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Ich erwachte durch ein leises Klopfen an meiner Tür. Hochfahren und einen schnellen Blick auf die Uhr werfen war eines. Sie zeigte die erste Morgenstunde, verschlafen hatte ich also noch nicht. Ich warf meinen Mantel über und öffnete die Tür.
Der Polizist stand draußen.
Er zitterte vor Aufregung und Nervosität und flüsterte atemlos, daß gerade ein Mann zu Maja gekommen wäre und daß sie ihn eingelassen und die Tür verschlossen hätte. Er hätte sich gerade nach unten begeben wollen, um mich zu wecken, aber im selben Augenblick wäre die Tür schon wieder geöffnet worden und Maja hätte dem Fremden zugeflüstert: »Warte, ich bin sofort zurück.« Dann wäre sie die Treppe hinuntergegangen und er hätte sie verfolgt und wäre gekommen, um mich zu wecken. Maja wäre indessen weitergegangen.
»Zum Teufel Mann!« schrie ich wütend, »das sollten Sie doch gerade nicht tun! Sie sollten doch weitergehen!«
Er versuchte sich flüsternd und murmelnd zu rechtfertigen.
Man könnte nun ja besser alle beide fangen, sobald sie zurückkam und …
Ich hörte nicht mehr, was er sagte, sondern lief schnellstens über den Korridor nach dem entgegengesetzten Treppenaufgang zum Boden. Der Polizist folgte mir betreten. Im Nu waren wir die Treppe hinauf und standen nun auf dem von uns vorgesehenen Beobachtungsposten.
Ich fühlte plötzlich Ratlosigkeit und Unsicherheit. Dann riß ich mich zusammen. Es half nichts, tatenlos hier herum zu stehen, während irgendwo schon der Teufel los sein konnte.
»Wir sollten noch etwas warten«, sagte der Polizist und ergriff meinen Arm. »Sie ist noch nicht zurückgekommen, und wenn wir noch warten, können wir vielleicht sie und den Mörder festnehmen.«
»Woher wissen Sie so sicher, daß sie noch nicht zurückkam?«
»Während ich vor Ihrer Tür stand, konnte ich in der ganzen Zeit den Korridor übersehen und ich bin absolut sicher, daß keiner darüber gegangen ist.«
Ohne ein Wort zu sagen, riß ich meinen Arm los und ging zum Mädchenzimmer hinüber. Ich hörte, daß mir der Polizist auf den Fersen folgte und unterwegs seine Pistole entsicherte. Ich selbst ließ meine Pistole in der Tasche. Gleichgültig war ich geworden, verbittert und rücksichtslos.
Kurz und knapp klopfte ich an die Tür und mit einem raschen Griff drückte ich die Klinke nieder, trat ein – und stand Angesicht in Angesicht mit Iversen!
Sein Erstaunen war weitaus größer als das meine. Ich hatte es erwartet. Es lohnt sich immer, mit der Dummheit seiner Mitmenschen zu rechnen und – jawohl – mit der eigenen auch.
»Der Teufel soll Sie holen, Sie Idiot«, sagte ich leise, aber aus dem Innersten heraus und wenig diplomatisch.
»Was sagten Sie?« Iversen versuchte sich aufzublasen, fiel aber sofort zusammen, als ich ihn ohne Umschweife bat, den Schnabel zu halten, während der Polizist vor seiner Nase mit der Pistole herumfuchtelte.
Iversen stammelte ein paar Entschuldigungen, aber ich hörte überhaupt nicht mehr auf ihn. Ich wünschte keinerlei Erklärungen von ihm, aber ich war bis an den Rand geladen mit Rachedurst. Er sollte es noch büßen müssen, daß er wie ein tollpatschiger Hund in ein aufgestelltes Kegelspiel tappte und alle Kegel umwarf. Bei der morgigen Vernehmung würde er von mir keinerlei Schonung zu erwarten haben.
»Sichern Sie Ihre Pistole, Mann«, schrie ich voller Wut den Polizisten an, der mit dem Ding in allen Himmelsrichtungen herumfuhrwerkte. »Wir müssen sofort runter. Sie bleiben hier oben, bis Sie Näheres hören«, wandte ich mich an Iversen. »Gnade Ihnen Gott, wenn Sie ihre Nase auch nur aus der Tür herausstecken. Es könnte noch in dieser Nacht hier oben geschossen werden, verstehen Sie.«
Und während ich so redete, entsicherte ich meine Pistole. Iversen sank ohne ein Wort auf den nächsten Stuhl.
