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Kaleidoskop. Rote Dreiecke und blaue Vierecke, glitzernde Zickzacklinien und finstere schwarze Striche. Sinnlose Schönheit und Verzerrungen, die Wesen und Inhalt des Schmerzes waren. Das waren die Reisen Samuel Dodsworths in diesen Sommermonaten.
Er sehnte sich danach, heimzukehren nach Zenith, sich am Tröste zu erfreuen, den Tub und Matey, Emily und Brent ihm geben könnten und die Straßen und Ecken und Bureaus, die ihn achteten, nicht als unwissenden Touristen verlachten. Aber dem Hohn ins Auge sehen, der ihm zuteil würde, wenn er ohne Fran zurückkäme, in allen Winkeln das entzückte Geflüster hören, die Ersatzrache der Männer, die von ihren eigenen Frauen frei sein wollen und ihren ängstlichen Haß in Höhnen und Klatschen über die Eheschwierigkeiten anderer umsetzen – das konnte er nicht ertragen. Und einem frohlockenden, feuchten, täppischen Mitleid ins Gesicht sehen, den Schwachköpfen ins Gesicht sehen, die annehmen würden, er sei so kleinlich, daß er dankbar dafür sein könnte, Fran verleumdet zu wissen, seine Fran, und dazu beglückwünscht zu werden, daß er sie verloren hatte, sie, die die Seele seines Lebens war – das ging über seine Kraft.
Hätte ihn eine Arbeit zu Hause erwartet, so hätte er sich wahrscheinlich in sie gestürzt und sich in einem Wirbel von Papieren und Sekretären und Telephongesprächen vor dem Skandal versteckt. Aber er hatte nichts. Jetzt erschien ihm der Sanssouci-Plan so töricht wie der Glaube, den er sein ganzes Leben lang gehegt hatte, der Glaube, er sei Manns genug, seine Frau zu halten.
Dennoch ließ er sich in Paris zweimal einen Schiffsplatz nach Amerika reservieren, und zweimal ging er in das Bureau der Cunard-Line und ließ sich sein Geld zurückgeben.
Er schlich sich nach London hinüber, um die einzige Sprache zu hören, die er verstand, und flüchtete wieder, weil er die Sprache verstand, weil jemand ihn erkennen und bemitleiden könnte. Er machte eine deutsche Rundreise nach dem Nordkap und in das Baltikum mit, er separierte sich in Riga und floh, weil er die Sprache nicht verstand.
Er kehrte nach England zurück, mietete ein Automobil und fuhr auf der alten römischen Straße durch Kent, er hielt sich in Dörfern mit Fachwerkhäusern und Hütten auf, die mit roten Ziegeln gedeckt waren, er suchte kleine Ortschaften in Sussex auf, die in stillen Waldtälern verborgen unter den schimmernden Anhöhen lagen. So hätte man ihn sehen können: ein sehr großer Mann, allein in einem ziemlich kleinen Wagen; eine einsame Gestalt, die Stunde um Stunde auf einer Hügelspitze saß, die Knie umklammert, und anscheinend grübelte; ein Mann, allein in einem Wirtshaus, allem lauschend, was gesprochen wurde – überrascht und freundlich, wenn jemand ihn anredete.
Er empfand den Frieden und die Sicherheit der englischen Täler und Bauerngehöfte – und wurde nur um so rastloser, weil er nirgends hingehörte. Er kehrte nach Paris zurück, verbrachte seine Nächte in den amerikanischen Bars und galt als einer der Nichtstuer, die einmal etwas gewesen sind, aber bankrott gemacht haben – finanziell oder mit den Nerven oder im Alkohol – die man mitleidig meiden muß.
