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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Die drei, die im Winnipeger Bahnhof auf den Zug nach Minneapolis warteten, hatten wenig Ähnlichkeit mit den Kohlenbrennern, die taumelnd in den erstaunten Flecken Whitewater eingezogen waren. Ralph hatte jetzt einen eleganten grauen Flanellanzug an und ein hübsches blau weiß gestreiftes Hemd. (Er war ein Mann, dem immer fertige Anzüge paßten.) Joe Easter sah nicht so fein aus, aber seine ganze Wildheit war von einem anständigen braunen Anzug in die Flucht geschlagen, den ihm seine Frau, ohne ihn mitreden zu lassen, ausgesucht hatte. Und Alverna hatte –

Sie war ein Manikürmädchen mit strahlenden Wangen und strahlender Stimme.

Während der zehn Minuten, die sie warten mußten, hüteten sie sich ängstlich vor allen aufrichtigen Worten. Sie gaben sich Mühe, etwas Hübsches und Interessantes über den Bahnhof, die Passagiere und das Wetter zu sagen.

Als der Zug eingefahren war, sagte Alverna mit Papageienstimme:

»Jetzt laßt euch nicht länger von mir aufhalten, Jungens. Meine Sachen trägt mir schon der Mann da in den Zug.«

Sie reichte jedem eine Hand. Die beiden sahen sie mit schwärmerischen Schuljungenblicken an.

»Na, laß dich von uns in den Zug bringen«, druckste Joe, und Ralph: »Oh, wir müssen dich zum Schlafwagen begleiten.« Und es war nicht für einen Deut Unterschied zwischen der Verlegenheit und Ungeschicklichkeit der beiden Männer.

»Ihr solltet mich eigentlich ein bißchen aufheitern«, sagte sie, und auf leisen Füßen schlichen sie ihr und ihrem Gepäckträger den Bahnsteig entlang zum Schlafwagen nach. Mit dummen Augen sahen sie ihr zu, als sie mit einer schnippischen Gebärde dem Pullmanschaffner ihren Coupon zeigte.

Sie stand da, blickte sie starr an und sagte: »Lebt wohl.«

Die Männer, die nicht ganz bei sich waren und sich träge bewegten wie in einem bösen Traum, konnten unter dem Druck ihres Elends kaum denken, und als sie langsam die Möglichkeit von Abschiedsküssen zu erwägen begannen und den Mund auftaten, um dieses Gefühl in passende Worte zu kleiden, wurde auch sie für einen Augenblick wieder menschlich.

»Ihr armen Schafe! Ihr redeschwingenden Kinder, die ihr von nichts, was wichtig ist, eine Ahnung habt! Könnt ihr nicht verstehen? Ich kann mit keinem von euch mitspielen. Ich bin ich! Ich werde ich sein! Oh, wenn ihr mich ein bißchen lieb habt, dann laßt mich dabei! Lebt wohl! Nein, bitte! Kommt nicht mit mir in den Wagen!«

Sie standen auf dem Bahnhof und glotzten sie durch das Fenster an, als sie sich in ihrem Pullmansitz einrichtete. Sie sahen, wie sie den Hut abnahm und ihn zierlich zu zierlich, zu affektiert – in den Papiersack steckte, den ihr der bewundernde Schaffner reichte. Sie sahen, wie sie das Haar zurückstrich, mit der vertrauten raschen Bewegung ihrer schmalen, weißen Hände, die sie so gut kannten. Sie sahen, wie sie ihr Gesicht aufmerksam in einem Taschenspiegel betrachtete und sich die Nase puderte. Und nicht ein Mal schaute sie zu ihnen heraus.

»Ich kann das nicht aushalten!« knurrte Joe.

»Ich auch nicht«, sagte Ralph.

Und die zwei Männer spazierten zum Ende des Bahnsteigs, die Hände in den Taschen, ohne einander anzusehen, anscheinend ohne jedes Interesse füreinander, und doch verband sie die gemeinsame Liebe zu einer leichtsinnigen, oberflächlichen und dennoch tapferen Frau stärker als gemeinsam überstandene Todesgefahr.

Sie standen am Ende des Bahnsteigs und versuchten den Eindruck zu erwecken, daß sie voller Verständnis einen Stapel Schwellen und Schienen studierten, als der Zug nach Minneapolis anzog, in Fahrt kam und an ihnen vorbeifuhr. Da sahen sie, daß Alverna nicht mehr zierlich Toilette machte, sondern ihr Gesicht in zitternden Händen verborgen hatte.

