlichkeit, wie ich es nie vorher gehört habe. Ihre Stimme ist das reine Gold. Sie saß am Klavier und schien gedankenlos zu phantasieren. Die schönen, weißen Hände glitten spielerisch über die Tasten. Sie gehört zu den seltenen Künstlerinnen, die man hören und sehen muß. Nichts an ihrem Aussehen deutet auf eine Sängerin. Sie sind manchmal etwas füllig und haben eine starke Büste. Sie dagegen ist schlank und groß, beinahe mager zu nennen.
Eine Weile blieb sie still sitzen und schaute aus dem Fenster.
Dann sang sie ein russisches Lied. Eines jener eindringlichen, zu Herzen gehenden Moll-Lieder. Ein Volkslied, seltsam und geprägt von einer wehen und traurigen Stimmung.
Ihre Augen wurden dunkel, während sie sang. Dann brach sie ebenso plötzlich ab, wie sie begonnen hatte und schloß das Klavier.
»Entschuldigen Sie meinen Einbruch in Ihre augenblickliche Stimmung«, sagte ich, »aber Sie müssen mir erzählen, was Sie eben gesungen haben.«
Es war, als erinnerte sie sich jetzt erst meiner Gegenwart.
»Es war eine Volksweise aus der Krim – ein Bauernmädchen singt sie an einem einsamen Wasser oben in den Bergen. Das Lied heißt – Dämmerung. Gefiel es Ihnen? Wollen Sie die Worte hören?«
Und sie übersetzte das Lied für mich.
»Herbst. Schwalben fliegen hoch am Himmel. Ich sitze allein in der Dämmerung. Mein Herz ist wie eine leere Wohnung. Ein Feuer hat in ihren Zimmern gewütet. Nur die Mauern stehen noch allein. Und bald wird der Schnee sich über die toten Mauern legen und alles verbergen. Aber unterm Schnee liegen die letzten Stücke meines Herzens.«
Wir schwiegen eine ganze Weile. Ich vermochte nichts zu sagen. War es mir doch, als hätte sie sich selbst gemeint.
»Es ist ein schönes Lied«, und langsam, fast zögernd wiederholte sie die Worte noch einmal. Dann meinte sie:
»Die Dämmerung ist schön, aber traurig. Am schönsten ist sie, wenn man sich einsam fühlt und – müde.«
Wir blieben noch lange allein in der Stube sitzen. Sie erzählte von ihrer Kindheit in der Krim und von dem alten heiligen Rußland. Das ganze Land stand durch ihre lebendige, von Heimweh und Sehnsucht durchflossene Schilderung wie gemalt vor meinen Augen. Blusengekleidete Muschiks, langbärtige Popen, Kosaken, Soldaten und Studenten. Moskau mit seinen hunderten von Zwiebeltürmen, Petersburg, die weiße nördliche Stadt.
Wie doch diese Menschen ihr altes Rußland lieben müssen, dachte ich, – und wie sie die neuen Männer hassen! Mir schien, als hätte ich Rußland nie so visionär erlebt wie gerade jetzt durch die Erzählung Nina Newas.
Aber von sich selbst und von ihrer Flucht erzählte sie nichts.
Plötzlich brach sie ab.
»Wir reden und reden«, sagte sie, »und draußen haben wir das herrlichste Wetter. Ein milder Tag. Frühling liegt in der Luft. Wollen Sie mich ein wenig begleiten?«
»Laufen Sie Ski?« fragte ich.
»Sehr schlecht«, antwortete sie, »aber wenn Sie es mich lehren wollen und Geduld mit mir haben – dann wäre ich sehr dankbar.«
»Es wird mir eine große Freude sein«, sagte ich aufrichtig.
Nina Newa ging sofort nach oben, um sich umzukleiden.
Ich ging derweilen ein wenig vor dem Hotel auf und ab. Auf einem kleinen, angewehten Hügel ganz in der Nähe waren Frau Martier und von Mansfeld eifrig damit beschäftigt, Springen zu lernen. Er flirtete lebhaft mit der koketten Französin. Ihr helles Lachen drang zu mir herüber.
Mir fiel ein, daß es vielleicht gut wäre, wenn ich meine Ski wachsen würde. Der Schnee war etwas feucht. Während ich damit beschäftigt war, kam Professor Martier und schaute interessiert zu. Ich schnallte die Ski unter, um zu probieren. Plötzlich erklang wieder das trillernde Lachen der Frau Martier. Der Professor fuhr zusammen. Ohne ein Wort zu sagen, ging er durch den tiefen Schnee, um zu den beiden zu gelangen. Ich sauste denselben Weg hinunter. Der Professor ging jetzt hinter mir.
Hinter der letzten Schneewehe, zehn Meter von mir entfernt, standen von Mansfeld und Frau Martier eng umschlungen. Der Skigott Ull und die Liebesgöttin Fröya hatten sich zusammengetan, und Ull hatte dafür gesorgt, daß Frau Martier in von Mansfelds Arm kam. Fröya hatte dann ein übriges getan.
Sie küßten sich und hatten alles vergessen.
Martier wandte sich um, ohne ein Wort zu sagen. Was sollte ein französischer Professor, der bis zum Bauch im Schnee stand, auch wohl viel sagen!
Ich erzählte Nina Newa von diesem kleinen Erlebnis nichts. Dergleichen Beobachtungen soll man eben für sich behalten. Aber ich dachte daran, ob nicht auch uns beide der Skigott und Fröya auf den Gedanken gebracht hatten, daß wir Ski laufen sollten.
