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Das Gerichtsgebäude in Hannover, um 1880 im schlechten Geschmack einer falschen Renaissance gebaut, hat einen altmodischen, etwa hundertfünfzig Personen fassenden Saal. Er ist überdeckt mit einem Glasdach, das die Gesichter in mattes Geisterlicht taucht. Am Nordende sitzt das Publikum, an jedem Tage achtzig Personen, zumeist Angehörige der Gerichtsherren oder Neugierige, die ihre Zutrittskarten mühsam nach stundenlangem Stehen erbeten oder sich teuer gekauft haben. Vor der Schranke, die das Publikum abscheidet, stehen einige Bänke für die Zeugen und bevorzugte Sitze für Vertreter der Behörden; den Oberpräsidenten Noske, den Regierungspräsidenten v. Velsen, den Polizeipräsidenten v. Beckerath, den Vertreter des Justizministeriums Dr. Weiß, einige Vertreter der Jugendfürsorge, der Ärzteschaft, der Polizei. Am Südende des Saales auf erhöhter Empore thront das Gericht. In der Mitte des langen Tisches der Präsident, Landgerichtsdirektor Dr. Bökelmann, am rechten Ende des langen Tisches der Oberstaatsanwalt Dr. Wilde. Daneben der zweite Staatsanwalt Robert Wagenschieffer. Dann zwei beisitzende Richter, Landgerichtsräte Harten und Kleineberg. Am linken Ende sitzt der Ersatzstaatsanwalt Jasching und der Protokollführer Hoßfeld. Eingerahmt von diesen Justizpersonen sitzen hinter dem grünen Tische sechs Geschworene und zwei Ergänzungsgeschworene. Die Geschworenen sind: Landwirt Wesche aus Hüpede, Zimmermann Harse aus Bodenwerder, Schneider Untorf aus Pyrmont, Schmied Heise aus Engelbostel, Postassistent Ahrens aus Holzhausen, Korbmacher Ackmann aus Kreiensen. Links an der Fensterseite des Saales ist die Anklagebank. Neben und zwischen den beiden Angeklagten sitzen zwei Sicherheitspolizisten und ein Kriminalassistent. Vor der Anklagebank haben ihren Platz die zwei Offizialverteidiger: Justizrat Benfey für Haarmann, Rechtsanwalt Lotze für Grans. Neben ihnen fünf Sachverständige: zwei Gerichtschemiker namens Lochte und Feise aus Göttingen, sowie als psychologische Gutachter: Geheimrat Schultze aus Göttingen, Gerichtsmedizinalrat und Polizeiarzt Schackwitz und der Gefängnisarzt, Gerichtsmedizinalrat Brandt. Gegenüber an der Türseite des Saales sitzen 21 »Herren von der Presse«, neun als Vertreter der in Hannover erscheinenden Lokalblätter, fünf als Vertreter von Telegraphenbüros, ferner drei Berichterstatter von außerhannoverschen Zeitungen, ein amerikanischer und ein französischer Berichterstatter, dazu vier Zeichner.
Es ist ein Provinzgericht, darin weder hervorragende Strafrechtler, noch tiefblickende Seelenforscher, noch auch bedeutende Schriftsteller vertreten sind. Der Gerichtshof hat die Aufgabe, einen für ganz Europa beunruhigenden Kriminalfall »ohne öffentliches Ärgernis gemäß § 263 der Reichsstrafprozeßordnung unter Vermeidung der Bloßstellung von Ämtern und Behörden innerhalb 12-14 Verhandlungstagen rasch zu erledigen«. Für diese Aufgabe erscheint der Vorsitzende als der rechte Mann: kurzangebunden, gradlinig, grobdrähtig, eng und bestimmt. Man könnte ihn mit Fritz Reuter etwa so charakterisieren: »Hei was so en lütten smuken korten aewer bostigen Staemling, wat bölken daut as en Feldweiwel un forsch die Justiz exerziert; aewer von dat lise Sinieren und dat Sick-inwenig-bekieken, dadervon deiht hei nichts verstahn so'n priken Kirl.« – Besinnlicher, durchgeistigter, auch »besser im Bilde« erschien der Oberstaatsanwalt, ein müder Aristokratentyp; vielleicht von menschlicher Feinheit, aber so frei von der schönen Fähigkeit des fanatischen Rechtsethos, daß man aufstöhnen mochte mit Zarathustra: »O, ich wollte doch, Ihr hättet einen Wahnsinn, womit Ihr geimpft wäret. Und ich wollte Euer Wahnsinn hieße: die Wahrheit oder die Gerechtigkeit!