»Müssen Männer und Frauen einander immer auf diese Weise weh tun?« rief Ralph.

»Ja. Jeder, der sich nicht damit zufrieden geben will, zu kaufen und zu verkaufen, wird sich und allen anderen weh tun«, sagte Joe. »Und jetzt, Ralph, hören Sie, wir sind ganz umgekrempelt worden von Dingen, die größer sind als wir – von Feinden, die in der Nacht herumgeschlichen sind, von Freunden, auf die kein Verlaß war, von Feuer und Sturm – und von einer Frau. Aber jetzt gehen Sie wieder zurück und seien Sie wieder ein ganzer Kerl, und ich werd' hierbleiben und mir mein Brot verdienen. Sie brauchen mich nicht nach New York zu schleppen. Daß Sie mir dort eine Stellung verschaffen wollen, ist sehr lieb von Ihnen, aber auf den Gedanken, mich mitzunehmen, hab' ich Sie gebracht, und natürlich ist das alles Unsinn. Das ist meine ehrliche Meinung. Verdammt noch einmal, Ralph, ich mach' Ihnen gar keinen Vorwurf daraus, daß Sie sich in Alvy verliebt haben. Mir ist es ja genau so gegangen! Aber das ist jetzt alles vorbei, und Sie müssen zurückgehen, wohin Sie gehören, und mich vergessen.«

»Aber Joe – ja, Sie haben zuerst den Vorschlag gemacht, daß ich Sie in New York managen soll, aber Sie hatten vollständig recht. Passen Sie auf.«

Ralph brauchte zwei Stunden zur Durchführung des Beweises, daß es Joes höchste Glückseligkeit sein mußte, ihn nach New York zu begleiten; während dieser zwei Stunden wanderten sie (während der Zug mit Alverna über die Schienen ratterte) durch Winnipeg und entdeckten eine verbotene Kneipe, in der sie ausgezeichneten Scotch Whisky bekamen.

Jetzt, da er wieder in den Straßen einer Stadt war, triumphierte Ralph. Er entdeckte, daß Städte Joe mit ihrem Lärm in größere Furcht versetzten als alle Stromschnellen. Je beredter und großstädtischer er wurde, desto kleinmütiger wurde Joe. Und wie Joe sein großmütiger Führer in Mantrap gewesen war, so war er jetzt der großmütige Führer ihrer gemeinsamen Zukunft in New York. Vielleicht war es die Wiederentdeckung loyaler Freundschaft, vielleicht auch die Verlassenheit, die ihn nach Alvernas Abschied überall umspukte, vielleicht auch nichts weiter als der Whisky – jedenfalls entwarf er eine Manhattan-Zukunft, in der Joe und er, mit großen Gewinnchancen und noch größerer Freude, ein eigenes Sportgeschäft gründeten.

So kamen sie eifrig diskutierend und in glänzendem Einvernehmen zum Hotel.

Sie waren morgens von Whitewater angekommen, gerade rechtzeitig, um Kleider kaufen zu können. Ralph war noch nicht im Hotel gewesen, er hatte lediglich seine Einkäufe aus den Geschäften hinschicken lassen.

»Hören Sie, Ralph, Sie können hierbleiben, aber ich geh' wieder zum Nippigon House, wo ich immer wohn'«, seufzte Joe. »Hier ist es zu fein für mich. Sieht ja aus wie 'ne Kathedrale. Und ist auch zu teuer.«

»Sie werden hier mein Gast sein, wie ich in Mantrap der Ihre war«, sagte Ralph in einer Weise, die jeden Widerspruch ausschloß. »Wirklich, Joe, ich hab' viel Geld – bei mir – Travellers Schecks. Hören Sie, Joe, wollen Sie mir denn nicht die Freude machen, mich hier für Sie sorgen zu lassen?«

»Schön, gut, wenn Sie durchaus wollen.«

Die Hotelhalle war ein gotisches Kirchenschiff, in dem hohe, mit dem königlichen Wappen geschmückte Brokatstühle standen, und in diesen Stühlen saßen zynische Dämchen, die auf hübsche Männer warteten. Ralph durchschritt hochmütig den Korridor … Er wußte es nicht, aber er erzählte den herumlungernden Boys, den zynischen Dämchen und hübschen Kavalieren: »Ich bin nicht der schmierige und zerlumpte Kerl, der heute früh in die Stadt gekommen ist, sondern Mr. Ralph Prescott vom Yale Club in New York.« Seine Absätze klapperten selbstbewußt über die glänzenden Fliesen. Aber Joe Easters Schritte waren schleppend und ängstlich.