Er begriff. So kam es, daß er meistens allein war, in seinem Zimmer im Grand Universel. (Es bereitete ihm ein seltsames, schäbiges Vergnügen, jetzt kein Appartement zu haben, sondern ein billiges Einzelzimmer.) Er trank viel. Öfters nahm er statt des Frühstücks einen Kognak zu sich. Aber in dieser unklaren Betäubung kamen Augenblicke, in denen er deutlich sah, daß er ganz allein war, daß seine Arbeit, seine Kinder, seine Freunde, alle Gewohnheiten seines Lebens, und schließlich auch seine Frau, daß alle die Stützen und Krücken, die es ihm ermöglicht hatten, durch das Leben zu humpeln, weg waren, und daß er sich jetzt auf nichts mehr verlassen konnte als auf Trostquellen, die er in seinem eigenen Verstand finden konnte. Kein Mensch brauchte ihn wirklich, und er war nie imstande gewesen, sich auf jemand zu stützen, dem er nicht gleichzeitig geben konnte.
Mit kindischen, absurden Methoden bewerkstelligte er es, die Zeit totzuschlagen, Tag für Tag, in einem Nebel, der ihm hin und wieder barmherzig die Bedürfnisse Samuel Dodsworths verhüllte. Bis zum Mittag blieb er in seinem Zimmer im Grand Universel, salopp im Schlafrock, er brauchte eine Stunde, um die Pariser Ausgaben der Tribune und des Herald zu lesen, eine halbe Stunde, um sich zu rasieren. Alle vierzehn Tage konnte er eine Stunde damit verbringen, daß er sich das Haar schneiden ließ, und obwohl er bemüht war, sich den Anschein eines beschäftigten und wichtigen Mannes zu geben, war er froh, wenn er beim Friseur warten mußte, wenn er ohne lächerlich zu wirken, diese Zeit darauf verwenden konnte, im Sketch und im Graphic zu blättern. Er ließ sich maniküren – früher hatte er nur Verachtung dafür gehabt. Er gestand es sich nicht ein, aber er unterließ es, der Guaranty Trust seine Hoteladresse zu geben, um einen Grund dafür zu haben, daß er täglich seine Post von der Bank abholen könnte.
Er war den Portiers und den Angestellten der Bank dankbar, weil sie ihn wie einen Menschen behandelten, der noch etwas gilt; und wenn ein Brief für ihn da war – es kamen jetzt sehr wenige, und die meisten waren von Fran, die den Wunsch zu haben schien, eine geschwisterliche Freundschaft mit ihm aufrecht zu erhalten – dann nahm er den Brief mit dünkelhafter Würde entgegen und zog sich an einen Tisch vor einem Café am Boulevard des Italiens zurück, um ihn zu lesen und noch einmal zu lesen, obwohl er nicht mehr daraus entnahm, als daß sie ein reizendes neues Restaurant in Berlin gefunden hatte.
Einmal fragte ihn ein Herr, der in der Bank gleichfalls seine Post holte: »Sind Sie nicht Mr. Dodsworth von der Revelation Company? Ich habe Sie bei der Automobilausstellung in New York kennen gelernt.«
Sam freute sich so, daß er ihn zum Lunch einlud und oft mit ihm telephonierte, bis es so weit war, daß der Mann, für den Sam einer der Götter gewesen war, sah, daß er nicht mehr war als ein einsames und gewöhnliches Menschenwesen, ihn verachtete und alles Interesse für ihn verlor.
Und immer war Fran um ihn, ihn seiner Schwäche wegen ausscheltend; immer sah er ihr Gesicht. Abends und um drei Uhr morgens, wenn er nicht mehr schlafen konnte und aufstand, um eine Zigarette zu rauchen, hörte er sie sagen: »Ach Sam, ich hätte es nie für möglich gehalten, daß du so ein schmieriger Säufer werden kannst!« Er schmiegte seinen Kopf an ihre Schulter und gestand ihr weinend, daß er Schiffbruch erlitten hatte, und dann verzehrte ihn Mitleid mit ihrer tollkühnen Anstrengung, mehr zu sein, als sie war, bis er mit Freuden alles getan hätte, um Kurt zu ihr zu verhelfen … Samuel Dodsworth, so rot geworden vom Trinken, daß kein Freund aus seinen früheren schönen Zeiten ihn erkannt hätte, sitzt auf der Bettkante, mit zerwühltem Haar, in zerdrücktem Schlafanzug, raucht Zigaretten, will von Paris nach Berlin telephonieren und Fran sagen, daß er hoffe, sie würde Gräfin Obersdorf werden, und tut es nur nicht, weil er weiß, daß es ihr gar nicht recht wäre, und daß sie, sehr böse würde, wenn er sie um drei Uhr morgens weckte.
