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Der Direktor des Connecticut Inn war selbst der Besitzer. Er war eine mit Riesenkräften ausgerüstete Ameise. Er war ein moralischer Geselle, der nichts als heißen Rum trank und immer davon sprach, die Bar zu schließen, obgleich er nie soweit ging, es wirklich zu tun. Er hieß Wheelwright und war bei den Handlungsreisenden als »Diakon« Wheelwright bekannt. Er war nicht absichtlich grausam, aber er war ein Kleinigkeitskrämer, ein Nörgler, ein streitsüchtiger und rechthaberischer Mensch; er hatte regelmäßige Gewohnheiten und konnte nicht einsehen, warum die Regelmäßigkeiten anderer nicht mit den seinen übereinstimmen sollten. Und er haßte es, Gehälter und Löhne auszuzahlen.
In je engere Berührung er mit Menschen kam, desto mehr irritierte und reizte ihn ihre Leichtfertigkeit, so daß er mit den Köchen und Kellnern in den rückwärtigen Regionen des Hauses noch einigermaßen gut auskam, aber auf die Portiers und Empfangsleute, die er ständig vor Augen hatte, immer losging wie eine gereizte Henne; und so war auch der Wechsel an Arbeitskräften im Büro überaus häufig. Das gab Myron die von ihm erwünschte Gelegenheit.
Als er sechs Monate da war, hatte sich der dritte Nachtportier verabschiedet; Myron nahm sich Diakon Wheelwright vor, der gerade schnüffelnd in die Anrichte kam, und sagte ihm ohne alle Umschweife: »Wenn Sie noch keinen neuen Nachtportier haben, Mr. Wheelwright, könnten Sie's ja mich vertretungsweise machen lassen, bis wieder einer da ist. Ich hab Erfahrung – American House in Black Thread – das gehört meinem Vater. Ich könnte hier beim Essen servieren und trotzdem den Nachtdienst machen.«
»Na, ich will mir's überlegen, junger Mann; ich will mir's überlegen; will mir's überlegen.«
Er ließ Myron vor dem Dinner zu sich kommen, und nachdem er ihn kurz ausgefragt hatte, über seine Vorfahren, seine Erziehung, seine Religion und seine Politik (lauter Dinge, die Myron nicht besaß) und über seine Gewohnheiten betreffs Alkohol, Mausen, Weiber, Kokain, Balladensingen und Baden, entschloß er sich zögernd, einen Versuch mit Myron als Nachtportier zu machen. Eine Woche lang war dann Myron von fünf Uhr nachmittags bis acht Uhr früh im Dienst, und später, wenn die anderen aus dem Büro den Diakon einen »geizigen alten Hund« nannten, ihre Kleider in kleine Köfferchen stopften und ihrer Wege gingen, hatte Myron noch weiterhin Gelegenheit, die tiefsinnige Wissenschaft des höflichen Gutenmorgen-Sagens zu studieren und unter fünfzig einander völlig gleichen Zimmern eine Wahl zu treffen und auszusuchen, welches er dem neu gekommenen Gast »geben« sollte.
Jetzt, als Nachtportier, begann er Buchführung zu lernen und sich mit Architektur und Innendekoration zu befassen. An den Nachmittagen stieg er manchmal in das Souterrain hinunter, ließ sich vom Maschinisten die widerspenstigen Eigenschaften von Dynamos und Dampfkesseln erklären und las in dem schmierigen, gemütlichen Büro des Maschinisten, das stets nach einer Maiskolbenpfeife und irgendwie nach Schiffsrumpf roch, die Handbücher und Aufzeichnungen.