« – Minder bedeutsam: der zweite Staatsanwalt, ein kulörbrüderlicher sympathischer, ehrenfester Mann, der schlechtes Juristendeutsch redet. Die Beisitzenden würdig-ernst, aber ohne die Möglichkeit, während der ganzen Verhandlungen auch nur ein Sterbenswörtchen zu entäußern. Vollends nur Tapetenfiguren: die Geschworenen. Unglücklich in ihren Stühlen dahindämmernd und vollkommen unfähig, auch nur einen einzigen Fall klar zu durchdringen oder bewußt vor der Fantasie aufzubauen. Immerhin war dieser Gerichtshof bedeutend zu nennen im Vergleich zu der völlig unfähigen Verteidigung, mit welcher die beiden Angeklagten eigentlich vorweg bestraft wurden. Da sie nämlich kein Geld hatten, um sich ernsthafte Verteidiger kommen zu lassen, so mußte von Amts wegen jedem ein Offizialverteidiger bestellt werden. Zwar hatte ein bedeutender Berliner Kriminalist sich zur kostenlosen Verteidigung des Werwolfs erboten, aber es war dem Haarmann, der eine beständige Angst vor »Kommunisten« hat, eingeredet, sein Berliner Anwalt stünde mit den »Kommunisten« in Verbindung. (Die Reichstagsabgeordneten Katz und Gohr behaupteten, daß Haarmann auch als politischer Spitzel gegen ihre Partei in den Revolutionstagen verwendet worden sei. Sollte das wahr sein, so wäre seine ewige Angst vor »Kommunisten« psychologisch erklärlicher.) Er hatte im letzten Augenblick darum gebeten, man möge ihm statt des »Berliner Kommunisten« doch einen beliebigen Offizialverteidiger stellen. Nachdem zwei jüngere Anwälte die schwere, heikle Aufgabe abgelehnt hatten, war die Wahl auf einen Rechtsanwalt und Notar gefallen, der in zahllosen kleinen, provinziellen Mikkerprozessen alt und grau geworden, nicht die mindeste Möglichkeit besaß, eine der schwierigsten Aufgaben des Strafrechts (das dankbare Sprungbrett für ein starkes kriminalistisches Talent) auch nur zu sehen, geschweige denn sachlich auszuwerten. Eine »Verteidigung« Haarmanns war eben nur möglich, wenn sein Anwalt entweder mit durchdringender Menschenkenntnis die Notwendigkeit und Unentrinnbarkeit eines zwangssüchtigen Triebirrsinns klarmachte oder wenn er die »Schuld« auf Umwelt, Zeit, Verrottung der Zustände abwälzend, zum flammenden Ankläger von Polizei und Sittlichkeit der Stadt Hannover, ja, zum Richter einer ganzen Kultur wurde. Beides war bei diesem Anwalt unmöglich: Ethos wie Psychologie! Da der zu Anfang vorgesehene Berliner Strafrechtler, als Gegengewicht gegen die Gerichtsexpertise, auch für die Verteidigung einen Psychologen hinzuziehen wollte und mich selber zum Begutachter gewünscht hatte, so regte ich auch bei Haarmanns Offizialverteidiger die Möglichkeit an, psychoanalytische, charakterologische, phänomenologische Aufklärungen zu versuchen, und um nicht selber bemüht zu scheinen, schlug ich, während ich es vorzog, als Vertreter einiger führender Zeitungen der Verhandlung beizuwohnen, die folgenden Männer vor: Ludwig Klages (als bedeutendsten Sohn der Stadt), Alfred Döblin, Sigmund Freud, Alfred Adler, Hans v. Hattingberg; worauf die allessagende schriftliche Antwort kam: »Ich wüßte nicht, was man Psychologisches fragen sollte.« – War somit für seelenkundliche Durchdringung des Falles keinerlei Hoffnung gegeben, so hätte vielleicht doch ein starkes sachliches Ethos manches klären können. Aber Haarmanns Anwalt (alter Verbindungsstudent, Vertrauensmann der Nationalliberalen und Anwärter auf einen Bürgervorstehersitz) nutzte kleinstädtisch die Gelegenheit, um gleichsam als der dritte Staatsanwalt seinen Klienten anzuklagen, vor den lokalen Behörden sich nützlich zu erweisen, ja in kirchturmpolitischen Tiraden das »wilhelminische und bismarckische Zeitalter« auszuspielen gegen »die Republik, die solche Unholde wie den Haarmann gebar«. Vor solcher geschmacklosen Kleinstadt-Optik schützte den Verteidiger des Grans, einen Enkel des Philosophen Lotze, eine gewisse juristische Nüchternheit; doch fehlte auch ihm jede forensische Begabung, jedes psychologische Interesse und jede logische Schärfe; ein lieber Mensch am Stammtisch, war er in diesem mächtigsten Kriminalfall unserer Tage hilflos und zugleich doch anmaßlich.