Unglücklich war er oft genug gewesen, aber niemals hatte er ein solches Leiden erlebt – ein Leiden so verschwommen und richtungslos und unvernünftig, daß er selbst über seine mürrische Schwäche tobte – ein Leiden so verwirrend, daß ihm jeder ausgesprochene körperliche Schmerz lieber gewesen wäre. Fran war für ihn Besessenheit. Jetzt verfluchte er sie wegen ihrer Untreue, und in langem reglosen Schweigen dachte er an ihre Hochnäsigkeit, das Ergebnis aber war nicht ein fester Entschluß sich frei zu machen, sondern plötzliches Mitleid mit ihr – Besorgnis, daß Kurts Familie sie fallen lassen könnte – ein Bild von ihr, wie sie allein und freundlos in der grauen Dämmerung weinte. Abgerissen kamen ihm Erinnerungen, grotesk durcheinander gewürfelt – ein Abendcape aus weißem Pelz, das sie einmal besessen hatte – wie sie auf einer Fahrt nach Detroit aus Kaffee und kaltem Rebhuhn mit Salat eine Mahlzeit am Straßenrand zurechtgemacht hatte – ihre Art zu sagen: »Ich bin ein sehr schläfriges kleines Frauchen« – und ein komisches abgetragenes Paar Hausschuhe aus rosa Wolle, das sie geliebt hatte. Er weidete sich an diesen Erinnerungen und tauchte mit einem Ruck aus ihnen auf, um noch mehr zu leiden, bis sie ihm eine seelische Krankheit war, von der er sich befreien mußte.
Er fand Nande Azeredo; er wurde Fran ziemlich restlos untreu, und obwohl er Nande gern hatte, konnte er sich nicht einreden, daß er gern untreu war.
Er war wieder ins Café Select gegangen, weil er hoffte, Elsa zu sehen und sie mit Hilfe irgendeines Zaubermittels dem scharfnäsigen Mr. Keipp wegzunehmen. Jetzt handelte es sich nicht mehr um eine Bereitschaft zu dem, was er noch immer »Untreue« nannte, es handelte sich nur noch darum, sich vor dem Wahnsinn zu retten. Die Moralfragen, mit denen behaglich verheiratete Geistliche sich befassen, existierten jetzt nicht für ihn.
Er sah Elsa nicht, und als er allein da saß, kam ein großes, ziemlich hübsches Mädchen mit tartarisch weit auseinanderstehenden Backenknochen zu ihm, setzte sich unaufgefordert nieder und fragte in einem Englisch, das klang, als würde es auf einer Flöte gespielt: »Was haben Sie? Sie sehen ganz elend aus.«
»Bin ich auch. Was möchten Sie trinken?«
»Grand Marnier … Ist sie gestorben oder Ihnen durchgebrannt?«
»Ich möchte lieber nicht darüber reden.«
»Ist es so schlimm? Gut. Ich werde über das Lokal hier reden. Ich werde die Leute hier kopieren.«
Und das tat sie auch, lustig und durchaus nicht schlecht. Sie schien der netteste Mensch zu sein, der ihm seit Berlin begegnet war. Er vermutete, daß sie ein Malermodell sei; im Dôme und im Select waren auch einige wenige Prostituierte von Beruf zu finden, trotz aller Tüchtigkeit mancher Dilettantinnen.
Sie sagte ihm, sie sei Nande Azeredo, als ob er wissen müßte, wer sie war.
