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Ich reihe hier denjenigen Mordfall ein, der unter den nicht mit zur Verhandlung gelangten Mordfällen mit der merkwürdigste und von allen Mordtaten des Haarmann der für den Seelenforscher rätselhafteste zu sein scheint. –
Ich leite ihn ein mit einigen Sätzen aus einem längeren Schreiben des Herrn Georg Koch, Kaufmann in Hannover (dessen 14jähriger Sohn Hermann möglicherweise gleichfalls ein Opfer des Haarmann geworden ist): »Als Vater des 1918 verschwundenen 14jährigen Hermann Koch möchte ich zu der Bemerkung der Polizei, als habe man sie ungenügend über den Verbrecher orientiert, den Gegenbeweis liefern. Daß Haarmann mit meinem Sohn Verkehr unterhalten hat, wurde von ihm zugegeben; geht auch hervor aus einem Entschuldigungszettel, den Haarmann der Schule zugehen ließ, als mein Sohn auf seine Veranlassung aus der Schule wegblieb. Als die Polizei nichts über den Verbleib meines Sohnes zu ermitteln vermochte und den Haarmann aus der Untersuchungshaft entließ, übertrug ich den Fall dem Detektivbüro Sebastian, welches nach umfangreichen Recherchen dem Haarmann den Mord glatt auf den Kopf zusagte. Dennoch wurde das Wiederaufnahmeverfahren abgelehnt. Dies war im November 1921. – Inzwischen aber hat dasselbe Detektivbüro in einer zweiten Mordsache (Keimes) ebenfalls Haarmann als Täter eruiert und unter dem 11. Mai 1922 ein Verfahren gegen ihn beantragt. Auch dieser Antrag blieb unbeantwortet, obwohl in den Jahren 1922 bis 1924 viele Personen (Rehbock, Klobes, Lammers, Lindner) immer wieder Anzeigen machten.«
Um was nun handelt es sich beim Fall Keimes? Am 17. März 1923 verschwand in der Südstadt der 17 Jahre alte Sohn der Eheleute Keimes, ein außergewöhnlich schöner Jüngling. Die Eltern wandten sich an die Polizeibehörde, die aber trotz inständiger Bitten keine Vermißtenanzeige in den Zeitungen erließ, so daß drei Tage später die Familie selber Inserate in die Lokalzeitungen einrücken ließ, worin eine hohe Belohnung demjenigen versprochen wurde, der über den Verbleib des Jünglings Auskunft zu geben vermöchte. Daraufhin erschien einige Tage später bei der Familie ein Mann (der später als Haarmann erkannt wurde), gab an, daß er Kriminalist sei und sich für den Fall interessiere und bat, ein Bild des Sohnes sehen zu dürfen; indem er äußerte: »Wenn Ihr Sohn noch in Hannover ist, so kläre ich binnen drei Tagen den Fall auf.« Während die Mutter fortging, um ein Bild des Sohnes zu holen, blieb der Mann mit der Schwester des Verschwundenen allein im Zimmer; das Kind gab nach dem Fortgehen des Mannes an, er habe sie »teuflisch angelacht«. Die Leiche des Jünglings wurde am 6. Mai 1922 (also erst nach sieben Wochen) aufgefunden im Kanal, eine Stunde vor Hannover. Sie war nackt, der Hals stranguliert und ein Strick darumgeschlungen, und im Mund steckte ein Taschentuch mit dem Monogramm G. – Man nahm an (so unbegreiflich das ist), daß ein echter Raubmord vorläge und der Jüngling an Ort und Stelle erschlagen sei. Merkwürdig ist nun, daß Haarmann nach dem Besuch bei der Familie Keimes ins Polizeipräsidium ging und Hans Grans jenes Raubmordes verdächtigte (eine Bezichtigung, die aber zusammenbrach, da man annahm, daß zur Zeit, wo die Tat geschah, Hans Grans sich in Haft befand). Das Taschentuch im Munde der Leiche war aber scheinbar wirklich ein Taschentuch des Grans. – Es gibt hier jedenfalls der Umstand zu denken, daß Haarmann (wie später im Fall Hennies) schon einmal seinen Geliebten mit einer (vielleicht von ihm selber begangenen oder mitbegangenen) Tat zu belasten versucht hat; möglicherweise sogar bewußt die Verschleppung, Strangulierung und Knebelung mit einem Tuche so veranstaltete, daß Grans hereinfallen sollte. Es geschah das unmittelbar nach dem großen Krach zwischen Haarmann und Grans, als Haarmann aus Jägerheide zurückkehrend, sein Zimmer durch Wittkowski und Grans ausgeräubert fand und voller Rachsucht gegen beide sein mußte. Die Klärung des Fall Keimes ist nicht gelungen. Überhaupt sind von den 400 Asservaten, die sich bei Haarmann fanden, nur 100 anerkannt worden.
Sie brachte aus ihrer Jugendliebe ein Kind mit in die Ehe und muß es sehr geliebt haben, denn sie vermag vor Weinen nichts auszusagen. Eines Morgens, Januar 1924, mußte der 17jährige in einem Prozeß als Zeuge auftreten. Er zog sein Festgewand an. Es stammte aus dem Herrenschneidergeschäft des Stiefvaters, eines feinen sympathischen Mannes. Vom Gericht aus ging er noch mit seinem Freunde Siegfried Kurth spazieren, nahm dann Abschied in der Nähe des Theaters und kam nicht wieder. Dieser Fall zeigt in fast schauerlicher Weise, von welchen Zufällen Mordentdeckungen abhängen und wie leicht Rechtsirrtümer zustande kommen. Der junge Kurth, Sohn eines Fabrikanten, stand nämlich an dem Tage, wo sein Freund verschwand, vor der Auswanderung nach Argentinien. War es also ein Wunder, daß manche Leute, daß vielleicht die Nahestehenden mit Entsetzen den Gedanken aufgriffen, der Ausgewanderte könne um das Verschwinden wissen? Lebenslänglich wäre ein falscher Verdacht haften geblieben, wenn nicht im Juni nahezu das gesamte Zeug des Verschwundenen aus den bekannten Hehlerwinkeln zum Kriminalpräsidium gebracht worden wäre. Die Stutzen, die Sportmütze, die Stahluhr mit den Hirschgrandeln hatte Grans weiterverkauft, das Oberhemd trug er bei seiner Verhaftung am Leibe; er trug gleichzeitig am Leibe Kleidungsstücke von vier Getöteten und handelte mit Kleidern anderer Getöteter; so daß nur ungeheuerliche Frechheit oder volle Arglosigkeit bezüglich der Herkunft dieser von Haarmann empfangenen Sachen solches Zurschautragen von Mordtaten begreiflich macht. Auch die Bekanntschaft des verschwundenen jungen Spiecker mit Haarmann konnte bewiesen werden; der Sohn des Spieckerschen Hauswirts bekannte, daß er und sein verschwundener Freund den Haarmann im »schwulen Kessel« kennengelernt und von ihm Zigaretten erhalten hatten. Haarmann behauptet (wie in sämtlichen Mordfällen), daß er nach dem Lichtbild den jungen Spiecker nicht erkennen könne, sich auch an ihn nicht entsinne (obwohl der Junge ein Glasauge hatte); aber er müsse wohl annehmen, daß er eines seiner Opfer geworden sei, da ja alle Sachen bei ihm gefunden wurden. Vielleicht sei es jener schöne Jüngling gewesen, der, als er um Mitternacht erwacht sei, tot in seinen Armen gelegen habe. Er sei bei dem Anblick ohnmächtig geworden oder vor Mattigkeit wieder eingeschlafen. – »Als ich erwachte frühmorgens, lag der Tote neben mir. Steif und kalt und blau. Ich habe ihn mit den Händen aus dem Bett gezogen, auf den Fußboden gelegt und zerstückelt. Ich habe diesen Fall im Gedächtnis behalten, der Tote lag da so furchtbar krank.«
