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Drei Tage Museen, Galerien, Schlösser und der Zoo. Sie fuhren nach Sanssouci, wo Fran von Voltaire sprach (sie hatte wirklich Candide gelesen) und Sam voll Heimweh an die Sanssouci-Siedlung in Zenith dachte und sich ärgerlich sagte, es sei höchste Zeit, den Kampf mit Fran aufzunehmen, sie nach Hause zu schaffen und ein neues Leben der Tätigkeit zu beginnen.
Von Kurt von Obersdorf sahen sie nichts. Er rief sie bloß acht oder zehnmal an und veranlaßte sie auszugehen und sich alles Mögliche anzusehen. Er sagte so dringlich, sie müßten Molnars »Spiel im Schloß« sehen, daß sie widerwillig hingingen, obgleich es Sam mittlerweile klar geworden war, daß er ganz recht hatte, wenn er sich aus Stücken in einer Sprache, die er nicht verstand, nichts machte, und obgleich Fran erschöpft von den Liebenswürdigkeiten, die sie während eines Damentees bei Frau Dr. Biedner über sich hatte ergehen lassen müssen, einmal in ihrem Leben früh zu Bett gehen wollte.
Sie sagte, sie hätte jedes Wort im »Spiel im Schloß« verstanden.
Sam sagte, es sei wohl sehr anständig gespielt worden, und er wolle noch einmal hinuntergehen und in der Bar einen kleinen Schlaftrunk zu sich nehmen.
Er kam in ein Gespräch mit einem amerikanischen Journalisten, der Ross Ireland kannte, er nahm etliche Schlaftrünke zu sich und war sehr vergnügt. Als er sich in das Zimmer schlich, schlief Fran. Es war ihm also, wie er es nannte, erspart geblieben, und er hatte dieselbe Freude wie ein Junge, der die Schule geschwänzt hat und nachher entdeckt, daß der Lehrer den ganzen Tag krank gewesen ist.
In England hatte Fran einige typisch englische und unamerikanische Worte gelernt. Und schon bevor sie von Amerika abgereist war, hatte sie ihr Europäertum beweisen können, indem sie die Gabel in die linke Hand nahm. Aber jetzt fügte sie zu ihren Errungenschaften die Kunst hinzu, eine europäische 7 zu machen, indem sie sie durchstrich, und voll Eifer wandte sie das bei jeder Gelegenheit an, vor allem in ihren Briefen an Zenither Freunde, die auf diese Weise nicht wußten, was für eine Ziffer es sein sollte.
Die vier großen Rätsel des Lebens im Nachkriegsberlin, die auch durch die eifrigsten historischen, nationalökonomischen und theologischen Forschungen nicht erklärt werden können, hängen insgesamt mit den Wohnhäusern zusammen und lauten: Warum kann kein Gast nach acht Uhr abends Einlaß in ein Wohnhaus finden, ohne einem Verhör unterzogen zu werden? Warum sind die Fahrstühle immer versperrt, so daß kein Gast sie benutzen kann? Warum sorgt kein Berliner Hauswirt für moderne Schlösser, sondern zwingt seine Mieter, ein Bund Schlüssel zu schleppen, deren Größe sich nur mittelalterlichen Kirchenschlüsseln vergleichen läßt? Warum weigern sich die Hauswirte, die hunderttausend Mark für ein Marmortreppenhaus (mit hübschen Goldkanten und Mosaikeinlagen) ausgegeben haben, eine Mark für jede Nacht auszugeben, damit der Flur anständig beleuchtet ist? Die Treppenhäuser sind dunkel; sie sind sehr dunkel. Man kann Licht machen, indem man auf einen Knopf drückt, der für einige Zeit Beleuchtung liefert, aber in der ganzen Geschichte Berlins ist nicht bekannt geworden, daß diese Beleuchtungszeit auch nur einmal so lange gedauert hätte, daß man vom Erdgeschoß bis zum obersten Stockwerk kommen kann.
Im obersten Stockwerk eines Hauses in der Brückenallee wohnte Kurt von Obersdorf, und während des schwindelnden Aufstiegs sprach Sam von diesen vier Rätseln, wobei er die Genugtuung hatte, daß Fran ihm zustimmte.
Sie wurden von Kurts Mädchen empfangen. Es war eine alte Person, etwas verrostet und schwach, und nicht ganz sicher, was sie mit Sams Hut und Stock anfangen sollte. Während sie herumtrödelte, sah Sam sich um. Die Wohnung hatte einen schmalen Korridor mit dunklen, ziemlich fleckigen Wänden, den ein vergilbter Stich der Wiener Stephanskirche schmückte. Über einer Tür hingen zwei gekreuzte Säbel.
Plötzlich war Kurt bei ihnen, schlanker und beweglicher als je im Frack, nahm Fran das Cape ab, sprach mit dem verlegenen Dienstmädchen in jenem aus Schelten und Familienzärtlichkeit zusammengesetzten Ton, dessen nur ein Europäer fähig ist, und schwatzte:
»Ich bin ja so froh! Ich hatte schon Angst, Sie könnten wegen meiner Dummheit mit der Neuesten Ehe, damals am Abend, böse auf mich sein und mich bestrafen, indem Sie nicht kommen. Ich muß Ihnen sagen, wer die anderen Gäste sind. Ihre Vettern, Dr. Biedner und Frau, und die Baronin Volinsky – sie ist ein sehr hübsches Mädchen, eine Ungarin, ihr Mann ist Pole; ein fürchterlicher Mensch; er kommt nicht, Gott sei Dank; und Theodor von Escher, der Geiger – er ist wirklich ein wunderbarer Geiger – und seine Frau Minna – Sie werden sich bestimmt in sie verlieben, und Professor Braut mit seiner Frau – er liest Nationalökonomie an der Berliner Universität, ein kolossaler Verstand, mehr als er kann kein Mensch von Amerika wissen – er wird Ihnen beweisen, daß Amerika in zweihundert Jahren wieder eine Wildnis sein wird, er wird Ihnen ausgezeichnet gefallen! Es ist eine ganz komische Mischung, aber alle sprechen Englisch, und ich wollte, daß Sie die verschiedensten Leute kennen lernen. Fran, Sie sehen aus wie ein himmlischer Engel aus Elfenbein! Also, gehn wir!«
Mit einer Feierlichkeit, als wären sie Mitglieder eines königlichen Hauses, geleitete er sie in ein kleines, etwas schäbiges freundliches Zimmer, das überfüllt aussah, wenn drei Menschen darin waren. Die alten braunen Lederstühle waren abgenutzt und ausgesessen, auf dem Sofa lag eine Decke, die Sam für »irgendeine gelbe Seide« hielt, aber später flüsterte Fran ihm zu, es sei »ein unglaublich kostbarer alter Damast«. Die Bilder waren zum größten Teil Photographien von Freunden, Offizieren in österreichischer Uniform. Aber auf den Regalen standen wild durcheinander Bücher, und Samuel merkte später, daß es deutsche, englische, italienische und französische Bände waren. Besonders fielen ihm zehn oder zwölf wuchtige und gefährlich aussehende Werke über amerikanische Gesetzgebung, Bankwesen und Geschichte auf, gerade die Art von Wälzern, die er immer in Bibliotheken bewundert und zu Hause vermieden hatte.