Trostloser noch als dieser Mangel an Größe und Weitsichtigkeit auf Seiten der Juristen war das fast vollständige Fehlen selbständiger und starker Köpfe unter den Hörern und Berichterstattern. Man war mit der Zulassung von »Schriftstellern« sehr vorsichtig gewesen, denn man wünschte vieles zu verhüllen; vor allem wurde von der ersten Stunde an aufs kräftigste betont, daß das Hereinziehen von Verfehlungen der Polizei und der Behörde gemäß § 263 verboten sei; daher wurde jedem Zeugen und auch den Eltern der Getöteten sofort das Wort entzogen, sobald sie auf dieses Thema zu sprechen kamen; man fürchtete eben den »öffentlichen Skandal«, und wünschte keine Störung durch die Menschenmassen, die durch ein Polizeiaufgebot vom Gerichtsgebäude abgehalten, ohnehin durch die mit dem Prozeß zusammenfallenden Reichstagswahlkämpfe aufgeregt, draußen in den Straßen lungerten. So hatte man denn eigentlich nur die unverfänglichen Zeilenschreiber der kleinen Lokalpresse oder die Telephonreporter der großen Agenturen im Saal. Von unabhängigen Schriftstellern war nur zweien der Zutritt gelungen, weil man einem Wunsche des Justizministeriums sich fügen mußte: dem Sexualforscher Magnus Hirschfeld und dem Kriminalforscher Hans Hyan. – Unter den Gutachtern ragte der Göttinger Professor der Psychiatrie, Schultze, hervor, ein väterlich wohlwollendes, unendlich gütiges Gesicht; ein Mann, der mit Bienenfleiß jedes Wort des Haarmann in einem riesigen Aktenberge aufbewahrt hatte, welcher Aktenberg dann schließlich folgendes Mäuslein gebar: 1. der Angeklagte ist abnorm und minderwertig, 2. der § 51 (welcher Unzurechnungsfähigkeit bei Begehung der Tat voraussetzt) trifft nicht zu. – Hier zeigte sich einmal klar die ganze Hilflosigkeit unserer auf »Bewußtseinstatsachen« ausgehenden Medizinerpsychologie angesichts des vorbewußt flutenden Elements atavistischer Triebuntergründe, denn »abnorm« nennt diese Art Psychologie den Goethe so gut wie den Haarmann, den Strindberg so gut wie den Frauenmörder Großmann; »minderwertig« aber ist der Mensch vom Standpunkt des Affen ebensowohl, wie der Affe vom Standpunkt des Menschen. Bezüglich des § 51 aber (welcher vorsintflutliche Begriffe über Willensfreiheit, Verantwortlichkeit, Zurechnungsfähigkeit voraussetzt) hätte im Fall Haarmann jeder ehrliche Psychologe eben erklären müssen: Uns zu fragen, ob § 51 anwendbar sei oder nicht, hat genau so viel Sinn, als wenn man uns fragt: »Soll Wasser nach Metern oder nach Quadratruten gemessen werden?« Hier ist uns eine Norm vorgeschrieben, die auf diesen Fall nicht anwendbar ist. – Eine Ahnung davon mochte den zweiten Sachverständigen Alex Schackwitz anwandeln, einen jungenhaft frischen, anstelligen, aufnahmefähigen, offenen und prächtigen Menschen; »smart matter of fact man«; »Forscher Wirklichkeitsmann«, aber eben darum ohne jede Ehrfurcht, nein, ohne jede Ahnung für jenes Stückchen Träumer- oder Dichtertum, ohne welches man die Wahrheit hinter aller Wirklichkeit doch niemals zu erfühlen vermag. (Denn Wirklichkeitstatsachen als solche sind gar nichts! Der Psychologe muß den Menschen besser kennen als dieser sich selber zu kennen vermöchte.) – Vollends der dritte Sachverständige war nichts, als Seelenergründer nach dem Herzen von: »Hofmann: Wie ermittelt der Kriminalpsychologe Blutflecken?« – War nun aber weder die Psychologie noch auch das Ethos der eigentliche Sinn dieses Kriminalverfahrens, so konnte man fragen: »Wozu überhaupt der ganze weitläufige Aufwand?« – Er kostete den Staat mehrere hunderttausend Mark. Der Ausgang: Todesstrafe war ohnehin sicher. Ob ein Mörder zwanzigmal oder zehnmal zum Tode verurteilt wird, kann gleichgültig sein. Man mußte sich von vornherein eingestehen, daß eine gleichsam das Weltgewissen befriedigende Auflösung des ungeheuren Falles nicht möglich war. Nur zweierlei konnte versöhnen: das Sittlichste oder das Natürlichste: Selbstmord (als Selbstrichtertum eines Sühnewilligen, der an menschlicher Gemeinschaft Ungeheuerliches frevelte), oder – schnelle Lynchjustiz von seiten des beleidigten Lebens.
. . . »Hoffnungslos! Auch der Weiseste muß ein Fehlurteil fällen im Gerichtssaal, das heißt eingesperrt in einen Ring aus Gefriersitzfleisch. Draußen im Leben kann man sich richtig oder falsch entscheiden, einmal so, einmal so, aber das ganze Jus besteht doch eben darin, die ganze Frage so zu formulieren, daß es gar keine richtige Entscheidung geben kann.
Den dreißig Müttern der zerfleischten Knaben die Möglichkeit geben, durch die Schranken zu brechen und den Haarmann zu zerfleischen. Das wäre lebendige Gerechtigkeit. Von Flammen verzehrt, in den Flammen vergehen, die man nicht zu beherrschen vermocht. Denn das Leben schlägt zurück, wenn man hineinschlägt, ganz gleich ob man dabei zurechnungsfähig war, oder etwa sich selber gebessert hat. Und das ist schön. Und das ist wahr. Und darum nichts für Wehleidige. Aber der ekelhafte Mumpitz des Todesurteils in der feigen Anonymität der beleidigten Gesellschaft ist ein trostloser Unfug« . . .
Mit diesen Worten ermutigte mich in den schweren Tagen des Prozesses einer der besten Seelenerforscher unserer Tage.