Der Junge war etwas leicht. Der Vater, ein stiller, sanfter, schwermütiger Mann, hatte nicht rechte Gewalt über ihn. Am 13. Januar blieb er die Nacht fort und log den Eltern vor: »Ich war auf dem Maskenball.« Am 15. ging er früh gegen 8 vom Hause fort, und wird seitdem vermißt. – Er trieb sich viel herum in gleichgeschlechtlichen Kreisen; den Winter über half er, da er keine andere Arbeit fand, zusammen mit seinem Freunde, dem Klempner Tolle, beim Pantoffelmacher Otto Moshage, einem auffallend klug und edel aussehenden Menschen. Dem erzählte er bei der Arbeit: »Ich möchte gern von Haus fort. Die Eltern liegen mir immer in den Ohren. Sie machen immer Vorwürfe. Aber ich habe einen Bekannten. Er ist Kellner im Reichshof; wohnt in der Altstadt; hat mir fünfzig Zigaretten geschenkt; da hab ich schon mal geschlafen.« – Moshage, der das Treiben beim Bahnhof und Theater genau kannte, und den Koch schon in Gesellschaft des Haarmann gesehen hatte, fragte nach dem Namen des Kellners. Der Junge wurde verlegen. Der Pantoffelmacher sagte: »Sag doch die Wahrheit. Es ist Fritz Haarmann.« Der Junge sagte: »Es stimmt.« – Haarmann behauptet zwar, nach dem Bilde den Jungen nicht zu erkennen; aber alle seine Sachen haben sich wiedergefunden; Theodor Hartmann, der Sprößling der Engel aus einer ihrer früheren Ehen, hatte sie für Haarmann verkauft, und so sagt denn Haarmann, wie bei allen Morden, wenn sie bewiesen sind: »Es wird wohl stimmen.«
Ein liebloses Zuhause. Der Vater, ein Arbeiter in Linden, kümmert sich nicht um die Kinder. Ebensowenig die Mutter, eine stumpfe, wasserblonde, lymphatische Frau. Der ältere Bruder ist schwerfällig und ausdrucksschwer; wenig mitteilsam. Eine freudearme Familie. In diesem Daheim wurde wenig gesprochen. Der 17jährige Willi trieb sich schon seit Jahren auf dem Bahnhof und bei den Homosexuellen herum. Ein schöngebauter Junge; aber roh und Gewaltmensch. Eines Februarabends sagt er zu Mutter und Schwester: »Ich will verreisen«, zieht sein gutes Zeug an und geht. Als er nicht wiederkommt, wird in dieser stumpfen Welt von seinem Fortbleiben wenig Aufhebens gemacht. »Ein Esser weniger.« Erst als im Juni die vielen Morde aufkommen, denken die Angehörigen: »Können uns ja mal die Sachen ansehen«, und finden nun darunter den Selbstbinder, den der Bruder Heinrich dem Vermißten geschenkt und genäht hat, und seinen braunen Mantel. Haarmann behauptet, die Sachen am Bahnhof von irgendwem gekauft oder getauscht zu haben; den Senger hat er freilich seit Jahren gekannt und ebenso dessen unzertrennlichen Freund, den 19jährigen Fritz Barkhof. »Das waren die beiden größten Rowdys von allen auf dem Bahnhof. Ich hatte vor den beiden immer Angst. Senger war groß, roh und stark. Ich hätte ihn nicht bezwungen. Schon darum kann ich ihn nicht getötet haben.« – Es fällt auf, daß Haarmann nie die Tötung eines Menschen zugibt, den er lange Zeit hindurch kannte. Er räumt nur dann die Tötung ein, wenn er mit einiger Glaubwürdigkeit angesichts der Photographie sagen kann: »Ich erkenne ihn doch nicht wieder. Möglich; möglich auch nicht« (wie ihm überhaupt das Betrachten der Lichtbilder sichtbar quälend ist). – Für die Beziehung des Senger zu Haarmann ist nur ein Zeuge da, jener Fritz Barkhof; aber der wirkt wenig vertrauenswürdig: zugleich roh und feminin, zugleich eitel und verschlagen. Verfehlterweise vernahm man diesen verdächtigen Burschen über das Vorleben Sengers in Gegenwart von dessen Angehörigen, wobei ganz zweifellos aus Angst oder Schonung oder Geniertheit manches ungesagt blieb. Denn es ist sicher: Diese beiden Burschen gehörten zur engeren Gruppe der berufsmäßig Sich-selbst-Feilbietenden. Senger hat dem Barkhof erzählt, daß er mehrfach bei Haarmann genächtigt habe und als nach Verschwinden Sengers der Barkhof den Haarmann fragte, ob er nichts von Senger wisse, da erklärte dieser derb: »Den kenn ich gar nicht.« Brach auch später solche Fragen immer kurz ab. Über den Zeitpunkt, zu dem Haarmann den Mantel des Senger erworben haben will, verwickelt er sich in Widersprüche. Es konnte ihm aber klar bewiesen werden, daß er erst unmittelbar nach dem Verschwinden des Senger den Mantel im Besitz hatte.
Ein kluger, geweckter Junge, fast 16, Elektrotechnikerlehrling bei Mühe & Co., Hildesheimer Straße. Januar 1924 fällt den Eltern auf, daß er immer in sauberem Zustand von der Arbeit kommt. Der Vater geht zu Mühe & Co. und bekommt zu hören: »Seit vier Wochen kommt schon Ihr Junge nicht mehr.« Der junge Bummler wird nun streng vorgenommen. Er erwidert: »Ich habe keine Lust mehr zur Technik. Ich habe einen Freund, der will mich ins Ausland mitnehmen.« Der Vater besteht darauf, er muß folgenden Tags wieder zu Mühe & Co. Da die Eltern in Linden wohnen, so muß der Junge in der Mittagpause 12–2 bei seiner Schwester essen; Frau Albrecht in der Lavesstraße. Das geschieht wie immer, so auch am 8. Februar. Die Schwester, eine brave, anständige Natur, führt mit dem Jungen harmlose Gespräche. Um 2 geht er fort wie gewöhnlich und ist seitdem verschwunden. Am 10. machte der Vater der Polizei Meldung. Man fand keine Spuren. Erst im Juni wurden Kleidungsstücke des Kindes, von Mutter und Schwester genäht, und mit Monogrammen gezeichnet in Haarmanns Wohnung, Rote Reihe 2, gefunden, andere hatte der Stiefsohn der Engel in Haarmanns Auftrag verkauft; den Schulzirkelkasten des Knaben hatte Grans bekommen. Ein älterer Bekannter des Knaben hat diesen einmal in Gesellschaft von Haarmann auf der Georgstraße gesehen. Die Mutter bricht angesichts der Kleider ganz zusammen. Haarmann schlägt (zum ersten Male) die Augen nieder.
