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Es war 1918 in der Elendszeit, wo wir Deutschen nichts zu essen hatten. Der Gastwirt und Hausbesitzer Oswald Rothe stand im Felde. Seine allzu gute Frau konnte mit dem wilden Friedel allein schlecht fertig werden. Friedel sollte das Einjährigen-Examen machen, aber bummelte, rauchte, naschte. Er verkaufte, um Geld zu haben, heimlich Vaters Zivilkleider. Als der Junge »am Sonnabend vor Markt Wichse besah«, lief er fort, wurde zwar am gleichen Tage noch gesehen, wie er Bucheckern suchte in der Eilenriede. Aber erst nach zwei Tagen erhielt die geängstigte Mutter eine Postkarte folgenden Inhalts: »Liebe Mutter, bin nun schon zwei Tage fort, komme aber erst dann nach Haus, wenn Du wieder gut bist. Herzlichen Gruß. Dein Sohn Fritz.« Am selben Tage kam der Vater aus dem Felde. Beide Eltern stellten sofort die eingehendsten Ermittlungen an. Aber der Sohn, ihr einziges Kind, blieb verschwunden. Nun war aber aus den Freunden des Siebzehnjährigen allmählich allerlei herauszuholen. Da war der vierzehnjährige Paul Montag, ein auffallend hübscher jüdischer Junge mit stahlblauen Augen; da waren ferner die älteren Freunde Hellmut Göde und Hans Bohne. Diese Freunde des Verschwundenen gestanden, daß sie im Café einen »feinen Herrn« kennengelernt hatten, einen Kriminalbeamten, der sie beschenkt, in den Wald geführt und – verführt hatte. Friedel war diesem »feinen Herrn« besonders nahe gekommen. Er hatte seinen Freunden anvertraut: »Ich bin schon in seiner Wohnung gewesen; da amüsieren wir uns und rauchen.« Ein andermal: »Gestern wollt ich in seine Wohnung, da lag er mit einer Frau im Bett. Er rief heraus: Kann dir nicht aufmachen; habe Damenbesuch.« – Als die Polizei nun nichts herausbekam, beschließen Göde und Bohne, auf eigene Faust nachzuspüren, und es gelang ihnen denn auch, die Wohnung des Unbekannten (Cellerstraße 27) aufzustöbern. Die Eltern machten Anzeige und der Kriminal Brauns bekam den Auftrag, bei dem »feinen Herrn« nach dem Verschwundenen zu forschen. Der Kriminal Brauns überraschte Haarmann nachts und fand ihn in der Tat mit einem schlanken großen Jungen (auch einem Schulfreund des Friedel) nackend im Bett. Der Junge mußte sich anziehen und wurde gefesselt abgeführt. Auch Haarmann wurde abgeführt. Er bekam 9 Monate Gefängnis wegen Verführung der Knaben. Ein Mord war nicht nachzuweisen. Eine genaue Haussuchung wurde freilich nicht vorgenommen. Kriminal Brauns (typischer »Beamter«, energiedampfend, in strengem Obrigkeitston) gibt dafür folgende Begründung: »Ich hatte dazu keinen Auftrag.« Fünf Jahre später, als die große Mordepidemie einsetzte, kam die Polizei auf den Fall zurück. Und nun gestand Haarmann: »Damals, als der Kriminalbeamte uns verhaftete, steckte der Kopf des ermordeten Knaben unter Zeitungspapier hinterm Ofen. Ich habe ihn später im Stöckener Friedhof verscharrt.«
Fünf Jahre vergingen. Während ihrer soll (angeblich) keiner getötet worden sein. (Den Mord an dem Schüler Koch I [er hat drei Kochs getötet] hat man nicht mit auf die Anklageliste gesetzt.) Bei der Kriminalpolizei am Waterlooplatz erscheinen zwei Dirnen aus der Altstadt. Es sind Haarmanns Freundinnen: Elli Schulz, ein dickes, rosiges Schweinchen, und Dörchen Mrutzek, eine dünne, lange Stange (die Geliebte des Grans). Sie erzählen eine konfuse Geschichte und bringen zwei Stücke Fleisch mit der Anfrage, ob das wohl Menschenfleisch sein könne. Dörchen berichtet etwa dies: »Vor zwei Tagen haben Elli und ich einen hübschen jungen Mann bei Herrn Haarmann in der Neuen Straße kennengelernt. Er kam aus Berlin und konnte schön Klavier spielen. Wir waren alle bei Haarmann. Auch ein Herr Hans Grans war dabei. Da sagt Haarmann: ›Geht man wieder weg. Ich kriege Besuch. Herr Kriminalkommissar Olfermann kommt. Wir haben wichtige Konferenz.‹ Da gingen Grans, Elli und ich hinüber ins ›Schützenheim‹. Da machte der junge Mann aus Berlin Musik. Elli und ich tanzten danach mit Herrn Grans. Als wir dann wieder nach Hause wollen und den jungen Mann bis zu Haarmanns Wohnung begleiten, sagt Herr Grans Elli ins Ohr (in Beziehung auf den fremden jungen Mann): ›Du, der wird heute getrampelt!‹ Daran haben wir uns später wieder erinnert. Dann am anderen Morgen geh ich wie gewöhnlich zu Haarmanns Wohnung, Neue Straße 8, das Zimmer reinigen. Haarmann öffnet. Der hübsche, dunkelblonde junge Mann liegt im Bett mit halbentblößtem Oberkörper. Ganz weiß. Ich, zu Tode erschrocken, trete herzu und frage: ›Was isser mit?‹ Haarmann, den jungen Mann zudeckend, flüstert: ›Pst, er will schlafen. Geh 'raus. Komm nachmittags, das Zimmer aufnehmen.‹ Ich gehe also wieder und sage noch zu Elli: ›Da is was nich richtig.‹ Nachmittags geh ich denn wieder zu Haarmann. Da hat er sich eingeschlossen und ruft durch die Ritze: ›Jetzt bin ich beschäftigt, komm abends, gegen sieben.‹ Als ich am Abend komme, stehn alle Fenster weit offen. Das Zimmer hat er schon aufgescheuert und reingemacht. Haarmann, in Hemdsärmeln, ist sehr aufgeregt. Er schwitzt und fragt mich: ›Dörchen, riecht es hier woll schlecht?