Als die Tür rechts für einen Augenblick geöffnet wurde, sah Sam einen kleinen Schlafraum mit einem einfachen Eisenbett, Reihen von schönen Krawatten, dem Bild eines hübschen Mädchens, einem Kruzifix und nichts weiter. Das, dazu das kleine Speisezimmer, eine irgendwo versteckte, rätselhafte Küche und ein Badezimmer, das alt genug war, um historisch zu sein, schien das ganze Gebiet zu sein, über welches das Haupt des Hauses Obersdorf herrschte.
Es gab Cocktails, die Kurt vergnügt in einem Glaskrug mixte, es gab Essen (nicht sehr gut) und Konversation (einfach fürchterlich). Unter Kurts Führung war nichts von dem schüchternen Bürgeranstand der Gesellschaft bei Biedners zu sehen; es gab auch mehr zu trinken, unter anderem einen Aßmannshäuser Sekt, der in Sam den Entschluß auslöste, eine Forschungsreise in das Rheintal zu unternehmen. Wer nicht von Zeit zu Zeit laut redete, zog Kurts besorgte Aufmerksamkeit auf sich. Kurt war überzeugt, daß ein Mensch, der in seinem Haus schwieg, ihn entweder nicht mehr gern hatte – und wahrscheinlich aus guten Gründen, wegen irgendeines fürchterlichen Verbrechens, das er unbewußt gegen ihn begangen hatte – oder an einer verborgenen Krankheit litt, die sofort kuriert werden mußte.
Aber abgesehen von diesen lauten Zwischenrufen wurde der größte Teil der Unterhaltung von Professor Braut geführt. Bei dem ersten Blick auf diesen gelehrten Mann, der den Eindruck erweckte, als ob ihm auch in den Augen Haare wüchsen, hatte Sam gedacht: »Diese bärtige Schönheit weiß vielleicht etwas von der deutschen Volkswirtschaft, aber vom Land des Rasierapparates hat er bestimmt keine Ahnung!«
Professor Braut wandte sich an ihn. Sein Akzent war viel stärker, als der Kurts. »Bitte«, fragte er, »könnten Sie mir vielleicht einiges über die landwirtschaftliche Bewegung in Amerika sagen, über die ich seit einiger Zeit Material sammle.«
»Davon weiß ich nicht viel«, antwortete Sam. »Waren Sie einmal in Amerika?«
»Ach, kurze Zeit – vor dem Krieg. Ich war ein Jahr Professor in Harvard, und ein Jahr in Leland Stanford, und etwa ein Jahr habe ich Reisen gemacht, aber das genügt selbstverständlich bei weitem nicht, um wirkliche Kenntnisse über Ihr großes Land zu erwerben.«
Dann hielt Professor Braut auf Kurts Vorschlag einen kurzen, aber eingehenden Vortrag über die Geschichte der Liga der Parteilosen in Nord Dakota.
Er wandte sich immer wieder Bestätigung suchend an Sam, und Sam – der sehr wenig von Nord Dakota und nicht das geringste von der Liga der Parteilosen wußte – nickte freundlich. Als der Professor zu Ende gesprochen hatte, hielt Sam sich eine kleine Predigt:
»Er weiß mehr von deinem Land als du! Sambo, du weißt nichts. Ignorant! Ich wollte, ich hätte nicht dreißig Jahre den Automobilen gewidmet. Und hier in Europa habe ich eigentlich auch nicht viel gelernt. Ein ganz klein wenig über Architektur, und noch weniger über Wein und Essen, und ein paar Hotelnamen. Das ist aber auch schon alles!«
Während Kurt über die Abenteuer plauderte, die Erzherzog Michael als Chauffeur eines ungarischen Juden erlebt hatte, hatte Sam eine Vision von Gelehrsamkeit und gelehrten Männern, von Männern, die, was sie wissen, präzise wissen, objektiv und vorurteilslos, die Dinge wissen, welche wirklich mit dem breiten Strom des menschlichen Lebens zu tun haben; die mit den Absichten von tausend Staatsmännern, der Wirksamkeit von tausend Bakterien, der Bedeutung von tausend ägyptischen Inschriften, oder etwa der Pathologie von tausend verwirrten und kranken Geistern rechnen, nicht anders, als er mit den Fähigkeiten von hundert Verkäufern, Ingenieuren und Angestellten in der Revelation Company gerechnet hat. Er sah Gruppen solcher gelehrten Männer in Berlin, in Rom, in Basel, in den beiden Cambridges, in Paris, in Chicago. Das sind keine Plauderer. Ach, dachte er, manche von ihnen können vielleicht bei einem Glas Bier gesprächig und lustig genug werden, aber wenn die Rede auf ihr eigenes Fach kommt, sprechen sie langsam, weil es für jede Frage, die ihnen vorgelegt wird, so und so viele Antworten gibt, unter denen gewählt werden muß. Fran würden sie nicht sehr gefallen; sie sind keine eleganten Tänzer, und vielleicht haben sie nicht die richtige Weste an. Sie sehen bedeutungslos und salopp aus wie Professor Braut, oder vertrocknet und spindeldürr. Und er wäre stolz darauf, ihre Anerkennung zu haben – die mehr ist als alle Anerkennung, die Reichtum oder Titel bringen können.
Wie kam es nur, daß er nicht mehr von ihnen gewußt hatte? In Yale waren die Lehrer Hindernisse gewesen, die der Fußballspieler aus dem Weg räumen mußte, um seiner Pflicht, »etwas für das liebe Yale zu tun«, nachzukommen. New York war für ihn ausschließlich eine Stadt mit Bankiers, Autohändlern, Kellnern und Theaterleuten gewesen. Auf dieser europäischen Abenteuerfahrt, die ihm Ausblicke auf ein neues Leben hätte eröffnen sollen, hatte er nur mehr Kellner, in Hotels schmachtende englische alte Jungfern, und Führer mit Goldzähnen gesehen. Gelehrte. Männer, die etwas wissen. Plötzlich hatte er das Gefühl, daß auch er so ein Mann hätte werden können. Was hatte ihn daran verhindert? Ach, auf ihm hatte der Fluch gelegen, im College beliebt zu sein, eine hübsche Frau zu haben, die immer mit bunten Freuden umgeben werden muß –
Er wies sich zurecht. Nein. Solche Ausreden taugen nichts. Erstens ist es wirklich eine schmutzige Gemeinheit, nicht dankbar dafür zu sein, daß er beliebt gewesen ist, daß er eine so herrliche Frau hat seine Fran – wie sie jetzt über die heilige Stellung der Wurst im deutschen Gesellschaftssystem lacht – wie sie dem Grafen Obersdorf, der mit Fürstinnen, vielleicht mit Königen verwandt ist, Bewunderung abringt! Nein, er hat Glück gehabt.
