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11

In der Zeit zwischen seinem Abgang aus New Haven und seinem Eintritt in St. Louis machte Myron nach einer Woche, die er in Black Thread bei seiner Mutter verbracht hatte, eine Wallfahrt zu den Hotels und Restaurants New Yorks, und mehr als ihn konnte keinen Pilgrim der wirkliche Anblick der Heiligtümer, von denen er sein ganzes Leben lang voll Ehrfurcht hatte reden hören, erbaut haben. Voll Scheu durch Flure schreitend, demütige Blicke auf die Hohenpriester in Gehröcken und die Akolyten mit Messingknöpfen und Affenmützen werfend, besichtigte er das Waldorf Astoria, das Hoffman House, das Holland House, das Fifth Avenue, das Murray Hill, das Savoy, das alte Brevoort, Delmonico, Sherry, Mouquin, Martin und Jack, jene Andachtsstätte für die Nacht zum Tage machende Journalisten, Schauspieler und Politiker … Er war der Dichter, der noch, ohne es recht glauben zu können, wirklich den Boden sieht, den die Meister von Dove Cottage und Stratford und Weimar betreten haben; der Dichter, der, von Andacht umschauert, auf dem englischen Friedhof in Rom vor dem Grab eines Mannes steht, dessen Namen in Wasser geschrieben ward.

Myron stieg in keinem dieser kathedralenhaften Hotels ab; er wohnte im Grand Union, einen Dollar die Nacht, und einmal sah er in der Halle den berühmten Direktor dieses Hotels, den Witzbold Simeon Ford, und stand da, vor sich hinstarrend und ganz dumm vor Bewunderung.

Er hatte den Wunsch, wagte es aber nicht recht, sich den Empfangsherren, den Chefkellnern als Hotelmann vorzustellen. Über einen solchen Vetter vom Lande würden sie ja nur lachen. Aber eines tat er wirklich – und dafür verbrauchte er, abgesehen von einer eisernen Reserve für das Reisegeld und den Pullmanwagen-Zuschlag nach St. Louis, den größten Teil seiner Ersparnisse: er speiste im Waldorf und bei Delmonico, er erblickte und (was bedeutend weniger wichtig war) kostete Pompano à la Potentini, Eierkuchen mit Orangenblütenwasser, Mousseline Waleski, Cuissot de Chevreuil à la Francatelli – lauter Dinge, die er all diese Jahre nur theoretisch und literarisch gekannt hatte, und er trank zum erstenmal in seinem Leben Champagner und eine halbe Flasche Mosel.

Den Kellnern gegenüber war er freundlich, aber anspruchsvoll. Nichts macht einem Kellner so viel Freude, wie in seiner freien Zeit Gast zu sein und die Mietlinge für sich arbeiten zu lassen. Er ist dann wie ein Chirurg, der Gelegenheit bekommt, seinen Zahnarzt zu operieren; und er wird so unerträglich wie ein Autor, der die minderwertigen Werke seiner Rivalen bespricht.

Wenn Myron als praktischer Hotelmann, der seine Arbeit interessant fand, nach New York gegangen war, verließ er es als Fanatiker, der eine heilige Sache in ihr sah. Mißgestimmten und enttäuschten Männern, die ihre Büros langweilig, ihre Frauen aufreizend und ihre Söhne weichköpfig fanden, Chaudfroid de Bécassines – Schnepfen in hellbraunem Gelée – zu servieren, das war ein weihevolles Amt. Allerdings ist zu befürchten, daß Myron nicht über den volkswirtschaftlichen Wert nachdachte, den es hatte, diesen versoffenen und verfressenen, dicken, sich in Geld wälzenden Menschen das gute Chaudfroid oder was sonst immer zu servieren. Er wußte noch nicht – wenn anders er es überhaupt jemals in seinem Leben wirklich wußte – daß es so etwas gab wie Klassenkampf, eine Proletarierklasse, nationalökonomischen Determinismus oder die Theorie der sichtbaren Wertminderung. Das soll nicht eine Lobpreisung Myrons dafür sein, daß er in typischer Dichterweise ganz in seiner Kunst aufging; es soll eine Lücke in seinem sehr lückenhaften Wissen aufweisen.

Er bestieg also, leise vor sich hinpfeifend, den Zug nach St. Louis und dem Großartigen Westen.

 

Die größte Reise in seinem Leben waren die zweiundsiebzig Meilen von New Haven nach New York gewesen. Jetzt, als Vierundzwanzigjähriger, saß er zum erstenmal in einem Speisewagen und einem Pullmanwagen, und er hatte noch niemals einen Aussichtswagen mit seinen Glaswänden, den Lehnstühlen und der verandaartigen Plattform gesehen. Jede Einzelheit der Ausstattung und der Bedienung faszinierte ihn; er war in der glücklichen Lage, alles mit der frischen Erregung eines reisefremden Knaben und gleichzeitig mit der ausgebildeten Beobachtungsgabe eines Mannes zu sehen, dessen Fach es ist, es Reisenden bequem zu machen.

Sein Dichtergemüt bemerkte nicht neue Epitheta oder rhythmische Blütennamen, sondern Kojenlampen, die das Lesen im Bett erleichterten, die Geschicklichkeit des Schaffners, der die Laken so fest machen konnte, daß sie auch vom unruhigsten Schlaflosen nicht durcheinandergewühlt werden konnten, das furnierte Mahagoni- und Rosenholz jener Zeit vor den Eisenbahnwagen aus Stahl und die Zauberei des umfangreichen Menus, das aus winzigen Küchen serviert wurde. Dem Speisewagensteward gegenüber war er nicht so zurückhaltend wie gegenüber den aristokratischen Chefkellnern New Yorks, und er verbrachte einen ganzen Nachmittag mit Untersuchungen des Eisschranks, des Gasherdes, der Miniatur-Abwasch in der reisenden Küche und in kollegialen Gesprächen mit dem Steward und den farbigen Kellnern und Köchen.

Er hatte noch nie Neger aus dem Süden gesehen. Sie entzückten ihn, und den ganzen Nachmittag tauschte er mit seinen Kollegen die ärgsten Klatschgeschichten über unangenehme Gäste aus – Leute, die Maisküchelchen in fünf Minuten fertig gemacht haben wollten, die ihren Kaffee stehen ließen und sich dann darüber beschwerten, daß er nicht heiß sei, die ganz besonders widerwärtig waren und den Versuch machten, zerstreut eine Melodie summend, ohne ihre Rechnung bezahlt zu haben, hinauszugehen.