Als sie zu dem langen Marmortisch gekommen waren, an dem sie sich eintragen wollten, hörte Ralph:

»Nanu, Prescott, was sagt man! Was machen Sie denn in der Gegend?«

Es war eine kräftige, kaviargenährte Stimme. Ralph sah sich nach ihrem Besitzer um und entdeckte einen Mr. James Worthington Virey, Vizepräsidenten der Dorcas Fidelity & Trust Company aus New York, Mitglied des Buckingham Moors Country Clubs. Sie sagten: »Nanu, nanu!« – sie sagten: »Nanu, ist das merkwürdig!« Ralph räumte bescheiden ein, er hätte einige ziemlich heroische Taten in den gefährlichen Wildnissen des Nordens vollbracht. Mr. Virey gab zu verstehen, daß er hier sei, um ein Millionen-Dollarvermögen zu besuchen, dessen Testamentsvollstrecker seine Firma war.

Mittlerweile stand Joe hinter ihnen und ließ unbehaglich seinen Körper bald von dem einen, bald von dem anderen Fuß tragen.

Virey drang in Ralph: »Prescott, wenn Sie schon mal hier in der Stadt sind – ich möchte, daß Sie mir einen Gefallen tun. Ich muß heute abend hier in eine Gesellschaft gehen – Scotch und Aktiengespräche, nehme ich an. Ich kenne eigentlich, außer von Geschäftsfrühstücken her, keine Menschenseele von den Leuten, die dort sein werden. Ich werde den Hausherrn anrufen und ihm sagen, er soll Sie einladen.«

»Ich –«

Ralph blieb stecken.

»Ich«, sagte er, »ich bin hier mit meinem Freund Mr. Easter – Chef der Easter-Handelsgesellschaft, Sie wissen … Mr. Virey, Mr. Easter … Es wäre ja sehr nett, dorthin mitzugehen, nach diesen Wochen in der Wildnis, aber – wenn Sie meinen, daß die Leute Mr. Easter auch einladen würden –«

Während er das zirpte, hatte Ralph das unglückselige Bewußtsein, daß er log, daß es keine Easter-Handelsgesellschaft mehr gab, daß diese in ihren besten Zeiten aus nicht mehr als drei Blockhütten bestanden hatte und daß er sich ganz einfach schämte, zu sagen: »Ich bin ein armseliger Schwächling, den ein unverdientes Glück aus der Hölle befreit hat, und das ist mein Freund Joe, ein ungehobelter Bursche, der Tabak kaut, an Dickens glaubt und im ganzen mehr Mut hat, als Sie oder ich je aufbringen können, und lieber pfeife ich auf Sie, als daß ich heute abend in eine schnatternde Gesellschaft gehe.«

Aber er hörte Mr. Virey eifrig den großen Joseph Easter, Präsidenten der Easter-Handelsgesellschaft begrüßen und hörte Joe stammeln: »Sehr erfreut.« Ertrug sich und Joe ein und verlangte voll Erhabenheit eine Flucht von zwei Schlafzimmern, zwei Badezimmern und einem Salon. Er hörte Mr. Virey herunterleiern, daß er gleich seinen Gastgeber anläuten werde, um zu erfahren, ob seine bezaubernden Freunde Mr. Prescott und Mr. Easter bei der Gesellschaft willkommen sein würden, und daß er, sobald er dies getan hätte, Mr. Prescott verständigen werde.

Sie alle schüttelten sich voll kühler Höflichkeit die Hände, und Ralph und Joe waren in ihrem Appartement.

In dem hellen, intimen kleinen Wohnzimmer waren Fauteuils, eine Tischlampe mit rotem Schirm, ein Büfett mit Venezianer Cocktailgläsern, die aus Montreal stammten, und an den Wänden hingen Radierungen. In den zwei behaglichen Schlafzimmern war alles blaue Seide. Und die Badezimmer bestanden nur aus Marmor, Nickel und Kacheln.