Außerdem! Man wird nicht ganz einfach etwas – jedenfalls nicht, wenn man mehr als sechs oder sieben Jahre alt ist. Man ist eben etwas! Wenn er die Fähigkeiten zu einem Gelehrten gehabt hätte, wäre er es auch geworden.
Plötzlich war ihm nicht mehr so unbehaglich. Sollte es möglich sein, daß er, auf irgendeine verwirrte, nicht ganz klare Weise, daß er auf Gebieten, welche die Akademiker nicht anerkennen, ein Gelehrter ist? In der amerikanischen Automobil weit kennt man ihn ganz entschieden nicht bloß als Händler und Finanzakrobaten, sondern auch als Autorität im Automobilbau, als den ersten Vorkämpfer der Vierradbremse. Hm. Macht ihn das wirklich zu einem Gelehrten, oder –
Oder vielleicht zu einem Künstler? Er hat etwas geschaffen! Nach ihm heißen zwar keine Bilder in Akademien, keine in Saffian gebundenen Bücher, keine Arien, keine Möbel, aber jedes einzelne der einundzwanzig Millionen Automobile auf den Straßen Amerikas ist von seiner Vision beeinflußt, von der Vision der langen, glatten Stromlinien, die er vor einem Vierteljahrhundert gehabt hat!
Ja! Und es schadet gar nichts, wenn man ein wenig stolz auf etwas Anständiges ist, das man geleistet hat! Es gibt einem den Mut, weiter zu arbeiten, ganz besonders wenn man eine Frau hat wie Fran, die immer kritisiert –
Du guter Gott, ist es ihm denn wirklich seit der Geschichte mit Arnold Israel zur Gewohnheit geworden, Fran nicht als Gefährtin zu sehen, sondern als bewunderte und gefürchtete Feindin, deren Versöhnung sein Lebensziel ist? Ist das die Wahrheit über seine Wanderfahrten, über seine ganze Zukunft?
Er flüchtete hastig aus diesen quälenden Gedanken und begann wieder vom Gelehrtentum zu träumen, während er verständig und freundlich Backhuhn aß und scheinbar Theodor von Escher zuhörte, der davon sprach, wie sehr er Kreisler überlegen sei.
Kann er jetzt noch Gelehrter werden? Ist es ein zu kindischer Traum, zu denken, daß er der erste große Automobilhistoriker werden kann, der die Geschichte einer Errungenschaft erforscht, die doch schließlich wichtiger für die soziale Entwicklung ist, als zwanzig Schlachten bei Waterloo? Oder kann er als Architekt etwas lernen? Denn von Automobilen hat er wirklich so ziemlich genug. Sie bedeuten jetzt nichts anderes, als an einem Schreibtisch in den Revelation Bureaus sitzen. Kann er wirklich eine bessere Sanssouci-Siedlung schaffen?
Auf keinen Fall wird er nur ein Cooktourist sein, für Fran weniger wichtig als Portiers und Zimmerkellner. Er wird etwas leisten –
Oder ist diese innere Glut, diese schöne und seltene Freude – ist sie nur eine Folge des Champagnertrinkens und der warmen Gastfreundschaft Kurts? Sind dieser verschwommene Entschluß, »etwas zu leisten«, und seine Überzeugung, daß er noch immer »etwas leisten« kann, im Grunde nur so etwas wie die Gelübde eines Trunkenboldes?
»Nein, bei Gott«, schwor Samuel Dodsworth.
»Das ist es nicht. Ein bißchen Trinken und eine nette Gesellschaft, das hilft mir erst auf die Beine. Ich brauche so lange im Anfang – Hm! Sehr lange! Jetzt bin ich zweiundfünfzig Jahre alt, und erst seit einem Jahr ungefähr will ich mehr sein als ein Geldautomat … Wirklich etwas sein. Obwohl nur der liebe Gott weiß, was! … Ha?« (Er erwiderte wütend einem ganzen Chor von Anklägern.) »Ich bin ein guter Bürger gewesen! Ich habe meine Kinder aufgezogen! Ich habe meine Schulden bezahlt! Ich habe die Arbeit getan, die mir die nächste war! Und ich habe meine Freunde geliebt! Jetzt werde ich nicht den Rest meines Lebens im Hintergrund bleiben und mich damit zufrieden geben, und tot sein – tot, während ich noch auf meinen Füßen bin – tot!
Ich wollte, ich hätte Kurt schon früher gekannt. Ich wäre gern ein paar Wochen mit ihm und Ross Ireland zusammengewesen. Nur hätte ich das vor zehn Jahren tun sollen, und jetzt ist es – Aber ich werde nicht dulden, daß es zu spät ist!
Hm! Du und dulden! Es handelt sich darum, ob Fran dulden wird, was ihr lieber Mann tun will –
Warum komme ich denn nur immer wieder darauf zurück, als ob sie schuld daran wäre, daß ich verkorkst bin, und nicht meine eigene Hirnlosigkeit?«
Und voll Ärger darüber, daß die Gedanken im Kreise laufen, wenn man ihnen einmal freie Bahn gibt, ließ Sam plötzlich sein Sinnieren und wurde wieder der große und wohlhabende amerikanische Gatte einer entzückenden amerikanischen Frau, ein würdiger Gatte, der voll Bescheidenheit den Gesprächen ihrer europäischen Freunde lauschte.
Sam hatte bemerkt, und sich einigermaßen darüber gewundert, daß Kurt sich einem gewöhnlichen Universitätsprofessor gegenüber nicht herablassend benahm, wie jeder Amerikaner aus guter Familie getan hätte. Denn trotz seiner Redseligkeit hörte Kurt demütig zu, wenn Professor Braut wirklich in Fahrt kam, wie ein großer Transozeandampfer, der zunächst von den kleinen Schleppdampfern durch die Wellchen der Konversation bugsiert wird, bis er schließlich in die langen rollenden Wogen eines ernsthaften Gespräches kommt.