Solche technische Einzelheiten interessierten ihn mehr als die für ihn neue Landschaft, obgleich sie mehr Eindruck auf ihn machte als auf eine ganze Reisegesellschaft von Schullehrern. Er redete nur weniger davon.

Er bewunderte die Farmen Ohios, Indianas und Illinois', Hunderte von Morgen, die bald im Glanz von jungem Mais und Weizen erstrahlen würden, Felder, einfach riesenhaft für den Neu-Engländer, für den eine Fläche von zwanzig Morgen groß gewesen war.

Er konnte nicht glauben, was der Pullman-Schaffner sagte: daß es in Kansas und Nebraska Felder gebe, die zehnmal so groß seien wie »diese schäbigen kleinen Stückchen Land in Illinois.«

Zum erstenmal, seitdem er von J. Hector Warlock für das Leben als Hotelmann gewonnen worden war, wollte er heraus aus dampfigen Küchen und dunklen Korridoren in die grüne, sonnenbeschienene Welt. »Es müßte schön sein, hier zu leben und überallhin zu reiten – in dieser frischen Luft – meilenweit – ganz frei – keine verfluchten Stadtstraßen, die einen aufhalten – keine brummigen Gäste, für die man sorgen muß«, dachte er; aber sofort kam die Überlegung: »Schreckliche kleine Holzbuden von Hotels in diesen Nestern. Dreckig. Hütten. Was für Aussichten wohl ein Konzern haben würde, der hier gute Hotels hinsetzt – einfaches Essen, aber gut zubereitet?«

So kam er, erregt und abenteuerlich, zum Mississippi und jenseits des Flusses nach St. Louis, der Stätte der Erinnerungen an die Wagenkarawanen der Pionierzeit.

Als er auf dem Bahnhof von Mr. Alexander Monlux, dem Direktor des Pierre Ronsard, abgeholt wurde, merkte Myron, daß Monlux in ihm nicht einen Lehrling aus dem Hinterhaus sah, sondern einen Hotelspezialisten aus dem Osten.

Mr. Monlux kam aus Iowa; er war nie weiter nach dem Osten gekommen als nach Chicago und war der Ansicht, daß jeder Gastwirt, jeder College-Grad und jeder Einspänner mit roten Rädern aus Neu-England besser sein müßte als alle Gastwirte oder akademischen Grade oder Fahrzeuge aus dem Mittelwesten. Er war erst zweiunddreißig Jahre alt. Er gab sich Mühe, die Würde zu wahren, die seiner sehr gehobenen Stellung als Direktor zukam, aber das gelang ihm nie ganz. Myron gegenüber benahm er sich wie der Präsident einer amerikanischen Universität, der einen englischen Autor auf seiner Vortragsreise empfängt.

Myron ließ sich mit allem Pomp begrüßen. »Das ist ein feiner Kerl. Er und ich, wir werden glänzend miteinander auskommen«, überlegte er, während sie höchst luxuriöserweise in einer Autodroschke zum Pierre Ronsard fuhren. (Sowohl in New Haven wie in New York war er nur Straßenbahn und Hochbahn gefahren.)

Als noch keine ganze Woche um war, sagten sie zueinander »Alec« und »Myron«.

Bis vor drei Jahren war Monlux Portier in einem Hotel in Des Moines gewesen. Er war gewandt, zierlich, eifrig, er war ein Freund der Schlagermusik, führte die saubersten Bücher im Westen, und seine Oberlippe schmückte ein kleiner schwarzer Schnurrbart. Er hatte ein Mädchen namens Isdrella, die an der Staatsuniversität war, und noch vor dem Abend hatte er Myron ihr Bild gezeigt. Mit noch mehr Stolz aber zeigte er Myron einen Ausschnitt aus der Hotel Era – die Presse würdigte ihn zum erstenmal als Berühmtheit des Landes: »Alec Monlux, zweiter Direktor am Swilleby in Des Moines, geht als Direktor an das Ronsard bei der Großen Ausstellung. Alec ist unter den Rittern des Händedrucks für seinen Männerdruck bekannt.«

Alec Monlux sah wohl vielverheißend aus, aber das Hotel Pierre Ronsard war entsetzlich.

Es war lediglich für die Ausstellung gebaut. Es sollte sechs Monate halten, aber die Baufirma war allzu optimistisch gewesen. Es hatte Zimmer für sechshundertfünfzig von den Prärien kommende Schaulustige, und die Fußböden begannen ausnahmslos sanft zu schaukeln, wenn sie von einem fünfzig Pfund wiegenden Kind betreten wurden. Es war aus alt gekauften Brettern gebaut, rot und gelb gestrichen und hatte ein Türmchen, dessen Dach aus leuchtend grünem Blech war und ein Ziegeldach vortäuschen sollte.

»'ne richtige Scheune, was?« sagte Monlux.

Die beiden jungen Fachleute grinsten.

Noch scheunenhafter war aber die gewaltige, zweihundert Fuß lange Halle, mit ihren endlosen Reihen von Rohrschaukelstühlen und zahllosen zierlichen, mit Blumenmustern geschmückten Spucknäpfen. Später, im Frühjahr und im Sommer, wenn die vergnügten, transpirierenden Touristen hereinströmten, war der Fußboden der Halle übersät mit hereingeschlepptem Straßenschmutz, Zigarrenstummeln, zerknautschten Zeitungen und Kaugummihüllen und wurde von unzureichenden Pagen müde und verdrossen gesäubert. Das Pult, minderwertiges Kiefernholz mit roter und gelber Farbe überstrichen, war groß und wirkte mit seinen vier Portiers und dem zweiten Direktor sehr imposant, und noch riesenhaftere Dimensionen wiesen der Zigarren- und der Konfektverkaufsstand auf, beide auf das sinnreichste dekoriert mit Flittergold und Papierrosen. Später wurde dort ein ausgezeichnetes Geschäft gemacht mit billigen Pralinés, billigen Zigarren, Ansichtskarten und schönen Souvenirs an die Ausstellung – Löffel, Aschbecher, gläserne Papierbeschwerer und kleine Statuetten von munteren Negern, die Banner mit der Inschrift »Ich war in St. Lou, Boss« trugen. Und in ganzen Haufen wurde der Schlager des Tages verkauft:

Auf Wiedersehn in St. Louis, in St. Louis,
Bei der Messe sehn wir uns.

An den kanariengelben, mit Rotkiefer getäfelten Wänden der Halle hingen auf Fahnenstoff gedruckte Nachahmungen mittelalterlicher französischer Banner. In einer Ecke stand sogar eine Blechrüstung, die aus einem Theaterkostüm-Geschäft stammte. Die Decke war mit feuersicher imprägnierter grober Leinwand bespannt, die in einem wilden Sonnenuntergangsrot gefärbt war.