Joe wanderte durch die Zimmer. Er sah sich die Radierungen an, tappte mit einem schüchternen, roten, steifen Finger auf einen silber-blaßgrünen Tischläufer, und auf die federnden Betten klopfte er wie eine gute Hausfrau, die eine Wohnung mietet. Aber vor dem Duschschrank aus Glas und Nickel zögerte er. Davor stand er wie ein Bauer in einem Pariser Damenschneideratelier.

»Gott, trauen Sie sich da rein, Ralph? Hören Sie, ich würd' nie wagen, mich bis auf meine gute alte Haut auszuziehen und in der Glaskammer zu baden. Da kann doch wer reinkommen und mich auslachen! Und mit dem langen Spiegel an der Tür – und das Sitzzimmer mit den vielen kleinen Lampen und Seidenschirmen, die wie Shimmyhemden aussehen – Ralph, da gibt's nicht einen Fleck, wo man hinspucken kann. Sie sollten mich doch lieber ins Nippigon House zurückgehen lassen.«

»Sie werden sich in zwei Tagen daran gewöhnt haben. Und in einer Woche werden Sie schon schimpfen, weil die Handtücher zu klein sind.«

Ralph faltete ein sechs Fuß langes Frottierhandtuch auseinander.

Joe glotzte es mit offenem Mund an. »Das ist – ein Handtuch? Ich hab's für 'nen Teppich gehalten!« Er faßte es an. »Hören Sie, damit kann man sich ja zwei Jahre lang abtrocknen! Nein, das könnt' ich nicht – ich könnt's nie ganz schmutzig machen. Ich hab' selber zu viel gewaschen. Quatsch. Das ist zu vornehm für mich. Und Ralph: ich mag nicht in Ihre Gesellschaft da heute abend mitkommen. Ich würd' Ihnen nur Schande machen. Gehen Sie ruhig hin und denken Sie nicht an mich. Ich werd' in den Kientopp gehen.«

»Unsinn. Erzählen Sie den Leuten ein paar Geschichten vom Norden. Sie werden damit sehr aufregen. Sie werden der Glanzpunkt des Abends sein.«

Mr. James Worthington Virey kam in diesem Augenblick. Ja, natürlich, oh, selbstverständlich, sein Gastgeber, ein Colonel Ackers, bestand darauf, daß Mr. Prescott und Mr. Easter kämen. Ein ganz zwangloses und intimes Zusammensein, vielleicht mit einer Kleinigkeit zu trinken. Colonel Ackers wollte über ihren Nordtrip hören, über die Waldbrände und über die Indianerkredite.

»Wir haben keine Abendanzüge mit«, gestand Ralph.

»Macht nichts … Und Sie kommen auch, Easter? Colonel Ackers wäre schrecklich enttäuscht, wenn Sie nicht kämen.«

Dieser Beschwörung konnte Joe nicht widerstehen, aber als Virey gegangen war, visitierte er seinen braunen Anzug vor dem langen Spiegel; er versuchte, in sein angegrautes braunes Haar die Glätte einer geleckten Filmschauspielerfrisur zu bringen, indem er Wasser darübergoß und es mit einer Bürste bearbeitete, bis er vor Schmerz stöhnte; und unter Qualen schnitt und beschabte er seine Nägel, trotz aller Erziehungsversuche des Manikürmädchens Alverna, mit einem ungeheuren Taschenmesser.

Voller Verlegenheit folgte er Ralph in den riesigen Speisesaal.

Nach wochenlangem Hocken über Zinntellern mit Speck freute Ralph sich über die Pracht des Speisesaals; über die gewölbte Caensteindecke, die zwischen den Kirchenfenstern herabhängenden Portieren, über die in Gold und Purpur strahlenden Sessel, die sich zu Thronen für spanische Erzbischöfe geeignet hätten. Aber als er hinter dem Oberkellner einherschritt und sich in dem billigen Triumph sonnte, aller Wahrscheinlichkeit nach als feiner Mann anerkannt zu werden, sah er sich nach Joe um, der sich in gelähmter Scheu vorwärts bewegte und starr von allen hübschen Frauen wegblickte, bis er die Gefahren des meilenweiten Weges zu ihrem Tisch überstanden hatte.