Braut hielt Fran einen Vortrag, als wäre sie eine ganz kleine Seminaristin. Während er sprach, tat er den englischen W's, V's und T's Gewalt an, aber in seiner Ernsthaftigkeit klang das durchaus nicht komisch:
»Gefühlsmäßig muß ich als Preuße, dessen Symbole Blut und Eisen, Bismarck, Luther und der alte Fritz sind, die prostituierte Eleganz von Paris verabscheuen, und ebenso die Italiener, die wie Kinder Imperium spielen wollen. Aber trotzdem betrachte ich mich fast immer – und die meisten Leute meiner Art tun das – mehr als Europäer denn als Deutschen, Franzosen, Polen oder Ungarn; was für Familienstreitigkeiten wir auch haben mögen, wir betrachten und als Einheit gegen die Russen (die ganz entschieden nicht Europäer, sondern Asiaten sind) gegen die Engländer, die Amerikaner – so sehr wir sie auch bewundern – die Lateinamerikaner, die Asiaten, die Bewohner der Kolonien. Die europäische Kultur ist aristokratisch. Ich meine das nicht anmaßend; ich spreche nicht von berühmten alten Familien wie der unseres Freundes Graf Obersdorf hier. Ich will damit sagen, daß wir aristokratisch, im Gegensatz zu demokratisch, sind in unserem Glauben, daß diejenige Nation die stolzeste und edelste und erhabenste ist, welche die größte Anzahl wirklich großer Männer aufzuweisen hat – wie Einstein, Freud und Thomas Mann – und daß es für gewöhnliche, durch nichts ausgezeichnete Menschen (die, wohlgemerkt, ebenso wohl Grafen oder Könige sein können wie Dienstmädchen) ein größeres Glück ist, zur Erscheinung solcher großer Männer beigetragen zu haben, als mehr Automobile und Badewannen zu besitzen.
Und unter der aristokratischen Tradition Europas verstehe ich nichts, was auch nur im entferntesten mit Hochmut zu tun haben könnte. Ich glaube fast, ich habe in Amerika mehr Roheit gegen Dienstboten – selbstverständlich auch im Verein mit mehr Roheit gegen Herren – gesehen, als irgendwo in Europa. Die Dienstboten sind hier nicht gerade glänzend bezahlt, aber sie haben mehr Sicherheit und werden mit mehr Achtung behandelt. Für den Amerikaner ist ein guter Koch etwas Untergeordnetes; der Europäer schätzt ihn als Künstler.
Der Europäer, der Aristokrat, fühlt sich vergangenen Generationen gegenüber verantwortlich dafür, daß er die von ihnen geschaffene Kultur weiterentwickelt. Er ist der Überzeugung, daß Anmut, freundliches Benehmen, Treue gegen die Seinen wichtiger sind als Reichtum; und er weiß, daß er, um diese Tradition fortzusetzen, Wissen haben muß – sehr viel Wissen. Bedenken Sie doch, was der junge Europäer lernen muß, wenn er sich nicht seiner selbst schämen soll!
Er muß mindestens zwei Sprachen können, und wenn er das nicht kann, bedauern ihn seine Freunde wegen seiner Armseligkeit. Er muß – auch wenn er vielleicht vor hat, Börsenmakler oder Importeur zu werden, oder Ihre Automobile zu verkaufen, Mr. Dodsworth – er muß einiges Verständnis für Musik, Malerei und Literatur haben, damit er ein Konzert oder eine Gemäldeausstellung wirklich genießen kann und nicht bloß hingeht, um sich zu zeigen. Seine Manieren müssen so gut sein, daß er sie vernachlässigen kann. Er muß die Politik aller großen Länder kennen – ich möchte jede Wette eingehen, Mr. Dodsworth, daß meine vier Enkel, obwohl sie nie in England oder Amerika waren, ebenso viel vom Präsidenten Coolidge, dem Sekretär Hoover und Gouverneur Smith wissen, wie die meisten Amerikaner ihres Alters.
Sie müssen etwas vom Essen und von Weinen verstehen. Ihnen selbst mag es vielleicht lieber sein, nur von Brot und Käse zu leben, aber sie müssen imstande sein, ihren Gästen ein gutes Essen vorzusetzen, und das darf nicht viel kosten – es darf eben nicht mehr kosten, als die meisten von uns sich seit dem Krieg leisten können! Und vor allem, sie müssen Verständnis für Frauen haben, und das fängt damit an – ich glaube, Mrs. Dodsworth wird meiner Meinung sein – daß man Frauen wirklich gern hat, und zwar als Frauen, nicht als nachgemachte Männer!
Das ist ein wenig von der Erziehung, die der wirkliche Europäer haben muß – Deutscher oder Schwede oder Holländer, oder was immer. Und diese Erziehung hilft uns, zusammenzuhalten und uns gegenseitig zu verstehen, mögen wir auch noch so töricht sein und in Weltkriegen Selbstmord begehen! Und wenn wir uns noch so sehr dagegen sträuben, im Herzen sind wir alle Paneuropäer. Wir sind überzeugt, daß das wirkliche Kontinental-Europa die letzte Zufluchtsstätte der Individualität, des Behagens, der Abgeschiedenheit, der stillen Zufriedenheit ist. Wir halten ein gutes Gespräch unter intelligenten Freunden in einem Wiener, Pariser oder Warschauer Café für erfreulicher und wichtiger, als moderne Sielanlagen oder elektrische Geschirrwaschmaschinen.
Amerika möchte aus uns lauter Prachtkerle machen, die die besten Automobile haben – und keinen stillen Platz, wohin sie in diesen Automobilen fahren könnten. Wenn ich an Amerika denke, fällt mir immer ein Mann ein, der mich veranlaßt hat, in einen Golfklub zu gehen und mich in einem Schrankraum auszuziehen, wo Leute, ohne daß ich sie darum gebeten hätte, zu mir kamen und nette kleine Witze über Deutschland machten, und darüber, daß ich Professor bin! Und Rußland will eine Maschine aus uns machen zur Vertilgung aller Exzentrizitäten, die nicht im kleinsten gemeinsamen Nenner Platz finden. Und Asien und Afrika halten nicht viel vom menschlichen Leben und der Schönheit des menschlichen Lebens. Aber Europa glaubt, daß ein Voltaire, ein Beethoven, ein Richard Wagner, ein Keats, ein Leuwenhoeck, ein Flaubert dem Leben Bedeutung und tieferen Sinn geben, und daß sie wert sind erhalten zu werden – sie und die Menschen, die Verständnis und Bewunderung für sie haben! Europa! Die letzte Zuflucht der persönlichen Würde in dieser fordisierten Welt. Und wir glauben, daß es die Mühe lohnt, dafür zu kämpfen! Wir sind von der ganzen Welt bedroht. Aber vielleicht werden wir es doch überstehen … vielleicht!