Auch in den Zimmern waren die Wände getäfelt, aber in bescheidenerem Grau, und wenn im entferntesten Zimmer im vierten Stockwerk jemand nieste, war es im Souterrain zu hören. Als Myron kam, war das Hotel noch nicht ganz fertig; die Zimmerleute nagelten noch in verzweifelter Hast Fußbodenbretter auf der langen Veranda fest, und keuchende Möbelpacker trugen noch die alten Möbel, die die Elphinstone Hotel- und Restaurant-Gesellschaft bei einer Auktion erstanden hatte, über die Treppen hinauf. Im März war das Hotel neu, aber schon nach einem Monat fingen die Treppen (Fahrstühle gab es nicht) an, sich zu senken und zu knarren, begannen die Wände immer weiter werdende Risse zwischen den einzelnen Wandpanelen zu zeigen.

Aber es war Weltausstellungszeit, Ferienzeit, die Farmer, die als Gäste kamen, hatten für ihre Zimmer nur eineinhalb oder zwei Dollar zu zahlen, und an den Korridoren lagen richtige städtische Badezimmer mit imitierten Kacheln aus Blech. Sie alle, Gäste und »Personal«, hatten das Gefühl, es sei etwas Festliches wie etwa ein Kampieren im Freien, und es kam selten zu Beschwerden, selbst wenn der Kessel leck war und es keine Suppe gab, oder wenn es beim Sonntagsessen an Stelle der angekündigten Escalottes Schweinekoteletts gab. Jeden Abend wurde im Speisesaal eine Fläche zum Tanzen frei gemacht, zu dem eine echte, fünf Mann starke Negerkapelle spielte. Die Halle war voll hin und her laufender, brüllender Kinder, und Myron ließ sich dadurch nicht stören … denn er brauchte seinen Dienst erst anzutreten, wenn die Kinder schon zu Bett gebracht waren. Sie war auch erfüllt von herzhaftem ländlichem Lachen und dem zufriedenen Geklatsch frisch geschlossener Bekanntschaften – Ehepaare, die herausfanden, daß der Mann am Tisch nebenan im Speisesaal der Vetter eines ausgezeichneten Freundes eines Nachbarn des Schwiegersohns in Keokuk sei!

Myron fühlte sich wohler als jemals im Connecticut Inn. Und er lernte; er lernte wieder; er lernte »Kundendienst«.

Die höheren Professoren der Wissenschaft der Hotelführung verkündeten im Jahre 1904 bereits die These, ein Hotelportier habe zu sein, was in reizender Weise »Grüssemil« genannt wurde; er habe jeden Gast nicht nur mit Nahrung und Quartier zu versehen, sondern auch mit einem metaphysischen Segen, der »Kundendienst« hieß; er habe gleichzeitig das kleine Brüderchen und der freundliche Onkel jedes Menschen zu sein, der ein Zimmer nehme – er habe sie bei ihrem Namen zu nennen (was zur Folge hatte, daß zum Beispiel ein Mr. Worthingby Bones achtzehn- bis zwanzigmal im Tag damit geärgert wurde, daß er zärtlich als »Mr. Worthington« begrüßt wurde), ihnen zu raten, in welches Theater sie gehen sollten, ihre Briefe einzeln zur Post bringen zu lassen, sich um ihre Mädchen zu kümmern und sie voll zarter Aufmerksamkeit nach ihrer Familie, nach Krankheiten, Wetter und Geschäftsbedingungen daheim zu befragen.

Myron besaß in geringerem Maße als seine Rivalen die Gabe, eine Herzlichkeit vorzuspielen, von der er nichts empfand. Er hatte wohl die Menschen ganz gern, insbesondere Kinder und müde alte Leute, er war anspruchsvollen, unangenehmen Gästen gegenüber geduldig, führte rasch Bestellungen aus und vergaß selten eine, aber es behinderte ihn sehr und konnte ihm vielleicht in seiner Karriere sogar gefährlich werden, daß er niemals imstande war, den Gästen die Füße zu lecken, wenn »Füße« tatsächlich die richtige anatomische Bezeichnung in der Wissenschaft des Kundendienstes sein sollte.

Aber in der Hast und Unruhe wurde ihm dieser Mangel nicht bewußt. So vergnügt und heiter dieser Jahrmarkt auch war, die Hotelangestellten hatten mehr als genug zu tun. Abgesehen von zwei Pagen und einem Hausdiener, der auch als Türsteher fungierte, wenn er zufällig daran dachte, war Myron in der Nacht allein. Die eilig installierten Leitungen waren anscheinend mit Kleister miteinander verbunden und schienen mit Baumwollfäden an den Wänden zu hängen, jedenfalls war immer etwas kaputt. Manchmal konnte Myron einen Maschinisten aus dem Souterrain bekommen, der dann eine Toilette in Ordnung brachte, die überfloß oder die überhaupt nicht funktionierte, aber meistens mußte er mit einem Pagen, wenn noch einer frei war, hinauflaufen und selbst versuchen, es in Ordnung zu bringen, nachdem er noch dem Hausdiener, der viel zu dumm war, um mit einer so schwierigen und unerfreulichen Aufgabe betraut zu werden, zugeschrien hatte: »Wenn jemand kommt und ein Zimmer haben will, sagen Sie ihm, er soll Platz nehmen und warten – verstehen Sie, Tyrone – Platz nehmen – ach du lieber Himmel!« …

»Das wird nicht gehen«, dachte Myron schuldbewußt, als das Hotel eine Woche lang offen war. »Ich bin ja völlig ahnungslos. Ich verstehe nichts von Installation.«

Dann stand er am Nachmittag eine Stunde früher auf, als er eigentlich Lust hatte, und wich dem Hotelinstallateur nicht von der Seite; er sah ihm zu, fragte ihn aus, lernte mit seinem Handwerkszeug umgehen, und mit feierlichem Ernst ließ er sich noch eines seiner ewigen Handbücher kommen, eines über Installationen auf allen Gebieten, von einem Meisterinstallateur, mit einem vollständigen Anhang über die mathematische Berechnung ausreichender Heizung für diejenigen, die sowohl Installations- wie Heizungssachverständige werden wollten. Innerhalb eines Monats war er so weit, daß er von so pikanten Angelegenheiten wie verstopften Ausgüssen, Dichtungen an Wasserleitungshähnen und der richtigen Temperatur eines Lötkolbens mehr verstand als der Hotelinstallateur selbst, und spät in der Nacht vergnügte er sich damit, den Plan einer richtigen Installationsanlage für das Pierre Ronsard zu entwerfen – als ob es ein Hotel wäre und nicht eine zu groß gewordene Teerbude.