Alfred, der 17jährige Sohn des Lokomotivführers Gustav Hogrefe in Lehrte, war in Hannover Mechanikerlehrling in der Schlägerstraße. Er fuhr regelmäßig morgens 6 von Lehrte mit der Bahn nach Hannover zu seiner Lehrstelle und kam abends gegen 7½ zurück. Montags besuchte er die Gewerbeschule. An diesem Tage kam er immer erst gegen 10, angeblich weil er im Anschluß an den Gewerbeschulunterricht von 7½–8½ noch Turnen hatte. Am 1. April 1924 erhielten seine Eltern von dem Leiter der Gewerbeschule die Nachricht, daß der Junge den Unterricht versäume. Der Junge wurde von den sehr unpädagogischen Eltern vorgenommen. Er war tief verlegen. Der Vater schrie ihn an: »Gut! Mutter und ich fahren morgen zur Gewerbeschule nach Hannover. Dann werden wir weiter sehen.« – Am anderen Mittag um 2 fuhren beide Eltern zum Lehrer des Jungen. Es kam eine ganze Lügenblase zum Platzen. Der Junge hatte drei Montage die Schule geschwänzt und sich selber Entschuldigungszettel geschrieben. Die Eltern erfuhren auch, daß das Turnen nicht am Abend von 7½ bis 8½ Uhr stattfinde, sondern am Tage während des übrigen Unterrichts. Inzwischen war der Junge (natürlich in Todesangst, daß nun »alles herauskommen« müsse) wie immer in seine Mechanikerwerkstatt gefahren und ging mittags 2 Uhr von der Lehrstätte fort mit der Begründung, er wolle seine Eltern von der Bahn abholen. Tatsächlich aber fuhr er, während die Eltern von Lehrte nach Hannover fuhren, seinerseits von Hannover nach Lehrte zurück, packte dort in seiner Herzensangst seine Sachen zusammen und entfernte sich mit diesen aus dem Elternhause. Erst nach und nach sickerte in den folgenden Monaten einige Kunde durch über den Verbleib des Jungen. Nachdem er aus dem Elternhause entlaufen war, traf er auf dem Bahnhof in Lehrte einen Bekannten, den Lehrling Wiese. Hogrefe erzählte dem Wiese, er werde zu Hause von den Eltern »schlecht behandelt« und wolle deshalb fort. Er bot dem Wiese sein Fahrrad zum Kauf an. Wiese, ein heller Junge, nutzte die Gelegenheit und kaufte sich billig das Rad. Natürlich schwieg er dann über die ganze Begegnung. Am Abend des folgenden Tages traf der junge Wiese den Hogrefe wieder; diesmal auf dem Hauptbahnhof in Hannover. Hogrefe hatte jetzt einen lederimitierten Handkoffer bei sich, kam lebhaft auf Wiese zu und erzählte: »Mensch, den Koffer da hab ich mir von deinem Geld fürs Fahrrad gekauft.« Der andere fragte: »Wo hast du denn geschlafen?« Hogrefe gestand, daß er auf dem Bahnhof geschlafen habe und fragte Wiese kleinlaut, ob er wohl die nächste Nacht bei ihm in Lehrte auf dem Heuboden schlafen könne. Er hatte offenbar schon wieder Sehnsucht nach Hause, wagte sich aber doch nicht, nachdem sein ganzes Lügengewebe herausgekommen war, zurück zu den strengen Eltern. Dies war am 3. April. Am 4. April gegen 8 Uhr abends traf abermals ein Bekannter aus Lehrte, der Schneidergeselle Farin den Hogrefe in Hannover vor dem Bahnhof. Aufgeregt erzählte der Junge, er sei vor einigen Tagen seinen Eltern entlaufen, er habe sein Fahrrad verkauft und sich dafür einen Koffer angeschafft, der liege in der Handgepäckaufbewahrungsstelle. Die Nacht schlafe er bei einem Herrn, den er kennengelernt habe, der in der Neuen Straße wohne und Kriminalbeamter sei. – Farin hat danach den Hogrefe nicht wieder gesehen. Aber noch einmal sah ihn ein dritter Bekannter aus Lehrte, der Lehrling Wilhelm Köhler, welcher täglich zur Arbeitsstelle nach Hannover fährt. Auch diesem erzählte Hogrefe ganz die gleiche Geschichte. »Mein Vater hat mich rausgeschmissen. Ich habe einen Koffer in der Gepäckausgabestelle.« (Und jungenhaft-stolz zeigte er dem Köhler den Gepäckschein.) Am nächsten Abend (also etwa 6. April) sah Köhler den Hogrefe mit Haarmann (von dem er wußte, daß er »Fritz« hieß und »Kriminal« sei) an einem Tische im Wartesaal I. und II. Klasse sitzen und sich unterhalten. Und nach abermals zwei Tagen (etwa 8. April) traf Köhler den Hogrefe abermals im Bahnhof und ging mit ihm ein Stück bis zur Herschelstraße, wo Hogrefe sich verabschiedete. Hogrefe erzählte, er treffe sich jetzt oft mit »Kriminal Fritz«. Von da an sah ihn niemand mehr. Den Haarmann kannten die aus Lehrte zur Arbeitsstelle fahrenden Jungen alle vom Bahnhof her. Sie hielten ihn für einen Beamten. Auch der Lehrling Walter Schnabel, der mit Hogrefe jeden Morgen zur gemeinsamen Lehrstelle fuhr, hat später bezeugt, daß Haarmann (den sie aber nicht mit Namen kannten) oft schon um 6 Uhr in der Bahnhofshalle war und sie dann immer scharf ansah. Ein älterer Werkmeister hat auch Hogrefe mit Grans und Haarmann im Gespräch gesehen. Das war aber schon im März. Alle Kleider des Verschwundenen, Marengojacke, Krimmermantel, Barchenthemd, Schal usw. sind später bei Haarmann oder bei der Engel und den Unterverkäufern zum Vorschein gekommen. Hierbei wurde die Engel zum ersten Male auf Widersprüchen ertappt. Sie will den Mantel des Getöteten unter Lumpen gefunden und ihrer Tante, die Pantoffeln macht, weitergegeben haben. Aber sie hat der Tante über die Herkunft des Mantels andere Angaben gemacht. Haarmann erklärt: »Ich nehme bestimmt an, daß ich Hogrefe getötet habe, an sein Gesicht erinnern kann ich mich nicht.« (Ließe man Haarmann vor seinem Tode seine Erinnerungen an die Getöteten niederschreiben, so würde sich herausstellen, daß er lediglich peinliche Erinnerungen verdrängt.) – Es liegt hier der Tatbestand vor: Ein verängstigter Knabe, der geprügelt werden soll, drückt sich acht Tage lang sehnsüchtig und hungrig auf dem Bahnhof herum. Der Vater selber ist Eisenbahner. Alle Jungens aus Lehrte, die zur Stadt fuhren, und viele Eisenbahnbeamten kennen den Knaben. Sie sehen ihn fortdauernd auf dem Bahnhof in Gesellschaft des Haarmann. Sie kennen aber auch alle den Haarmann. Nichts geschieht, um den Entlaufenen aufzugreifen. Und als er verschwunden ist, geschieht nichts, um – – den Haarmann zu befragen.
Der Fall Bock dürfte von allen Fällen der dunkelste sein; wenn Haarmann wirklich diese Tat beging, so dürfte es wahrscheinlicher sein, daß hier ein lang geplanter Mord verübt wurde, als nur eine Tötung im Geschlechtsrausch.