Manche unter uns meinen, daß wir vielleicht sogar gegen die Amerikanisierung Sieger bleiben werden – die ich als den religiösen Glauben definieren möchte, daß es wichtiger ist, seine Erwerbungen sauber einzuregistrieren, als zu erwerben, was man will. (Und verstehen Sie mich wohl – ich bin nicht so antiamerikanisch, wie es den Anschein hat – es ist mir durchaus bewußt, daß der mystische Vorgang der Amerikanisierung ebenso sehr von deutschen Industriellen, französischen Importeuren und englischen Reklameleuten getragen wird, wie von geborenen Yankees!)
Ich glaube, das echte Europa wird vielleicht doch am Leben bleiben können. Ich muß nämlich immer an Griechenland und Rom denken. Rom war das Amerika der Antike, Griechenland das vielleicht überkultivierte Kontinentaleuropa. Vi et armis hat Rom erobert. Und doch hat die griechische Architektur, die griechische Philosophie und Anmut der Gestalt in der Renaissance Europa mehr neues Leben gegeben, als das römische Gesetz.
So! Ich halte eine Vorlesung. Häßlich! Aber ich muß zu Ende kommen. Damit alles klar ist: wenn ich von Europa spreche, müssen Sie wissen, daß ich von einer sehr kleinen auserwählten Sonderschicht spreche, die den Angehörigen dieser Schicht in anderen Nationen viel näher ist, als den meisten ihrer eigenen Landsleute. Der vom Bier aufgedunsene Bauer in einem Landwirtshaus, und der Berliner, der hier in der Neuen Welt tanzt, ist kein Europäer in diesem Sinne. Und ebenso wenig der betriebsame junge Geschäftsmann in der Friedrichstraße, oder in der Rue de Rivoli, der minderwertiges Porzellan oder schlechte Seide so rasch wie möglich zu verkaufen sucht. Diese beiden würden mit Vergnügen nach Amerika auswandern und die behagliche Muße gegen Automobile austauschen. Und es gibt auch einige in Amerika Geborene, die wirklich das sind, was ich Europäer nenne – Ihre Schriftstellerin Mrs. Edith Wharton muß so sein, stelle ich mir vor. Aber wo sie auch geboren sein mögen, es ist immer diese bestimmte Schicht, die für eine ausgesprochen aristokratische Kultur eintritt – und die meisten Amerikaner, die glauben, daß sie Europa gesehen haben, kommen nach Hause, ohne auch nur die geringste Ahnung davon zu haben, daß es existiert und was es bedeutet, sie sehen eben von Europa nichts weiter als schreiende Führer und Passagiere in der Bahn, die unfreundlich aussehen und den Uhu oder Le Rire lesen. Diesen Leuten ist nicht mehr entgangen als alles, was Europa ausmacht!«
Sam merkte zu seiner Überraschung, daß er antwortete:
»Ja, das stimmt wohl so ungefähr. Amerika stellt sich die Europäer nur als eine Bande von Restaurantkassierern vor, die uns beim Geldwechseln beschummeln wollen – es stellt sich Europa tot vor – nichts als Bilder von Männern, die vor dreihundert Jahren gestorben sind. Wir vergessen Ihren Freud und Ihren Einstein – ja, und die europäischen Flugzeugkonstrukteure und die Jugendbewegung in Deutschland, und die französischen Tennisspieler, die uns schlagen. Aber Sie haben eine ebenso unrichtige Vorstellung von Amerika. Überall in Berlin sehe ich in Buchhandlungen Bücher über Amerika mit Titeln wie ›Das Dollarland‹. Na, ich kann Ihnen sagen, der französische Bauer, der seine Centimes in den Strumpf steckt, und der deutsche Bauer haben zehnmal so viel Liebe für den Dollar wie der Durchschnittsamerikaner. Wir machen gern Geld, aber wir geben es auch gern aus. Wir sind alle wie Matrosen auf einem Landbummel. Wir müssen alle Papageien haben, die an der Küste verkauft werden. Und –
Warum, glauben sie, kommen so viele Hunderttausende von Amerikanern nach Europa? Von hundert Europäern, die nach Amerika fahren, macht höchstens einer die Reise, um zu lernen, um zu sehen, was wir haben. Und schließlich ist ein Woolworth Building oder ein Chicago Tribüne Building oder eine Fordfabrik oder ein Grand Canyon oder ein Sharon in Connecticut – und zufällig eine Anzahl von hundertzehn Millionen Menschen – das alles ist vielleicht auch wert, studiert zu werden. Sie wissen selbst am besten, Professor, daß die meisten Europäer nach Amerika nur gehen, um Geld zu verdienen. Aber weshalb sind die Amerikaner hier? Ach ja, ein paar vielleicht, um gesellschaftliche Ehren damit einzulegen, wenn sie wieder zu Hause sind, oder um Maschinen zu verkaufen, aber die meisten kommen demütig als Schuljungen her, um zu bewundern und zu lernen!
Was haben die meisten Europäer für Vorstellungen von Amerika? Weil wir vor hundert Jahren ein Pioniervolk waren, das nicht viel anderes getan hat, als Land bauen, fischen und Tabak kauen, glaubt Europa, daß wir das noch immer sind. An Bildern von Amerikanern in Ihren Witzblättern kann ich erkennen, daß Europa in den Amerikanern entweder Geldverleiher sieht, die die ganze Nacht wachliegen und darüber nachdenken, wie sie Europa beschwindeln können, oder Farmer, die ihren Tabaksaft auf die Markuskirche spucken wollen, oder Banditen, die die Bürger Chicagos in ihren Betten ermorden. Ich glaube, das alles kommt von einer Tradition, die die Europäer seit vielleicht hundert Jahren haben. Vor ein paar Wochen erst, wie wir in Wien waren, habe ich den ›Martin Chuzzlewit‹ in die Hand bekommen und mich durchgearbeitet. Etwas komisch, wissen Sie, dieses Bild von Amerika vor hundert Jahren. Aber er zeigt darin eine ganze Anzahl von Menschen am Ohio River und in New York, die zu faul waren, sich zu kratzen, die –«
»Sam!« warnte Fran, aber er redete weiter ohne sie zu beachten.