Der Eröffnungsbeschluß ward verlesen. Dem Händler Fritz Haarmann wird zur Last gelegt, die folgenden Personen vorsätzlich und mit Überlegung getötet zu haben:
Es sind 147 Anzeigen eingelaufen. In 38 Fällen ist nachgewiesen, daß die Vermißten noch leben. In 114, daß Haarmann nicht als Täter in Betracht kommt. Es bleiben also: 30 Fälle. Davon können 27 Morde bewiesen und drei weitere (nicht mit zur Anklage gestellte) Fälle überführt werden.
Gegen Hans Grans, geboren am 7. Juli 1901 in Hannover, wird die Anklage erhoben wegen Anstiftung zum Mord in zwei Fällen und eine zweite (später fallengelassene) Anklage wegen gewerbsmäßiger Hehlerei.
»Ein schwanzloser Raubaffe, welcher auf Hinterfüßen geht, in Rudeln lebt, alles frißt, ein ruheloses Herz hat, aber durch seinen Geist verlogen ist. Diebisch, geil und händelsüchtig, dabei fähig zu vielen Fertigkeiten. Der Feind aller übrigen Erdgeschöpfe und doch der schlimmste Feind seiner selbst.« (»Simia homo sine cauda, pedibus posticis ambulans, gregarius, omnivorus, inquietus cordis, mendax mentis. Furax, salex, pugnax at artium variarum capax. Animalium reliquorum terrae hostis, sui ipsius inimicus teterrimus.«) – Dies ist die älteste Beschreibung des Urmenschen. – Eigenbezüglich und hörig, feige und wildverwegen, brutal und sentimentalisch, vor allem eitel und geil – so stellte sich Haarmann uns dar: Ein fließendes Element, darin gespielte und wirkliche Kindischkeit, gespielter und wirklicher Schwachsinn wunderlich einander überdeckten. Ganz auf Hunger und Wollust gestellt, »ausgeschämt« in jedem Sinn, ist er doch ein Stück unmittelbare, auch noch in seiner Schauspielerei völlig naive Urnatur, an keinerlei Rechenschaft über sich selber gewöhnt. Wenn das Paragraphen-Deutsch der Juristen, die verwickelte Heuchelei der Ämter und die hinter Wissenschaft, Moral oder Amtspflicht versteckte Eitelkeit der »bürgerlichen Gesellschaft«, wenn alle diese vielen Lebenslügen all der »Bildungs- und Kulturmenschen« sich selbstgerecht-ahnungslos ausgesprochen hatten, dann wirkte es fast erquickend und befreiend, diesen Haarmann naiv flunkern und Dichtung und Wirklichkeit untermischen zu hören. Und man empfand: die Wahrheitsmenschen lügen. Dieser Erzschauspieler ist wahr! Er hat keinerlei Grauen vor dem, wovor jedem dieser Kulturmenschen graut, vor Tod, Leichen, Moder. Aber bei einem Gewitter verkriecht er sich doch wie das Tier, zittert und beginnt ohne Glauben Gott anzubetteln. Zuweilen brachen kindliche Züge von Sympathie hervor. Als mitten im Tage die Lichter im Saale angezündet werden, sagt er ganz wie ein Kind leise zu sich selber: »Grad wie der Tannenbaum«; als der alte Geheimrat Schultze, der ihn unausgesetzt beobachtet, müde gähnt, sagt er (gerade wie wenn er auf den Professor, und nicht dieser auf ihn achtzugeben hätte): »Na, können Sie auch noch, Herr Professor?« und zum Gerichtshof gewandt, fügt er entschuldigend hinzu: »Er ist nämlich grad krank gewesen.« Zu den Journalisten sagt er mahnend: »Ihr müßt aber nicht lügen, ihr lügt ja doch alles«, und zu den Geschworenen: »Macht's kurz, Weihnachten will ich im Himmel sein bei Muttern.« – Als meine Berichte, die die Schuld der Polizei und die Mängel der Expertise aufklären, dem Gerichtshof unbequem zu werden beginnen und der immer nervöser werdende Vorsitzende (wie man denn überhaupt den Haarmann stets zur Entlastung der Polizeibehörde aussagen ließ) ihm meine Behauptungen vorhält und fragt, ob sie richtig seien, da ruft er laut: »Das lügt der Kerl alles«, fügt aber leise zu mir gewandt hinzu: »Nächstens wirst du noch sagen, die Leute auf der Polizei seien meine besten Freunde«; dabei zwinkert er schlau mit den Äuglein, als ob er sich über alles lustig mache. – Ganz entgegengesetzt zeigt sich der junge Hans Grans, so zäh wie zart, so unzerbrechlich wie mädchenhaft; immer gleichmäßig überlegen und überlegend, zuvorkommend, liebenswürdig, in der Lage eines Fuchses, der in äußerster Todesnot alle Aufmerksamkeit überwach sammelt und jede Lücke erspäht, durch die er der teuflischen Falle entschlüpfen kann. Mit einem langen Bleistift oder mit dem dozierenden Zeigefinger der Rechten zeichnet er Konturen von Beweisen in die Luft, beantragt scharf advokatorisch sehr zarte Fragestellungen, deren Zweck im Sinne seines fest aufgebauten Verteidigungssystems er nur selber kennt. Er friert weit mehr als Haarmann in einer ungeheuren Einsamkeit. Er ist schuldlos und dennoch gefährlicher. Denn er ist, obwohl viel sensitiver, nicht wie Haarmann eine Angst- und Defensivnatur. Auf Haarmanns Natur spielen in jedem Augenblick unbezwingliche dämonische Mächte: das Minderwertigkeitsgefühl eines lang Unterdrückten, Besudelten, Entgleisten, oft Gehänselten hält sich schadlos an dunklen Triebräuschen. Und er treibt gern auch sein diabolisches Spiel mit den Zeugen (seinen Hehlern und Hehlerinnen), von denen er etwas weiß und die von ihm etwas wissen. Er zeigt allen die Pranken: »Ich lasse euch vor dem Tode hoppsgehen. Der Zeuge ist frech. Er muß noch eins auf den Detz kriegen.