‹ Ich sehe: Auf dem Bette liegen die Kleider von dem Berliner. Ich schreie laut los: ›Was is mit dem Berliner?‹ Haarmann sagt ruhig: ›Der hat nach Hamburg weitergemacht. Er wollte andere Montur haben. Hat woll was ausgefressen. Ich hab sie ihm umgetauscht und noch was zuzahlen müssen.‹ Dann kamen auch Herr Grans und Elli. Elli und ich waren sehr mißtrauisch und fragten immer wieder: ›Was is mit dem Berliner?‹ Haarmann lachte uns aus, und Grans beruhigte uns. Zwei Tage später machten Elli und ich Haarmanns Zimmer rein. Haarmann ward gerade von Wegehenkel abberufen. Da benutzten wir die Gelegenheit und durchwühlten alle Schubladen. In der Schublade des Tisches lagen die Zigarrenspitze und die Brieftasche des Berliners. Wir erbrachen auch die Butzenklappe unter der Treppe. Da fanden wir eine blutige Schürze und einen ganz großen Topf voller Fleischstücke. (Er gehört Frau Wegehenkel. Er faßt 25 Liter.) Wir versteckten zwei Stücke, ganz voller Haare. Hier sind sie.« Dörchen und Elli gerieten nun aber zufällig an denselben Kriminalkommissar Müller, welcher den Haarmann als Spitzel beschäftigte. Der hörte sie ungläubig an und führte sie dann zum Gerichtsarzt Alex Schackwitz. Dieser unterließ es (leider), das Fleisch zu mikroskopieren. Fröhlich lachend hielt er es an die Nase und sagte: »Riechen kann ich es heute nicht, denn ich habe den Schnupfen. Aber das sieht ja ein Blinder: Es sind Schweineschwarten.« Man ließ nun bei Haarmann eine Haussuchung halten; fand aber nichts Verdächtiges. – – Wie aber war die Wirklichkeit gewesen? Der 18jährige Sohn des Gastwirts Franke in der Markgrafenstraße in Berlin, eines braven, stillen Mannes, war ein blitzsauberes Flittchenjuchhe und hatte mit seinem Freunde Paul Schmidt, einem störrischen Burschen von 16 Jahren, »Sachen von zu Hause« im Bahnhof Friedrichstraße verkauft. Mit dem Erlös waren die beiden Tunichtgute nach Hannover gefahren. Dort hatte Haarmann beim Revidieren der Wartesäle morgens gegen sechs sie »sistiert«, hatte den minder hübschen mit etwas Geld in die »Herberge zur Heimat« geschickt und den anderen mit sich nach Hause genommen. Als der junge Schmidt den vermeintlichen Kriminalbeamten endlich nach drei Tagen wieder nachts auf dem Bahnhof traf, versicherte dieser, der andere sei weitergefahren nach Hamburg. Das hinterlassene Zeug hat Grans geschenkt erhalten. Die beiden Dirnen aber hatten recht gesehen. – Haarmann gibt an, daß Grans unversehens dazu gekommen sei, als die Leiche im Zimmer lag. Er habe Haarmann ganz erschrocken und bleich angestarrt, habe aber kein Wort gesagt, sondern sich umgekehrt und gefragt: »Um welche Zeit soll ich wiederkommen?« –
Wilhelm Schulze, Schreiberlehrling, ein frühfertiger abenteuerlustiger Junge, 16½ Jahre alt, Sohn des inzwischen verstorbenen Eisenbahntischlers Otto Schulze und seiner nun in Lehrte wohnenden kreuzbraven, schlichten Ehefrau, fuhr in die Stadt zur Arbeit und kam eines Tages nicht wieder. Leichenreste sind nicht ermittelt. Die Kleider fanden sich bei der Engel. Haarmann hatte den Jungen auf dem Bahnhof abgefangen und mit sich genommen.
Der Schüler des Bismarckgymnasiums Roland Huch, einziger Sohn der Eheleute Apotheker Huch, Arnswaldtstraße 32, 15½ Jahre alt, dunkelblond, groß, kräftig, trotz eben durchgemachter schwerer Rippenfellentzündung froh und frisch, hatte einen großen Schwarm für Marine und wollte durchaus zur See. Eines Abends, als die Eltern im Konzert in der Stadthalle waren, packte der Junge seine besten Sachen in einen Fiberkoffer, nahm sich Geld, verabschiedete sich von Alwin Richter, seinem liebsten Freunde: »Du Alwin, grüße die Eltern. Ich verreise.« Die entsetzten Eltern eilen, als sie hören, daß der Sohn fort ist, sofort zur Bahnhofswache. Der Vorstand der Kriminalwache, Kommissar von Lonski, schnauzt sie an: »Ich kann doch nicht wegen eines fortgelaufenen Jungen den ganzen Apparat in Bewegung setzen.« Dieses Mal handelt es sich um eine gute Familie. Das Gericht gestattet, was sonst (gemäß § 263) streng gemieden wird, die Polizei zur Vernehmung hereinzuziehen. Es kam heraus, daß nicht nur der Polizeiapparat versagt hatte, nein, der unglückliche Vater hatte auch nicht an die Bahnpolizei in Bremen und Hamburg telephonieren können. Er hatte um einen Beamten gebeten, um mit dessen Hilfe in den Slums der Altstadt nachzuforschen. Da war er aber beschieden worden: »Das ist nicht unser Ressort.« Ja, die Vermißtenmeldung ist nicht einmal weitergegeben worden. – Dieses Mal verkaufte Haarmann das Zeug des Knaben durch die Wegehenkel an eine dunkle Mutter Bormann, die es weiterverkaufte an Alex, den Bademeister in Schraders Schwimmanstalt. Der brachte die Sachen ein Jahr später wieder zum Vorschein (sogar die Knöpfe trugen noch die Firma von Schneider Brüggemann) – die einzige Hinterlassenschaft des jungen Roland, der sich in den großen Wald der Welt hinaussehnte und einem Wolf in den Rachen lief.