Einen Monat später hatte er noch bedeutend größere Erfolge als seine Installationskünste erreicht. Er war imstande gewesen, in den Augen von Alec Monlux seine Stellung als überlegener Mann aus dem Osten zu wahren. Monlux hatte ihn den übrigen Mitgliedern des Personals mit großer Geste vorgestellt, und an freien Abenden gingen die beiden miteinander in Biergärten, um das gute St. Louiser Bier zu trinken, und gelegentlich auch, um sich einen vergnügten Abend mit ein paar Stenotypistinnen zu machen. Sie gingen miteinander auf die Ausstellung, um das Große Bassin und den Hecht zu bewundern – vor allem jedoch den von E. M. Statler gebauten Inside Inn, der, obwohl er gleichfalls nur für die Dauer der Ausstellung gebaut war, mit seinen 2257 Zimmern das größte bisher bekannte Hotel war … Sehr erbaut waren sie auch, als sie unter den anderen Hotels das »Christliche Streben« und das »Epworth« entdeckten. Man schrieb das Jahr 1904, der liebe Gott und William Jennings Bryan waren noch am Leben und populär.

Aus seiner Freundschaft mit dem Direktor und der vom ganzen Personal geteilten Überzeugung, er sei ein ganz hervorragender Fachmann als Nachtportier, schöpfte Myron so viel Selbstvertrauen, wie er noch nie in seinem Leben besessen hatte. Er vergaß seine Bararbeit im American House und seine Pagenzeit im Fandango Inn, als wären es komische Zwischenfälle im Leben eines anderen – eines Menschen, den er einmal gekannt, aber aus den Augen verloren hatte.

Das Personal des Pierre Ronsard war in solcher Hast zusammengestellt worden, daß sich für Ehrgeizige die Möglichkeit bot, rasch Karriere zu machen. Bald half Myron dem ersten Buchhalter an stillen Abenden, und als der zweite Buchhalter überanstrengt seinen Posten aufgab, war Myron unter Tags zweiter Buchhalter mit erhöhtem Gehalt und, zum erstenmal in seinem Leben, in einem Privatbüro für sich ganz allein.

Es war nichts Besonderes. Ein Holzverschlag, drei mal drei Meter, erfüllt vom Lärm der Rechenmaschinen und Schreibmaschinen im gemeinsamen Kontor draußen, möbliert mit einem Schreibpult, Aktenschränken und zwei Stühlen, Aussicht auf einen Kohlenmeiler und eine Eisschneidemaschine. Für Myron aber war es ein Thronsaal.

Er blieb jeden Abend lange da, um seine Rechnungen fertig zu machen, und unter Tags sprang er rasch hinaus, um vorn am Empfangspult auszuhelfen. Eines Nachmittags suchte er gemeinsam mit Alec Monlux, der gleichfalls hinter dem Pult war, mit einer erhitzten und nervösen Menschenmenge fertig zu werden, als Alec plötzlich einen Seufzer ausstieß und flüsterte: »Du lieber Himmel! Da ist ja der Alte selber! Ich dachte, der ist in New York! Hatte keine Ahnung, daß er überhaupt mal herkommt!«

»Ha?« fragte Myron.

»Der Alte! Mark Elphinstone! Da, der Mops, der auf uns zukommt! Präsident der Gesellschaft – neun Hotels, außer der alten Scheune da, gehören ihr! … Ja, Mr. Elphinstone! Ich hatte ja keine Ahnung davon, daß Sie kommen! Jedenfalls ist es mir eine kolossale Ehre, Sie begrüßen zu dürfen! Warum haben Sie uns nicht verständigt, damit wir Sie an der Bahn abholen und ein Appartement für Sie bereithalten können? Sie wissen doch, wir haben zwei hier!«

Mr. Mark Elphinstones Name hat in der Geschichte der amerikanischen Hotelwelt von 1900 bis 1933 einen fast ebenso hohen Rang wie die Namen von Ellsworth M. Statler, John McEntee Bowman und Lucius Boomer – Kardinälen, Dekanen, Pulitzerpreis-Gewinnern der Hotelwelt. Er sah keineswegs gebieterisch aus; er war kurz, vierschrötig, hatte gestutztes, sandfarbenes Haar und Sommersprossen an Hals und Handgelenken, aber er stand fest da wie ein Mann, der gewohnt ist, alles in seinem Umkreis zu beherrschen, er gab seine Befehle in kurzen Belltönen, und später sah Myron ihn in seinem New-Yorker Büro, die kurzen Finger zwischen zwei Westenknöpfe gesteckt, in schöner Pose direkt unter einem Napoleonbild.

Jetzt bellte er:

»Appartement? Hier? In solchen Hotels steige ich nie ab, Monlux. Scheußlich. Ich bin im Planters. Die Bude habe ich noch nie gesehen. Scheußlich. Ihr wart tüchtig. Habt Geld für uns verdient. Ich will mich bloß mal umsehen. Will euch beide sprechen, den zweiten Direktor und die Portiers. Die Buchhalter. Kassierer. Den Ökonomen. Haushälterin. Chefkellner. Küchenchef. Ersten Pagen. Aber erst, wenn ich überall meine Nase hineingesteckt habe. Sie borgen mir Ihr Büro. Jeder kriegt fünf Minuten. Sie fünfzehn. Halten Sie alle bereit, pünktlich auf die Sekunde. Ich fange um drei mit Ihnen an. Dann die andern. Direkt anschließend. So. Drei Uhr. Pünktlich. Morgen früh fahre ich wahrscheinlich nach New York. Also. Pünktlich!«

 

»Der erste Ia-Boss, den ich zu sehen gekriegt hab. Der versteht's. Das ist ja ne Dynamomaschine«, sagte Myron zu Alec Monlux.