« – Dagegen Grans ist zu egoistisch selbst für Liebe und Rache. Er kennt keinen Affekt. Nur: kluge Selbsterhaltung. »Was ich getan habe, ist gleich, was ihr beweisen könnt, steht hier in Frage.« Ich hätte nicht geglaubt, daß grauses Fehlurteil ihn zum Tode verurteilen könne. Als ich den Eltern sagte: »Lassen Sie Ihr Kind im Zuchthaus nicht im Stich«, da erwiderte der Vater: »Wüßt ich, daß er das getan hat, was man ihm schuld gibt, so ginge ich selber hin und zeigte ihn an«, und die Mutter: »Kommt er ins Gefängnis, so nehmen wir ihn wieder auf, kommt er ins Zuchthaus, so müssen wir uns lossagen, denn dann fällt Schmach auf die Familie.« – Wie ist das Gefühlsverhältnis der beiden? Sie sind zwei Rücken an Rücken geschmiedete Galeerensträflinge, wobei der Junge nicht einmal Haß und Ekel aufbringt, sondern nur dieses Zusammengeschmiedetsein überwinden möchte, indem er gegen jede Berührung des anderen Leibes empfindungsstarr vereist. Darum war es ihm auch gar nicht möglich, sein Verteidigungssystem auf »Gefühl« aufzubauen, was ihm sicher das Leben gerettet hätte. Denn der andere lauert auf jedes freundliche Wort und wirbt auch noch mit seiner Rachsucht. Ja, er würde alles, womit er den ehemals Geliebten schlau belastet, im Nu widerrufen, falls dieser es nur vermöchte, Worte des Mitleids oder auch nur der Dankbarkeit für ihn zu finden. Gerade aber weil in dem Jungen nur der eine Trieb lebt, loszukommen vom Festgeschmiedetsein an dieser schon halb erkalteten Leiche, ist in Haarmann nur noch der eine Wunsch: den gehaßtesten, weil liebsten mit hinabzureißen ins dunkle Land. Das legt er aber so verschlagen an, daß außer Grans keiner das fühlt. Er spricht immer mit Zuneigung. Er redet tagelang nur von »Hans« (während dieser immer sagt »Herr Haarmann« oder »der Angeklagte Haarmann«), droht dabei aber unterirdisch, bettelt wieder um Gemeinschaft und bricht schließlich aus in folgende, scheinbar erst durch die kalte Verachtung des anderen heraufbeschworene, in Wahrheit lang vorbereitete Beschuldigung: »Grans hat mir nicht nur die Knaben zugetrieben, damit ich sie töte. Grans hat nicht nur durch alle möglichen Künste mich geil gemacht und die Knaben angelernt, wie sie mich wild machen konnten. Grans hat nicht nur berechnend meine Raserei ausgebeutet und mich tagelang bearbeitet, Knaben zu töten, deren Hose er gern haben wollte. Grans hat selber gemordet! Schlimmer als ich. Grans und sein Freund Wittkowski haben den 17jährigen Adolf Hennies, mit dem sie Zank wegen Weibergeschichten hatten, in mein Zimmer gelockt und ihn dort ermeuchelt. Dann haben sie die Kleider genommen und hohnlachend, als ich nach Hause kam, mir die Leiche gewiesen: Das ist einer von den deinen. – Ich habe geweint und gebettelt: Nehmt die Leiche fort. Sie hat am Halse keine Saugflecken, das kann nicht einer von den meinen sein. Aber sie haben mir den Toten unterschoben, sind auf und davon und ich mußte den Körper zerlegen und fortschaffen.« – Auf diese ungeheuerliche Anschuldigung (das Gericht glaubte sie) hatte Haarmanns Teufelsrachsucht Tage lang hingearbeitet. Mit treuherzigster Überzeugtheit, mit naiver Eindringlichkeit. Als sie heraus war und das Ziel, nicht einsam in den Tod zu müssen, erreicht war, da wurden die Aussagen gegen Grans schon bedenklich flauer, und er zuckte wieder zurück, sobald es dem anderen gelang, auch nur ein freundlicher klingendes Wort sich abzunötigen. (Der mitbeschuldigte Wittkowski stellte, sowie er von dieser Beschuldigung hörte, sich sofort freiwillig dem Gericht.) So flutete tagelang die kaum noch empfindbare, ganz dumpf vorbewußte Gefühlsunterströmung, von Haarmanns verdrängter Sexualrache ausgehend, an den starren Eispanzer des qualvoll wachbewußten Grans. Und doch wurde auch dies klar: Die arme Undine war nicht nur Lebensschmarotzer, nicht nur Gefühlsparasit auf fremdem Irrsinn . . . Gesetzt, ich weiß von dem einzigen Menschen, der mir so etwas wie Väterlichkeit, Zuflucht, Liebe bot, oder wie man dies Dumpfe nennen will, etwas Schreckliches, ahne das Allerschrecklichste und ich