Wenn er in der Nacht dasaß und studierte, war nichts zu hören als die Straßenbahnwagen in der Church Street und die Schritte eines Polizisten. Nach dem Geklapper in Küche und Speisesaal war die Stille wie ein Bad in erfrischendem Wasser. Ab und zu ging er zum Wasserkühler, einem Zinkgefäß in einem Fäßchen aus poliertem dunkelbraunem Holz, dessen vernickelter Hahn durch die vielen Finger, die schon an ihm gewesen waren, so abgescheuert war, daß das Messing durchkam. Er wusch das dicke Wasserglas aus und trocknete es. Stolz betrachtete er das Pult, das Fremdenregister, die netten Fächer für Post und Zimmerschlüssel, die Stuhlreihen – ein großes Hotel, sein Hotel. Er war der Oberste und hatte die Verantwortung von acht Uhr abends – oder mindestens von Mitternacht, wenn der Besitzer zu Bett gegangen war – bis acht Uhr morgens. Wenn ein Feuer ausbrach, eingebrochen wurde, einem Gast übel wurde, es einen Streit in einem Zimmer gab, war er der Boss! – es war sein Hotel!
Nach acht solchen Monaten, als es Diakon Wheelwright noch schwerer fiel als sonst, einen neuen ständigen Nachtportier zu bekommen, und Myron wieder einmal zwei Wochen lang den Dienst versehen hatte, schlug er ihm ohne viel Umschweife vor: »Warum wollen Sie mir nicht den Posten ständig übergeben, nicht nur aushilfsweise? Ich glaube, jetzt kann ich es richtig.«
Diakon Wheelwrights helle Augen bewegten sich unruhig, und er meckerte drauf los: »Aber Sie sind ja gar nicht Portier! Sie sind Kellner. Und waren Sie nicht früher Koch?«
»Wieso, ja, aber ich meine – –«
»Nein, nein, nein, nein! Im Hotel ist es wie in jeder anderen Branche. Es muß regelmäßig zugehen, nach feststehenden Prinzipien und festen Regeln, oder es geht alles zu Bruch, und es gibt keinen besseren Geschäftsgrundsatz, als daß jeder bei dem bleiben muß, wofür er ausgebildet ist, wenn er was leisten soll. Daher kommt es ja auch, daß die meisten, die jemand bloß anstellen, weil er helle zu sein scheint, aber nicht, wie es sein müßte, darauf achten, ob er gut ausgebildet ist, nicht – na also, Sie können sehen, daß die Leute ein großes Hotel nie so führen wie ich! Sie haben wahrscheinlich noch nie so darüber nachgedacht, aber wenn Sie der Sache auf den Grund gehen, ist ein Kellner ein Kellner und ein Portier ein Portier, und da läßt sich nichts dran ändern!«
»Aber ich hab doch eine gewisse Ausbildung – –«
»Nein, nein, nein, nein! Und das ist das einzige, was mir an Ihnen nicht gefällt: Sie wollen immer streiten und diskutieren und widersprechen, statt sofort richtig auf den Kern zu kommen, ohne lange drum rum zu schwätzen!«
»Aber ich hab doch diesen Dienst gemacht – sechs Wochen lang zusammen in den letzten acht Monaten, und ich glaube, ich habe nichts schlecht – –«
»Nein, nein, nein, ich sage Ihnen nein! Das ist ganz was anderes! Das war bloß aushilfsweise!«
So kam es, daß Myron drei Wochen später als Nachtportier im Old Eli Hotel in New Haven war. Als er ging, ließ Diakon Wheelwright ihn zu sich rufen und erklärte ihm, er sei ein Narr, ein voreiliger und unbedachter junger Narr, und wenn er bloß Verstand und Grütze genug hätte zu warten, könnte er ja noch vom Diakon als ständiger Nachtportier verwendet werden, jeden Augenblick – in einem Jahr etwa.