»Das ist er, weiß Gott«, antwortete Monlux. »Er ist der größte von allen. Die Gesellschaft hat ein paar ziemlich schäbige Hotels wie unseres da, und das in Florida, Tippecanoe Lodge, ist ein Dreckloch, glaub ich, aber unser New-Yorker Hotel, das Westward Ho, ist ein prima Haus, und dann haben wir noch anständige Läden in Buffalo und Hartford und Worcester und Akron und Scranton, und dann gehört uns der Lunchstuben-Konzern in New Jersey und Pennsylvania. Elphinstone persönlich! Es muß großartig sein, so ein wirklich bedeutender Mann zu sein!«

 

Als Myron in Monlux' Privatbüro zu seiner Audienz mit dem Napoleon der Gastwirte zugelassen wurde, stand Mark Elphinstone am Schreibtisch, die linke Hand aufgestützt, mit gekrümmten Fingern ausgebreitet wie die Wurzeln eines indischen Feigenbaumes, die rechte Hand parat für Rednergesten. Ein äußerst beflissener Privatsekretär mit ausdrucksloser Miene, der als Beleuchtungskörper am Dynamo Elphinstone figurierte, saß am Schreibtisch und meldete Ferngespräche nach New York (und nachher auch nach Worcester und nach Trenton) an. Weder Myron noch Alec Monlux wußten recht, wie der Sekretär hereingekommen war. In das Hotel hatte man ihn nicht gehen sehen. Er war eben da. Das war auch nicht anders zu erwarten. Er hatte Augengläser, schmale Lippen und ein leises Organ, das man immer verstand.

Eine Bewegung mit seiner freien Hand machend, kommandierte Elphinstone Myron: »Setzen Sie sich. Nein, ich bleibe stehen. Also, junger Mann« (Myron erschauerte), »Sie scheinen Nachtportier zu sein, Tagportier, Buchhalter – oder Rechnungsführer, wie die Herren ihre komische Branche jetzt lieber nennen – Installateur, Kellner und Koch. Anscheinend arbeiten Sie ununterbrochen. Was ist da los? Was steckt dahinter? Was für Laster verbergen Sie? Es ist nicht normal, ununterbrochen zu arbeiten. Ich tu es. Aber ich bin auch nicht normal. Mich frißt ein idiotischer Ehrgeiz auf. Also, was ist das Laster, das Sie zu verstecken suchen? Saufen? Rauschgifte? Weiber? Weiber, was! Großer hübscher Bursche wie Sie?«

»Nein.«

»Also, spielen? Aha, ja, ein bißchen spielen, was? Macht Spaß, zuzusehen, wie die Pferdchen laufen, oder mit einem Full House dazusitzen und zuzusehen, wie einer mit einem Flush zu bluffen versucht, was? O ja, macht Spaß!«

»Ich spiele nie Karten, höchstens zweimal im Jahr, oder mal Patience legen, wenn ich Nachtdienst hab und schläfrig werde.«

»Zum Teufel, was steckt also dahinter, was ist los mit Ihnen? Ununterbrochen arbeiten! Unglaublich!«

»Es wird wohl dasselbe sein wie bei Ihnen. Ehrgeiz. Ich will vorwärts kommen. Ich möchte alles lernen, was es in der Hotelführung gibt.«

»Das werden Sie nie! Sie lernen ein Hotel mit fünfhundert Betten leiten, und dann setzt man Sie in ein Ungeheuer mit tausend Zimmern, und irgendein dreißig Jahre alter Bengel zeigt Ihnen, daß Sie altmodisch sind und keine Ahnung mehr haben – und er zeigt es Ihnen richtig, weiß Gott! Außer der Liebe nützt sich nichts so rasch ab wie ein »führendes Hotel«. Ehrgeiz ist es also? Ich wußt es ja – ich wußte, daß Sie irgendein Laster haben, und Sie haben sich noch dazu aus der ganzen reizenden Auslese das Böseste ausgesucht! Ich sehe schon, wie Sie eines Tages über mich hinweggehen. Na – – Sie ziehen sich ganz gut an. Hübsches Grau. Ich würde die Krawatte zu dem Anzug mit einer eine Idee dunkleren Nuance Blau nehmen. Was machen Sie im Herbst, wenn die Bruchbude da schließt?«

»Ich weiß noch nicht.«

»Haben Sie viele Angebote? Bei anderen Gesellschaften?«

»Gar nichts.«

»Hm. Aufrichtig und ehrgeizig. Na, ich werde allmählich reif. Wird Zeit, daß ein junger Marschall Ney wie Sie mich vom Baum pflückt. Haben Sie Lust, in der nächsten Saison nach Florida zu gehen, Tippecanoe Lodge, zwischen St. Augustine und Daytona, als zweiter Direktor. Scheußliche Bude. Hübsche Gegend, aber minderwertiges Hotel. Nicht viel besser als das da. Zweiter Direktor. Fünfzehn in der Woche mehr, als Sie jetzt hier kriegen, gleichgültig, wieviel das ist, wenn Sie überhaupt was kriegen. Wollen Sie?«

»Ja, ich – –«

»Erledigt. Melden Sie sich dort am 15. November. Der Direktor heißt Fred Barrow. Sie melden sich bei ihm. Mich brauchen Sie nicht zu behelligen. Gar nicht notwendig. Brauchen mich nicht zu behelligen. Sie melden sich einfach bei Barrow. Hobbs!« (Zu dem beflissenen Sekretär.) »Notieren Sie das – notieren Sie das. Weagle hier Tippecanoe als zweiter Direktor engagiert. Stellen Sie sein Gehalt hier fest. Fünfzehn mehr in der Woche. Schicken Sie ihm einen Bestätigungsbrief, wenn wir wieder in New York sind. Und benachrichtigen Sie Barrow. Notieren Sie das auch. So. Guten Morgen, junger Mann.«

Drei Meter groß, ging Myron hinaus. Er hatte das Büro als Hauptmann betreten; er kam heraus als Oberst, den Majors- und Oberstleutnants-Rang des Tagesportiers und ersten Tagesportiers hatte er übersprungen. Er war, zauberhafter Titel, richtiger zweiter Direktor! Was er für Mark Elphinstone empfand, war eine Summe seiner Gefühle für seine Mutter, J. Hector Warlock, Miss Absolom, Julia Lambkin, Mr. Coram vom Hotel Zum Adler, Alec Monlux und Bruder Ora – das heißt, seiner Gefühle für Ora an den seltenen Tagen, an denen Ora erträglich war.