Nina trug ein braunes Skikostüm. Im übrigen schien sie ebensowenig sportmäßig angezogen wie Frau Martier, und dennoch lag ein himmelweiter Unterschied zwischen beiden.
Vielleicht spielte Ull in diesem Augenblick mit uns und amüsierte sich in seinem hohen Himmel, wobei er schelmisch der Fröya zublinzeln mochte. Aber vielleicht fühlte sich der junge Mann dort unten, auf den er es abgesehen hatte, zu unsicher und verwirrt. Denn es ist doch ein großer Unterschied zwischen einer Nina Newa und einer Frau Martier.
*
Von Mansfeld und Oginsky nahmen schon mittags ihre Beschäftigung vom vergangenen Tage wieder auf. Sie opferten Gott Bacchus ausdauernd und kräftig. Keiner von den beiden erschien bei der Mittagsmahlzeit. Sie blieben in der Stube und erfüllten diese mit schwerer Tabaksluft und dem Geruch von Alkohol. Sowohl Davidow wie auch Churgin gingen beide einmal hinüber. Kopfschüttelnd kamen sie wieder heraus. Oginsky schien die Kofferwache aufgegeben zu haben, und die beiden anderen Russen teilten sich jetzt darin.
Einmal ging Oginsky durch den Speisesaal. Er blieb einen Augenblick stehen, schaute uns starr an und grüßte nicht. Dann ging er unsicher weiter.
Fink-Martens prostete mir während des Essens einmal zu.
»Sie haben Glück gehabt – junger Mann. Nina ist ganz begeistert von Ihnen. Sonst ist sie Fremden gegenüber sehr zurückhaltend.«
»Das kommt nur daher, weil Herr Bjelke ein so guter Skilehrer ist«, lachte Nina Newa.
»Nehmen Sie ihn doch einfach mit«, schlug Fink-Martens vor. »Sie sind zu bescheiden – Nina. Sie sind eine weltberühmte Sängerin und Sie reisen wie ein Schulmädchen. Sie sollten mit einem großen Gefolge, Sekretär, Reisemarschall, Kammerzofe, zwei Negerboys reisen und – warum nicht auch mit einem Skilehrer. Das wäre ein Fressen für die Zeitungen – die sportliebende Primadonna!«
»Arme Nina – wie sollte sie eine derartige Menagerie nur beschäftigen?« seufzte Frau Fink-Martens.
Nach den Erlebnissen des vergangenen Tages zogen wir es vor, unseren Kaffee gleich hier einzunehmen.
Als drüben aufs neue Klavier gespielt wurde, fuhr Fink-Martens auf und wollte hinüber eilen, aber Nina bat ihn, die beiden gewähren zu lassen.
Dann hörten wir Orginskys Stimme – sie klang seltsam sicher im Gegensatz zu seiner Trunkenheit. Er sang eine muntere russische Weise:
»Mousjiki drava robile
rokavitsa pozabile – –«
Viele Verse waren es. Nina sah nervös aus. Ich wurde mißtrauisch und fragte sie:
»Singt er etwas Unverschämtes? Wir anderen verstehen ihn ja nicht – Nina Newa?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein – es ist eigentlich heller Unsinn. Es ist eine Holzfällerweise und bedeutet nur, daß der Bauer im Wald war, um Holz zu schlagen. Dabei hat er aber die Handschuhe vergessen. Das kann gefährlich werden im russischen Wald. – Sehr geistreich – nicht wahr?«
Nun kam Manfeld an die Reihe. Sein Gesang war schneidiger, aber auch er hatte eine gute Stimme.
»Ich glaube, wir können wohl gehen«, meinte Fink-Martens. Es ist ja nicht gerade schön, zuzuhören.«
Wir gingen alle vier. In der Tür hörten wir noch »– – die Familie Moses schützt die Republi–i–ik!«
»Wollen Sie einige Bilder aus der Krim sehen?« fragte mich Nina, als wir oben standen. Ich hätte schon immer gern ihr Zimmer in Augenschein genommen und hatte auch meine besonderen Gründe, die Fotografien anzuschauen.
Das Zimmer war all den anderen gleich – vielleicht nur durch persönliche Dinge etwas heimischer gemacht. Im Album fand ich nicht, was ich suchte, obgleich ich jeden Winkel durchstöberte. Ich schaute alle Gruppenbilder besonders aufmerksam an, sobald ich einen Offizier entdeckte, der an den Oginsky vor zehn Jahren erinnern könnte.
Ich hatte natürlich meine Gründe. Es war meine Pflicht, ihrem Angebot, die Bilder anzusehen, Folge zu leisten. Ich bin im Dienst und daher verpflichtet, alles nur erdenkliche zu erfahren, was irgendwie mit dem Diamanten und seinen Begleitern zusammenhing.
Was bedeutet sie mir sonst – eine Sängerin, ein fahrender Singvogel – ein Zugvogel im Frühling.
Sie bot mir eine Zigarette an. Eine lange, schmale Bogdanoff mit Pappmundstück. Sie war sehr schnell aufgeraucht und ich erhob mich. Ich erinnerte mich, daß sie doch ruhen wollte und sicher auch müde war nach der Fahrt am Morgen.
*
Aber jetzt muß ich meinen heutigen Rapport unterbrechen. Die »Newa« bat mich, sie zu begleiten. Sie wollte singen. Von hier oben aus kann ich gut hören, wenn der Schlitten mit den Holländern kommen sollte.