Das Old Eli war ein kleineres Etablissement als der Connecticut Inn und bedeutend weniger respektabel, wenn die Angestellten auch etwas besser bezahlt waren. Myron fühlte sich dort nicht wohl. Er war für einen Menschen, der aus dem nördlichen Connecticut stammte, nicht übertrieben moralisch; er trank gelegentlich ganz gern einen Whiskysoda und war mittlerweile so weit, seine kleine Freundin, die Tourneeschauspielerin, für eine recht nette und vernünftige junge Person zu halten. Aber das hieß noch lange nicht, daß es ihm übermäßige Freude bereitete, in einem Bordell zu arbeiten.
Die Yale-Studenten, die es niemals wagten, die biedere, mit Plüsch und Nußbaum eingerichtete Halle des Connecticut Inn mit kurzfristigen weiblichen Bekanntschaften zu betreten, wußten, daß sie im Old Eli Hotel, wie sie dankbar sagten, »alles machen konnten«. Als Myron sich in seiner ersten Dienstnacht weigerte, einem berühmten Fußball-Star und einem decrepide aussehenden kleinen Frauenzimmer in zerdrücktem Crêpe de Chine, die beide betrunken waren und kein Gepäck hatten, ein Zimmer zu geben, kam der Direktor während der Auseinandersetzung dazu und sagte zaudernd: »Nehmen Sie's nicht zu genau, Weagle, wenn der Herr ein alter Freund des Hauses ist«; dann wandte er sich an den Gast: »Geht in Ordnung, Mr. Blank. Page! Führen Sie den Herrn und die Dame in die Gouverneurs-Zimmer hinauf und sorgen Sie dafür, daß genug Eiswasser und Handtücher da sind.«
Der Direktor war ein gutmütiger Mensch wie so viele, die sich damit befassen, für die Befriedigung dessen zu sorgen, was man etwas einseitig »die Laster« nennt. Er sagte zu Myron nachher nicht mehr als: »Nehmen Sie's in dem Betrieb nicht zu genau, solang die Leute sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. Und außerdem, diese Yale-Burschen sind richtige Kavaliere – das sind keine Radaubrüder. Geben Sie ihnen, was sie haben wollen, solange sie nicht laut werden. Verstehen Sie, wie's ist?«
Myron verstand und fand keinen besonderen Gefallen daran.
Und es gab Schauspielergesellschaften, die bis spät in die Nacht dauerten und außerordentlich laut waren; diese Gelegenheiten waren eine ausgezeichnete Schule des Takts für einen Nachtportier, der die Veranstalter der Gesellschaft bei Zufriedenheit erhalten und gleichzeitig die erbitterten Gäste besänftigen mußte, die in den Nachbarzimmern schliefen und alle fünfzehn Minuten hinuntertelephonierten. (Das Old Eli inserierte, daß es ein »erstklassiges Luxusetablissement für Familien und Durchreisende« wäre, und daß es als erstes Hotel in New Haven elektrisches Licht und Zimmertelephone installiert hätte.)
Das Old Eli war ein Lieblingshotel der kleineren und unternehmungslustigeren Schauspieler. Um jene Zeit, Ende 1903, gab es noch viele Tournéetruppen, und ihre Kundschaft war wichtig für die Hoteliers. Das Tournéespielen war noch nicht von Auto, Kino und Radio gemordet worden. Ständig waren Hunderte von Gesellschaften unterwegs, und sogar in Black Thread Center hatte der junge Myron Schauspielerinnen kennengelernt, die sich in ihrem Zimmer auf Spirituskochern Würste mit Knoblauch bereiteten, in den gemeinsamen Badezimmern wuschen und plätteten, ihre langhaarigen, sabbernden Hunde in einer Ecke auf Bettkissen schlafen ließen und drei Uhr nachts für die richtige Stunde hielten, einem Gatten zu erklären, wenn er sich noch ein einziges Mal beim Poussieren mit der ordinären, kleinen, schmutzigen Komödiantin da erwischen ließe, würde etwas passieren, und zwar allerhand.