 

Im letzten Monat der Saison, als diese bereits hochbetagte Bretterbude in aller Stille zusammenzufallen begann, wurde das Personal des Pierre Ronsard ein wenig hysterisch. Die Treppe zum vierten Stockwerk gab nach, das Stockwerk wurde ganz geschlossen. Die Hälfte der Badezimmer funktionierte nicht mehr. Es brauchte bloß dichter Nebel zu kommen, und es rann durch das Dach herein. Die Papierrosen am Konfekt- und am Souvenir-Stand bekamen, wie es so schön in den Geschichten heißt, den kalten Atem des Herbstes zu spüren. Die lange Veranda senkte sich so sehr, daß sich ein wunderbarer Abhang ergab, über den brüllende Kinder auf quiekenden und knarrenden Rollschuhen hinuntersegelten. Der Chefkellner ging, und es war schon zu spät, einen neuen einzustellen: sein Dienst wurde manchmal vom Ökonomen versehen, manchmal von Myron und manchmal von Alec Monlux, was zur Folge hatte, daß Ordnung und Zucht in der Kellnerbelegschaft litten. Umgeben von diesen Zeugnissen menschlicher Sterblichkeit brachte das Personal es nicht mehr zuwege, mit dem nötigen Ernst den höchsten Zweck des Menschen, die Jagd nach Dollars, zu erfüllen. Monlux kletterte von seiner Würde herunter – ein großer Abstieg war das ohnedies nicht – und Personal und Gäste schwatzten, lachten, tanzten, spielten einander Possen; der erste Page hatte selbst vor dem jüngsten seiner Untergebenen keine Geheimnisse, die Hausdiener gaben es ganz offen zu, wenn sie so untüchtig gewesen waren, für das Herunterbringen eines schweren Koffers statt fünfundzwanzig nur zehn Cent Trinkgeld zu bekommen, der hochmütige französische Küchenchef gestand, daß er niemals in Paris gewesen wäre, sondern aus Quebec stammte, der ernste und stotternde Ökonom steckte dem Hotelarzt – der fünfundzwanzig Jahre alt, sehr akademisch und sehr seriös war – eine Klette in den Hals, und der Prophet und Dichter des Gastwirtgewerbes, Myron Weagle, entdeckte mit einiger Verwunderung, daß seine Kunst nicht nur fromm sein konnte, sondern auch heiter.

Mark Elphinstones intensives Fragen nach seinen geheimen Lastern hatte ihn beunruhigt. Hinter dem bißchen Spott hatte er eine ganz ernsthafte Kritik an seiner Bravheit, seiner Nüchternheit und seinem Fleiß gefühlt. Das wies weit in die Vergangenheit zurück auf Oras häufige Klagen über seine phantasielose Herrschsucht, auf Miss Absoloms Warnung hinsichtlich des Pharisäertums und auf die Empörung des ältesten Pagen im Fandango, als er sich geweigert hatte, das Hotel um seinen Whiskyprofit zu bestehlen. Er machte sich Sorgen. War er ein Pharisäer? Dann mußte etwas getan werden. Am ersten freien Abend, den er nach Elphinstones Besuch hatte, ging er also nicht mit Alec Monlux aus, sondern mit einem leichtfertigen Kollegen, betrank sich ernsthaft und energisch mit Cocktails und Whisky und ging dann mit einer Dame »zweifelhaften Rufes« – das heißt, daß über ihren Ruf nicht der geringste Zweifel bestand – nach Hause. Den ganzen nächsten Tag fühlte er sich elend.

»Verflucht, ich kann wohl eben einfach kein lustiger Kerl sein, ebensowenig wie ein Dichter mit Phantasie wie Ora«, stöhnte er in dem Nebel und Dunst, der seinen Kopf und die Welt erfüllte. »Es wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als auch weiter ein Arbeitstier zu sein.«

Es gibt keine traurigere, keine weniger sympathische Figur als einen jungen Mann, der so gehemmt ist, daß er keinen Spaß daran finden kann, vor die Hunde zu gehen, und darüber tragisch wird. Aber so war es eben, wenn man sich auch in Hotelkreisen noch heute erzählt, daß an dem Tag, an dem das Pierre Ronsard für immer geschlossen wurde, Myron inmitten aller Verwüstung und fallenden Mörtels in Gesellschaft der Haushälterin, einer ehrwürdigen presbyterianischen Dame, durch die ganze Halle einen Matrosentanz tanzte, ihr nachher einen herzhaften Kuß versetzte und sie dazu verführte, einen Gin Rickey zu trinken und Alec Monlux, der zu einem Hotel in Kansas City fuhr, ein Schildchen »Frisch verheiratet« an den Koffer zu binden. Nicht allgemein bekannt aber ist, daß er am nächsten Tag, als die Arbeiter auf dem Dach des Pierre Ronsard bereits mit dem Einreißen begonnen hatten, zurückkehrte und, auf einer sehr kleinen Kiste vor einer sehr großen Kiste sitzend, für den ersten Buchhalter, der schon am Tag vorher abgereist war, den Schlußbericht für die Elphinstone Zentrale machte, und daß er seinen hoffnungslosen Mangel an Romantik bewies, indem er über seinen Formularen pfiff und überhaupt vergnügter aussah als am Abend bei seinem Tanz in der Halle mit Hauptbuchblättern im Haar.

 

Kurz bevor das Pierre Ronsard schloß, hatte Myron einen Brief von Ora bekommen und gleichzeitig ein Exemplar jenes weit verbreiteten Magazins, des Yankee Doodle, welches Oras erste beträchtliche belletristische Arbeit enthielt, eine lange Kurzgeschichte, oder vielleicht war es auch eine kurze lange Geschichte, mit dem Titel »Navajo-Mond«. Sie handelte von den munteren Abenteuern Heck O'Gorras, eines, wie es schien, mörderisch veranlagten, aber im übrigen freundlichen und geistvollen Cowboys, der auf einer Ranch in Arizona oder irgendwo in der Nähe Arizonas zu Hause war. Heck war wohl ein Held, so fand Myron, aber trotzdem ein Mann mit zweifelhaften Gewohnheiten. Er trank, spielte, schlug den Gesetzeshütern Zähne aus und bediente sich bei allen Gelegenheiten häßlicher Redensarten wie: »Was, du tolpatschiger, schlappohriger Hundsfott« – das hatte Ora von Shakespeare – »Du verächtlicher Schurke«, anscheinend ein furchtbares Schimpfwort westlich vom Mississippi, und »Was, du unglückseliger Zwischenfall, ich schlag dir deine Sprachwerkzeuge ein – ich hau dir eine herunter, daß dir die Ohren am Kinn sitzen und der Bart hinter den Ohren – ich treibe dir deine Medulla oblongata direkt durch den Sattelknopf, du verlogener Scheunenanzünder und Waisenentführer, du!« Niemals aber wurden die Seiten des Yankee Doodle beschmutzt mit so entsetzlichen Worten wie »Teufel« oder »verdammt« oder »Bastard«. Die Autoren schrieben bloß »T–l«, so daß keiner der Reisenden, Mechaniker, Eisenbahner und Ostheopathen, die es lasen, hinter die Bedeutung dieses schlechten Wortes kommen, und so dem T–l in die Arme geführt werden konnten.