Herrgott, hatte ich eine Wut!
»Komm«, sagte ich zum Polizisten. »Jetzt wird es Ernst. Wir müssen Maja finden!«
Leise schlossen wir die Tür. Kein Laut war zu hören.
Ebenso leise wie wir gekommen waren, schlichen wir wieder die Treppe hinunter.
Plötzlich faßte mich der Polizist an: »Psst …«, wisperte er.
Wir blieben starr auf dem Fleck stehen, wo wir uns gerade befanden. Wir hielten den Atem an und waren rasend über den Laut, den unsere eigenen Herzen gaben.
Und inmitten dieser Anstrengung, dieser drückenden, beinahe vernehmbaren Stille, hörten wir deutlich, wie unten im zweiten Stock ganz leise eine Tür ging.
Eilends glitten wir in den Schatten zurück. Vielleicht war es Maja, die wieder auf dem Wege nach ihrem Zimmer begriffen war? Lange standen wir, ohne uns zu rühren. Das Blut hämmerte in den Schläfen. Die Minuten gingen – kein Laut war zu hören. Das ganze Haus schien ohne Leben zu sein.
Ich beschloß, dieser Ungewißheit ein Ende zu machen und leise schlichen wir weiter. Das Licht unserer Taschenlampen glitt über die ganze Breite des Korridors.
Er war völlig leer und alle Türen verschlossen.
Weiter gingen wir hinunter zur ersten Etage.
Auch die Halle war menschenleer.
Ich ging sofort zur Haustür. Sie war verschlossen, das heißt, nur eingeklinkt, nicht abgeschlossen.
Also mußte Maja draußen sein.
Es bestand somit immer noch Hoffnung, daß wir etwas erreichen würden.
Vielleicht war sie draußen, um den Orlow zu holen?
Wir würden nach ihr suchen müssen, sowohl im neuen Gebäude, wie in der ganzen Umgebung. Wir konnten das Risiko eines noch längeren Wartens nicht übernehmen. Vielleicht war Gefahr im Anzuge.
Ein Ausruf des Polizisten riß mich aus meinen Gedanken. Er stand in der Tür zu einem Zimmer, das gerade am Eingang, in der Nähe von Küche und Privatkontor lag.
»Donnerwetter, ich glaube, sie ist tot!«
Im selben Augenblick war ich auch schon bei ihm.
Und im Licht meiner Taschenlampe sah ich Maja im Zimmer liegen.
Sie lag lang ausgestreckt auf der Erde.
Der Kopf in einer großen Blutlache.
*
Ich weiß nicht mehr genau, wie ich darauf reagierte, aber ich habe noch schwach in der Erinnerung, daß der Polizist und ich uns in diesem Augenblick geradezu hysterisch benahmen. Viele törichte Worte sagten wir in die Luft hinein. Wohl nur, um unsere eigenen Stimmen zu vernehmen. So machen wir Menschlein es wohl recht häufig, wenn wir uns keinen Rat mehr wissen und etwas Unsichtbares uns heimgesucht hat.
Wir blieben im Dunkel vor der Toten stehen, die sozusagen vor unseren Augen erschlagen worden war. Wir starrten auf das Blut, das im Streifen unserer Lampen leuchtete. Um uns herum aber war es dunkel. Ein drohendes, entsetzliches Dunkel. Das Entsetzen schien aus allen Winkeln und Ecken auf uns zuzukriechen.
Und irgendwo in diesem Dunkel verbarg der Mörder sich.
Lauerte er auf sein nächstes Opfer?
Krümmte er sich wie ein Tiger zum Sprung? Wir taumelten umher wie Blinde am hellichten Tage. Mit einer Binde vor den Augen gingen wir auf Unbekanntes, Fürchterliches, auf den Mord zu.
Wir fühlten keinen Schreck. Nur Grauen, Grauen vor dem unbekannten, menschlichen, bestialischen Wesen, das hier zwischen den Wänden sein Wesen trieb.