Der »Arbeiter« Bock aus Ülzen, 22 Jahre alt, war einer von denen, die sich beschäftigungslos in Hannover umhertrieben, bald auf dem Bahnhof, bald in der Altstadt. Er war blond, groß, kräftig und kühn. Haarmann kannte ihn seit 1921 »vom Bahnhof her«. Er machte mit ihm gelegentlich kleine Schiebergeschäfte oder nutzte ihn als Kommissionär beim Verkauf von dunkel erworbenen Kleidern. Als Bock Mitte April verschwand, weinte ihm keiner eine Träne nach. Nur der Dreher Fritz Kahmann aus der Neuenstraße, mit dem Bock das Zimmer geteilt hatte (er ist dümmlich, ängstlich, dumpf und unsicher und hat kleine ängstliche Augen) fragte einige Wochen nach dem Verschwinden des Bock seinen Nachbar Haarmann: »Du, Fritz, wo is eigentlich Bock geblieben?« Haarmann antwortete: »Soll ich das wissen? Wird wohl ein Ding gedreht haben, hat vielleicht von Kollegen eins auf die Platte 'kriegt.« Darauf der dümmliche Kahmann: »Fritz, du mußt es doch wissen. Er is zuletzt gesehen, wie er mit einem Koffer nach deiner Wohnung ging.« Haarmann wurde nachdenklich. Dann sagte er: »Das is mir doch alles ein Rätsel. Hermann is ein hübscher Bengel und nich auf 'en Kopf gefallen.« Kahmann darauf ängstlich: »Ich meine man, wir sollten zur Polizei gehen und ihn ›vermißt‹ melden.« »Dunnerslag«, erwiderte Haarmann, »da haste recht, Kahmann. Weißte was? Ich bin doch auf 'er Polizei gut bekannt. Ich besorge die Meldung. Und außerdem: Bei die Krankenhäuser und im Gerichtsgefängnis muß angeklingelt werden. Das mach ich alles noch heute.« Am nächsten Tage trafen sich die beiden wieder auf der »Insel«. Haarmann begann sofort: »Alle Mühe ist umsonst. Ich habe überall nachgefragt. Keiner weiß von Hermann.« (Später kam heraus, daß Haarmann nirgendwo wegen des Bock nachgefragt noch telephoniert hatte.) . . . Bock hatte noch mehrere nahe Freunde: Paul Sieger, genannt Alex, roh, blond, brutal, Franz Kirchhoff, Schlosser, 20 Jahre alt, ein defekter Junge mit kleinem Kopf, kleinen Augen, kleiner Nase, dicker Unterlippe und belegter Stimme, sowie endlich Hans Ulawski, ein langer dünner Kellner im »Simplizissimus«, welchen Haarmann so charakterisiert: »Das is der größte Gauner vom Bahnhof. Is Zauberkünstler. Zieht rum auf die Jahrmärkte.« Alle diese jungen Leute kannten Haarmann seit vielen Jahren. Sie hielten ihn stets für einen Kriminalbeamten. (Er hat ihnen oft weisgemacht: »Ich muß heute zur Konferenz aufs Präsidium.«) Sie wußten auch, daß Bock mit Haarmann zusammensteckte. Er aß mit Haarmann in der Wirtschaft bei der Engel. Er schlief auch oft bei Haarmann. Aber seine Komplizen bezeugen: »Mit Männern machte er nichts. Er war nur für die Mädchens. Er war normal.« In der Tschechoslowakei hatte Ulawski eine Braut! Zu dieser sind Bock und Ulawski zweimal zusammen hingefahren. Die Mutter des Bock, 51 Jahre alt, aus Ulzen, simpel, stumpf, glupschäugig, schwerhörig und kränklich, hat sich gar nicht um den Verschwundenen bekümmert. »Der Junge kam woll zu Weihnachten. Als am 8. April Herr Kahmann mich 'ne Karte schrieb, da dachte ich: Na, hei schall schon wedder komen.« Höchst merkwürdig ist es nun, wie die Sachen des Bock bei Haarmann »festgestellt« wurden. Als nach Festnahme des Haarmann auch Ulawski in Haarmanns Gegenwart unter den ausgestellten Sachen nachsah, fand sich gar nichts. Aber im Fortgehen fällt der Blick des Ulawski auf das Zeug, das Haarmann selber am Leibe trägt. Er stutzt, besieht sich's genau und ruft dann bestimmt: »Haarmann trägt ja Hermanns Anzug auf dem Leibe.« Haarmann lachte ihn aus und erklärt: »Die Sache ist viel zu ernst, als daß man mich da herein bringt.« Ulawski blieb bei seiner Behauptung, und da er wußte, bei welchem Schneider sein Freund arbeiten ließ, so geht er zu diesem, und der Schneider kann denn auch unter Eid bestätigen, nicht nur, daß er den Anzug, welchen Haarmann trägt, einst für Bock angefertigt hat, sondern auch, daß Haarmann selber ihn später mit der Bemerkung, er habe den Anzug für 30 Mark von Bock erworben, für seine Statur hat umändern lassen. Jetzt erinnert sich denn auch Haarmann, er habe den Anzug »vielleicht« von Bock gekauft. Aber inzwischen fand sich auch die Aktentasche des Bock. Der eingeschriebene Name: Hermann Bock, Hannover, ist ausgescheuert, aber noch klar leserlich. Die Tasche wurde von der Kleiderhexe Engel als Markttasche benutzt. Haarmann hatte sie ihr geschenkt. Alle anderen Sachen des Bock sind ebenso wie die Leichenteile aus der Welt verschwunden. Daß Lustmord vorliegt, ist nicht wahrscheinlich; der Verschwundene war ja langjähriger Bekannter, der oft bei Haarmann schlief, war nicht homosexuell und nicht mehr in dem Alter, welches Haarmann bevorzugte. Wurde hier etwa einer beseitigt, der manches gemerkt hatte und plaudern konnte? Oder lockten Koffer und Kleider? Oder war ein Zank vorausgegangen? Oder spielte alles ineinander. Es erfolgte Freisprechung.
Der Junge war immer träumerisch und verschlossen, konnte aber, wie Lehrer und Pastor ihn schildern, leicht eingeschüchtert und beeinflußt werden. Nachdem er 1923 die 1. Klasse der Bürgerschule durchlaufen hatte und eingesegnet war, brachte ihn der Vater, der Dreher Wilhelm Apel in Leinhausen, als Lehrling unter in der großen Speditionsfirma von M. Neldel in der Nikolaistraße. Er fuhr fortan jeden Morgen um 6 Uhr mit der Eisenbahn in die Stadt zur Arbeit und kam abends gegen 8 Uhr nach Leinhausen zurück. Er scheint aber in der Stadt auf Abwege geraten zu sein. Seit Beginn des Jahres 1924 beobachtet die Mutter an dem Jungen ein gedrücktes Wesen. Er saß oft grübelnd über seinen Büchern und konnte die Mutter nicht frei ansehen. Der Vater, sehr streng, lauerte in der Stadt dem Jungen auf, ertappte ihn beim Zigarettenrauchen und bestrafte ihn schwer: »Zur Strafe gehst du Ostern nicht aus der Tür, und wenn die Sonne scheint.« Den Tag darauf, am 17. April, begab sich der Junge wie gewöhnlich nach Hannover, ist aber auf seiner Lehrstelle nicht angekommen und wird seitdem vermißt. Unter den bei Haarmann beschlagnahmten oder von der Engel für Haarmann verkauften Sachen fanden sich die zumeist von der Mutter selber genähten Kleider des Jungen. Da dieser, wenn er abends nach Leinhausen fuhr, in dem von Haarmann »revidierten« Wartesaal sich aufhalten mußte, so dürfte er dort wohl die verhängnisvolle Bekanntschaft gemacht haben.
Der zweite Sohn des Werkmeisters Georg Witzel in Hannover-Linden trat nach Beendigung seiner Schulzeit im Juli 1921 als Arbeiter ein bei den Mittelland-Gummiwerken und ging im Mai 1924 über zu den »Excelsior-Gummiwerken«. Sein nächster Freund wurde der Arbeiter Friedrich Kahlmeyer, ein erst 14 Jahre alter, aber sehr frühentwickelter schweigsamer, hintersonnener, hübscher Bursche mit Mädchengesicht. Diese beiden jungen Arbeiter und gelegentlich auch der ältere Bruder Willi Witzel trieben sich viel an den Treffpunkten der Gleichliebenden um, verkehrten in dem homosexuellen »Gesellschaftshaus« an der Calenberger Straße und suchten fast jeden Abend am Bahnhof oder hinter dem Café Kröpcke (»Schwuler Kessel«, »Café Wellblech«) nach »Bekanntschaften«; gingen auch mit in die Wohnungen, wo sie Geld erhielten und gelegentlich auch bewirtet wurden. Daher war ihnen auch Haarmann, der sich oft halbe Nächte lang an diesen Treffpunkten aufhielt, genau bekannt. – Sie hatten auch mit ihm gelegentlich Verkehr. Bezüglich des hübschen jungen Kahlmeyer äußerte Haarmann nach seiner Festnahme: »Ich bereue, daß ich Kahlmeyer nicht genommen habe. Der hätte noch weg müssen.« Am 26. April 1924 erbat Robert Witzel von seiner Mutter 50 Pfennige, da er in den Zirkus gehen wolle, zog seinen guten Rock an, entfernte sich gegen 4 Uhr nachmittags und wird seitdem vermißt. Als Kahlmeyer einige Zeit nach dem Verschwinden des jungen Witzel den Haarmann traf und diesen fragte, ob er nicht wisse, wo Witzel geblieben sei, tat Haarmann ungemein erschrocken und schien noch gar nicht gehört zu haben, daß Witzel vermißt werde. Dies bestärkte den Kahlmeyer in dem Glauben, Haarmann wisse nichts von der Sache und entschuldigt ein wenig, daß dieser in gleichgeschlechtlichen Kreisen sehr beliebte Bursche aus Scham, aus Furcht vor Strafe, vielleicht auch aus Angst vor Haarmann (welcher beständig drohte: »Wenn ihr zu Hause etwas sagt, laß ich euch verschütt gehen« [d. h. bring ich euch ins Gefängnis oder in die Fürsorgeerziehung]) auch den Eltern des Verschwundenen gegenüber die homosexuellen Beziehungen völlig verschwieg. Die Eltern und der Bruder wollen in dem am 20. Mai 1924 im Lustgarten angetriebenen Schädel bestimmt den des Verschwundenen erkennen und zwar an der eigenartigen Zahnbildung (die vorderen Zähne waren abgedacht und geriffelt, und ein Backenzahn war einige Zeit vorher ausgebohrt, aber noch nicht mit einer Plombe gefüllt worden). Der Dentist, der den Witzel behandelte, erkennt aber den Schädel nicht wieder, und Haarmann glaubt gerade in diesem Fall genau zu wissen, daß er den Schädel des Witzel zertrümmert habe. Vollkommen gesichert dagegen ist die Dieselbigkeit der bei Haarmann und seinen Hehlerinnen gefundenen Kleider, Stiefel, Wäsche, Schlüssel usw. Auch fand sich in einer von Theodor Hartmann, dem Sohn der Engel, getragenen Hose eine Ausweiskarte auf den Namen Robert Witzel, welche der Hartmann dem Haarmann zurückgab. Haarmann glaubt, daß er den Witzel gleich in der ersten Nacht, wo er ihn bei sich hatte, getötet und die Leichenteile in die Leine geworfen habe.