»Navajo-Mond« hatte sehr viel Lokalkolorit; es enthielt Worte wie »Riata« und »Arroyo« und »Mesa« und »Judasbaum« und »schmutziger Mexikaner« und »Manzanita« und »Proviantwagen« und die lebhaftesten Schilderungen von schimmernden Berggipfeln und fröhlichen Stunden beim Banjo im Schlafhaus. Auch ein richtiges Mädel aus dem Westen war da, Heck O'Gorras Mädel, sie trug einen kurzen Wildlederrock mit Fransen, der mit gefärbten Stachelschweinstacheln bestickt war, und eine silberbeschlagene sechsschüssige Zwölfmillimeter-Büchse. Sie war ganz verteufelt westlich. Sie war ein Hauch aus den grenzenlosen Savannen Nevadas. Aber sie war auch ein Hauch von den Gletschern Arizonas und fand alle Leute aus dem Osten lausig – allerdings gebrauchte Ora im Jahre 1904 und im Yankee Doodle kein so obszönes Wort wie »lausig«, sondern drückte es folgendermaßen aus: »aufgeblasene Greenhorns, die nicht einen Präriehund von einer blöden Remontoire-Uhr unterscheiden können.«

Myron wunderte sich. Es erschien ihm ganz außerordentlich, denn er wußte, daß Ora niemals weiter westlich als in Poughkeepsie gewesen war. Er hatte allerdings den Wunsch, daß Ora, mit seiner erstklassigen, feinen Bildung – er las immer Gedichte und gepflegte englische Romanciers wie Mrs. Humphry Ward – sich elegantere Themen suchte, zum Beispiel Harvard-Leute an der Riviera oder Yale-Leute, die Magnolienblüten von Mädchen auf Plantagen im Süden kennenlernen. Sein Gratulationsbrief an Ora endete mit dem Satz: »Du mußt einmal mehr von den Hotels kennenlernen. Von den erfahrenen Leuten in der Hotelbranche könnte dir mancher eine Menge Material über interessante Charaktere usw. unter Gästen geben, mit dem du dann sicher einen Best-seller schreiben würdest.«

Myron mußte »Navajo-Mond« ein zweites Mal lesen, um zu merken, daß die Erzählung in moralischer Hinsicht unangenehm oberflächlich, und daß mit dem ungehobelten Tavernenwirt höchstwahrscheinlich kein anderer als er selbst gemeint war.

Dann faßte er den Entschluß, seinen Urlaub, vom zehnten Oktober, dem Tag, an dem das Pierre Ronsard schloß, bis zum fünfzehnten November, dem Termin, zu dem er in der Tippecanoe Lodge antreten mußte, nicht daheim zu verbringen.

Er hatte zwar das Verlangen, seine Mutter zu sehen, aber wenn er sich vorstellte, wie verschlampt sein Vater aussah, mit welchem Spott Ora ihn empfangen und mit welcher Kälte Julia, Herbert und Trumbull Lambkin ihn behandeln würden, verging ihm alle Lust. Es kommt nur in Romanen vor, daß fleißige junge Männer, die fern von ihrer lieben Heimat sind, einen großen Teil ihrer Zeit damit verbringen, daß sie sich danach sehnen, die lieben, freundlichen, ausdruckslosen Gesichter der Freunde ihrer Kindheit und jedes geliebte Fleckchen ihrer kindlichen Spiele wiederzusehen.

Im nächsten Frühjahr aber wollte er seine Mutter nach New York kommen lassen und ihr die Stadt, die sie noch nie gesehen hatte, zeigen. (Diesen Entschluß führte er später auch wirklich aus!)

Er verbrachte seinen freien Monat wieder mit einer Wallfahrt zu berühmten Hotels, er fuhr im Zickzack nach Norden und nach Süden, nach Toledo, Detroit, Columbus, Cleveland, Pittsburgh und Richmond. Nun, da er richtiger zweiter Direktor und weniger schüchtern war, lernte er viele Hotelleute kennen; Menschen im Mittelwesten und im Süden, die heiterer und freundlicher waren als die soliden, aber übervorsichtigen Hoteldirektoren Neu-Englands und sich weniger schwer dazu entschlossen, Experimente mit allen Neuerungen, von Zimmertelephonen bis zu zehnstöckigen Hochhäusern in Städten mit fünfzigtausend Einwohnern, zu machen. Großer Eifer erfüllte ihn, als er die Prärien durchfuhr und in aufblühende Städte und geschäftige Gasthöfe kam. Er lernte auch viele alte und berühmte Hotels kennen. Leider stand es vielen jener berühmten Etablissements, in denen er unzerstörbare Denkmäler sah, bevor, noch vor dem Jahre 1930 niedergerissen oder, noch schlimmer, zu Logierhäusern degradiert zu werden – eine Degradation, nicht geringer als die eines stattlichen und stolzen alten Herrn, der schmutzige Wäsche tragen muß! Die Konkurrenz der künftigen vierzigstöckigen Riesenhäuser war für den Myron des Jahres 1904, der voll Behagen glaubte, das »Allermodernste im Hotelbau« gesehen zu haben, ebenso unvorstellbar wie für den Hotelier von 1933 die Art von Hotels, die im Jahre 1962 dominieren wird – ob das nun Häuser mit hundertfünfzig Stockwerken und zehntausend Zimmern sein werden oder, in einer zertrümmerten Zivilisation, wieder kleine, schmutzige Gasthöfe.

Er geriet in Künstlerekstase im alten Galt House in Louisville, im Burnet House in Cincinnati und in Chicago in dem vielbesungenen Palmer House, dem Sherman House, dem Briggs House, dem Bismarck und im Chicago Beach. Im Grand Pacific in Chicago dachte er daran, wie er an den berühmten Jagdessen John B. Drakes Kritik geübt hatte, die tatsächlich gerade da serviert worden waren, wo er jetzt stand, ein weit herumgekommener Junge aus den abgelegenen Connecticut-Bergen! In Pittsburgh suchte er das Monongahela auf, das im Jahre 1841 erbaut worden war und 1857 die erste republikanische Nationalversammlung beherbergt hatte. Er hatte den Eindruck, etwas Prähistorisches zu sehen; er starrte es mit offenem Munde an. 1841! Wohl, in Black Thread Center gab es einige Häuser, die schon vor 1790 standen, aber das waren keine Hotels. Das Alter ist wie die Tugend etwas Relatives; der Antiquitätensammler, der über eine Pfeilspitze außer sich gerät, weil sie aus dem Jahre 1400 stammen muß, bleibt höchstwahrscheinlich einem Bergfelsen gegenüber gleichgültig, der seit ungezählten Millionen Jahren auf demselben Fleck steht. Die alten Farmhäuser in Black Thread bedeuteten für Myron bloß stets gleichbleibende Farmer in geflickten Hosen, während das Monongahela in ihm erbauliche, bunte Bilder heraufbeschwor von Damen in Krinolinen und Gastwirten mit großen, gelockten Bärten in blauen Schwalbenschwanzröcken mit funkelnden Messingknöpfen; er sah Bürgerkriegsgenerale die Freitreppe heraufreiten und hörte das langgezogene, schmerzliche Wehklagen bei der Verbreitung der Nachricht von Lincolns Ermordung.