Hans, der 20 Jahre alte Sohn des Kaufmanns Johann Sonnenfeld in Hannover, wurde seit Ende Mai 1923 vermißt. Er hatte zuletzt in der Fabrik Sichel in Limmer gearbeitet, war dann auf dem Bahnhof in schlechte Gesellschaft geraten, hatte sich eine Geschlechtskrankheit zugezogen und bummelte nun. Nach einem Krach zu Hause wurde ihm der Hausschlüssel genommen. In Wut darüber ging er davon. Er kam nicht wieder. Nur der vierzehnjährigen Schwester Grete hatte er anvertraut: »Ich habe einen Freund, dessen Braut ich bin.« Alle Nachforschungen waren erfolglos. Erst ein Jahr später, als die anderen Haarmannschen Morde aufgedeckt wurden, kam ein Bekannter des Verschwundenen namens Grote (auch einer aus der jungen Bahnhofsräuberbande, die im Bahnhofsvestibül, beim Schützenfest, auf der Insel usw. herumstrolchten), zu den Eltern und erzählte ihnen: »Zuletzt hab ich Hans mit Heinz Mohr gesehen. Sie hatten einen Teppich nach Berlin verschoben.« Wer aber ist Heinz Mohr? Unter einem ganzen Humpel von jugendlichen Strolchen, Pennbrüdern, Fürsorgezöglingen, Puppenjungen, welche alle den Verschwundenen gut kannten, erscheint nun: Heinz Mohr, eine der psychologisch merkwürdigsten Figuren dieses Kriminaldramas. Ein baumlanger, spirriger, hektischer, ganz schlaffer, kompliziert brüchiger, aber zweifellos sehr verfeinerter Mensch steht mit schambrennendem Antlitz vor Gericht und gesteht, daß er die hinterlassene »Geliebte« des Verschwundenen gewesen ist, daß sie zusammen manche Gaunerfahrt gemacht haben, daß aber zuletzt nach der Rückkehr von einer Gaunerreise Hans plötzlich verschwunden sei; jedoch einige Wochen später, da habe er den Mantel des Verschwundenen, einen Schlüpfer (Ulster), wiedergesehen: an Haarmanns Leibe. Eine ganze Reihe anderer junger Leute, dazu auch Grans, ebenso die beiden Dirnchen, das schöne Dörchen und die nette Elli, ebenso Haarmanns Hehlerinnen Engel und Wegehenkel und sogar der Freund und Kompagnon Sr. Ehrwürden Herr Olfermann, alles beschwört übereinstimmend: »Ja, Haarmann, der vor Sonnenfelds Verschwinden einen schwarzen Mantel trug, trug einige Wochen nach Sonnenfelds Verschwinden einen gelben Schlüpfer mit Fischgräten-Muster und stark paspeliertem Futter.« – Aber es ist merkwürdig: Haarmann, der sonst jeden Mord zugibt, wehrt sich gerade in diesem Falle verzweifelt und verwickelt sich dabei in schwere Widersprüche. Zuerst gab er an, den Schlüpfer von Sonnenfeld (der im ganzen Insel-Viertel allen bekannt war) gekauft zu haben. Später leugnet er überhaupt ab, einen solchen Schlüpfer besessen zu haben. Merkwürdig ist auch dieses: Auch der vom Sportverein gespendete Schlips des Sonnenfeld, auch das von der Mutter selber gestickte Taschentuch und auch der Wollschal des Verschwundenen fanden sich an bei Grans, bei der Wegehenkel und bei der Engel und so tauchte (da Haarmann gerade diesen Fall abstreitet) sogar der Verdacht auf, daß der ganze Menschenknäuel um Haarmann herum von dem Verschwinden des ihnen allen bekannten Sonnenfeld wissen könne. Besonders dreht sich nun alles um den ominösen »Schlüpfer«, aus welchem diese Leute alle ihren Entschlüpfer zu machen bemüht sind. Die größte Verwickelung aber schafft dieses: Hans Grans tritt mit der Behauptung hervor: »Den Schlüpfer, welchen Haarmann trug, hab ich selbst für ihn verkauft. Für 20 Mark an ›Gravörwilli‹.« – Gravörwilli, ein dunkler Ehrenmann, wird geholt und bestätigt Grans' Aussagen, aber gibt an, daß der Schlüpfer vernichtet sei, indem er ihn seiner Frau, der Sophie geschenkt habe, die ihn zu Scheuertüchern verschnitt. Statt sofortige Haussuchung bei Sophie anzuordnen, läßt das Gericht Gravörwillis Sophie holen, die unter Eid versichert, daß Haarmanns durch Grans verkaufter Schlüpfer nicht mehr da sei. Aber nun hat man ja in der Tat einen ebensolchen Schlüpfer unter den von der Kleiderhexe Engel verschleppten Sachen gefunden. Er liegt auf dem Gerichtstisch! Ist er es oder ist er es nicht? Die Fäden werden immer verwirrter, bis das in Rechts- und Unrechtsgeschäften bestbewanderte Mitglied des Gerichtshofes, der Angeklagte Grans, bescheiden vorschlägt: »Man kann ja doch den Schneider holen, der nach Angabe der Eltern den Sonnenfeldschen Schlüpfer gemacht hat.