Fernande Azeredo (erfuhr er bald) war halb Portugiesin, halb Russin, und ganz und gar Französin. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt und hatte in neun Ländern gelebt, sie war dreimal verheiratet gewesen und hatte einmal einen sibirischen Wolf geschossen. Sie war Ballettmädchen, Mannequin und Masseuse gewesen, und jetzt verdiente sie sich einen kargen Lebensunterhalt, indem sie Wachsmodelle für Schaufensterfiguren machte und sich Bildhauerin nannte. Sie rühmte sich, daß sie sich von keinem ihrer fünfundsiebzig Liebhaber (»Und mein Lieber, einer war ein echter Fürst – na, ziemlich echt«) jemals hätte mehr schenken lassen als ein paar Kleider.
Und er glaubte ihr.
Dieses Hintergassenkätzchen – oder diese Hintergassentigerin – durchschaute ihn, wie es Elsa und Keipp und Gillespie und Short mit all ihrem Genie niemals gelungen war. Sie wußte intuitiv, daß er Amerikaner, Geschäftsmann, Akademiker war; sie wußte, daß er in der Liebe verloren hatte; sie wußte, daß er im Grunde freundlich und anständig war, und daß sie ihn nicht mit den Obszönitäten zerstreuen durfte, mit denen sie andere reisende Amerikaner amüsiert hatte.
»Sie sind ein netter Mann. Vielleicht laden Sie mich zum Essen ein. Oder, das ist mir verdammt wurst – Sie kommen in meine kleine Wohnung, und ich mache ihnen ein Kotelett. Ich habe jetzt keinen Mann. Der letzte – ach dieser dreckige Schweinehund – den habe ich hinausgeschmissen, weil er mir meinen Pelz gestohlen und ihn versetzt hat.«
Und er glaubte ihr.
Ihre muntere Lebendigkeit gefiel ihm. Sie sagte zwar nichts Wichtiges, aber sie brachte ihre kleinen, weltlichen, klugen Bemerkungen über den Krieg zwischen Mann und Weib mit solcher Kraft vor, sie versicherte ihm so eindringlich, daß er groß und stark und wirklich sei, und daß sie ihn allen schwächlichen Dichterlingen vorziehe, daß ihre Kameradschaft ihn erwärmte. Und ohne Berlin oder Kurt zu erwähnen, ohne deutlich auszusprechen, ob Fran seine Geliebte oder seine Frau gewesen sei, vergaß er sein »ich möchte lieber nicht darüber reden« und erzählte ihr ziemlich offen von seinem Leid.
Dann ging er in sein Hotel zurück, packte eine Tasche und verbrachte drei Nächte und drei Tage bei Nande Azeredo.
Er staunte über die gelassene, glückliche, überaus stolze Art, mit der sie ihrem Mann diente. Er hatte nie gewußt, daß das Dienen auch anderen Frauen als altjüngferlichen Sekretärinnen ein Glück bedeuten kann. Sie stopfte ihm die Socken und sorgte dafür, daß er weniger Kognak trank, sie bereitete ihm Schnecken so zu, daß sie ihm wirklich schmeckten. Sie lehrte ihn neue Arten der Liebe, und wenn sie merkte, daß er diese nicht kannte, lachte sie ihn aus, aber voll Zärtlichkeit. Zum erstenmal in seinem Leben begann er zu lernen, daß er sich nicht des Körpers zu schämen brauchte, den er wohl vermutlich vom lieben Gott bekommen, den aber Fran für ziemlich mißglückt gehalten hatte. Er fand in sich eine Kraft zu einer intensiven Leidenschaft, von deren Mangel er sein ganzes Leben lang schuldbewußt überzeugt gewesen war; und manchmal schien ihm Nandes Wohnung der Garten Eden zu sein.