Joe ließ sich vom Oberkellner in einen Stuhl setzen. Seine Stirn schimmerte feucht, er hielt die Speisekarte in Armlänge von sich und starrte diese lithographierte Pracht ungläubig an. Am nächsten Tisch lachte jemand leise. Hastig legte Joe die Karte weg, steckte beide Hände in die Hosentaschen, zog sie wieder heraus, ließ sie auf den Tisch fallen und verbarg schließlich ihre rote Plumpheit im Schoß.

»Haben Sie was gefunden, was Sie möchten, Joe? Oder soll ich für Sie bestellen?«

»Ich glaube – ich glaublich werd' ein bißchen Speck nehmen«, sagte Joe sorgenvoll.

»Haben Sie davon nicht im Norden genug gehabt?«

»Ja – a –«

Der Oberkellner schaute für einen Augenblick weg, und diese Sekunde der Sicherheit benutzte Joe, um zu flüstern: »Das ist die einzige menschliche Nahrung, die ich auf der Speisekarte finden kann! Um Himmels willen, bestellen Sie für mich, Ralph. Ich kann's nicht! Ist alles zu vornehm für mich.«

»Warten Sie. Aber hören Sie, Sie sind wirklich der Mensch, der hierbleiben muß, der New York sehen muß. Es wird für Sie eine ganze Menge Neues geben, wenn Sie einmal über Ihre Scheu hinweg –«

»Ja, Menge Neues, aber vorher könnt' ich verhungern! Glauben Sie, ich hätt' mich getraut und wär' allein da hereingekommen? Das einzige Mal, daß ich überhaupt in 'nen großen Hotelspeisesaal gegangen bin, war mit Alverna, das hab' ich Ihnen ja erzählt.«

»Es wird meine Sache sein, mein Alter, mich darum zu kümmern, daß Sie das Vergnügen kennenlernen, sich die großen Städte zu erobern. Ich habe schon meine Pläne gemacht. Heute in zehn Jahren werden Sie Teilhaber bei Fulton & Hutchinson sein. Und jetzt werde ich bestellen. Wollen mal sehen, ob ich das so gut kann wie Alverna.«

Ralph fühlte sich zu Schildkrötensuppe, jungen Tauben und Champignons in Aspik versucht, aber in der Hoffnung, Joe zeigen zu können, daß dieser vornehme Aufenthaltsort auch für ihn Freuden hätte, bestellte er eine gute Erbsensuppe, ein Steak mit einem ganzen Harem von Gemüsen und eine geheimnisvolle Eisbombe.

Sie wurden schweigsam. Joe hatte den Namen Alverna ausgesprochen, und nun wurden sie den Gedanken an sie nicht mehr los. (Aß sie jetzt allein im Zug? Aß sie allein?) Hier, in diesem Dschungel von Samt und Kristall dachte Ralph an die heiteren, stillen Tage am See und im Wald zurück, er sehnte sich nach ihren schmutzigen Wangen, ihren lustigen, frechen Augen und ihrem fröhlichen, lauten Lachen. Er blickte zu Joe hinüber und brach plötzlich aus: »Der Teufel soll's holen, ich glaube, wir sehnen uns beide nach ihr!«

»Ja. Ich schon. Ich werd's immer tun. Aber wir haben's für sie tun müssen. Wir haben uns von ihr trennen müssen – ich, weil ich zu arm bin, und Sie, weil Sie zu reich sind.«

»Ja. Wahrscheinlich. Deshalb – Joe, wir müssen suchen, etwas Schönes und Dauerndes aus unserer Freundschaft zu machen. Ich werde Sie wahrscheinlich brauchen, damit Sie mir ab und zu den Kopf zurechtsetzen und mich davor bewahren, wieder ein fleißiger kleiner Anwalt zu werden.«

»Sie brauchen niemand.«

»Auf jeden Fall kommen Sie nach New York.«

»Gut – aber ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß ich in 'ne Budike gehen werd', wo Sägemehl auf dem Fußboden ist und ein Kellner in Hemdsärmeln und ohne Kragen bedient, da werd' ich immer einmal am Tag hineingehen, auf den Boden spucken und schreien: ›He, bringen Sie mir Schinken mit Bohnen und machen Sie verdammt schnell, oder ich hau' Ihnen die Birne ein!‹ Dann kann ich's vielleicht aushalten. Donnerwetter! Ist das ein Steak!«

Ralphs List hatte Erfolg. Der Anblick dieses herrlichen Fleischstücks, das mit Erbsen, Karotten, gaufrierten Kartoffeln und knusprigen gerösteten Zwiebeln garniert war, gewährte Joe einen neuen und anregenden Ausblick auf die Möglichkeiten des Lebens; und als James Worthington Virey sie um neun abholte, schien Joe der Überzeugung zu sein, daß New York doch etwas mehr sein könnte als ein Hinterhalt voll hübscher Frauen und hochnäsiger Kellner, die alle über ihn lachen würden.