»Wecken Sie den Kommissar«, hörte ich mich endlich mit einer überraschend ruhigen Stimme sagen. »Aber gehen Sie einen anderen Weg, benützen Sie nicht den Kreuzgang und verwischen mir dadurch vielleicht eine Spur. Halten Sie unterwegs die Augen auf und wenn Sie etwas sehen, dann zögern Sie nicht mit dem Schießen. Nehmen Sie sich vor den Winkeln in acht. Ich werde hier bleiben, bis Sie beide zurückkommen.«
»Gut«, hörte ich ihn noch sagen. Dabei reichte er mir die Hand. Warum er das tat, weiß ich nicht, weiß auch nicht, aus welchem Grunde ich sie nahm und drückte.
Dahn verschwand er im Dunkel und ich hörte eine Tür gehen.
Merkwürdigerweise fühlte ich sein Weggehen als eine Art Befreiung. Ich wurde ruhiger. Das lähmende Entsetzen schwand, und ich wurde wieder ich selbst. Um nicht untätig stehen zu müssen, nahm ich eine flüchtige Untersuchung des Zimmers vor. Ich fand aber keinerlei Spuren, und ich wandte mich wieder der Stelle zu, an der das unglückliche Mädchen lag.
Ich blieb stehen und schaute sie lange an.
Ich hatte nie vorher bemerkt, daß sie sehr schön war. Sie hatte feine Knöchel. Die Hände waren zwar rot, aber sehr fein und wohlgeformt. Die ganze Figur war schlank und mädchenhaft. Sie lag dort wie eine zerschlagene Porzellanfigur. Zerschlagen von brutaler Hand und liegen gelassen.
Ein Gefühl des Mitleids ergriff mich.
Ein unglückliches Leben hatte sie geführt, und wer von uns hatte sie auch nur mit einem einzigen Gedanken bedacht? Wir hatten unsere Gefühle mit Trinkgeldern betäubt. Sie ging uns nichts an.
Wie gefühlsroh sind wir doch. Wir, die wir uns einbilden, mehr zu sein als solch ein Mädchen, das mit seiner stillen Arbeit zu unserer Behaglichkeit beitrug.
Und während ich so stand, schwor ich mir zu, nicht eher zu ruhen, bis ich den Mörder gefaßt und zur Rechenschaft gezogen hatte. Meinen ganzen Willen wollte ich auf diese eine Aufgabe konzentrieren und nicht aufhören, bis ich diesen Schurken hinter Schloß und Riegel hatte.
*
Ich will nicht alle Verhaltungsmaßregeln schildern, die wir trafen, um dem Mörder auf die Spur zu kommen, nicht berichten, wie wir von Zimmer zu Zimmer gingen und alle Gäste weckten, nicht das Entsetzen, das alle erfaßte, als sie von der neuen ungeheuerlichen Tat hörten.
Was wir wissen wollten, das wußten wir jetzt. Alle Gäste hatten sich um 1 Uhr bis 1 Uhr 30 Minuten auf ihren Zimmern schlafend befunden. Zwischen 1 Uhr und 1 Uhr 15 Minuten war der Mord begangen worden.
Es wurde eine aufgeregte Nacht. An Schlaf war natürlich unter diesen Umständen nicht mehr zu denken. Sobald ich Anschluß unten im Tal bekommen konnte, meldete ich ein Ferngespräch nach Oslo an.
*
Lieber Freund und Chef,
du brauchst wirklich nicht so viele Entschuldigungen anzubringen, weil du mir Inspektor Karlsen nach oben geschickt hast. Ich weiß, daß Karlsen zu den besten Leuten unseres Korps gehört. Er hat eine hervorragende Spürnase, und ich bin nur dankbar für diese Hilfe. Umsomehr, als ich jetzt in den Hintergrund treten kann. Das kann schon viele Vorteile mit sich bringen. Ich freue mich, daß du mit meinen bisherigen Maßnahmen einverstanden bist. Die Gäste habe ich veranlaßt, noch zu bleiben. So hat Karlsen noch einen ganzen Tag zur Untersuchung, wenn er hier oben ist. Wir könnten noch eine überraschende Visitation vornehmen, wenn die Gäste das Hotel verlassen haben und bereits unten im Tal sind. Wenn wir dann den Diamanten nicht finden, müssen wir annehmen, daß er noch im Hotel oder in dessen Nähe versteckt ist. Dann aber können wir nichts anderes tun als weiter beobachten.