Das Theater ist mittlerweile, wie das Gasthaus, die Dichtkunst und das Boxen, respektabel geworden und hat dadurch sehr viel von seiner Buntheit und Freudigkeit verloren. Die Ausüber dieser Kunst tragen Gamaschen und sammeln Erstausgaben. (Kein Philosoph hat bis jetzt erklärt, warum sich im Bank- und im Verlagsgewerbe das genaue Gegenteil davon ereignet hat. Im Jahre 1890 waren alle Bankiers und Verleger ältere Männer oder Greise, sie trugen ausnahmslos Backenbärte, schwarze Gehröcke und Würde, und ihre einzige Bewegung bestand im Herauspressen von Zinsen und Tantiemen. Im Jahre 1933 sind sie alle – mit Ausnahme des wirklich geringfügigen Prozentsatzes von Bankiers, die im Gefängnis sitzen – jung, Freunde lockerer Sitten und raschen Automobilfahrens und spielen mit Vorliebe in karierten Strümpfen und wahnsinnigen Sweatern Golf. Und die Folge davon ist, daß heute kein Mensch Schauspieler, Gastwirte, Dichter, Boxer oder Bankiers und Verleger auch nur im geringsten ernst nimmt.)
Im Jahre 1903 jedoch hielten die Tournéeschauspieler noch auf vergnügte und zigeunerhafte Unregelmäßigkeit. In das Old Eli Hotel kamen die Stars der Burleske, kleinere Schauspieler des ernsten Dramas, Operettenleute und alte Komödianten, die Schauerdramen spielten. Vor Mitternacht schickten sie hinunter um Käse, Zwieback, Worcester-Sauce, Schinken, Bier und Whisky, und bis vier Uhr früh empfingen sie Bewunderer. Manchmal kamen einsame Laien noch viel später aus den Zimmern der Schauspielerinnen herunter, sie sahen dann verlegen aus und wußten nicht recht, ob es elegant und großstädtisch sei, dem aufmerksamen Nachtportier fünf Dollar zu geben.
Die Vergnügungen der Theaterleute störten Myron nicht; er machte sich sogar manchmal in langweiligen Nächten mit schuldig, indem er gelegentlich fünf Minuten daran teilnahm. Auf das äußerste aber mißfiel ihm, daß offensichtlich kaum miteinander bekannte Männer und Frauen hereinkommen und ein Zimmer nehmen konnten. Er kam sich vor wie ein Kuppler.
Anfangs 1904, er war noch nicht ganz vierundzwanzig Jahre alt und bereits vier Monate im Old Eli, begann er sich nach einer anderen Stellung umzusehen. In diesem Jahr sollte in St. Louis die Louisiana Gewerbe- und Handelsausstellung abgehalten werden.
Aus diesem Haus leichter Liebesfreuden fortzukommen, nach dem Westen zu gehen, die Welt zu sehen, ganz neue Dinge im Hotelwesen – und nebenbei auch im Leben – kennenzulernen, das mußte ein großartiges Abenteuer sein. In seinem Exemplar der wöchentlich erscheinenden Hotel Era fand Myron ein Inserat der Elphinstone Hotel- und Restaurant-Gesellschaft, New York, in dem gesucht wurden: »Angestellte aller Art für St. Louis Weltausstellungshotel, geöffnet 15. April bis 1. Oktober, Photo und Bewerbungsschreiben.«
Er schickte Photo und Bewerbungsschreiben ein. Den Brief unterzeichnete er »Myron S. Weagle«. Zu dem S. in der Unterschrift gehörte gar kein Name. Er hatte es sich vor drei Jahren angeschafft, weil ein erfolgreicher Mann offensichtlich nicht nackt, ohne Mittelbuchstaben im Namen, herumgehen kann.
Er wurde von der Elphinstone-Gesellschaft als Nachtportier für das Pierre Ronsard, in der Nähe des Forest Park in St. Louis, engagiert.
Er stellte es sich vor als Schloß, in dessen uralte Steinmauern Wappenschilder eingemeißelt sind.