Mr. Virey hatte – wie es ihm gelungen war, ist unbekannt – eine Mietslimousine aufgetrieben. Joe sank in die Kissen, klopfte sich vergnügt auf einen Magen voll schönen Essens und freute sich über die Welt. Er sah fast idiotisch zufrieden aus. Ralph machte sich etwas bestürzt Gedanken, ob Joe nicht zu viel getrunken hätte, denn als sie in ihren Zimmern oben waren, hatte Virey eine Flasche Scotch aus der Tasche geholt. Aber er konnte sich besinnen, daß Joe nur einen leichten Whisky-Soda genommen hatte, und als Virey zu schwätzen begann, vergaß er seine Bestürzung.

»Ach, richtig, ich habe ganz vergessen, Ihnen etwas zu erzählen. Sie sind doch nach dem Norden mit einem gewissen Woodbury – Mitglied unseres Country Club aufgebrochen, nicht wahr?«

»Ja.«

»Sind Sie zwei – hm – äh – haben Sie sich zerzankt?«

»Ja, und ich kann nur sagen, daß ich mich da etwas schuldig fühle. Woodbury war mir zu geschwätzig geworden, und, tatsächlich, ich konnte es nicht mehr länger mit ihm aushalten; aber ich bin nicht ganz sicher, ob es nicht doch eine Schlechtigkeit von mir war, ihn im Stich zu lassen.«

»Ich verstehe. Ich persönlich habe ihn immer für einen großmäuligen Charlatan gehalten. Ich war überrascht, als Sie mit ihm gingen, und ich bin nicht im mindesten überrascht, daß Sie ihn verlassen haben. Aber die komische Sache ist die: Gestern ist er durch Winnipeg gekommen. Ich habe ihn im Hotel fast umgerannt. Er hat behauptet, daß er – Sie verlassen hätte, weil Sie so überlegen getan hätten, daß er's nicht mehr ertragen konnte! Es hat mir aber von Anfang an unwahrscheinlich geklungen. Ich hab' ihn nie leiden können. Übrigens, Prescott, Sie sagten, Easter und Sie fahren nach New York. Vielleicht können wir die Reise zusammen machen. Ich muß morgen abend zurück.«

»Ausgezeichnet! Das wollen wir tun«, sagte Ralph.

Er war überaus zufrieden. Alverna würde etwas wohl Unklares, aber Bewundernswertes, Erfreuliches und überaus Zivilisiertes in Minneapolis beginnen. Er würde Joe in New York zu einem Geschäftsschlager machen. Dereinst würde er, väterlich und menschenfreundlich, die verwandelte Alverna und den vergoldeten Joe wieder vereinen. Sie würden seine Freunde sein. Er würde ihren Kindern Pate, Onkel und überhaupt Wohltäter werden. Und jetzt hatte Woodbury durch sein Lügen Ralphs Desertion entschuldigt.

Alles war in schönster Ordnung, klar und befriedigend.

So kam er, voll edler und lyrischer Gefühle, zu Colonel Ackers' Heim.

Der Colonel, der etwas in Weizen, etwas in Eisenbahnen und etwas in Banken war, hatte sich eine Residenz gebaut, die an Größe dem Windsor Castle gleichkam, aber in viel modernerem Stil gehalten war. Sie enthielt drei Salons, eine Bibliothek – mit einigen Büchern und eine Orgel, die laut Führer der Handelskammer die größte Orgel nördlich von St. Louis war.

Die Gesellschaft hätte schlimmer sein können. Etliche eifrige Paare tanzten nach der Radiomusik, und eine Anzahl von Männern widmete sich einem Bibliothekstischchen, auf dem Scotch, Gin, Grand Marnier und Napoleon IV.-Brandy lockten. Doch die Mehrzahl der Anwesenden setzte sich aus soliden Männern zusammen; diese standen vor einem Kamin, der mit Elchköpfen, Bärenschädeln, Gemsenköpfen und ausgestopften Fischen geschmückt war, und unterhielten sich über den Brand in der Weizenernte.