Der Vater Bauklempnermeister Georg Martin in Chemnitz war 1918 in Frankreich gefallen. Der zehnjährige Heinz war zurückgeblieben mit Mutter und Schwester. Er war ein guter, ordentlicher Junge, bis Ostern 1924 Schüler des Realgymnasiums, dessen junges Leben zwei große Ereignisse hatte, der Besuch mit einer Schar anderer Sekundaner in Bremerhaven 1921 und nochmals 1922. Seither träumte er davon, Schiffsingenieur zu werden, baute Schiffe und las Reisegeschichten. Ostern 1924 wurde er konfirmiert und sollte nun zunächst in der Strickmaschinenfabrik als Schlosserlehrling lernen; aber seine Jungensträume steuerten in die weite Welt. Die Mutter war ernst und streng. Seinem Freunde und Mitlehrling Horst Clemens gegenüber erschloß er sein Herz: »Ich möchte wieder nach Bremerhaven auf das große Schiff. Was hab ich hier? Muß die Küche aufräumen. Das Bett machen. Ist das etwas für Jungen? Wundert euch nicht, wenn ich mal davongehe.« Zur Einsegnung hatten die Verwandten dem Jungen ein Geldgeschenk gemacht; insgesamt 32 Mark; er kam sich damit reich vor. Er trug den Besitz immer bei sich. »Du mußt sparen«, sagte die Mutter, »gib mir das Geld; ich brings auf die Sparkasse.« Der Junge, errötend, sagt: »Och, das liegt in der Fabrik in meinem Werkzeugkasten.« Die Mutter, fühlend, daß da etwas nicht stimmt, meint: »Nun, ich will morgen nachmittag doch in die Fabrik; ich sehe dann mal nach.« Das war am 8. Mai. Am 9., wie immer, geht der 14jährige in die Fabrik, kommt dort nachmittags 2 Uhr zu seinem Werkmeister und bittet: »Morgen muß ich nach Leipzig zur Beerdigung meiner Großmutter. Kann ich wohl einen Tag Urlaub haben und einen Passierschein?« »Gewiß, mein Junge«, sagt, keine Lüge ahnend, der Werkmeister. Der Junge packt seine Sachen zusammen, geht und bleibt seitdem verschwunden.
Vor dem Schwurgericht in Hannover stehen zwei Frauen, wie aus dem Grabe entstiegen, im Feuer äußersten Leidens geläutert. Acht Wochen lang suchte man nach dem Kinde, aber fand keine Spur. Man dachte wohl an Bremerhaven und an seinen Wunsch, Schiffsbauingenieur zu werden. Aber merkwürdigerweise hatte er von seinem Konfirmationsgeld 20 Mark im Werkzeugkasten zurückgelassen. Er konnte also höchstens 12 Mark bei sich haben. Sollte er nun aber gar darum entlaufen sein, weil er fürchtete, daß die Mutter am Nachmittag kommen und das Geld nachzählen werde, so hatte er jedenfalls den Rest oder einen Teil des Restes schon früher verbraucht und war also in diesem Falle ganz ohne Geld oder mit sehr wenig Geld fortgelaufen. Nur bekleidet mit seiner blauen Marinesportmütze, mit seiner blauleinenen Schlosserjacke, einem weiß-rot-gekästelten Hemd und einer braunen Unterjacke. Es war wohl kaum zu vermuten, daß er in diesem Zustand aus Chemnitz herauskam. Aber als im Juni die großen Leichenfunde in Hannover aufkamen, fuhren doch die beiden Frauen nach Hannover, um die aus Haarmanns Umgebung zusammengebrachten Sachen immerhin mal anzusehen. Und da finden sie unter den 400 Fundstücken die Kleider ihres Heinz. Auf eine sehr merkwürdige Weise wird das in das Schweißleder der Marinemütze eingepreßte Monogramm H. M. völlig sichergestellt als das des Kindes. Man schickte die Mütze an die kleine Hutfabrik, von der die Mütze des Knaben bezogen war, und diese wies nach, daß in dem gestanzten M sich ein Merkmal (eine defekte Stelle) befindet, das nur in einer von ihr bezogenen Mütze sich befinden kann. Aber wie ist der Knabe nun nach Hannover gelangt? Es läßt sich nur vermuten, daß er entweder vielleicht von einem Helfer des Haarmann verschleppt wurde oder auf dem Wege nach Bremerhaven in Hannover aussteigen und sich Arbeit suchen wollte, daß er dann auf dem Bahnhof gleich allen anderen Knaben dem Haarmann in die Arme lief. Haarmann hat nach anfänglichem Leugnen die Tat zugegeben.