»– unwissend waren wie Hottentotten und einander, wenn sie gerade danach aufgelegt waren, rücksichtslos mit Revolvern totschossen. Tatsächlich, alle Amerikaner, die Dickens in dem Buch zeigt, sind Verbrecher und Idioten, außer einem – und der wollte im Ausland leben! Na, Sie werden mir nicht einreden können, daß ein derart verkommenes Pack aus den Flußsümpfen, die Dickens schildert, in drei Generationen das wohlhabende, mächtige Land mit zementierten Straßen hat machen können, das es heute ist! Trotzdem liest Europa weiter Schundschriftsteller, die ihre Ideen noch immer aus dem ›Martin Chuzzlewit‹ stehlen und dann rufen: ›Na, ich habs ja gesagt!‹ Ja, sagen Sie, ist Ihnen eigentlich klar, daß zu der Zeit, in der Dickens den Mittelwesten – das ist mein eigener Teil des Landes – als eine Anhäufung von verfaulten Fetzen von Menschen schildert, ein gewisser Abe Lincoln und ein gewisser Grant dort gelebt haben; und nicht mehr als vielleicht zehn Jahre später ein gewisser William Dean Howells dort geboren worden ist? (Ich habe einmal eine Vorlesung von ihm in Yale gehört, und es ist mir aufgefallen, daß man sein Buch über Venedig auch heute noch in Venedig selbst liest.) Solche Leute konnte Dickens nicht finden oder nicht sehen. Vielleicht entgehen einigen europäischen Beobachtern heute ein paar Menschen wie Lincoln und Howells.
Der Stolz, von dem Sie sagen, Professor, daß er das Eigentum der echten aristokratischen Europäer ist, ist sehr schön, ich bin durchaus für ihn, und gerade diese Art von Stolz wünsche ich in Amerika zu sehen. Vielleicht sind wir bis jetzt zu schnell gelaufen, um ihn bekommen zu können. Aber auf meinen Reisen in Europa sehe ich eine ganz gehörige Menge von Amerikanern, die langsam und ruhig gehen, und die denken – und das sind durchaus nicht bloß Künstler und Professoren, o nein, sondern Geschäftsleute, die sich zur Ruhe gesetzt haben. Wir bekommen allmählich eine Tradition, die – Du guter Gott! Sie haben gesagt, daß Sie eine Vorlesung halten. Ich fürchte, ich habe das selbe gemacht!«
Kurt rief: »Auf Amerika!« und fügte hinzu: »Ja, Amerika ist die einzige Hoffnung der – Und natürlich das Paradies der Frauen.«
Fran explodierte:
»Ach, das ist einer der dümmsten Irrtümer über Amerika – und in Amerika wird es ebenso geglaubt wie in Europa – und die Frauen reden genau so viel davon wie die Männer – und im Innersten glaubt kein Mensch ein Wort davon! Es ist meine tiefste Überzeugung, daß es keine lebendige Frau gibt, keine echte, normale Frau, die nicht einen Mann haben will, der sie prügeln kann, wenn sie es verdient, ganz egal, ob sie College-Rektorin ist oder Fliegerin. Verstehen Sie mich recht, ich sage nicht, daß sie geprügelt werden will, sondern daß sie einen Mann haben will, der sie prügeln kann! Es muß ein Mann sein, vor dem sie Achtung hat! Sie muß davon überzeugt sein, daß seine Arbeit oder sein schönes Nichtarbeiten wichtiger ist als sie.«
Sam betrachtete sie mit sanftem Erstaunen. Wenn überhaupt etwas, so war eines an ihren ehelichen Auseinandersetzungen klar gewesen: daß Fran ihm wichtiger zu sein habe als seine Arbeit. Er suchte sich darauf zu besinnen, wo sie diese wunderbare Dissertation über Feminismus her hätte. Einige der Phrasen konnte er auf Renée de Pénable zurückführen.
»Und gerade das haben Sie hier in Europa, und wir in Amerika haben es nicht. Glauben Sie nicht, daß ich von Sam und mir spreche – er versteht es ausgezeichnet mich zu prügeln, wenn ich es verdiene!«
Sie warf Sam lachend einen Blick zu, der von allen Anwesenden mit Bewunderung bemerkt wurde.
»Ich spreche ganz allgemein. O ja, die amerikanische Frau der wohlhabenden Schichten – manchmal sogar bei Leuten, deren Geld man mit unbewaffnetem Auge nicht sehen kann – hat Privilegien, um die jede europäische Frau sie beneiden würde. Sie braucht ihren Mann nicht um Geld zu bitten. Sie hat ihr eigenes Bankkonto. Wenn sie singen lernen will, oder Reden gegen die Vivisektion halten, oder eine Teestube aufmachen oder mit widerlichen jungen Männern in Hotels tanzen will, kommt ihr Mann nie auf den Gedanken, Widerspruch zu erheben. Und deshalb glaubt man, daß sie frei und glücklich ist. Glücklich! Wissen Sie, warum der amerikanische Ehemann seiner Frau so viel Freiheit läßt? Weil es ihm ganz egal ist, was sie tut, weil er nicht genug Interesse für sie hat, um sich darum zu kümmern! Für den amerikanischen Mann – wenn man von erfreulichen Ausnahmen, wie Sam hier, absieht – ist die Frau einfach eine Bequemlichkeit wie sein Auto, und wenn eines von den beiden eine Panne hat, schafft er es in eine Garage, läßt es dort und geht pfeifend davon!«
Diesmal sagte ihr Blick Sam etwas, das sie ihm nicht hätte sagen müssen, aber sie sprach mit bewundernswert unpersönlicher Miene weiter:
»Während der europäische Ehemann, wenn ich mich nicht sehr irre, das Gefühl hat, daß seine Frau ein Teil von ihm ist – oder wenigstens ein Teil seiner Familienehre – und ihr diese falsche Freiheit ebenso wenig erlauben würde, wie er zulassen könnte, daß eines seiner Beine sich vergnügt und munter ohne das andere auf die Wanderschaft begibt. Er hat Frauen wirklich gern! Und dann noch eines. Jede echte Frau ist bereit, und wenn sie selbst noch so klug ist, ihre eigenen Aussichten auf Ruhm für ihren Mann aufzugeben, wenn er etwas tut, das sie bewundern kann. Sie kann es verstehen, daß man sich für eine zivilisierte Aristokratie aufopfert, wie Professor Braut sie schildert; sie kann sich für einen großen Dichter oder Soldaten oder Gelehrten aufopfern, aber sie denkt nicht daran, auf alle Fähigkeiten, die sie hat, zu verzichten für das Ideal des industriellen Amerikas – das darin besteht, in diesem Jahr mehr Staubsauger zu erzeugen, als im vorigen!«
Sam fing ihren Blick auf. Er fragte, ganz langsam: »Oder mehr Automobile?«
Sie lachte … Was für ein lustiges, tüchtiges, zärtliches amerikanisches Paar waren die beiden doch!
Sie sagte zärtlich:
»Ja, oder mehr Automobile, Sam!«
»Und da hast du wahrscheinlich auch recht!« antwortete er.
