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Zwanzigstes Kapitel

Was weiter kam, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, daß ich die Türe meines Arbeitszimmers vor dem Fluchenden verschloß, und mein letzter Blick, da ich sie versperrte, fiel auf meine Mutter, die durch den Lärm herbeigerufen worden war.

Ich möchte wohl mit der Kraftschaltung unvorsichtig hantiert haben; denn als ich meine Augen aufschlug, fand ich mich auf dem Boden liegend.

Ich hatte jenes seltsame Gefühl der Zeitlosigkeit, das uns beherrscht, wenn wir aus einer Ohnmacht oder aus dumpfem, tiefem Schlaf erwachen, und in mir war ein Zittern wie nach einem Sturz aus ungeheurer Höhe. Vielleicht war’s wirklich ein elektrischer Schlag gewesen. Freilich war es dann ein beispielloses Wunder, daß ich lebte.

Das erste, was mir wieder in den Sinn kam, war der Fluch des Juden. Es bedrückte mich wie eine bange Ahnung, und ich beschloß, ihn aufzusuchen, ihm Abbitte zu leisten. Aber wo ihn suchen?

Ich öffnete die Türe. Daß sie unversperrt war, wo ich sie doch innen selbst verschlossen hatte, fiel mir in meiner Benommenheit nicht auf.

Hier hatte er gestanden, drei Schritt vor der Türe, beim Geländer. Wann? Vor zehn Minuten, vor vier Stunden? Und die Sonne, welche durch die rote Fensterscheibe fiel, hatte ihn in feuerfarbnen Glanz getaucht.

Wo war der purpurrote Strahl denn hingewandert? Ich blickte auf das Treppenfenster, vor dessen vielfarbigen Scheiben ich als Kind so oft gekauert hatte, um – bald durch diese, bald durch jene Scheibe guckend – mir drüben auf der andern Straßenseite das Haus des Wagnermeisters Krönlein und in der Ferne die Gehöfte und die Äcker in wechselnd bunten Farben zu betrachten.

Aber die bunten Scheiben waren fort; da war jetzt eine Lucke, gefüllt mit grobem Glas. Warum war denn das hübsche Treppenfenster fortgenommen worden? Wieder um zu sparen? Oder hatte da schon der neue Käufer unsres Hauses seine Hand im Spiele?

Und durch das trübe Glas schien alles so verändert. Das Haus des Krönlein hätte ich gar nicht erkannt, und seltsam, die Äcker und Gehöfte in der Ferne, die waren wie verschwunden; undeutlich schimmerte es da wie Wald. Schlaftrunken rieb ich mir die Augen und reckte mich.

Ich sah nach meiner Uhr; sie stand. Seit ich sie besaß, seit fünfzehn Jahren, das erste Mal. Wahrscheinlich durch den schweren Sturz, den ich noch in allen Gliedern spürte.

Wie spät mochte es denn sein? Die Sonne – deutlich sah ich’s durch das Fenster – stand noch hoch am Himmel.

Sonderbar. Als ich mich abgeschlossen hatte, war es sicherlich schon vier. Und jetzt, nach dem Sonnenstand zu schließen, war es spätestens nach zwei.

Täuschte ich mich, oder sollte ich wirklich – aber das war doch nicht möglich – sollte ich wirklich einen ganzen Tag geschlafen haben?

Warum hatte mich die Mutter nicht geweckt?

Ja, ich muß nach der Mutter sehen. Auch spürte ich auf einmal fürchterlichen Durst und Hunger.

Da ging die Türe. Mütterchen mußte kommen.

Aber, nein, das war die Mutter nicht. Ein fremdes junges Frauenzimmer. Ich hatte sie noch nie gesehen. Hatte die sich putzig ausstaffiert! Wie zu einem Maskenball. Puffärmel, einen langen, weiten Rock und Haube.

Sie hielt den Blick gesenkt, sah mich also nicht. Als sie an mir vorbeikam und mich streifte, schreckte sie auf, und mich gewahrend, stammelte sie etwas wie »Alle guten Geister« und stürzte, bebend vor Angst, die Treppe hinunter.

Aus dem ersten Stockwerk hörte ich Geräusch. Die Räume standen schon seit langem leer. War denn der neue Käufer heute eingezogen statt erst in zwei Wochen? Ich stieg hinunter und ein verschlafnes Kätzchen strich mir übern Weg.

Aus dem großen Saal im ersten Stockwerk drangen Stimmen. Ein Zwiegespräch. Es war so seltsam, daß ich mitten auf der Treppe stehenblieb und horchte.


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