Es freut mich übrigens, daß meine Berichte dich interessierten, aber du bist auf dem Holzwege, wenn du glaubst, daß mein Junggesellendasein durch Nina Newa gestört würde. Es wäre dumm, wenn ich nicht zugeben wollte, daß sie mich allerdings sehr interessiert. Niemand wird gleichgültig an ihrer Persönlichkeit vorbeigehen können. Dazu ist sie zu seltsam und ein zu wertvoller Mensch, und man kann sich nur glücklich schätzen, wenn man ihre Bekanntschaft machen konnte. Aber unsere Wege sind verschieden. Sie ist ein Zugvogel in der Welt mit dem großen Wind unter den Flügeln und ich bin nur ein armer, nüchterner norwegischer Polizeibeamter.
Also Karlsen wird heute abend kommen oder morgen früh, wenn er es vorziehen sollte, zunächst über Nacht im Tal zu bleiben. Ich werde unterdessen das Notwendigste vornehmen, aber dann ziehe ich mich von den aktiven Nachforschungen zurück und setze meine Arbeit mehr im Verborgenen fort. Dann brauche ich auch diese langen Berichtsepisteln nicht mehr zu schreiben.
*
Das Verhör am nächsten Morgen blieb vollständig negativ. Alle hatten geschlafen, niemand etwas gehört.
Unsere Untersuchungen ergaben dagegen einige interessante Resultate, die vielleicht noch sehr wertvoll für uns werden können.
Die Mordstelle selbst erzählte uns nichts, und ich fertigte deswegen auch keine Skizze davon an. Es fanden sich keinerlei Spuren. Der Mörder hat aller Wahrscheinlichkeit nach auf der Lauer gelegen und sein Opfer mit derselben Waffe niedergeschlagen wie den Holländer. Die Taktik war auch dieselbe. Das Mädchen ist lautlos zusammengebrochen und der Tod sofort eingetreten.
Aber folgende drei Tatsachen sind, soweit ich sehen kann, von Bedeutung:
Wir fanden einen nagelneuen 500-Dollarschein zwischen Majas Kleidern oben in ihrem Zimmer.
Dann fanden wir eine interessante Spur in dem Schneegürtel im Kreuzgang. Zuerst die Abdrücke eines zierlichen Damenschuhes, dann den Abdruck großer Männerschuhe, die denselben Weg in derselben Richtung gegangen waren. Leider kreuzten sich die Spuren an keiner Stelle – der Schneegürtel ist ja nur sehr schmal – und darum ist es unmöglich festzustellen, ob die beiden zusammen gingen oder nacheinander.
Die Spuren des Männerschuhes waren so deutlich und charakteristisch, daß ich zuerst glaubte, sie müßten einen guten Fingerzeig ergeben. Es erwies sich dann aber, daß sie von Harringtons Gummigaloschen herstammten, die ein jeder im Hause benutzen konnte.
Wir wissen also zunächst nur, daß zwei Menschen den Weg vom alten zum neuen Gebäude gingen und auch wieder zurück. Sie haben sich erst durch das Passieren des Kreuzgangs verraten. Wären sie außen herumgegangen, wie es der Polizist gestern abend tat, dann hätten sich die Spuren verloren, denn draußen ist alles gefroren.
Der dritte – und wie mir scheint, auch der wichtigste – Punkt ist, daß ich drüben im neuen Gebäude in einem der Öfen in den Kellerräumen eine halbgerauchte Bogdanoffzigarette fand. Ich fand sie rein zufällig. Der Raum war sehr staubig, aber in der Nähe des Ofens war weniger davon zu sehen, gerade als ob jemand einen Schritt dorthin getan hätte. Die Spur war allerdings so undeutlich, daß sie für uns ohne Wert war, aber sie brachte mich immerhin auf den Gedanken, den Ofen näher zu untersuchen, welcher Mühe ich mich sonst wahrscheinlich nicht unterzogen hätte.
Die übrigen bemerkten von der Zigarette nicht das geringste, obgleich sie sehr eifrig suchten.