Der Fall Wittig und der Fall Hannappel waren die beiden Fälle, in denen Haarmann behauptete, auf Befehl und unter dem Einfluß des Hans Grans getötet zu haben. Er bezeichnet beide Fälle immer mit dem Kennwort »Düsseldorfer«. Den Hannappels, weil er über diesen nur wußte, daß er »aus Düsseldorf« sei, den Wittigs, weil (wie er behauptet) Wittig einen rheinländischen Dialekt sprach. Aber während im Fall Hannappel das Gericht den Hans Grans wegen Anstiftung zum Morde (nach § 49 StGB) zum Tode verurteilte, wurde Grans im Falle Wittig nur der Beihilfe zum Morde schuldig befunden und zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt. Als Beweggrund zur Anstiftung wie zur Beihilfe nahm das Gericht an, daß Grans die Kleider der Getöteten für sich begehrte. Für den Psychologen, der die gedrungene Vielheit aller Antriebe auch im scheinbar einfachsten Falle kennt und der weiß, daß man Taten immer nur vom nachhinein vereinfachend auf ein Motiv zurückführt (worin sich jene beruhigende Ökonomie des menschlichen Denkens kundtut, die ich »logificatio post festum« nannte), kann der Fall nicht so klipp und klar liegen, wie für die Rechtsprechung, welche die Urteile zu ihrer Beruhigung findet: »non quia peccatum sed ne peccetur«. Wir müssen also uns bemühen, die Untiefen dieses wunderlichen Falles zu erschürfen. – Fritz Wittig war ein gutgebauter, reichveranlagter Junge von 17 Jahren, 1,73 m groß mit langem, nach hinten gekämmtem blondem Haar, das an den Schläfen in Wellen abstand. Sein Vater, ein Kesselschmied in Kassel, und sein junger Schwager, der Kaufmann Hermann Schaad waren über den hübschen begabten Jungen, der in einer Spirituosenfabrik als Lehrling arbeitete, sehr ungehalten, weil er schon früh mit jungen Mädchen sich abgab; sie ahnten aber noch nicht, daß er auch homosexuelle Bekanntschaften gemacht hatte. Nach einem Zerwürfnis mit dem Vater, der dem Sohn seinen Leichtsinn vorhielt, entfernte der Junge sich am 27. April aus Kassel, nahm dabei einen seinem Chef gehörigen schwarzen Lederkoffer mit, in den er seine Kleider und Wäsche einpackte und versuchte, auswärts Arbeit zu erhalten. Am 30. April stellte er sich bei der Inhaberin der Süßwarengroßhandlung Carl Zwanzig in Hannover auf der Goethestraße vor und bat um Beschäftigung als Reisender. Da er einen guten Eindruck machte, und sein Lehrzeugnis deponierte, so wurde er zum Besuch der Stadtkundschaft angestellt. Er trat am 1. Mai die Stelle an, erhielt Muster, die er in einem schwarzen Koffer (offenbar der in Kassel unterschlagene) verpackte, kam aber am Abend zurück und sagte, daß es ihm nicht gelungen sei, etwas zu verkaufen. Auch am 2. Mai abends kam er wieder und berichtete, daß er nichts habe verkaufen können, gab die Muster wieder ab mit der Begründung, daß seine Mutter in Kassel schwer erkrankt sei und daß er deshalb nach Hause fahren wolle und ließ sich auch sein Lehrzeugnis zurückgeben. Am Abend des 3. Mai erschien er aber schon wieder bei Zwanzig und erklärte, daß er am Montag noch einmal den Versuch machen möchte, Ware zu verkaufen. Den schwarzen Koffer und sein Lehrzeugnis hatte er aber nicht mehr bei sich, sondern angeblich in Kassel zurückgelassen. Am Montag, den 5. Mai, stellte Herr Zwanzig eine umfangreiche Musterauswahl zusammen und übergab ihm hierzu seinen eigenen Koffer, sowie ferner einen zweiten flachen schwarzen Koffer mit einer Anzahl Mustergläsern. Fritz Wittig entfernte sich mit den beiden Koffern und kehrte nicht zu Zwanzig zurück. Wie sich nachher herausstellte, war seine Erklärung über die Erkrankung seiner Mutter und den Verbleib seines Koffers nicht wahr gewesen. Eine Verwechslung der Person ist darum unmöglich, weil Wittig durch einen verkümmerten rechten Arm und eine unbrauchbare rechte Hand leicht erkennbar war. Die Angehörigen Wittigs erhielten von diesem am 4. Mai einen in Hannover abgestempelten Brief, in welchem er als seine Anschrift »Gasthaus Dißmer, Heiligerstraße« angab, woselbst er in der Tat eine Nacht geschlafen und dann mehrmals gegessen hat. Später erhielten die Angehörigen noch eine Karte mit Bahnpoststempel Hannover-Bebra, 14. Mai. Von da ab bekamen sie keine Nachricht weiter; konnten auch durch die Polizei nichts mehr erfahren und fanden erst wieder Spuren des Verschwundenen, als nach Ausstellung der bei Haarmann gefundenen Gegenstände sie nach Hannover fuhren und unter den Gegenständen den bei Grans beschlagnahmten Anzug sowie das bei Haarmann beschlagnahmte Notizbuch mit der Handschrift des Vermißten fanden. In dem Notizbuch befand sich ein Kalender auf der letzten Seite. Auf ihm waren die Tage bis zum 23. Mai einschließlich durchstrichen. Außerdem lag darin ein Zettel folgenden Inhalts: »Gebe hiermit Herrn Hans Grans einen grauen Anzug in Kommission; selbiger muß bis Montag Abend, den 26. Mai, wieder in meinen Händen sein, widrigenfalls 40 Goldmark bis zum 26. Mai 1924 zu zahlen sind. Hannover, den 26. Mai.« Die Zahl 40 war durchstrichen und statt ihrer zwanzig in Buchstaben darüber geschrieben. Dieser konfuse Zettel, der die Unruhe eines unklaren Augenblicks zu atmen scheint, ist geschrieben in Haarmanns großer, korrekter, nach rechts überwiegender, stark gebundener, an Zeichen für Vorsicht, Zurückhaltung und Hinterhalt überreichen Schrift und ist unterschrieben von Haarmann und von Grans. Es handelt sich offenbar um eine zwischen Haarmann und Grans getroffene Abmachung bezüglich des von dem Getöteten getragenen Anzugs. – Es trat nun nach der Zeugenvernehmung als wahrscheinlich hervor, daß Wittig in der Nacht des 26. Mai von Haarmann getötet wurde und daß Grans am 27. Mai den Anzug von Rote Reihe 2 abgeholt hat. – Hat Grans von dem Mord gewußt? Hat er ihn selber angestiftet? Zwei Zeugen wurden aufgefunden, welche auszusagen vermögen, was der Verschwundene getrieben hat zwischen dem 5. Mai, wo er mit den Koffern der Schokoladefirma Zwanzig davonging, und dem 26. Mai, an welchem er (wahrscheinlich) getötet wurde. Es ist zunächst wahrscheinlich, daß Wittig am 4. Mai, einem Sonntag, aus unbekanntem Grunde nach Bielefeld fuhr. Ein Reisender namens Fritz Brinkmann hat ihn auf der Fahrt von Bielefeld nach Hannover kennengelernt. Wittig erzählte diesem Mitreisenden, daß er bisher bei der Schokoladenfirma Zwanzig tätig gewesen sei und sich nun auf der Suche nach Arbeit befinde. Auf dem Bahnsteig in Hannover wurde Wittig von einem Bekannten angesprochen, den er dem Brinkmann als Kriminalbeamten Haarmann vorstellte, dieser Bekannte hat dann Wittig zu einem Glase Bier eingeladen. In den folgenden Tagen will Brinkmann den Wittig noch wiederholt in Gesellschaft des Haarmann getroffen haben. Er behauptet, auch Grans mit Wittig gesehen zu haben, wie sie eingehakt am Ernst-August-Platz zusammen spazierengingen. Bei einer dieser Begegnungen soll Wittig dem Brinkmann erzählt haben, er habe Aussicht, auf der deutschen Werft in Hamburg Arbeit zu erhalten und habe keine Lust mehr, in Hannover zu bleiben. Bei einer späteren Begegnung aber erzählte er, sein Freund Haarmann habe ihm nun doch geraten, lieber in Hannover zu bleiben. Durch den zweiten Zeugen, den Schneider Richard Huth, wurde festgestellt, daß der junge Wittig in seinen arbeitslosen Stunden an mann-männliche Kreise herangetreten war und an dem Sammelpunkt hinter Kröpcke offenbar Bekanntschaften gesucht hat. Huth, ein alter Bekannter von Haarmann und Grans, bekundet, daß er Anfang Mai hinter Kröpcke mit Haarmann (den auch er stets für einen Kriminalbeamten hielt) im Gespräch stand, als ein hübscher junger Mann auf ihn zugetreten sei und um Feuer gebeten habe. Haarmann sei diskret fortgegangen. – Als der junge Mann ihm sagte, er sei arbeitslos und hier fremd und wäre froh, wenn er erst einmal für diese Nacht Unterkunft hätte, bot Huth ihm an, die Nacht bei ihm zu verbringen. Inzwischen trat aber Haarmann in Gesellschaft von Grans wieder an ihn und den Fremden heran und forderte sie beide auf, zu einem Glase Bier mitzukommen. Sie gingen alle vier in die Gastwirtschaft »Alte Reichshand« in der Gr. Packhofstraße, wo Grans immer von neuem zum Trinken animierte (obwohl er die Zeche zahlte), während Haarmann zur Mäßigung mahnte. Nach Eintritt der Polizeistunde entfernten sie sich aus der Wirtschaft und Huth kam von den anderen ab, da ihm vorm Corso-Café ein Mädchen im Übermut den Hut vom Kopfe nahm. Er holte sie dann am Bahnhof wieder ein, traf aber nur noch Haarmann, der auf die Frage nach dem Verbleib der anderen erwiderte, der Unbekannte sei mit Grans gegangen. Als Huth hierauf bemerkte, er denke, Grans sei doch gar nicht »so veranlagt«, sagte Haarmann: »Er hat jedenfalls einen Bock auf ihn.