Es war eine verrückte kleine Wohnung: drei Zimmer gleich unter dem Dach, mit den Fenstern auf einen gepflasterten Hof hinaus, der nach Abwässern und noch Schlimmerem roch und den ganzen Tag von Lärm erfüllt war, man zankte unten, Kinder spielten, Holzkohlen wurden abgeladen, und mit Gepolter wurden Mülleimer abgesetzt. Ihr Geschirr war gesprungen, ihre Tassen ausgebrochen, die getünchten Wände hatten Regenstreifen, und Sams Rosen stellte sie in eine Blechkanne; aber auf einem Sofa mit Goldbrokatdecke trieben sich teure, langgliedrige und blaßgesichtige Puppen herum. Ihre Kleider lagen in Haufen da und dort, und die sanitären Apparate waren keineswegs verborgen. Und überall waren Instrumente zur Lärmerzeugung: ein Grammophon, das sie mit Vorliebe um drei Uhr früh in Betrieb setzte, Klappern und Trompeten, die vom letzten Karneval übrig geblieben waren, ein sehr billiges Radio – das zum Glück nicht in Ordnung war – und sieben Kanarienvögel.
Er konnte eine Zeitlang trotz allen Tugenden Nandes nicht glauben, daß sie nicht damit rechnete, etwas aus ihm herausholen zu können. Als sie in der Rue de la Paix miteinander spazieren gingen (in jener Straße, die Fran scheinbar so gut gekannt hatte, der aber Nande jetzt Leben gab, indem sie die skandalösesten Geschichten von den Ladenbesitzern und ihren Lieblingen unter den weiblichen Angestellten erzählte) fragte er: »Was soll ich dir schenken, Nan? Ein paar Perlen oder –«
Sie blieb vor ihm stehen, pflanzte die Arme in die Hüften und rief wütend: »Ich bin nicht das, was ihr Goldgräberin nennt! Dazu bin ich nicht genug Dame! Wenn du mich satt hast und mir hundert Dollars geben willst – oder fünfzig – schön. Aber du mußt um Gottes Willen begreifen, daß Nande Azeredo sich einen Mann nur nimmt, weil sie ihn gern hat! Perlen? Was sollte ich mit Perlen? Kann ich Perlen essen?«
Sie arbeitete täglich – wenn auch nicht sehr viele Stunden – an ihren fürchterlichen Wachsmodellen, und auf rätselhafte Weise brachte sie es fertig, ihm gerade die englischen Bücher zu bringen, die er wollte: Shelley, wegen der stolzen Erinnerung, daß er früher einmal ein akademisch gebildeter Mann gewesen war, und Detektivgeschichten, die er wirklich las.
»Herr Gott!« dachte er, »das wäre eine Frau für einen Pionier! Sie würde auf den ganzen Pariser Schmarren sofort pfeifen, wenn sie jemand liebt. Sie würde den Mais behacken, sie würde auf die Indianer schießen, sie würde die Kinder pflegen – und wenn sie keine Pariser Wäsche bekommen könnte, würde sie sie wahrscheinlich selbst spinnen.«
Aber gerade ihre bewundernswerte Unverwüstlichkeit war es, die ihm nach drei Tagen auf die Nerven fiel.
Zum ersten Mal war es belustigend, Nande zuzuhören, wie sie, die Arme in die Hüften gestützt, in einen Shawl oder einen Umhang gewickelt, den Kaufmannsjungen beschuldigte, dreißig Centimes zu viel verlangt zu haben, ihn mit so vielen Anwendungen des Epitethons »Kamel« beschuldigte, daß er bleich wurde und floh. Aber es war viel weniger belustigend, als sie zum zwanzigstenmal mit Lieferanten, Kellnern, Droschkenchauffeuren und Automobilisten stritt – die sich ihrer Ansicht nach verschworen hatten, sie zu überfahren – und mit Sam selbst, weil er nicht mehr essen wollte. Sie war so laut: ihre Gespräche begannen mit einem Schrei und endeten mit einem Gebrüll. Und immer sah er, daß Fran Nande und ihn höhnisch beobachtete. So oft er sich überzeugt vorhielt, Nande sei schön wie eine junge Tigerin und ein Wunder an treuer Freundlichkeit, tauchte das kühle Phantom Frans auf, und dann schien Nande eine ganz ordinäre Person zu sein. Und wenn er Nande voll Ärger verteidigte, antwortete Fran mit dem Blick, mit dem sie ungezogene Dienstboten ansah. Sie war dabei, wenn Nande, unanständige Lieder kreischend, den Boden schrubbte; sie glitt durch das Zimmer, gerade wenn Nande Sam aufmunterte, indem sie ihm einen Klaps auf den Allerwertesten gab; und er kam sich vor wie ein Schuljunge, der mit der Köchin erwischt wird.
