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»Die Brut des Fenrir
Rötet mit Blut
Den Ratsaal der Götter.
Wißt Ihr's zu deuten?«
Völu-Spâ.
Gleichwie man aus wenigen aufgefundenen Knochenresten die ganze heute ausgestorbene Tierwelt Amerikas und Australiens wieder vorzustellen vermocht hat, so vermag die Psychologie (aus den dunklen Resten von Tiermenschentum, die sich erhalten haben inmitten der durch Gesetz, Recht, Polizei, Gesellschaft, Sitte und Schule ebenso erhöhten als verbogenen Natur) nachträglich zu erschließen die Seelenkunde unserer frühesten Vorgeschlechter. – Es ist nun gewiß sehr billig, angesichts der hemmungslosen Brutalität von Hunger, Wollust und Machtwille sich schaudernd abzuwenden; aber daß gerade die Liebesleidenschaften und das Zärtlichkeitsbedürfnis wurzelhaft verbunden sind mit dem Drang zum Töten und Fressen (nicht etwa zum Quälen, nein zum Verschlingen eines begehrten Leibes), das läßt uns einen tiefen Blick tun in das Geheimnis der Natur, welches man mit dem Worte Grausamkeit ebenso verfehlt wie mit dem Worte Liebe (amor) oder Barmherzigkeit (caritas) . . . In den wenigen Sekunden berauschenden Schauers sinken bei allen Geschöpfen all die lügenhaften Gewohnheiten der Kultur und alle Entstellungen wie Edeltümer der menschlichen Ethik und Logik als völlig wesenlos dahin und in der Ekstase wie im Tode werden alle gleich und wird alles eins. Tod wie Wollust sind das Wiederauflösen in jene göttliche Sanftmut, daraus wir entstanden sind. Wir haben somit an Wesen wie diesem Haarmann Gelegenheit, uns selber in primitivster Rohnatur zu studieren; man mag dafür den Begriff »Atavismus« gebrauchen, wenn man nur festhält, daß nicht etwa nur das Verbrechen, sondern auch das Genie, ja jegliche Art von Begeisterung und Traum auf genau den gleichen Atavismus hinweisen. Die Brunst mancher Tiere, die man wohl als ihren periodischen Wahnsinn bezeichnen kann, dürfte daher nur ein letztes Überbleibsel sein jenes Triebrausches, an welchem das domestizierte und mithin zivilisierte Menschentum keinen Anteil mehr hat, weil es, alles Elementarische zerlegend oder auf die Ebene: Zeit zerdehnend, die todumlohte Bluttrunkenheit vormenschlicher Traumekstase längst ersetzte durch zahllose künstliche Nervenanregungen und tägliche Lebensaufkitzelungen vom Bewußtsein aus.
Schon Kant hat in der »Naturgeschichte des Himmels« den merkwürdigen Gedanken geäußert, daß die Liebeskämpfe und -brünste der vormenschlichen Erdzeiten unvergleichlich todumdrohter und elementarer gewesen sein müßten, »denn mit dem Erkalten des zentralen Erdfeuers reifen auch Leidenschaften ihrer langsamen Auskühlung entgegen«.
Noch tiefer hat Nietzsche diesem Gesetz der fortschreitenden Vernüchterung nachgespürt; für ihn wurde zur Überzeugung: »Auch die Künste und selbst die Religionen sind heute Narkotika des überwachen Bewußtseins, durch welche wir genau wie durch Nikotin, Alkohol, Geschlechtsrausch uns einen Traumzustand künstlich schaffen oder erhalten, welchen das Blut allein nicht mehr hergibt.«
Im »Untergang der Erde am Geist« habe ich endgültig und für immer klargelegt, daß die sogenannte Kultur selber mit allen ihren Werken, Worten und Werten, daß Artefakte, Kunstwerke, Bücher nichts als ein einziges Rausch-Surrogat sind; am besten zu vergleichen den großen Kohlenfeldern, ohne die wir erfrieren würden, die nichts sind als Niederschlag gewesener Sonnenleben und abgeblühter Lenze, uns im wachen Bewußtsein Lebenden nunmehr aber künstliche Wärmequellen und künstliche Blutwärme zuführen, ohne welche das bis zu abstrakter Objektivität, bis zu logomathischer Maschinerie erkaltete Bewußtseinstier in sich selber erstarren müßte.
So frevelhaft und paradox es klingt: ein Geschöpf wie dieser Haarmann inmitten eines Gerichts wie dem hannoverschen, wirkte zuweilen wie ein Stück Saurierzeitalter inmitten eines Saales voll Berufsautomaten und Zivilisationspuppen, welche ja oft unmenschlicher sind als jeder »Unmensch«.