« Darauf haben sich dann auch Haarmann und Huth voneinander verabschiedet. – Dies wären also die Zeugnisse für die Vorgänge, durch welche Wittig von Grans und Haarmann eingefangen und gleichsam dem Huth abgejagt wurde. Nun machen aber Haarmann und Grans über den Zusammenhang verschiedene Angaben. Haarmann (der diesen Mord von Anfang an zugeben mußte, weil des verstümmelten Arms wegen sein ewiges: »Ich erinnere mich an meine Opfer nicht«, unglaubwürdig gewesen wäre) behauptete sogleich, Grans habe am Café Kröpcke ihn auf den mit Schneider Huth sprechenden jungen Mann aufmerksam gemacht mit den Worten: »Du, den Anzug muß ich unbedingt haben. Meiner geht schon an den Ärmeln entzwei.« Er, Haarmann, sei dann auf Grans' Drängen an den Fremden herangetreten und Grans habe alles Folgende eingefädelt und den Wittig dazu überredet, statt mit Huth lieber doch mit Haarmann zu gehen, welcher »sehr gut« sei und ihm auch zu essen geben werde. Haarmann hat dann den Unbekannten nach der Roten Reihe verschleppt; aber beim Geschlechtsverkehr Anstoß genommen daran, daß die rechte Hand unbrauchbar war. Er hat daher am folgenden Tage Wittig wieder weggeschickt. Von da an aber sei Wittig auf Grans' Veranlassung dennoch immer wieder gekommen. Als Haarmann, der den Fremden nicht leiden mochte, ihn wieder wegschickte, habe dieser abends vor der Wohnung aufgepaßt und als er Licht im Zimmer bemerkte, so lange gerufen und gepfiffen, bis Haarmann den Hausschlüssel herunterwarf. (Welche Vorgänge denn auch von Hausbewohnern bestätigt werden.) Am dritten Tage ließ sich Haarmann (wie die Engel bestätigt) vor Wittig verleugnen, der aber kurz darauf zusammen mit Grans wiederkam. Grans sei in diesen Tagen wiederholt zu ihm gekommen und habe gefragt, wann er denn nun den Anzug bekäme. Haarmann habe gesagt: »Ich kann den Menschen nicht lieben.« Worauf Grans äußerte: »Man macht das doch leichter bei einem, den man nicht liebt.« Am vierten Tage gegen Mittag sei Wittig freudestrahlend wiedergekommen und habe erzählt, daß es ihm gelungen sei, in Hamburg Arbeit zu erhalten. Er wolle am Nachmittag zwischen 5 und 6 Uhr mit einem Transport abreisen. Aber am Abend um 11 Uhr traf dann Haarmann den Wittig auf dem Bahnhof in Gesellschaft von Grans, der ihn von der Reise abgehalten habe. (Was denn freilich den Angaben des Brinkmann widerspricht, wonach Wittig erzählte, daß Haarmann selber ihn abhielt.) Grans habe ihn beiseite genommen und leise gesagt: »Fritz, du Idiot, der Anzug paßt mir doch. Nimm den Jungen doch mit. Ich möchte den Anzug doch so gern haben.« – Um endlich vor Grans Ruhe zu haben, habe er an diesem Abend Wittig wieder mitgenommen und getötet, und, als er am Morgen mit Zerstückeln der Leiche beschäftigt gewesen sei, sei Grans des Anzugs wegen schon erschienen. Er, Haarmann, habe (da Grans dergleichen nicht sehen konnte) die Leiche schnell unters Bett geschoben und sich die blutigen Hände gewaschen. Grans aber habe hastig gefragt: »Was riecht hier so schlecht?« und »Wo ist das Zeug?« Als Haarmann sagte: »Der (womit er Wittig meinte) ist nicht mehr da«, habe Grans sofort zu suchen angefangen; er aber, Haarmann, habe sich vor das Bett hingestellt und dem Grans den Schlüssel zu der von Hannappel hinterlassenen Truhe gegeben; daraus habe sich Grans den Anzug des Wittig hervorgezogen; dann sei er ihm um den Hals gefallen, habe ihn geküßt und gesagt: »Fritz, du bist doch der Beste. Auf dich kann ich mich immer verlassen.« Haarmann habe sodann gejammert, er habe an Wittig über 40 Mark Kosten gehabt, die müsse Grans mittragen. Grans habe dann auch gleich 8 Mark angezahlt und über den Rest hätten sie das in Wittigs Notizbuch vorgefundene Schriftstück sogleich aufgesetzt, weil er, Haarmann, gefürchtet hat, daß Grans ihn bemogeln wolle. – Grans erklärt alle diese Angaben für nur halbwahr. Er erzählt die Sache so: »Nicht ich habe mich an den mit Huth am Café Kröpcke stehenden jungen Mann herangemacht, sondern Haarmann hat mir gesagt: ›Du, auf den hab ich einen Bock.‹ Nicht ich habe Haarmann gesagt, daß ich von einem anderen das Zeug haben möchte, sondern Haarmann hat zu mir (im Fall Hannappel wie im Fall Wittig) gesagt: ›Schau mal den Anzug da; möchtest du den wohl haben?‹ Ich habe gelacht, weil ich nicht glaubte, daß er durch irgendeine Gaunerei mir den Anzug verschaffen könne. Als er ihn mir dennoch verschaffte, habe ich wahrhaftig nicht denken können, daß er das durch einen Mord getan hatte. Ich habe nicht das mindeste dazu getan, den Wittig gefügig zu machen, daß er mit Haarmann mitgehe. Ich habe aber in der Tat am 26. Mai den Anzug des Wittig von Haarmann bekommen und habe ihm dafür eine Anzahlung gemacht. Haarmann forderte zuerst 40 Mark, ließ den Anzug aber auf mein Bitten mir dann für 20 Mark.« – Aus der Besichtigung des mit Zwischenbügel versehenen Haarmannschen Bettes ergibt sich zweifelsfrei, daß es unmöglich wäre, eine Leiche darunterzuschieben. Nun bestätigt freilich die Engel, daß Haarmann wiederholt sich vor Wittig verleugnen ließ und sich sogar in ihrer Küche versteckte. Der Fremde, den sie in Wittigs Bilde wiedererkennt, hat auch ihr voller Freude erzählt, er habe Arbeit in Hamburg gefunden und wolle am Nachmittag weiterreisen, ist dann aber am Abend desselben Tages doch in Begleitung von Grans und Haarmann wieder mitgekommen. – So drängt sich schließlich der ganze Fall zusammen in die folgende Frage der Seelenkunde: Ist der sicher bewiesene Umstand, daß Haarmann den jungen Wittig wiederholt abwies, ein Erweis dafür, daß der Mord durch Grans aufgedrängt sein muß? Zunächst möge man bedenken, daß Haarmann nicht immer nur aus sexueller Begierde tötete. Es wäre möglich, daß er selber das Zeug des Wittig sich oder dem Grans verschaffen wollte (sei es als Geschenk, sei es gegen Bezahlung, sei es, um zu imponieren, oder um zu werben, oder aus irgendeinem anderen Beweggrund). Es wäre aber auch dies möglich, daß eine dunkle Triebangst ihn vor dem jungen Wittig sich verstecken ließ, indem er ihn töten wollte und auch wieder nicht wollte und daß gerade erst der Umstand, daß da ein anderer sich immer wieder anbot und aufdrängte (möglicherweise nur, um mit Unzucht Geld zu verdienen), schließlich die sexuelle Wolfswut aufgestachelt hat. So bin ich zuguterletzt geneigt geworden, zwar (wie auch in mehreren anderen Fällen) eine dunkle Mitwisserschaft des Grans, keinesfalls aber Anstiftung und auch nicht Beihilfe zum Mord anzunehmen.