Er erzählte also Nande, Geschäfte riefen ihn nach Italien. Sie tat, als glaube sie ihm; sie bat ihn, sich vor dem Kognak und den Weibern in Acht zu nehmen. Sie nahm gleichgültig ein Geschenk von hundert Dollars an; sie brachte ihn zur Bahn.
Als der Zug sich in Bewegung setzte, ließ sie ein kleines Päckchen in seine Hand gleiten.
Ein oder zwei Stunden später öffnete er es. Es enthielt eine goldene Zigarettendose, für die sie seine ganzen hundert Dollars ausgegeben haben mußte.
Nande Azeredo!
Er schrieb Nande niemals. Er hätte es gern getan, aber sie war nicht ein Mensch, dem man etwas schriftlich sagen konnte.
Sie erschien ihm wie eine Figur in einem Theaterstück; eine etwas phantastische und überzeichnete Figur; aber sie hatte ganz entschieden etwas für ihn getan. Sie hatte im Verein mit den Blicken Minna von Eschers das Zölibat gebrochen, das ihn gemartert hatte, und so sehr er sich auch noch Gedanken über Fran machte, von ihrer Einsamkeit in Berlin träumte, er fühlte sich nicht mehr als ein Gefangener und begann zu sehen, daß diese Welt sehr schön und erfreulich sein kann.
Er machte sich vertrauter mit dem Schlafwagen als früher, weil er denken mußte, er würde jetzt in diesen Heimstätten für Menschen, die vor dem Leben fliehen, vielleicht einen großen Teil seines Lebens verbringen. Eine blaugepolsterte Bank, ziemlich hart mit harten zylindrischen Kissen. Über dem blauen Samt gelbbraunes gepreßtes Leder, das sich rauh angriff. Die Notbremse mit viersprachiger Gebrauchsanweisung, die er immer ziehen wollte, und sollte es fünfhundert Lire kosten. Das kleine Schränkchen in der Ecke, das sich in einen Waschtisch verwandelte, wenn man das Klappbrett herunterließ. Und die völlige Einsamkeit, aus der er sich hin und wieder befreite, indem er in den Korridor hinaustrat, um sich an die Messingstange vor dem breiten, niedrigen Fenster zu lehnen oder auf das kleine Klappstühlchen zu setzen. Und draußen Berge; Bahnhöfe mit glotzenden Faulenzern; Ebenen, die ihm vorkamen wie der amerikanische Mittelwesten, bis die Sonne mit einemmal ein fernes, hochgelegenes Schloß auf schroffer Klippe aufleuchten ließ und den Zauber der Fremde wiederbrachte.
Bis jetzt hatte Sam Dodsworth seine Mitreisenden niemals sehr beachtet, abgesehen von Amerikanern, die so aussahen, als wären sie gute Kameraden zum Reden und zum Trinken. Wenn man nach der Reise eine Schilderung dieser Leute von ihm verlangt hätte, würde er von den meisten gesagt haben: »Ach, sie haben so ziemlich ausgesehen wie alle anderen – warum?«
Aber der unglaubliche Schmerz, von Fran fortgeschickt worden zu sein, sein neuer Blick für die Elendsmöglichkeiten dieser Welt, das ließ ihn das Erhabene und Rührende der Dinge noch tiefer empfinden als in jener begeisterten Nacht, in der er zum erstenmal die Lichter Englands gesehen hatte. Er fühlte sich – ohne Zweifel aus Sentimentalität – allem verwandt, was menschlich war; er sah – ohne Zweifel häufig grundlos – ein Drama, ein komisches oder tragisches, hinter den Masken aller Reisenden, hinter verdrossenen, dummen, gemeinen gewöhnlichen Gesichtern. Er vergaß ein wenig sich selbst – und Fran und Kurt und Nande Azeredo – während er darüber nachdachte, ob jene Frau mit dem verkniffenen Mund vor kurzem ihren Mann begraben habe, ob diesen auffallend angezogenen jungen Handelsreisenden eine zänkische Frau zu Hause erwarte, ob dieser verdrossene und schimpfende alte Mann sein Vermögen verloren habe. Er betrachtete die Eisenbahnarbeiter, die zurücktraten, um den Zug vorüberfahren zu lassen, und fragte sich, welcher von ihnen kurz vor seiner Hochzeit stehe, welcher ein ekstatisch-religiöser Kommunist sei, welcher danach begehre, seine Frau zu ermorden.