Noch etwas muß ich berichten, damit Du genau orientiert bist über alle Karten, die wir im Augenblick in den Händen haben.
Frau Mohn kam unmittelbar nach dem Frühstück zu mir und zog mich zur Seite. Sie hielte es für ihre Pflicht, mir verschiedene Dinge zu sagen, meinte sie. Zunächst über die verstorbene Maja, wie Frau Mohn sehr stimmungsvoll sagte. Sie wollte mir doch besser alles erzählen, was sie so bemerkt hatte. Obgleich eine Hotelwirtin nicht alle Dinge ausplaudern sollte, die unter ihrem Dache geschehen, aber hier, wo ein Mord vorlag, konnte man wohl nicht gut hinterm Berg halten. »Haben Sie Iversen beobachtet, Herr Inspektor?« fragte sie geheimnisvoll.
»Iversen? Ja, das stimmt, Iversen«, sagte ich. »Wir haben ihn ja noch gar nicht vernommen«, und dann entsann ich mich, daß Iversen strengen Befehl hatte, oben im Zimmer zu bleiben und sich nicht zu rühren.
Dort saß er noch.
»Was meinen Sie eigentlich, Frau Mohn?« fragte ich.
»Nun, es gab da etwas zwischen Iversen und Maja«, flüsterte sie vertraulich. »Ich glaube, Iversen hat etwas mit ihrem Tode zu tun. Er war früher Handelsreisender und hat sicher schon einiges erlebt.«
»Besten Dank, Frau Mohn, ich werde es mir merken.«
»Da ist noch eine Sache …«
»So?«
»Der französische Professor hat an den letzten Abenden seine Mahlzeit auf seinem Zimmer eingenommen. Seine Frau hat das Essen immer hinaufgeholt. Vorgestern abend kam ich zufällig über den Korridor, und da stand Frau Martier gerade auf der Treppe. Es schien mir, als ob sie ein weißes Pulver in den Tee geschüttet hätte …«
»Nochmals besten Dank, Frau Mohn, aber Sie brauchen dieser Sache nicht zuviel Gewicht beizulegen. Wir werden schon noch allem auf den Grund kommen. Wollen Sie mich jetzt auf Majas Zimmer begleiten und mir bei der Untersuchung helfen? Sie dürfen aber nicht erstaunt sein, wenn Sie jemanden dort oben treffen. Wir haben verabredet, daß er so lange auf das Zimmer achten sollte, wie ich unten war.«
Iversen saß tatsächlich immer noch dort. Er saß mitten im Zimmer auf einem Stuhl. Dick, schläfrig, aber erschrocken. Er sah aus, als hätte er sich nicht vom Platz erhoben, seit wir gestern abend von ihm gingen.
»Da sind Sie ja noch, treu wie die Leibwache der Großen Katharina«, sagte ich freundlich zu ihm, weil ich wegen meiner Vergeßlichkeit ein schlechtes Gewissen hatte.
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, brummte Iversen. Er war augenscheinlich schlechter Laune.
»Katharina stellte einmal in ihrem Garten eine Schildwache vor einem Baum auf, den sie gerade gepflanzt hatte. Hundert Jahre später stand die Schildwache immer noch da und niemand wußte, warum eigentlich. Der Baum war schon groß und stark. Irgend jemand untersuchte die Sache, und so fand man den Zusammenhang. Wir hätten Sie beinahe auch vergessen, Iversen.«
»Ich tue immer, worum die Polizei mich bittet,« brummte Iversen wieder. »Hätten Sie mich vergessen, so wäre das Ihre Sache und nicht meine.«
»Aber wieso konnte die Schildwache dort hundert Jahre stehen?« fragte Frau Mohn.
»Sie hatte sich wohl vermehrt,« sagte ich trocken.
Gleich darauf fanden wir den 5OO-Dollarschein.
*
Der Kommissar und der Polizist fuhren heute vormittag zu Tal. Es gab unten viel Arbeit für sie. Ich ließ sie fahren, denn heute abend oder morgen früh kommt ja Karlsen. Bevor sie fuhren, zog mich der Kommissar zur Seite und sagte mir, daß er mich bald mit einem Gefangenentransport erwartete.