« Nach fünf Minuten ist denn auch der ganz in der Nähe wohnende Schneider geholt und stellt fest, daß der auf dem Gerichtstisch liegende Schlüpfer in der Tat der Sonnenfeldsche ist. – Aber was war nun das für ein Schlüpfer, den Grans für Haarmann an Gravörwilli verkaufte und Sophie zu Wischtüchern zerschnitt? Wenn die Nachwelt das nicht erfährt, so liegt es wohl hauptsächlich daran, daß das Schwurgericht Hannover die Anfangsgründe der Kriminalpsychologie vernachlässigte. – Ein Zeuge hat einen Kleiderstoff wiedererkannt und benennt einen zweiten Zeugen, welcher ihn ebenfalls wiedererkennen werde. Man schickt sofort im Auto den ersten Zeugen fort, um den zweiten zu holen, womit natürlich das Zeugnis des zweiten a priori wertlos geworden ist. Man legt, wenn es gilt einen Stoff wiederzuerkennen, nicht etwa drei oder fünf Kleiderstoffe dem Zeugen vor und fragt: »Welcher ist es?« sondern man hält ihm das Objekt unter die Augen und fragt: »Ist es dieser?« Dank solcher Fehler wurde gerade dieser Fall so verwirrt, daß der Mord an Sonnenfeld (vielleicht der letzte im Hause Neue Straße 8; vielleicht gar ein nicht von Haarmann allein verübter Mord) völlig unaufgeklärt blieb.
Der kleine Ernst Ehrenberg, 13 Jahre alt, war ein ganz armes Kind, Sohn eines braven Schusters, der Haarmanns Nachbar war. An einem Junimorgen wurde der Knabe zu einem Kunden geschickt mit ausgebesserten Schuhen, lieferte sie ab, aber kam nicht zurück. Vier Tage später begannen die Schulferien. Es sollte an diesem Tage die Jugendabteilung des »Christlichen Vereins junger Männer« eine Ferienfahrt machen. Auch Ernst und seine zwei Brüder Hans und Walter durften mitwandern. Als Hans und Walter und der vierte Bruder Kurt (der statt des fortgebliebenen Ernst nun mitdurfte) in das Christliche Vereinshaus kommen, sitzt dort der Bruder Ernst im Vorflur auf der Fensterbank, trägt einen leeren Rucksack und erzählt: »Ich bin in Meinersen bei Tante Wiesinger gewesen. Habe für Mutter eine Kiepe Holz gesammelt.« Als die drei Brüder sagen: »Mutter sucht dich. Sie wird gleich hierher kommen«, da erwidert Ernst ängstlich: »Ne, ich mache lieber fort.« Der jüngste Bruder begleitet ihn noch ein Stückchen zum Bahnhof und kehrt dann zur Mutter zurück. Die Mutter, in Unruhe versetzt, eilt zum Bahnhof. Das Kind ist verschwunden. Erst ein ganzes Jahr später kommt Licht in die Sache. Und zwar dank der grünen Schulmütze des Kindes! Kleine Knaben spielen in der Nähe von Haarmanns Haus. Einem der Kleinen schenkt der »feine Herr« im Vorübergehen eine grüne Schülermütze. »Will einer die Kappe? Ich habe sie einem frechen Buben beim Fußballspiel fortgenommen.« Der arme kleine Willi Liebetreu, ein Kuhjunge, bekommt die Mütze. Alle im Viertel kennen den »Herrn Kriminal«. Als seine vielen Mordtaten aufgedeckt sind, bringt der elfjährige Knirps die grüne Mütze zur Polizei und nun findet man bei Haarmann auch die von Vater Ehrenberg selbst genähten Hosenträger. Wie war es gewesen? Der junge Ehrenberg hatte das Geld für die fortgebrachten Stiefel damals verloren oder vernascht. Er wagte aus Angst vor Strafe sich nicht nach Hause, sondern ging zur Tante nach Meinersen. Schlich dann aber sehnsüchtig, als der Ferienausflug kam, zu seinen drei Brüdern ins »Christliche Vereinshaus«. Aber lief wieder angstvoll zum Bahnhof, als er hörte, daß die erzürnte Mutter ihn suche. Er lief dort dem Nachbarn Haarmann in die Arme. Der nahm ihn mit nach Haus und tötete ihn.