So brütete er, stundenlang, ohne in das Coupé zurückeilen und Fran unterhalten zu müssen. So wurde er langsam und unter Schmerzen eine Welt gewahr, unendlich viel größer, als er gewußt hatte. So grübelte er, ob er so schwer geschlagen, so sehr durch Frans Verachtung geschwächt sei, daß er niemals die vielleicht doch mögliche Frau finden und, mit ihr, wieder zu Selbstvertrauen und Frieden kommen könnte.
Er trieb sich eine Woche in Rom herum und suchte sich einzureden, daß er architektonische Studien treibe. Es war heiß, und er floh nach Montreux und freute sich auf das Schwimmen und auf kühle Berge. Täglich befragte er die Fahrpläne nach New Yorker Schiffahrtsverbindungen und vermutete, daß er wohl bald an Bord eines Dampfers fliehen würde. Er fuhr nach Genf hinüber, besah feierlich das Völkerbundsgebäude und zerbrach sich in seinem Hotel den Kopf darüber, welche von den nicht sehr aufregenden Herren mit Zylinder berühmte Minister seien. Und dann hörte er in einem kleinen Restaurant einer Engelsposaune gleich die Stimme des Korrespondenten Ross Ireland: »Nanu, Sam, Sie alter Schuft, wo kommen Sie denn her!«
Sie leerten viele Gläser.
Mit Ross wanderte er eine Woche, den Rucksack auf den Schultern, durch das Berner Oberland. Im Anfang kam es ihm ziemlich albern vor, einen Rucksack zu tragen und im Staub an großen Hotels vorbeizugehen, denn er hatte gelernt, das Gehen, es sei denn auf der Entenjagd oder auf einem Golfplatz, für unter seiner Würde zu halten. Aber es machte ihm Freude, eine Aussicht zu betrachten, ohne als reicher, geschäftiger und automobilisierter Tourist an ihr vorübereilen zu müssen; er begann tiefer zu atmen, besser zu schlafen, weniger zu grübeln und Bier statt Kognak zu trinken. Ja, er glaubte das Wandern entdeckt zu haben und schrieb Fran, Tub und Dr. Hazzard begeisterte Postkarten, auf denen er es ihnen empfahl. Er fühlte sich allmählich erhaben über große, luxuriöse Hotels. Ross und er aßen junge Enten und Schweinsfüße. Sie rasteten an kleinen Tischen vor Wirtshäusern, wenn sie verschwitzt und mit schmerzenden Schultern in ein Dorf gekeucht waren.
Ross behauptete, so oft man »Kirchtürme sehe und das heitere Geschwätz von Kindern höre«, habe man sichere und untrügliche Anzeichen dafür, daß es in der Nähe Bier gebe, und so gern sie auch auf den Bergpfaden wanderten, beschleunigten sie ihre Schritte und begannen auf das heitere Geschwätz zu horchen, sobald sie einen Kirchturm sahen.
Und Sam wußte, was er mit den Trümmern seines Lebens tun würde.
Er hatte nicht geahnt, daß das Wandern so schön sein könnte, wie es mit Ross Ireland war, der nie klagte und hochmütig wurde wie Fran, sich nicht verpflichtet fühlte, komisch zu sein wie Tub oder lärmend wie Nande; den alles interessierte, von Schweineställen bis zu Klöstern, und dem es mehr Freude machte, Theorien über das Leben aufzustellen, als sie niederzureißen.