Man interessierte sich sehr für Joe Easter. Man wollte seine Meinung über die Mantrap River Muskalonges und über die Qualität von Moschusrattenfellen hören.

Joe war ziemlich schüchtern eingetreten und hatte bei den Armleuchtern im Korridor und den Engeln, welche die Decke entlang flatterten, verlegen gezaudert. Den Lakaien, der eine schlappe Hand nach seinem Hut ausstreckte, hatte er angestarrt, bevor er sich, wenn auch widerstrebend, entschlossen hatte, dieses Abzeichen seiner Männlichkeit aus der Hand zu geben. Als er der goldenen Wirtin, ihrer silbernen Tochter und dem verwirrenden Wirt vieler in andere kostbare Metalle gekleideter Damen vorgestellt wurde, schwitzte er sehr deutlich und stammelte ziemlich undeutlich: »Freut mich, Sie kennenzulernen – ich hab' den Namen nicht ganz verstanden.«

»Es wird schwere Mühe kosten, ihm mehr Ungezwungenheit mit Fremden beizubringen«, überlegte Ralph. »Herr Gott, ich sehne mich so nach Alverna. Ich hätte nie auf sie verzichten sollen.«

Doch als Joe in einem Kreis von Männern stand, die, so gewichtig sie auch in der Welt der Banken und der Volkswirtschaft waren, sich als überaus dilettantische Fischer erwiesen, war er nur zu ungezwungen. Während er Jagdgeschichten erzählte, beobachtete Ralph ihn voller Unruhe. Joes Stimme wurde lauter, immer mehr »verdammt« machten sich in seinen Erzählungen breit, und es waren gute, herzhafte »verdammt«, die man im Tanzzimmer nebenan gut hören konnte.

Und einmal klopfte Joe einem nervösen kleinen Millionär, der Augengläser an einem Seidenband hatte, auf den Rücken. Das war, bevor er zu trinken anfing.

Mit der Regelmäßigkeit eines Uhrpendels besuchte Joe den Whiskytisch, und obwohl Ralph sich in Loyalität von ihm fernhielt und versuchte, nicht zu spionieren, sah er, daß Joe die Whiskyflasche lange in der Hand behielt, so oft er sich einen Schluck einschenkte.

Der Erfolg war erschreckend.

Joe erzählte von dem Missionar, in dessen Kirche ein Bär eingedrungen war, eine Geschichte, die sich ausgezeichnet für Blockhütten eignete, vor dem Mahagonikamin des Colonel Henry Tudor Ackers aber und den Damen, die an der Tür standen, nicht ganz am Platze zu sein schien. Den nervösen, seidenbebänderten Millionär nannte er beim Vornamen. Und er erbot sich, einen Hochländer zu tanzen.

Er machte dieses Angebot nach jedem Whisky und verstand sich erst dazu, darauf zu verzichten, als Colonel Ackers mit Schärfe sagte: »Ich glaube, Sie lassen das lieber, mein Bester.«

Die ganze Zeit fühlte Ralph die flehentlichen Blicke Vireys, der für ihre Einführung verantwortlich war, auf sich ruhen. Doch er gab nicht nach: »Ach was, die können sich alle aufhängen lassen! Wenn sie Joe nicht zu schätzen wissen, sind sie Dummköpfe. Sogar wenn er sich betrunken hat, ist er immer noch zehntausend von diesen fetten Geldhamstern wert … Nur wär' es mir lieber, er benähme sich nicht wie heute abend, wenn Conny, Dick und Mrs. Sandal bei mir sind … Ach, zum Henker mit allen … Ich sehne mich nach ihr!«

Erst nachdem Ackers Joe wegen des Hochländers zurechtgewiesen hatte, nahm Ralph ihn auf die Seite und bat: »Vorsicht, alter Junge. Sie stoßen ein bißchen an. Man könnte Sie – äh – falsch beurteilen. Ich glaube, ich würde nicht alle diese Geschichten erzählen, solange die Damen im Zimmer nebenan sind.« Joe blickte ihn stier an und grunzte: »Der Teufel soll sie alle holen. Ich hab' nicht kommen wollen. Jetzt wo – jetzt wo – wo ich mal da bin, will ich mich amüsieren. Sind ja alles Dreckkerle.«

Virey deutete Ralph mit einem Kopfnicken an, daß es am besten wäre, sich zu verabschieden, und mit lauter, gemachter Freundlichkeit kündigte Ralph Colonel Ackers an: »Wir müssen leider gehen. Wir haben eine sehr lange Eisenbahnfahrt hinter uns.«

»Ich will nicht nach Haus!« protestierte Joe.