Heinrich Struß, 18 Jahre alt, Sohn eines Zimmermanns in Egestorf, war in der Stadt in Stellung und wohnte bei seiner Tante Schaper in Leinhausen, von wo er jeden Morgen mit der Eisenbahn zur Arbeitsstelle fuhr. Er kam regelmäßig um 6 Uhr aus Hannover zurück und war noch nie eine Nacht fortgeblieben. Eines Donnerstags aber im August kam er nicht von der Arbeit heim. Der Vater in Egestorf, von der Tante sofort benachrichtigt, fährt folgenden Morgen in die Stadt, um bei der Versicherungsfirma, bei der der Sohn als Bürogehilfe arbeitet, sich zu erkundigen. Die Antwort lautet: »Der ist schon mehrere Tage nicht zur Arbeit gekommen.« Man vermutet: »Er muß in schlechte Gesellschaft geraten sein.« Oder: »Er hat sich anwerben lassen ins Ausland.« Die Polizei findet keine Spur. Zuletzt war der Knabe gesehen worden mit einer jungen Freundin im Kino. Erst ein Jahr später, als die bei Haarmann und in Haarmanns Kreis beschlagnahmten Sachen auf dem Polizeipräsidium ausgestellt werden, finden die Eltern darunter die grünen Stutzen mit brauner Kante, von der Mutter gestrickt, den Selbstbinder und sogar den Schlüsselbund des Vermißten, womit zu Hause aufgeschlossen werden: sein Koffer, sein Schrank und sein verwaister Geigenkasten.
Frau Ottilie Richter aus Bochum, eine abgehärmte, bleiche, gebrochene Frau, kommt, um anzuklagen. Ihr Sohn aus erster Ehe, ein vollkommen solider Junge, noch völlig unschuldig, ein armer Dreherlehrling, fuhr an seinem 17. Geburtstage nach Garz an der Havel, Bezirk Magdeburg, zu seinem Onkel, dem Steuermann Schwarz. Er war dort willig, gefällig, arbeitsam. Erschien aber gedrückt und ließ erkennen, daß er nicht gern nach Bochum (das damals von den Franzosen besetzt war) zurückfahre, weil er keinen ordnungsgemäßen Paß habe. Am 24. September ging er von Garz nach der 11 km entfernten Kleinbahnstation Wulkau, um von dort nach der Reichsbahnstation Schönhausen a. E. und dann nach Bochum zurückzufahren. Er hatte aber wohl nicht genug Geld bei sich. Er ist nicht angekommen. Alle Nachforschungen waren vergebens. Als ein Jahr später die Morde Haarmanns aufkamen, und die bei ihm gefundenen Sachen ausgestellt wurden, fuhren Pauls Mutter und Onkel nach Hannover und da fanden sie einwandfrei seinen Tornister, seine Wanderhose, seine Sportjacke aus grauem Cord, seine Stutzen, von der Mutter gestrickt; sogar noch in Haarmanns Zimmer ein Handtuch, das die Mutter genäht hatte. – Paul war in Hannover ausgestiegen, auf dem Bahnhof unter dem üblichen Versprechen von Nachtlogis und Beschaffung von Arbeit, mitgenommen und getötet worden.
In die gräßliche Folge von Schreckensbildern kommt nun etwas Holdes und Liebliches. Fünf arme Kinder, drei Brüder, zwei Schwestern bleiben elternlos zurück. Die Mutter geht mit einem Geliebten auf und davon nach Amerika. Der Vater, Gelegenheitsarbeiter, kränklich und arbeitslos, kann die Kinder nicht ernähren. Er findet Arbeit in Eisenach, bleibt aber so arm, daß er nicht einmal imstande ist, nach Hannover zu fahren, um unter den Leichenteilen die seines verschwundenen Sohnes vielleicht zu agnoszieren. Die ganze Last der Ernährung der vier jüngeren Geschwister liegt auf dem ältesten Bruder Otto, und der ist doch erst 20 Jahre alt. Aber Gott sei Dank: er hat ein junges Mädchen gefunden, das ihm hilft. Und dieses junge Mädchen und ihre wackeren Eltern sowie eine Nachbarin Frau Hoffmann, geb. Brause, vertreten Elternstelle an den verwahrlosten Kindern. Vor das Gericht tritt, schlicht und würdig, eine liebe, blonde, gute hannoversche junge Frau. Sie trägt ein Kind unterm Herzen. Sie ist zwanzig Jahre alt und hat täglich elf Arbeitsstunden. Sie heißt Anna Wiedehaus. Und dies junge, zarte Ding ward die Mutter für fünf arme Kinder, deren leibliche Eltern auf und davon gingen. Der zweite Bruder, Richard, 17 Jahre alt, hatte eine große Sehnsucht: »Ich will nach Amerika. Zu Mama.« Eines Septembertages ging er auf und davon, in die Welt hinaus. Nach zwei Wochen kommt er zurück. Er konnte ohne Paß und Geldmittel nicht aus Deutschland herauskommen. Seine Sachen sind ihm gestohlen. Er ist ausgehungert und übermüdet. Anna gibt ihm Essen. Er erzählt flackernd: »Ich habe auf dem Bahnhof einen feinen Herrn kennengelernt. Er weiß für mich eine gute Stelle auf dem Lande. Ich muß gleich wieder hin; er will mit mir sprechen; verdiene ich genug Geld, dann komme ich doch noch zu Mama.« Er begrüßt noch schnell die Tante Hoffmann und seinen Gönner, Kaufmann Dickhaut, stürzt dann zum Bahnhof und kommt nie wieder. Die Nachforschung wird lässig betrieben, denn man sagte sich: »Er ist vielleicht doch nach Amerika.« Fast ein Jahr später tauchen die Kleider des Gemordeten auf. Richards Anzug trug der Sohn des Friseurpaars Wegehenkel. Der Bruder Otto sagt: »Ja, das ist Richards brauner Anzug. Ich habe ihn oft aufgebügelt.« – Den Ulster des Knaben hatte die Engel vorsichtig in die Pfandleihe verschleppt.