Nach dem Sommer in Europa wollte Ross wieder in den Orient. Er lud Sam ein, mitzukommen, und Sam nahm an, mit aufregenderer Vorfreude als jemals seit der ersten Fahrt nach England … Turkestan, Borneo, Siam, Peking, Penang, Java Head!
Ross wurde nach Paris berufen, aber diese Stadt bedeutete für Sam jetzt nur zu viel Einsamkeit und zu viel Nande, deshalb blieb er in Gstaad, gab sich Mühe, sehr gesund zu sein und sich in der frischen Luft wohl zu fühlen, und als Ross noch keine achtundvierzig Stunden fort war, hatte das alte quälende Grübeln wieder Besitz von Sam ergriffen.
Er beschimpfte sich wegen seiner Schwäche; er suchte sich in ein Riesenwerk über englische Gärten und Architektur des achtzehnten Jahrhunderts zu vertiefen; er bemühte sich die Sehnsucht nach dem Orient wiederzufinden; und es war vergeblich.
Geradeheraus, er kann nicht in den fernen Osten reisen und Fran schutzlos zurücklassen.
Ach, so sagte er sich, sie braucht keinen Schutz. Seine Gegenwart wirkt mehr aufreizend als beruhigend auf sie, und er ist ein Narr, ein kindischer, jämmerlicher Narr, daß er nicht imstande ist, von seiner Mutter Schürze loszukommen, die jetzt lächerlicherweise seine Frau trägt. Aber – Wenn in Berlin etwas schief geht – Wenn Fran Hilfe suchend zu ihm eilen will und er zehntausend Meilen weit fort ist –
Er konnte es nicht tun.
Er mußte sich ab und zu fragen, ob er nicht das Bedürfnis, Fran zu dienen, mit dem Bedürfnis nach Frauen überhaupt verwechselte, mit diesem fundamentalen Bedürfnis, das er eben erst mit Bewußtsein entdeckt hatte; er fragte sich, ob er es – ausgerüstet mit einem guten, runden, schönen Gemeinplatz wie: »Fran hat sich ihre Suppe eingebrockt, jetzt soll sie sie auch auslöffeln« – ob er es nicht doch möglich gefunden hätte zu gehen, wenn die Einladung von einer Frau mit Ross Irelands regem Verstand und Kameradschaftlichkeit gekommen wäre.
Nein, er schwor sich, daß seine Besorgtheit um Fran echt war; daß sie ihm war, was dem Einsiedler das Gebet, und die Ehre dem Soldaten ist; und immer beschloß er seine marternden Grübeleien mit den Worten: »Ach, zum Teufel, ich kann es nicht ganz verstehen, aber ich werde sie nicht im Stich lassen! Ich wollte, ich könnte es!«
Er schrieb Ross und bat ihn, nicht mit seiner Begleitung für den Herbst zu rechnen, und wieder floh er vor sich, diesmal nach Venedig, weil Photographien vom Lido in den Zeitschriften, Bilder von fröhlichen Gesellschaften am Strand, ihn glauben ließen, dort könnte ein einsamer Mann sich zerstreuen. Und vielleicht war eine dieser köstlichen Gold- und Elfenbein-Engländerinnen –
Nein! So etwas will er nicht. Er will eine Frau mit Frans Schönheit, aber mit Nandes Festigkeit und Ross Irelands Verstand.
Er war imstande sich auszulachen: »Wenn es irgendwo eine solche Frau geben sollte, was könnte sie mit dir anfangen?«
Als er aber in dem nur zu vertrauten Schlafwagencoupé mit dem blauen Samt und dem gepreßten Leder auf Venedig zuratterte, war er nicht ganz verschont von Visionen liebreizender Damen am Lido; nicht sehr überzeugt, daß er in seinem Leben noch ein anderes Ziel habe, als die vielleicht doch mögliche Frau zu finden.