Von der Art, wie in der Tagesliteratur gegen die hier vorliegende Darstellung des Haarmannprozesses und den Verfasser Stimmung gemacht wurde und sogar schließlich anhängig gemacht wurde ein freilich ergebnislos verlaufenes Disziplinarverfahren von Seiten der Technischen Hochschule in Hannover (an welcher ich seit zwanzig Jahren, ohne je Beförderung oder Besoldung erhalten zu haben, als Privatdozent diene); davon kann vielleicht das folgende Zitat aus der »Deutschen Zeitung« (vom 24. Dezember 1924) einen Begriff bewahren:
»Aus akademischen Kreisen wird uns geschrieben: Unangenehmes Aufsehen erregte in dem Haarmannprozeß in Hannover der Ausschluß des Prof. Dr. Lessing von der Technischen Hochschule Hannover aus dem Gerichtssaal und die Entziehung der ihm zur Verfügung gestellten Berichterstatterkarte durch das Gericht, weil er sich nach den Feststellungen der Verteidigung, des Staatsanwalts und des Vorsitzenden des Gerichtshofs schwerer Verstöße gegen das Grundgesetz jeder Berichterstattung, nämlich der Wahrheitsliebe hatte zuschulden kommen lassen. Die Art und Weise, wie Herr Lessing seine Pflichten des Berichterstatters auffaßte und der allerdings mißlungene Versuch, sich dem Gericht als Psychologe unterzuschieben, ist eines akademischen Lehrers in jeder Hinsicht unwürdig. Sie gibt Herrn Boelitz, derzeit preußischer Kultusminister, die Veranlassung, sich bei seiner ›Säuberungsaktion‹ der preußischen Hochschulen auch dieses akademischen ›Lehrers‹ etwas anzunehmen und entsprechende Schritte gegen seine weitere Wirksamkeit als solcher baldigst einzuleiten. Das vorgeschrittene Semester und die Besonnenheit der akademischen Jugend Hannovers bewahrte Herrn Lessing vor etwaigen Beifallskundgebungen. Dafür wird aber erwartet, daß diese Angelegenheit baldigst bereinigt wird.«
Es ist gewiß lehrreich, neben dieses Zitat aus der »vornehmsten vaterländischen Zeitung« einige Sätze aus dem Bericht zu stellen, den eine französische Zeitung von dem betreffenden Vorfall gegeben hat.
Le Temps (vom 12. Januar 1925): «Le professeur Théodore Lessing de Hanovre, docteur en philosophie et en médecine, un des esprits les plus libres, une des plumes les plus alertes du Reich républicain, s'était plongé corps et âme dans l'étude de ce cas unique; il avait approfondi ses problèmes juridiques, psychologiques, dépouillé l'immense dossier au point de le mieux connaître que les avocats de la défence. Combatif et irrespectueux il a lumineusement démontré la part de responsabilité des autorités hanovriennes, de la police, même des experts médicaux et publié les résultats de son enquête dans divers organes de gauche. Lessing fut demandé comme expert par le premier avocat de Haarmann. Mais le successeur refusa les services du spécialiste réputé: ‹Que diable saurions-nous faire d'éclaircissements psychologiques? . . .› M. Lessing assista donc aux audiences en qualité de journaliste. Le 11 décembre nous eûmes la surprise de voir Lessing exclu de la salle, conformément au paragraphe 176 de la procédure pénale. On chercha d'abord à lui faire entendre raison. ‹Nous ne vous avons pas admis ici comme publiciste, mais comme correspondant (Berichterstatter). Vous ne désirons pas avoir ici des gens qui se piquent de psychologie . . . Vous allez donc nous promettre de ne reproduire que ce que nous disons!› . . . Sur son refus, surpris, le brave Landgerichtsdirektor Boekelmann, un de ces juristes habitant le ‹ciel des abstractions›, dont se moquait si agréablement Ihering, lui demande navré: ‹Comment vous êtes professeur? Est-ce possible? Un professeur, écrivant des feuilletons?› . . . Et le procureur général:‹. . . Nous avons des sentiments humains (!). Nous ne désirons pas vous priver de votre gagnepain . . .› On fait venir les experts (le bon billet) pour avoir leur avis sur l'état mental de Lessing. Il fut, cela va sandire, moins favorable que celui sur Haarmann, qu'ils trouvèrent malgré tout responsable . . . Et voilà comment on comprend dans la République allemande la liberté de pensée et de parole, le rôle du publiciste, les devoirs de la critique, le contrôle de la conscience publique. L'autorité des ‹classes dirigeantes› doit être sauvegardée au prix de toutes les hypocrisies et de toutes les injustices. ‹Perinde ac cadaver.› Juger une magistrature incapable, accuser une police notoirement au-dessous de sa tâche, dénoncer les gaffes de la science officielle, voilà le seul crime méritant une sanction rapide et efficace. Il fallait assister au procès de Hanovre observer le ›traitement à la corporal‹ des cas juridiques les plus délicats, pour saisir le mécanisme mental de centaines de ces jugements révoltants prononcés au cours des dernières années de Fechenbach jusqu'à Ebert (Magdebourg) par une justice irrémédiablement inféodée à Potsdam contre tout ce qui osa représenter Weimar. Pour les deux magistratures du Reich, la révolution de 1918 n'a point eu lieu.»