schweige ehern und liefere ihn nicht dem Staate ans Messer, muß das nur eine Niedertracht sein? Hier steckte etwas von Ethik und Charakter, ja, hier lag »Größe«. Wenn die Gemeinschaft und ihre Behörden blind sind, wenn sie Armut, Laster, Selbstfeilbietung, Verbrechen nicht bewältigen können, oft vielleicht selber fördern helfen, soll dann ich, der Zwanzigjährige, Ausgestoßene und Abgedrängte der einzige sein, welcher alles sieht und alles sagt, was er sieht? Grans ging im Bahnhof unter den Augen von drei Polizeibehörden dem Handel nach mit den Kleidern Ermordeter. Er trug dabei auf seinem eigenen Leibe: den Mantel des gemordeten Hennies, den Rock des gemordeten Wittig, die Breecheshose des gemordeten Hannappel, das Hemd des gemordeten Spieker. – Hat die Polizei nichts davon gesehen, so muß man auch diesem Indentaglebenden glauben, daß er sich »nichts dabei gedacht« hat. Sein Gefühl zu Haarmann war keineswegs so einfach, daß er nur Fuchs war, der auf Beutespuren des Wolfes lebt. Ja, es ist möglich, daß selbst der Schlechteste seine Scham zeigt gerade darin, daß er sich noch schlechter stellt, als er ist. Wenn die Dirnen kamen, die der junge Grans für sich »arbeiten« ließ und denen er zu imponieren wünschte, so kehrte er stets hervor, wie Haarmann unter seiner »Geschlechtshörigkeit« stünde, schlang etwa die Arme um den Rabiaten, der dann sofort gefügig wurde und tuschelte dabei heimlich dem schönen Dörchen ins Ohr: »Den Haarmann treck ik blot ute.« Und doch war ganz gewiß nicht nur der 45jährige der Geschobene, sondern auch der 20jährige nahm die Verderbtheit des anderen auf in seinen Willen, und wenn den Haarmann an Grans band die Liebe des alten Wolfes zum jungen Fuchs, so band den Grans an Haarmann nicht nur die Dankbarkeit des Schmarotzertieres zu seinem Wirt, sondern auch mitleidiges Gewährenlassen: »Er liebt mich ja. Was wäre er ohne mich?«
Ungefähr 200 Zeugen traten in diesem Prozeß auf. Versuchen wir, sie grob zu klassifizieren. Da erscheint zunächst das wimmelnde Jungvolk von Buhljungen, Hehlern, Zuhältern und Dirnen; aus der Fürsorge entlaufen, aus liebeleeren oder allzu elenden Elternhäusern gestoßen, bald duldend verkommen, bald aktiv verkommen. Unter ihnen ist am stärksten vertreten: die Gruppe der Phantasiezeugen. Junge Leute, die Zeitungen gelesen haben und deren Nik-Carter-Phantasie erfüllt ist von Mordbeilen, Leichenteilen und verzehrtem Menschenfleisch. Zwei kommen und sagen aus von komplizierten Fesselungen, sadistischen Geißelungen und Martern, die Haarmann an ihnen vorgenommen hat. Ein Arbeiter ist von Grans zum Wein eingeladen und behauptet, er sei fast davon gestorben, weil Grans ihm heimlich ein Pulver in den Wein geschüttet habe. Ein vierter hat fabelhafte Gespräche über afrikanisches Pfeilgift (Curare) belauscht, ein fünfter irrsinnige Akte der Wollust mit angesehen . . . Dieser schlimmen Gruppe verwandt sind die Eitelkeitszeugen. Eigentlich ist das, was sie wissen, ein Nichts. Aber sie wollen »auch dabei gewesen sein«, sich herausstellen, ihren Scharfblick, ihre Erfahrenheit, ihre Menschenkunde und Gerissenheit leuchten lassen, und so bauschen sie auf und verwirren statt zu klären. Kommen zu dritt: die schwierigen Zeugen: Dümmlich-begriffstutzige Jungen, verstockte, stockige Seelen, meistens Lumpen im kleinsten Stil, neben denen Haarmann wie ein Riese dasteht. Sie lassen alle Aussagen tropfenweise aus sich herausziehen, gänzlich einer Richtung ermangelnd und nicht erfassend, was sie sind, wissen und sollen. Daneben dann wieder: die Ängstlichen: kleinbürgerliches, notiges Volk, benommen, verprügelt, beklaut, weil jeder aus dem wimmelnden Lumpengesindel irgendeine Schmutzerei kleinsten Formates zu verbergen trachtet und sich zu belasten fürchtet (denn dies Pack begaunert sich gegenseitig und steckt dann doch der Macht gegenüber miteinander durch). Sie sind noch jetzt voller Demut vor »Herrn Haarmann«, der für sie ein »besserer Herr« und ein »Beamter« ist. Auch viele Gestalten aus vornehmer guter Gesellschaft haften in der Erinnerung. Herren im Gehrock, korrekt und sachlich, gewandt, geschmeidig, einer mit dem anderen vertauschbar. Sie rücken (Mitglieder der »guten Gesellschaft«) weit ab von dem wimmelnden Sumpf, denn wenn sie selber etwa mitbelastet scheinen, so rückt Justiz und Gesellschaft sofort von ihnen ab. Oberpräsident, Regierungspräsident, Polizeipräsident, die Kommissare – – das sitzt alles da in ledernen Stühlen und sieht dem Schauspiel zuckender Todesnot zu; weit davon entfernt, im Herzen zu sprechen: mea culpa! . . .