Mit schamglühenden Wangen säuselte Ralph unter den hämischen Glotzblicken aller dieser menschlichen Eulen: »Ach, Sie müssen, Joe. Ich bin so müde. Ganz einfach todmüde.«

Joe kam kleinlaut mit. Nur noch ein Unglück ereignete sich: als Joe bei der Verabschiedung mit der Hausfrau einen Händedruck tauschte, sagte er: »G' Nacht, Mrs. Ackerstein. Hab' mich verdammt gut amüsiert!«

Die Familie Ackers war in Winnipeg prominent genug, und Joe war oft genug in die Stadt gekommen, um den Namen zu kennen.

Viele, sehr viele Gedanken wirbelten auf dem Heimweg in der Limousine umher, aber nicht ein Wort fiel.

Joe kam glücklich durch die Eingangstür zu ihrem Appartement, tappte idiotisch an der Türklinke herum, stolperte drin über die Sessel, tastete sich an der Wand entlang, fiel in den Kleidern aufs Bett und begann in seiner blinden Betrunkenheit unverzüglich zu schnarchen. Ralph versuchte ihn auszukleiden und unter die Dusche zu bringen, aber er konnte nicht, er war müde – so müde.

Viele Stunden ging Ralph in seinem Schlafzimmer auf und nieder. Und hätte man den Flug einer Fliege, die in einem heißen Zimmer kreist, aufgezeichnet – das Bild wäre klarer gewesen als eine Karte seiner Gedankenwege.

Obgleich er Anwalt war und mit allen möglichen Konflikten und mit allen Nuancen der Moral in Berührung kam, war sein persönlicher Maßstab für das Verhalten eines Menschen immer höchst einfach gewesen.

Man war entweder ein guter oder ein schlechter Kerl. Man verliebte sich nicht in die Frauen seiner Freunde. Man war nicht – konnte es einfach nicht sein – anständig und zuverlässig, und sank dennoch nach ein paar Schlucken Alkohol zu Zoten und Schmutzigkeiten herab. Und nun –

Er hatte Joes Anständigkeit bewundert, eine Anständigkeit, der er in solchem Maße bisher noch bei keinem Manne begegnet war. Er hatte ihm unausgesprochen ein Treuegelöbnis abgelegt. Er war, um den Frieden zu erhalten, geflohen, weil er sich davor zu bewahren gesucht hatte, Joes Frau zu lieben.

Und auf diese Flucht hatte er Joes Frau mitgenommen.

Und Joe – ein Mann, von dem zu erwarten war, daß er erst schoß und dann redete – hatte erst voller Schwachheit geredet und dann überhaupt nicht geschossen, er hatte sie beide vom Hungertode, vielleicht vom Waldbrand errettet, und in irgendeinem verwickelten Prozeß, der nicht die geringste Ähnlichkeit mit der klaren Zweiteilung menschlicher Motive zeigte, wie sie in Büchern zu finden ist, hatte er ihm seine Freundschaft zum Ersatz für seine Frau geschenkt! Und endlich, nachdem er sich so als Held erwiesen hatte, mußte er sich in Gesellschaft wie ein polternder Dummkopf benehmen.

Ralph hielt sich den Kopf, all die bewährten Prinzipien, die ihn, wie er glaubte, durch die Schwierigkeiten New Yorks geleitet hatten, waren in einer Blockhütte, in einem Hungerlager und im Salon eines Parvenüs hinfällig und sinnlos geworden.

Aber trotz aller Verwirrungen hielt er zäh an dem Plan fest, daß Joe mit ihm nach New York kommen und dort, da nun sein altes Leben zertrümmert war, in einer neuen Welt Trost finden sollte.

»Meine Freunde haben immer das Richtige – und das Langweilige getan. Armer Joel Kein Wunder, daß ihn dieses Kinoprachthaus heute abend aus dem Häuschen gebracht hat. Ich werde ihm Alverna ersetzen.

»Nur, wer wird mir Alverna ersetzen?

»Und wenn Joe sich nur nicht betrinkt und zum Narren macht!

»Ich sehne mich nach ihr, immer –«


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