»Und wissen Sie, wen Sie dann im Schlitten haben?«
Er schaute mich triumphierend an.
Ich mußte lächeln.
»Ich wette, Sie haben dann Harrington und Frau im Schlitten und beide mit einem stählernen Armband.«
»Sind Sie ihrer Sache so sicher?«
»Den Donner auch, ja. Der Kerl hat Maja die 5OO Dollar gegeben, damit sie ihm behilflich war. Woher sollte das arme Mädchen sonst einen derartigen Reichtum haben? Sie hat im Korridor gestanden und aufgepaßt, daß er in Ruhe arbeiten konnte, außerdem wissen wir, daß sie seine Tür schmierte. Es. ist doch einfach genug. Zunächst hat er den Holländer erschlagen und sich dann der Maja entledigt, als er die Kassette in Sicherheit hatte.
Was wollten die beiden zum Beispiel im neuen Gebäude? Ihr nächtlicher Spaziergang konnte doch nur einen Grund haben. Sie wollten die Juwelen holen. Als sie zurückkamen und alles ruhig war, erschlug er Maja als unnötige Mitwisserin.«
»Es hört sich gut an, was Sie da. aufbauen, Kommissar.«
»Nun kommt Karlsen ja auch hierher, ein flinker Bursche«, sagte der Kommissar eifrig, »er ist ein Neffe von mir, reden Sie nur mit ihm über diese Dinge, Inspektor.«
Ich verstehe schon, daß der Kommissar der Meinung ist, ich sei zu vorsichtig und zu langsam. Kann gut sein.
Indessen überlasse ich mich meinem Gewissen. Es sagt mir, ich habe alles getan, was möglich und nötig war. Die bisherigen Untersuchungsergebnisse können der Kommissar und Karlsen haben. Meine Tätigkeit als Verfasser von Berichten ist vorbei, und ich nehme sie nicht eher wieder auf, bis der Knoten gelöst ist. Wie gesagt, ziehe ich mich jetzt ins Verborgene zurück. Von jetzt ab werde ich im Dunkel arbeiten wie der Mörder.
*
Mittwoch, 1. April abends: Die letzte Neuigkeit ist zunächst, daß Karlsen unten beim Kommissar übernachtet. Aber diese Neuigkeit ist nicht so aufregend, daß sie mich verleitet hätte, doch noch einmal zur Feder zu greifen.
Aber: Oginsky ist gekommen.
Er kam heute abend spät mit dem Schlitten.
Ich war bei seiner Ankunft nicht zugegen, aber er suchte mich sofort in meinem Zimmer auf. Er war ernst, energisch und gestrafft, ein ganz anderer Oginsky als der, den wir zu sehen gewohnt waren. Er gefiel mir.
Die russische Legation hatte privatim Mitteilung von den Vorgängen hier oben erhalten, während die Presse noch nichts erfahren hatte. Eigentlich hatte die Legation keinerlei Interesse mehr an den Dingen. Der Diamant war verkauft, sie hatten ihr Geld erhalten, aber dennoch wünschte sie Berichte von der Sachlage. Besonders dann, wenn der Verdacht in eine bestimmte Richtung wies.
Wenn er mir irgendwie behilflich sein könne, meinte Oginsky, dann stände er mit Freuden zu meiner Verfügung. Auch ihm persönlich läge daran, dieser Bande auf die Spur zu kommen.
Ich mußte ihn einweihen und berichtete ihm die springenden Punkte des Bisherigen, aber nicht alles. Es ist nicht nötig, einen Ausländer völlig einzuweihen. Ich erzählte ihm nichts über Nina Newa. Weder, was sie über ihre Verwandtschaft mit ihm gesagt hatte noch über die Art ihres Auftretens bei den verschiedenen Anlässen. Dagegen tat ich, als wüßte ich nichts von ihr und deutete mein Nichtwissen ihm gegenüber an, dadurch, daß ich einige versteckte Fragen an ihn über Nina Newa richtete.
Er zögerte mit der Antwort.