Der Sohn des Schlossers Wilhelm Erdner in Gehrden, 16 Jahre alt, fuhr jeden Morgen um sechs auf Vaters Rad zur Arbeit in die Maschinenfabrik. Eines Samstags kam er nicht wieder. Der Vater geht schon am nächsten Morgen zu Wilhelms Arbeitskollegen. »Habt ihr Will gesehen?« »Nein.« Aber am Montag erzählt der 20 Jahre alte Lunghis, ein höchst merkwürdiger Mensch, der sich in Gehrden herumtreibt (Psychopath: kalt, frech, blond – es fehlen ihm beide Arme): »Herr Erdner, ich weiß, wo Ihr Wilhelm ist. Kriminalbeamter Fritz Honnerbrock hat ihn mitgenommen. Honnerbrock verkehrt in der ›Eisbeinecke‹ an der Goethebrücke. Da sind wir mit ihm gut bekannt geworden. Honnerbrock läuft immer mit Wilhelm rum. Gestern hab' ich Herrn Honnerbrock getroffen und nach Wilhelm gefragt. Da sagte er: ›Ach so, der! Den hab' ich in der Schillerstraße verhaftet und an das Polizeipräsidium abgeliefert.‹ Wilhelm hat wohl was ausgefressen?« Die Eltern forschten nun auf dem Polizeipräsidium nach dem Sohn und nach einem Kriminalbeamten namens »Honnerbrock«. Vergeblich! Doch nach einiger Zeit trifft der Lunghis wieder den vermeintlichen Kriminal Honnerbrock auf der Straße, geht auf ihn zu und erkundigt sich. Der antwortet: »Auf den Fall kann ich mich gar nicht entsinnen. Ich bin jetzt im Dienst. Kommen Sie man heute abend um 7 in die ›Eisbeinecke‹. Dann können wir 'mal darüber sprechen.« Aber abends kam er nicht in die ›Eisbeinecke‹. Der junge Erdner blieb verschollen. Erst im Sommer des nächsten Jahres stieß man auf [eine] dunkle Spur. Ein Fahrradhändler namens Raupers, für dessen Geschäft Olfermann und Haarmann mal als Detektive gearbeitet hatten, hatte durch Haarmanns Vermittlung Mitte Oktober ein Rad gekauft. Das ging so zu: Haarmann erschien am 20. Oktober 1923 im Laden des Raupers. »Raupers, tun Sie mir einen Gefallen. Draußen steht ein junger Mann, arbeitslos, in Not geraten. Kaufen Sie ihm sein Rad ab. Seien Sie nett.« Der Händler ließ sich überreden. Es war ein altes Modell, dunkelblauer Anstrich, ohne Freilauf mit Keiltretlager. Der vermeintlich in Not geratene junge Mann war – Grans. – Der Fahrradhändler arbeitete das Rad um, behielt dabei aber zufällig den Bremshebel aus Aluminiumbronze zurück. Daran erinnerte er sich, als die Mordgeschichten Haarmanns ans Licht kamen, und lieferte diesen alten Bremshebel auf der Polizei ab. Er stammte vom Rade, mit dem damals der junge Erdner zur Arbeit fuhr. Und nun fand sich auch noch dessen feldgraue Hose. Haarmann hatte sie an Frau Stille, die Tochter der Wegehenkel, fortgeschenkt.
Der Sohn des Schlossers Christoph Wolf, Kleine Wallstraße, etwas vernachlässigt, arbeitslos, schlecht gehalten, geht mit dem älteren Bruder zum »Arbeitsnachweis«; hinterher treiben sie sich auf dem Bahnhof herum. Der Jüngere sagt: »Karl, warte; ich will mal austreten, ich komme wieder.« Der Ältere wartet, aber Hermann kommt nicht zurück. Erst sechs Tage nach dem Verschwinden wird die Vermißtenanzeige erstattet. Der Vater gibt an, daß der Junge geäußert habe: »Ich habe mit einem Kriminal am Bahnhof gesprochen. Ich hab' ein verdächtiges Gespräch gehört. Er hat gesagt, ich soll auf die Polizei kommen; dort kriegt' ich Belohnung.« Acht Monate später, als die Morde herausgekommen sind, erkennt die Mutter auf der Polizei unter 400 Asservaten die Stoffreste von ihrem Sohn und kann an einer vom Vater genähten Westenschnalle beweisen, daß das Zeug von ihrem Sohne stammt; die Stoffreste aber waren von der Wegehenkel eingeliefert, die sie mit einer inzwischen verkauften Hose von Haarmann als »Flickreste« geschenkt erhalten hatte. Die Eltern rasen gegen Polizei und Mörder. Der Vater ist manisch, rabiat, bedrohlich. Wahrscheinlich ist das der Grund, weswegen Haarmann feige und verängstigt, grade diesen Fall zäh abstreitet, indem er besonders anführt, daß er an seinem Geburtstage (24. Oktober) keinen umgebracht haben könne, weil er an diesem Tage sich in den Gastwirtschaften der Altstadt betrunken habe. Seine Taten aber seien immer in nüchternem Zustande begangen. Alkohol lähme den Geschlechtstrieb. Zu den Eltern redet er so: »Ich hatte meinen Geschmack. Einen so häßlichen Jungen wie nach dem Bilde eurer einer ist, hätte ich nie genommen. Ihr sagt, daß euer Junge nicht mal ein Hemd anhatte. Und die Hosen waren mit Bindfäden an sein Bein gebunden. Pfui Deibel! Schämt euch, daß ihr den Jungen so lodderig laufen laßt. Stoffreste wie eure da gibt es viele. Bildet euch man nichts ein. Euer Junge war mir lange nicht gut genug.« – Dieser Fall mußte mit Freisprechung enden.