Ein zehnjähriges Kind, 1,10 m groß, volles niedliches Gesicht, Haare nach Pony-Art geschnitten, Ebenbild seiner dreizehnjährigen Schwester Alix, Sohn des Schlossers Wilhelm Mayhöfer und seiner Frau Therese, verwitwete Abeling, in der Rautenstraße, ein ruhiger und ordentlicher Junge, hatte am 25. Mai 1924 die Schule versäumt und war dafür bestraft worden. Am 26. Mai bat er die Mutter um 20 Pfennig. Der Lehrer wolle mit der Klasse einen Ausflug machen. Die Angabe erwies sich als unwahr. Er hatte bei seinem Fortgehen nichts an, als einen grauen Sweater mit grüner Borde. Er blieb vermißt. Am 17. Juni spielten Kinder in der Rautenstraße. Da trat an die 12jährige Anni Stümpel ein Mann heran mit der Frage: »Kennst du Alice Abeling?« »Es ist die dort«, sagte das gefragte Kind, worauf der Mann an die kleine Alice herantrat mit den Worten: »Guten Tag, Alice, ich komme von deiner Mutter und habe eine Karte dagelassen. Deine Mutter wird dir das schon erklären. Ich bin ein Freund von deinem Vater. Ich wollte dich nur mal sehen.« Er gab ihr die Hand und entfernte sich. – Eine Karte ist in der Wohnung der Eheleute Mayhöfer nicht abgegeben worden. Die beiden Mädchen haben als denjenigen Mann, der sie angesprochen hat, mit voller Bestimmtheit Haarmann wiedererkannt. Sie geben nur an, daß Haarmann einen schwarzen Schnurrbart trug, während er in Wirklichkeit einen blonden hat. Es konnte aber festgestellt werden, daß Haarmann in der Tat einen kleinen schwarzen Schnurrbart besaß, den er sich anklebte, wenn er sexuelle Streifzüge unternahm. Am 25. Juni wurde am Lustgarten des Leineschlosses ein Kinderschädel angespült, doch konnte nicht mit Sicherheit der des verschwundenen Abeling darin erkannt werden. Dagegen fand man seinen grauen Sweater mit grüner Borde. Er lag seit Ende Mai auf der Nähmaschine der Engel, wurde dann von Grans mitgenommen, der ihn an seine Mutter für seinen kleinen Stiefbruder Alfred verschenkt hat. Die Stubennachbarin des Haarmann, Frau Lindner, erinnert sich, daß gegen Ende Mai ein kleiner Knabe, den sie dem Bilde nach als den kleinen Abeling wiedererkennt, nach Rote Reihe 2 gekommen ist und nach Haarmann gefragt hat. Sie habe dem Kinde, das ihr leid tat, gesagt: »Kind, geh man nach Haus, der Onkel will nichts Gescheites von dir.« Der Knabe bekam einen roten Kopf und ging fort. Es ist anzunehmen, daß Haarmann den aus Furcht vor Strafe sich umhertreibenden Knaben angesprochen und durch Versprechungen von Geschenken in seine Wohnung gelockt hat. Die Alice Abeling kannte er wohl von den Schilderungen ihres Bruders und hat sie aus Neugierde aufgesucht. Es ist das ein psychologisch merkwürdiger Umstand, aber ein Beweis dafür, daß die beständige Beteuerung, daß er sich an die Gesichter seiner Opfer nicht entsinnen könne, durchaus unwahr ist.
Friedrich Koch, Schlosserlehrling, 16 Jahre alt, Sohn des Malers Fr. Koch in Herrenhausen, verschwand am 5. Juni. Er fuhr morgens um 7 Uhr regelmäßig mit der Bahn zur Arbeit; in Gesellschaft des Schlosserlehrlings Paul Warnecke. Auf dem Bahnhof hatten beide den Haarmann kennengelernt. – Am 5. Juni nachmittags gingen die jungen Schlosserlehrlinge Koch, Rubi und Böcker durch die Altstadt zur Fortbildungsschule. Koch trug eine Wachstuchtasche, in der sich das Lehrbuch von Duden befand. An der Ecke vom »Tiefental« schlug ein Mann, den Rubi und Böcker nicht kannten, aber bei der Gegenüberstellung aufs bestimmteste als Haarmann wiedererkannt haben, den Koch mit dem Spazierstock an die Stiefel und fragte: »Na Junge, kennst du mich nicht mehr?« Koch blieb stehen, winkte den Freunden Abschied und wurde seither nicht mehr gesehen. Es fanden sich weder Kleider noch Leichenteile. Nur die Aktentasche des Kindes sowie der Duden, in welchen der Knabe seinen Namen eingeschrieben hatte.
Der 17jährige Sohn Erich des Kaufmanns Max de Vries in Hannover, welcher bei seinem Onkel, dem Bäckermeister Schulze in Celle in der Lehre war, fuhr Pfingsten 1924 auf Besuch zu den Eltern. Er war ein gesunder, schöner, wenig welterfahrener, leichtgläubiger Junge. Da die Eltern gerade einen Pfingstausflug machten, fand der Knabe die Wohnung verschlossen und ging zu seiner in der Herschelstraße wohnenden Tante, wo die Eltern auch einen Hausschlüssel für Erich abgegeben hatten. Er blieb dort bis abends ½11 Uhr, nahm dann Abschied und sagte, er wolle nun nach Hause zur Hildesheimerstraße. Als die Familie gegen 12 Uhr vom Ausfluge nach Hause kam, war der Junge nicht in der Wohnung, so daß man annahm, daß er entweder bei der Tante oder gar nicht aus Celle herübergekommen sei; man legte wie immer die Sperrkette vor die Flurtür. Am nächsten Morgen gegen 10 Uhr erschien der Knabe und erzählte seiner Stiefmutter, er habe in der Nacht zweimal gegen 3 und gegen 6 Uhr an der Flurtür geklingelt, da er der Sperrkette wegen nicht öffnen konnte; der Hund habe sehr laut gebellt, da aber niemand geöffnet habe, sei er fortgegangen und sei die ganze Nacht mit zwei Männern, einem jungen und einem älteren durch die Altstadt spazierengegangen. Die Erzählung erschien durchaus unglaubhaft. Am 12. Juni bat Erich um Erlaubnis, mit einem Freund, einem schon ausgelernten Bäckerjungen ausgehen zu dürfen. Am 14. Juni morgens 10 Uhr ging er, wie fast regelmäßig, nach der Ohe zum Baden. Der Vater mahnte ihn, er möge zeitig wiederkommen, denn er wolle mit ihm heute zum Bäcker-Obermeister, damit er eine Stelle in Hannover bekomme; der Junge brachte seine Freude zum Ausdruck, daß er in Hannover bleiben dürfe. Er ist an diesem Morgen nicht zurückgekehrt. Seine Schwester, die 11jährige Hildegard, bekundet, daß am 10. Juni, als ihr Bruder in der Ohe badete, und sie derweil auf seine Sachen aufpaßte, ein Herr am Ufer gestanden habe, den sie jetzt bestimmt als Haarmann wiedererkennt, die Badenden aufmerksam beobachtete und dann ihren Bruder, als dieser aus dem Wasser stieg, eine Zeitlang genau betrachtet habe. Haarmann sei dann auf sie beide zugetreten, habe nach der Tageszeit gefragt und habe sich entfernt. Man fand den Anzug, kenntlich besonders an einem von einer Zigarette eingebrannten kleinen Loch im linken Hosenbein, die Seidenflorstrümpfe, das Batikziertüchlein, die Brille und den von der Schwester geschenkten Taschenkamm in Haarmanns Wohnung, der sich denn auch zuletzt bequemte, die Untersuchungskommission zum Teich am Eingang des Schloßgartens zu führen, wohin er (in der Aktentasche des getöteten Koch) die Leichenteile in vier Gängen getragen hatte. – Er meint, daß er die Bekanntschaft des Erich de Vries auf dem Bahnhof gemacht habe. Er hat ihn wahrscheinlich, wie er es beständig tat, mit Beschenken von Zigaretten an sich gelockt.