Er machte auch noch einen Umweg, um eine Stunde der Andacht in der 1796 erbauten Newcomb Tavern in Dayton zu verbringen, aber da sie nie das gewesen war, was er bei sich als modernes Hotel bezeichnete, war sein Interesse nur neffenhaft freundlich.

In Philadelphia sah er das Continental, das Lafayette und das Girard House; in Baltimore das aus dem Jahre 1835 stammende Eutaw House, das noch verehrungswürdiger war als das Monongahela. Aber gerade damals, im Februar 1904, hatte die Feuersbrunst in Baltimore jene vornehmen Lokale zerstört, in denen berühmte Männer berühmte Austern gegessen hatten, das Carrolton, das Howard und das Maltby, und Myron trabte voll Ehrfurcht zu ihren Ruinen, um an ihnen zu trauern. Wenn es wirklich möglich gewesen wäre und wenn er daran gedacht hätte, hätte er an diesen Stätten eine Harfe mit Trauerflor aufgehängt.

Sein wahres Mekka war Washington. Wenig Zeit hatte er oder glaubte er zu haben für das Capitol, das Weiße Haus, das Washington-Denkmal und Mount Vernon, und es interessierte ihn nicht sehr, daß gerade während seiner Anwesenheit in Washington Roosevelt I. Mr. Parker als Kandidat für die Präsidentschaft schlug. Aber er hatte sehr viel Zeit für ein eifriges Studieren des Willard, des Shoreham, des Ebbitt, des Riggs, des Raleigh, des Arlington, wo Mark Hanna während seiner Regierungszeit residiert hatte, und des 1827 erbauten National, wo Henry Clay und J. Wilks Booth gewohnt hatten.

So sah die Reise aus, die Myron, stolz wie ein Sammler, der mit einem Rembrandt aus Europa zurückkehrt, nach Florida machte.

Wo ein gewöhnlicher Reisender an allen diesen Hotels, ob sie nun neu und hypermodern oder übersättigt mit Erinnerungen waren, nichts weiter entdeckt hätte als die Entfernung vom Bahnhof, den Preis pro Tag, die Qualität des Kaffees und die Gewandtheit der Pagen, blickte Myron durch die Wände hindurch und sah, wie die Bauherren ihr eigenes Vermögen und das ihrer Freunde zur Errichtung von Etablissements riskierten, die keinen anderen Namen verdienten als »Howards Pleite« oder »Lelands Pleite«. Er sah hervorragende Küchenchefs, die Heimweh nach Paris hatten und sich mit verdrossenen Yankee-Hilfskräften abplagten, um die einzige wirklich vernünftige Kunst, die des verführerischen Kochens, zu schaffen. Er sah aus schäbigen kleinen Hotelwagenkutschern liebenswürdige Maîtres d'Hôtel werden. Er sah Gäste, die, froh, ein stilles Plätzchen dafür gefunden zu haben, Selbstmord begingen, die die Gastfreundlichkeit priesen oder über die Rechnungen fluchten, die mit falschen Schecks zu zahlen versuchten, die mit der hübschen Dame auf der anderen Seite des Korridors bekannt zu werden versuchten, die – in Hotelzimmern gibt es immer Gäste, die nervös warten – auf ihre Kunden warteten, auf ihre junge Frau, auf ihre Geliebte, auf die Polizei, auf den Tod.

Er kam, wie er nachdenklich, das Kinn in die Hand gestützt, im Zug saß, zu dem Schluß, daß keine Kirche, kein Regierungsgebäude und keine Universität und kein Fort und kein Krankenhaus das Herz und den Blutkreislauf der Geschichte so gut kennen könne wie ein großes Hotel, in dem alle Menschen, berühmte und unansehnliche – insbesondere aber die berühmten, da sie am meisten reisen müssen – ausgeruht und Pläne geschmiedet, ihre Masken im Weinrausch vergessen, in verdunkelten Zimmern geflüstert und bei Banketten vor bewundernden Pressevertretern und Würdenträgern laut gesprochen und in der Öffentlichkeit dreimal Kronen verworfen haben, die ihnen niemals angeboten worden waren.

Wilder Stolz auf seinen Beruf durchglühte ihn, als er aus erster Hand die Geschichte der Hotelleitung kennenlernte … und gleichzeitig andere, vielleicht nicht weniger wichtige Entdeckungen machte, über die solidesten Handtuchhalter, den geschäftlichen Wert kostenlos zur Verfügung gestellter Schuhlappen, den besten Platz für Nachttischlampen und die Güte gerösteter Lake-Superior-Renken, gebratener Zwiebelchen, überbackener Schweinefleisch-Ragouts, pennsylvanischer Pfefferklöße und mürben Gebäcks.

Und auf seinen verschiedenen Eisenbahnfahrten erwarb er sich recht eingehende Kenntnisse über Wäschemethoden, Reparatur von Sitzpolstern und Lebensmittelbelieferung in Pullmanwagen; er hörte auch von einem Schaffner, der fünf Dienststreifen hatte, das ganz außerordentliche Kompliment: »Sie sind zwar nur ein Hotelmensch, Bruder, und müssen natürlich nicht Tag und Nacht lauter ahnungslosen Passagieren die Saugflasche geben wie wir, aber ich geb Ihnen mein Ehrenwort, ich glaube, Sie wären ein sehr anständiger Pullmanschaffner!«

So kam er zu dem geschäftigen Jacksonville, in das beschauliche St. Augustine, dann die Küste entlang zu dem im Sand vergrabenen, schäbigen Flecken Tippecanoe und nach einer Fahrt über drei Meilen in einem altersschwachen Landauer mit einem altersschwachen, farbigen Kutscher zur Tippecanoe Lodge.


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