Der 13jährige Heinz, Sohn der Witwe Frieda Brinkmann in Clausthal am Harz, soll an einem Ferientage Richard besuchen, seinen Bruder, der als Füsilier in der Reichswehr dient; in der Bultkaserne in Hannover. Von da will er noch ein paar Tage zu Tante Emma in Uelzen. Die sorgliche Mutter begleitet den Jungen ein Stück bis zum Bahnhof. 1 Uhr 59 geht der Zug ab vom Bahnhof Frankenscharrerhütte. Nachmittags 6½ ist er in Hannover. Der Junge kommt aber nicht an. Die arme Mutter begnügt sich nicht mit der Vermißtenanzeige (»Wenn Sie was hören, dann geben Sie uns Bescheid«), sondern wendet sich sofort an ein Detektivbüro. Man kann feststellen, daß der Knabe den Zug 1.59 nicht mehr erreichte, sondern vom Bahnhof Lautenthal abgefahren ist mit dem Zuge um 5, der gegen 11 in Hannover eintrifft. Wo er dann aber übernachtet hat, läßt sich nicht feststellen. Monate nachher kommt folgende Spur: Ein Herr aus Bremerhaven, Hermann Otto, der in der »Jugendfürsorge« tätig ist, hat eines Abends im Oktober 1923 zwischen 11 und 12 Uhr nachts auf dem Hauptbahnhof in Hannover eine Beobachtung gemacht, die ihm im Gedächtnis blieb. In der Vorhalle stand ein 14jähriger schlanker Knabe mit starkknochigem mageren Gesicht, bekleidet mit einem braunen Manchesteranzug, leerem Rucksack unterm Arm, den Hut in der Hand; noch ein älterer Mensch stand dabei und ein kräftiger, gut gekleideter Herr sprach lebhaft auf die beiden ein. Diesen Herrn aber hatte Otto, der auf der Durchreise nachts häufig in Hannover auf dem Bahnhof Aufenthalt hatte, schon früher im Wartesaal bemerkt. Er hatte sich nämlich verwundert, daß keiner ohne Fahrkarte nachts die Wartesäle betreten durfte, daß aber dieser Herr beständig ein und aus ging und alle jungen Leute zwischen 16 und 20 ansprach. Auf die Anfrage bei einem Bahnbeamten, ob der Herr wohl auch von der Jugendfürsorge sei, bekam er die Antwort: »Nein, das ist ein Kriminalbeamter.« – Es war Haarmann. Als acht Monate nach Verschwinden des kleinen Heinz die Morde ruchbar wurden, und alle gefundenen Kleider ausgestellt wurden, fuhren Mutter und Tante nach Hannover und fanden auf der Kriminalpolizei den Manchesteranzug, Rucksack und die Unterkleidung des Kindes. – »Ich erkannte gleich die Hose. Richard hat sie zuerst getragen und einen kleinen Tintenklecks hineingemacht. Die alte Frau Dieckmann, die auch bei uns auf der Zipfel wohnt, hat das grüne Futter eingesetzt und ich gab mein altes Inlett dazu.« – Wieder stammt die Hose aus dem reichen Kleiderbefund der Madam Wegehenkel. Ihr eigener kleiner Rudi trug die Hose, aber als die Sache anfing brenzlig zu werden, hat sie den Anzug an einen Lithographen verschenkt, der ihn zur Polizei brachte. Der Knabe war zu spät in Hannover angekommen, um seinen Bruder noch den selben Abend aufsuchen zu können. Er blieb auf dem Bahnhof. Haarmann revidierte; versprach Unterkunft für die Nacht und hat ihn getötet.
Dem Zimmermann Jakob Hannappel und seiner Frau Marie, guter anständiger Menschenschlag, schickte ihr 17jähriger Junge zum Martinstag ein Paket mit Kuchen, Blumen und Würsten. Er war ein treuer, anhänglicher Mensch, dem die Lehrer und sein Lehrherr das beste Zeugnis ausstellten. Anfang 1923 erkrankte der junge Düsseldorfer Zimmergesell an einer Bauchfelltuberkulose. Aus dem Krankenhause schickte man ihn zur Erholung nach der Heilstätte Watersloh im Lippischen. Als er im September endlich als geheilt entlassen wurde, riet man ihm: »Zimmergesell ist zu schwer. Bleib auf dem Lande. Ergreif einen leichteren Beruf.« Und so trat Adolf im Oktober 1923 in die Lehre bei dem Oberschweizer Rudolf Dehne, einem derben, etwas stumpfen Mann, in Linshorn bei Lippstadt. Das Gut und die Milchwirtschaft gehörten der Witwe Sürmann. Witwe Sürmann sagte: »Hannappel is e lieve Jong. Aver er het e Pischtole. So wat hevve de Kommeniste.« Und der Oberschweizer sagte: »Fru, hei fret to vele. Der Jung is noch in Wassen. Hei fret mek bale arm.« – So kam man denn überein, sich friedlich-schiedlich zu trennen. Hannappel sollte nach Hannover und sollte dort im »Schweizerbüro« von Wenger in der Ballhofstraße eine gute Stellung erfragen. Bekam er keine, so konnte er weiter zu seinem Onkel, der in Hamburg wohnt. Am 10. November, am Martinstage, verkaufte Hannappel seine Pistole, und mit dem erlösten Gelde fuhr er ab vom Bahnhof Bennighausen nach Hannover. Aber von nun ab hörte keiner mehr was von ihm. Das Wurstpaket an die Eltern »zum Martinstage« blieb sein letzter Gruß. Und doch meldete sich, als man nach dem Verschwundenen zu forschen begann, eine ganze Reihe Personen, die ihn in der Nacht des 10. November in Hannover auf