Alles lachte.
»Wenn die Leute von der amerikanischen Frau und dem amerikanischen Ehemann sprechen«, redete Fran weiter, »begehen sie immer den Fehler, herausfinden zu wollen, welches Geschlecht ›schuld‹ ist. Einer wird Ihnen mit dem stärksten Nachdruck erzählen, der amerikanische Ehemann ist schuld, weil er so sehr in seinem Geschäft und seinen Freunden aufgeht, daß er sich nie um seine Frau kümmert. Und der nächste wieder erklärt, daß es die Schuld der Frau ist – ›Das Malheur ist, daß der amerikanische Ehemann, wenn er nach den fürchterlichen Anstrengungen unserer Geschäftskonkurrenz ganz erschöpft nach Hause kommt, natürlich ein wenig Aufmerksamkeit und Liebe von seiner Frau erwartet, aber sie will bloß, daß er sich beeilt und umzieht und sie ins Theater oder zu einer Gesellschaft führt, weil sie den ganzen Tag vor Nichtstun Langeweile gehabt hat.‹ Und beide haben unrecht. Es gibt keine Schuld – weder beim einen noch beim anderen. Ich bin überzeugt, daß die Schuld in unserem amerikanischen Industriesystem zu suchen ist, dessen Ideal forcierter Verkauf ist – und das ist kein Ideal, das groß genug ist, um eine wirklich vernünftige Frau zu befriedigen. Nein! Sie hat mehr übrig für die europäische Kultur und Tradition, von der Sie gesprochen haben, Professor Braut.«
»Das ist aber ein bißchen hart für mich, schließlich bin ich einer von den Förderern des amerikanischen Industriesystems«, sagte Sam.
»Ach du, du bist eigentlich gar kein Industrieller – du bist ein Forscher.«
Und wieder sah sie ihn so bewundernd an, daß alles erbaut war beim Anblick dieses einen glücklichen amerikanischen Paares.
Es gab, bei Tisch und beim Kaffee im Wohnzimmer, noch viel mehr Gespräche. Sam hörte brav zu, während er sich voll Entsetzen klar machte, daß Fran, seine einzige Sicherheit im Leben, jetzt da Arbeit und Kinder und Freunde verloren waren, ihm an diesem Abend endgültig den Kampf angesagt, ihm erklärt hatte, daß sie genug von ihm habe, daß sie sich nach einem europäischen Gatten sehne, daß das Zwischenspiel mit Arnold Israel, der europäischer war als Europa, kein Zufall gewesen sei, sondern ein Symptom.
Er beobachtete, wie sie sich Kurt widmete. Es konnte ihm nicht entgehen, wie eifersüchtig sie auf Kurts hübsche kleine Freundin, die Baronin Volinsky, war.
Die Baronin war ein schlankes, schmales Mädchen mit schönen Beinen und gewelltem, kurzem Haar. Sie hatte nicht viel zu sagen. Während des Dinners hatte Kurt vielleicht hundert vertrauliche Bemerkungen zu ihr gemacht – »Erinnerst du dich noch an den Oberst Gurtz?« und: »Weißt du noch, was sich bei der Premiere vom Patrioten getan hat!« Fran hatte sich der Baronin gegenüber jener eiskalten, neugierigen Höflichkeit beflissen, die der Gipfel des vollendeten Hasses ist; sie hatte mit einiger Plötzlichkeit alles Mögliche über Ungarn wissen wollen – der Ton ihrer Fragen gab irgendwie zu verstehen, daß Ungarn ein minderwertiges Land sei, wo die Frauen Holzschuhe tragen – und hatte gar nicht auf die Antworten gehört.
Als sie plaudernd ins Wohnzimmer gingen und Kurt sich zu der Baronin auf die Sessellehne setzte, bemerkte Sam, daß Fran nach fünf Minuten auf der anderen Lehne saß und immer wieder französisch sprach, was Kurt ausgezeichnet, und Frau von Volinsky überhaupt nicht konnte. Und bald darauf ging die Baronin nach Hause, gefolgt von den Biedners und den Brauts, etwas später von dem Geiger von Escher, der zu seiner Frau in ziemlich verdrossenem Ton sagte: »Könntest du vielleicht allein nach Hause finden? Ich muß zu meinem Pianisten üben gehen – er hat heute seinen einzigen freien Abend.«
Minna von Escher antwortete ihrem Mann in einem schnippischen Ton, der Sam überraschte, daß sie schon sehr oft allein nach Hause gefunden hätte!
Während des lebhaften deutschen Abschiedes murmelte Sam Fran zu: »Wir müßten eigentlich auch gehen, nicht?« Aber sie drängte: »Ach, bleiben wir doch noch ein bißchen – jetzt kommt doch erst der beste Teil des Abends, meinst du nicht auch?«
Er meinte es nicht. Er sah bloß ergeben aus.
So waren sie jetzt zu viert, Sam und Fran, Kurt und Minna von Escher, in jener angenehmen Ruhepause nach lebhaftem Gespräch. In einer Ecke des Zimmers zeigte Kurt Fran ein ungeheures, sehr altmodisches Album mit Bildern aus seiner Knabenzeit – anscheinend Bilder von einer Burg in Tirol. Fran saß in einem Ledersessel; Kurt hockte neben ihr auf dem Fußboden und richtete sich immer wieder auf den Knien auf, um ihr einen alten Dienstboten oder ein altes Schulzimmer zu zeigen.
Sam sprach mit Minna von Escher. Sie hatte ein Clownsgesicht mit Stupsnase und zu großem Mund, aber ihre Augen öffneten sich in so überraschter Rundheit, sie sprach mit solcher Lebendigkeit, ihre Hände und Beine waren so schön, daß sie anziehender war, als die meisten hübschen Frauen. Sie lag, nicht sehr bescheiden, ausgestreckt auf dem Sofa, und Sam saß neben ihr, die Ellbogen auf die Knie gestützt, wie ein alter Mann, der am Holzzaun seine Pfeife raucht.
»Ihre Frau – sie preist die europäischen Ehemänner!« sagte Minna. »Wenn sie einen hätte! Ach, sie können entzückend sein; sie küssen einem die Hand, sie vergessen keinen Geburtstag, sie schicken Blumen. Aber ich habe schon mehr als genug davon, wie mein guter Theodor jeder Frau den Hof macht, die er kennen lernt! Gerade jetzt – natürlich, um Mitternacht muß er mit einem Pianisten üben gehen – also in diesem Augenblick ist er im Zimmer von Elsa Emsberg, und wenn Elsa ein Pianist oder überhaupt ein Mann ist, dann muß sie sich in der letzten Woche sehr verändert haben – und noch dazu war sie zuerst meine Freundin! Ach, ich bin Europäerin, aber ich wollte, ich hätte einmal einen amerikanischen Mann, der mich nicht der Musik und seinen Liebesaffären aufopfert!«
Sie sah ihn munter und anerkennend an, und mit einemmal wußte Sam, daß er für sie ein interessantes großes Tier war, daß er sie lieben konnte, wenn er wollte, und soviel er wollte, und das erschreckte ihn.