Kommt ein feines allerliebstes Herrchen in Stiefelettchen und Chemisettchen, macht eine anmutige Verbeugung vor der Bank der Presse und beginnt: »Ich bitte die Herren, meinen Namen nicht ausgeschrieben in die Zeitungen zu bringen, da ich in meiner gegenwärtigen Stellung sonst Schaden haben würde.« (Er handelt mit Neppwaren.) Kommt ein anderes Jüngelchen, zerschmettert, zerdrückt, in Sträflingskleidung, denn er sitzt wegen irgendeines Einbruchdiebstahls und beginnt: »Herr Präsident, ich muß mich weigern, einen Eid zu leisten. Ich bin Anhänger von Darwin und glaube nicht an Gott. Darum kann ich bei diesem Herrn nicht schwören.« Eine rührende Episode schafft die Vernehmung der »Verlobten« des Grans, Elfriede Zwingmann, eines armen Küchenmädchens in der »Erlanger Bierstube«. Sie entlastet unter ihrem Eide, so gut sie es kann, ihren blonden Tunichtgut; jedes Wort weint um Gnade und sie ist so einfältig, daß man wirklich fühlt: diese Apachenbraut hat nie etwas Böses gedacht. Haarmann war für sie ein »Kriminalbeamter«. Wenn ein solcher Geld nötig hat, dann geht er auf den Bahnhof, wo die Reisenden ankommen, und fragt: »Was haben Sie in Ihrem Koffer?« Kann der Reisende darauf keine gescheite Antwort geben, dann konfisziert der Herr Beamte den Koffer. Die Wäsche und Kleider verkauft er. Davon lebt er. Daher hatte Haarmann immer Geld. Und wenn er dem Hans nichts abgeben wollte, dann hat sie ihre armen sieben Mark Wochenlohn dem Hans gegeben; er war ja wohl untreu, aber immer lieb und gut, und als klar nachgewiesen wird, daß er sie prügelte, da sagt sie bescheiden: »Nur einmal, aber das tat nicht weh.« Das Gegenstück dazu ist eine andere Geliebte des Grans: Dora Mrutzek. Es ist eigentlich nicht zu begreifen, warum sie ihren alten Geliebten geflissentlich belastet – vielleicht dem eifersüchtigen Ehemann zuliebe? Freilich ist sie die einzige aus der von Haarmann eifersüchtig gehaßten Weiberwirtschaft, die mit dem Mörder sich gut verstand. »Herr Haarmann küßte sich mit die Jungens und lebte als Kriminal von seinen Zinsen. Wenn es schwere Arbeit gab, dann ging ich damit zu Herrn Haarmann, und mein Mann (Dörchen hatte außer vielen Liebhabern auch einen Mann) wurde eifersüchtig und wollte mich schlagen. Dann lachte Herr Haarmann und sagte: ›Dörchen ich heirate dich‹; aber er küßte sich ja doch nur mit die Jungens.« Haarmann erwidert das Lob, das sie ihm spendet, indem er erzählt: »Und Sie glauben nicht, was Dörchen vertragen kann. Eine Flasche Kognak soff sie in der Teediele ganz allein. Und ward nich dune.«
Der Mörder sagt aus: »Ich habe nicht die Absicht gehabt, die jungen Leute umzubringen. Es ist vorgekommen, daß Knaben immer wiederkamen. Ich habe sie dann vor mir schützen wollen. Ich wußte: Wenn ich wieder meine Tour habe, dann passiert was. Ich habe geweint: ›Macht mich nur nicht immer wild.‹ Wenn ich wild wurde, dann biß ich und sog mich fest. Es gibt auch unter den Jungens am Café Kröpcke einige, die gern ›dämpfen‹ und ›Luft abstellen‹. Wir balgten uns manche Stunde lang. Ich bin nur schwer erregbar. In der letzten Zeit wurden es immer mehr. Und ich dachte oft: Gott o Gott, wo soll das hin? Ich habe mich mit ganzem Leibe auf die jungen Leute geworfen. Sie waren durch das Herumtreiben und die Ausschweifungen ermattet. Ich habe ihren Adamsapfel durchbissen, zugleich wohl auch mit den Händen gewürgt und gedrosselt. An der Leiche brach ich zusammen. Ich machte mir dann schwarzen Kaffee. Den Toten legte ich auf den Boden und tat ein Tuch übers Gesicht. Dann sieht er einen nicht so an. Ich öffnete die Bauchhöhle mit zwei Schnitten und tat die Eingeweide in einen Eimer. Ich tunkte ein Tuch in das Blut, das sich in der Bauchhöhle gesammelt hatte und tat dies solange, bis alles Blut aufgetunkt war. Dann erst schnitt ich mit drei Schnitten die Rippen auf nach der Schulter zu, faßte unter die losgetrennten Rippen