Dann kam ziemlich zögernd, daß er nichts Näheres über Nina wisse. Er wußte nur, daß sie eine fanatische Weißrussin war und daß die großen Einnahmen ihrer Konzerte zum größten Teil den russischen Emigranten zugute kamen. Das sei im übrigen derselbe Grund, der auch die Anna Pawlowa in Armut gestürzt habe, sagte Oginsky mit einem bösen Lächeln. Aber Nina Newa sei noch fanatischer, »sie ist kein Freund von uns«, fügte er hinzu.
Dann stellte er verschiedene Fragen und lauschte aufmerksam meinen Antworten. Schließlich nickte er nachdenklich.
»Ich habe einen Gedanken«, sagte er. »Sie werden es mir nicht übelnehmen, wenn ich ihn vorläufig noch für mich behalte. Aber ich glaube, ich weiß, wer der Mörder ist, und daß ich den Diamanten finden werde. Es gibt da eine Sache, von der ich annehme, daß Sie von Ihnen übersehen wurde.«
Das hatte ich gerade nicht zu hören erwartet.
»Ich will mich nicht eindrängen«, sagte ich etwas wütend, »wenn Sie nichts zu sagen wünschen. Aber wäre es nicht vorteilhafter, wenn wir zusammenarbeiteten?«
»Das hängt von meinen ersten Untersuchungen ab. Wir wollen noch eine Nacht darüber schlafen. Gute Nacht. Ich bin verdammt müde nach der langen Fahrt und will mich rechtzeitig schlafen legen.«
Nachdem Oginsky gegangen war; blieb ich noch eine Weile sitzen. Warum verheimlichte er, daß er Nina kannte? Sind sie wirklich Vetter und Base, oder sollten sie doch …?
Und dann, warum zeigte er so deutlich auf die Emigrantenhilfskasse? Er hatte gesagt, daß er seine Gedanken darüber hätte. Nun sind wir hier oben wohl alle Detektive geworden und jeder hat seine eigene Spur und seinen eigenen Verdacht?
Aber eines merkte ich mir besonders:
Oginsky hatte überhaupt nicht nach den Amerikanern gefragt.
Ein neuer Verdacht tauchte in mir auf.
*
Ich ging hinunter in die Stube. Nina Newa saß am Klavier und summte vor sich hin.
»Oginsky ist wiedergekommen«, sagte ich.
»Ich weiß es«, sagte sie nur. Sie verriet keinerlei Überraschung oder Unwillen, aber einen Augenblick später fügte sie hinzu: »Sie werden verstehen, daß ich besonders jetzt den größten Wert darauf lege, abreisen zu können.«
»Ich werde tun, was in meinem Kräften steht«, gab ich zur Antwort. »Aber ich leite die Untersuchung nicht mehr. Es kommt morgen ein anderer hier herauf: Aber ich werde mit ihm sprechen. Wir können ja sagen, daß Sie sonst verschiedener großer Engagements verlustig gingen.«
»Ich hätte gern gewußt, ob ich spätestens Freitag abreisen, kann, sonst verliere ich tatsächlich einige Engagements. Können Sie mir versprechen, daß ich bestimmt Freitag abfahren kann? Ich könnte mich dann darauf einrichten.«
»Ja«, sagte ich, »ich glaube.«
Sie saß und schien etwas auszurechnen.
»Welches Datum haben wir heute?«
»Den ersten April.«
Sie wurde seltsam aufmerksam.
»Wie schreiben Sie das Datum?«
»1.4.1931.«
»Zählen Sie die Zahlen zusammen«, bat sie in großer Erregung.
Merkwürdig berührt kam ich ihrem sonderbaren Wunsche nach.
»1+4+1+9+3+1 das ergibt zusammen 19.«
»Blankenstein wurde auf Nummer 19 ermordet und der Orlow verschwand von Zimmer 19, das ist die Zahl«, sagte sie mit leichenblassem Gesicht. »Da ist die Zahl des Orlows wieder«, wiederholte sie. »Noch sind wir nicht am Ende dieser Tage voller Unglück und Verdammnis!«
Sie schaute vor sich hin mit einem Ausdruck, als ob sich ein Abgrund vor ihren Füßen öffne. Dennoch lag ein harter, entschlossener und erstarrter Zug in ihrem Gesicht, der mich sehr überraschte.
Ich sagte nichts darüber.
»Hier in Norwegen glauben wir, daß der erste April uns ständig zum Narren hält«, sagte ich nur.