Er war immer monogam gewesen. Hin und wieder hatte ihn eine andere Frau interessiert, aber dann war er so entsetzt gewesen, als ob er ein Priester wäre.
Vielleicht war die Tatsache, daß sein eheliches Leben mit Fran nicht sehr leidenschaftlich verlaufen war, schuld daran, daß er die Empfindung hatte, alles, was mit geschlechtlicher Erregung zusammenhänge, sei im Grunde etwas Schändliches, das man möglichst vermeiden müsse. Gewöhnlich flüchtete er sich, wenn er darüber nachdenken wollte, aus seinen Betrachtungen mit einem Brummen: »Ach, man muß seiner Frau treu sein und darf sich nicht in alle möglichen Komplikationen einlassen.«
Aber eben in diesem Augenblick schien er nicht Angst genug vor dem »Sicheinlassen« zu haben. Er ertappte sich dabei, daß er konstatierte, Minna habe einen wunderbaren Körper. Er dachte: »Ich sollte Fran eine Dosis von ihrer eigenen Medizin geben.« Er blickte von Minna weg und knurrte: »Ach, die Männer werden wohl in allen Ländern ziemlich gleich egoistisch sein, sie zeigen es nur auf verschiedene Art.« Er sah fort, aber sein Blick wurde wieder zu ihr zurückgezogen, und er wollte sie bei der Hand nehmen.
»O nein, Sie würden nicht egoistisch sein!«
»Aber selbstverständlich!«
»Nein! Ich kenne Sie besser! Große, schrecklich starke Männer wie Sie sind immer sanft und freundlich!«
»Na! Sie hätten ein paar von den sanften, freundlichen, großen Burschen von Harvard und Princeton kennen sollen, die beim Fußballspiel immer auf meiner Brust gesessen haben!«
»Ach, im Sport ist das etwas ganz anderes. Aber bei Frauen – Sie wären sehr sanft. Aber stark. Gehn Sie auf die Jagd und hausen Sie viel im Lager, und was Sie sonst noch für aufregende Sachen in Ihrer großen amerikanischen Wildnis tun?«
»Ja, früher einmal habe ich so was gemacht. Ich habe einmal eine ziemlich lange Kanufahrt in Kanada gemacht.«
»Ach, davon müssen Sie mir erzählen!«
Seitdem er von Zenith fort war, hatte kein Mensch ein so tröstliches Interesse für ihn bewiesen. Jetzt sah er nicht mehr von ihr fort; sie verschlang ihn mit ihren immer größer werdenden, schmeichelnden Augen, während er erzählte:
»Na, es war nichts Besonderes. Ich war mit einem Freund von mir zusammen. Wir haben ungefähr tausend Meilen gemacht mit vierundsechzig Tragstrecken, und die letzten fünf Tage haben wir von Tee, ohne Zucker oder kondensierte Milch, und Fisch gelebt, und unser Zelt ist abgebrannt, und bei Regen haben wir unter dem Kanu geschlafen. Na, das war eine schöne Sache. Hm! Würde ich gern wieder tun!«
»Warum tun Sie es nicht? Warum nicht? Ich kann Sie mir wunderbar in dieser Wildnis vorstellen.«
»Ach, Fran – Mrs. Dodsworth – hat nicht viel für so etwas übrig.«
»Nein? Mir würde das großen Spaß machen!«
»So? Dann muß ich Sie einmal auf so eine Tour mitnehmen!«
»Ach ja, das müssen Sie tun!« Sie schüttelte ihn aufgeregt am Arm. »Sie dürfen nicht Spaß machen! Tun Sie es wirklich!«
Und er war sicher, daß er es könnte – noch sicherer, daß zwischen Fran und Kurt, die sich in der Ecke so unschuldig Bilder ansahen, etwas, ganz zart noch, angesponnen wurde. Er fühlte sich hilflos und verärgert, und diese Verärgerung tauchte unter in seiner wachsenden Bewunderung für Minna von Escher. Nein! Er wird Fran nicht ermutigen, indem er ihr ein Beispiel gibt!
Für einen kurzen Augenblick, während Minna von ihrem eigenen Mut gelegentlich einer Nordseereise erzählte, kämpfte Sam seinen Argwohn nieder. Aber er sah, wie Fran bei einer Bemerkung Kurts rot wurde, er sah, wie die Blicke der beiden ineinandertauchten, und plötzlich war er böse.
Er brummte Minna zu: »Ja, das muß eine sehr nette Fahrt gewesen sein – ich selber habe nicht viel Seefahrten gemacht – aber, um Gotteswillen, ist das spät!«
Er rief durch das Zimmer: »Fran! Weißt du, wie spät es ist? Fast ein Uhr!«
»Ja? Und?«
»Na … Ziemlich spät. Wir wollten morgen früh nach Brandenburg fahren.«
»Wir müssen doch nicht! Du lieber Himmel! Wir sind doch nicht auf einer Cookreise!«
»Ja, aber … Kurt muß ins Bureau.«
»Aber nein!« bat Kurt. »Das ist doch egal. Ich werde ganz unglücklich sein, wenn Sie so früh fortlaufen!«
»Natürlich, wenn du unbedingt willst –« sagte Fran.
Der Ton war giftig. Kurt sah die beiden jämmerlich an, als ob er darüber nachdächte, was er tun könnte, um sie zu versöhnen.
»Aber nein, nein! Ich wollte nur nicht, daß du zu müde wirst. Und Mrs. Escher hier schläft beinahe schon«, krähte Sam freundlich. Und alles lachte und sah erleichtert aus, und alles sagte, ja, es sei doch viel netter, so beisammen zu sein, ganz en famille, nachdem die anderen fort seien.
Aber Sam hatte alles verdorben. Sie sahen verlegen aus und sprachen über Musik. Minna von Escher, die mit Sams Schüchternheit sehr unzufrieden war, deutete mit einem Gähnen an, daß sie nach Hause wollte, und nach einer Viertelstunde ging die Gesellschaft auseinander, unter zahlreichen Versicherungen, daß sie alle sich ausgezeichnet amüsiert hätten.
Und so nahmen Sam und Fran, nachdem sie Minna nach Hause gebracht hatten, ihren Kampf wieder auf.