und drückte solange hoch, bis sie in der Schultergegend knackten. An der Stelle schnitt ich dann durch und tat sie weg. Nun konnte ich Herz, Lunge, Nieren fassen, zerschneiden und in den Eimer tun. Zum Schluß wurden die Beine abgetrennt; dann die Arme. Ich löste das Fleisch von den Knochen und tat es in meine Wachstuchtasche. Das übrige Fleisch kam unters Bett oder in den Verschlag. Um nun alles hinauszubringen, und es ins Klosett oder in die Leine zu werfen, gebrauchte ich fünf oder sechs Gänge. Das Glied schnitt ich ab, nachdem ich Brust und Bauchhöhle gereinigt hatte. Ich zerschnitt es in viele kleine Teile. Ich bin immer mit Grauen an diese Arbeit gegangen und doch war meine Leidenschaft stärker als das Grauen vor der Zerstückelung. Die Köpfe nahm ich zuletzt vor. Mit dem kleinen Küchenmesser schnitt ich die behaarte Kopfhaut ringsherum vom Schädel und zerlegte sie in ganz kleine Streifen und Würfel. Den Schädel legte ich mit der Wangenfläche auf eine Bastmatte und deckte Lumpen darüber, um die Klopftöne abzuschwächen. Ich schlug mit der scharfen Seite eines Beiles, den Schädel immer herumdrehend, die Nähte auseinander. Das Gehirn kam in den Eimer; die kleingeschlagenen Knochen warf ich in die Leine; gegenüber dem Schloß. Oder ich ging in die Eilenriede, dort wo es sumpfig ist, warf die Stücke heimlich vor mich hin und trat sie in den Sumpf. Nur wenn ich eine Leiche sehr eilig beseitigen mußte, kann möglicherweise einmal ein Schädel unzerklopft in das Wasser geraten sein. Die Kleider hab ich verschenkt; das meiste an Grans. Aus Liebe. Anderes verkaufte ich an Frau Engel oder an Frau Wegehenkel. Oder ließ es verkaufen.« – –
Die Anatomen sagen: Es ist möglich, daß Haarmann an jugendlichen Personen durch Druck gegen den Kehlkopf oder durch Biß die über den Kehlkopf und über das obere Ende der Luftröhre verlaufenden Zweige des Vagus und Glossopharyngeus gepreßt und dadurch eine Atem- und Herzlähmung und somit auch Wehrlosigkeit herbeigeführt hat. Daß durch Zusammenpressen der Nervenstämme oberhalb des Kehlkopfs der Mensch leicht wehrlos zu machen ist, gilt als eine Hauptregel des japanischen Jiu-Jitsu. Man hat ihn leider nicht das Experiment an einem Tiere vormachen lassen. Es besteht auch die entfernte Möglichkeit, daß er gelegentlich die Halsschlagader (Carotis) ansog und das warme Blut eintrank, wodurch das Fehlen von Blutflecken erklärt wäre. Es gehörte übrigens auch zu seinen perversen Leidenschaften, das Geschlechtsglied in den Mund zu nehmen und daran zu beißen. Im allgemeinen dürfte er die ermattet Schlafenden erdrosselt haben. Es ist möglich, daß er das Fleisch des einen einem anderen vorgesetzt hat. Obwohl feststeht, daß er, einmal ans Töten gewöhnt, nicht immer nur im Liebesrausch, sondern auch aus anderen Motiven als aus geschlechtlichen getötet hat, so ist doch im allgemeinen richtig, daß er nicht nach Zweck und Nutzen fragte, sondern von Schönheit und Sinnlichkeit getrieben wurde. Als ihm (seinen zweifellos unwahren Angaben nach) Grans um der Kleider willen den jungen Wittig zuführte, den er seinerseits nicht sinnlich begehrte, soll Grans geäußert haben: »Das kann man doch leichter bei einem, den man nicht liebt.« – Haarmann sagt belehrend: »Das ist nicht richtig. Man macht das leichter, wenn man liebt.« Haarmann lügt wo er Grans belastet. Aber er war vielleicht nicht nur Schauspieler, als er vor Gericht seine Angstqual herausschrie: »Ich habe Tage, wo jeder Vagabund mich zu jeder Schlechtigkeit leicht bringen kann. Ich sagte nach dem Töten oft: Steckten sie mich doch nur in ein Militärasyl. Aber nur nicht unter Irre. Nur das nicht. Hätte Grans mich geliebt, so hätte er mich auch retten können. Ach, glauben Sie, ich bin gesund. Ich habe nur zuweilen meine Tour. Es ist kein Vergnügen, einen Menschen zu töten. Ich will geköpft werden. Das ist ein Augenblick, dann hab ich Ruh.«