dem Bahnhof im Wartesaal dritter Klasse gesehen hatten. Denn solch ein kernfester, kreuzbraver junger deutscher Handwerksbursche vergißt sich nicht so leicht. Er saß da bescheiden in einer Ecke auf seiner selbstgezimmerten großen Reisetruhe und trug eine schöne neue Breecheshose; auffiel es auch, daß er eine kleine Wasserwaage neben sich stehen hatte. Einige haben gesehen, daß Haarmann an Hannappel herantrat und auf ihn einsprach; einige, daß Grans und der junge Hannappel die schwere selbstgezimmerte Reisekiste zusammen zur Gepäckabgabe trugen. Auch dies wurde gesehen, daß Hannappel mit Grans und Haarmann gemeinsam in die Stadt ging; in der Richtung aufs Café Kröpcke. Aber von da ab war nichts weiter festzustellen. Erst im Juli des nächsten Jahres tauchten die Kleider des Vermißten, seine Schnürstiefel aus Boxkalf, seine Hosenträger, sein Sweater und auch seine alte Wasserwaage wieder auf in der Freundschaft und Verwandtschaft von Familie Engel. Ein Kriminalbeamter auf dem Bahnhof (o Ironie!) trug den olivgrünen Hut mit dem dunkelgrünen Band (ein Geschenk von seinem Kollegen Haarmann), und Hans Grans trug die neue schöne Breecheshose. Alle hatten in der Küche der Engel etwas von Haarmann billig gekauft oder zum Geschenk erhalten. Der Fall lag einfach, um so mehr, als Haarmann die Tötung eingestand. Aber er wurde zum verwickeltsten unter allen Fällen dadurch, daß Zeugen auftraten, die gesehen haben wollten, wie Grans den Haarmann auf Hannappel aufmerksam machte und zwischen Hannappel und Haarmann eine Bekanntschaft vermittelte. Diesen Umstand griff Haarmann auf, um seinen ehemaligen Geliebten anzuklagen: Grans habe ihm befohlen, den Hannappel zu töten, weil Grans selber die Breecheshose und den Inhalt der Reisekiste besitzen wollte. Ihm habe der junge Mann keine Leidenschaften eingeflößt. Denn er hätte nie auf Kleider gesehen. Aber Grans habe mit Vorwürfen, Drängen und Bitten nicht nachgelassen bis die Tat dann schließlich geschehen sei. Nun erwies sich freilich der Hauptbelastungszeuge für Grans, der Friseur im Zuchthaus zu Hannover, als eine Heuchlertype, die selbst unter der Halunkengalerie dieses Prozesses wohl jedem unvergeßlich bleiben muß. Ein glatter, aaliger, hehliger, eleganter Mensch, Kriegsverletzter mit einer Prothese, kommt auf seinen Stock gestützt und erzählt (moralgeschwollen, trotz endloser Strafliste) von seinen heiklen Beobachtungen im Bahnhof. Er hat Zeitungen gelesen, und so weiß er genau, daß Haarmann unter Grans' »erotischer Hörigkeit« stand. Alles andere hat er sich zusammengeklittert und will gern eine Rolle spielen. Er weiß, wie Wittkowski oben auf dem Perron, wie Grans im Vestibül, wie Haarmann in den Wartesälen ein ganzes Mordsystem mit Signalen und Zinken organisiert haben. Er weiß, wie die Knaben von Hans und Hugo ausgesucht und dann dem Haarmann zum Erdrosseln übergeben wurden.
Dazwischen macht er »Schmonzes«: von Reichtum, den er selber besessen, von großen Geschäften, die er einst unternommen hat und versichert: »Ein deutscher Mann, der die Heldenzeit mit erlebt und im großen Kriege sein Blut fürs Vaterland geopfert hat, lügt nicht.« Es wird allmählich klar: Mitgetötet oder Opfer »zugeführt« hat Grans wohl nicht. Aber es bleiben doch unaufgeklärt die großen Widersprüche in der Darstellung, welche Haarmann gibt und in der, die Grans gibt. Es konnte immerhin festgestellt werden, daß nicht Haarmann, sondern Grans die Holztruhe des Getöteten (gleich nach der Tötung) vom Bahnhof abgeholt hat und daß Grans viele Sachen sich aneignete. – Die braven Eltern erbitten sich, ehe sie aus dem Gerichtssaal scheiden, einige Kleiderreste zum Andenken, und tief bitter sagt die Mutter im Hinausgehen: »Die Hose kann sich Grans nehmen; sie ist ja so elegant.« Grans wurde (wehe den Richtern!) zum Tode verurteilt.
Es ist nichts von ihm übriggeblieben als sein alter Mantel. Der hatte ursprünglich flache, gelbe Hornknöpfe. Sie sind abgetrennt und von ungeübter Hand sind Lederknöpfe an ihre Stelle gesetzt. Diesen Mantel beschlagnahmte man Burgstraße in der Wohnung, die Hans Grans und Hugo Wittkowski teilten und stellte ihn aus auf dem Polizeipräsidium. Eine Reihe von Zeugen hat dort unabhängig voneinander den Mantel als den des vor sechs Monaten verschwundenen 19jährigen Handlungsgehilfen Adolf Hennies wiedererkannt. Zunächst seine Mutter, die Witwe Auguste Hennies, geb. Habekost, Perlstraße 3: schwer und dumpf. Sie erkannte Schnitt, Farbe und Ärmelfutter. Sodann der Untermieter bei Frau Hennies, Willi Eisenschmiedt, ein glaubwürdiger, stiller, alter Mann, mit dem Adolf dasselbe Zimmer teilte und in dessen Kleiderschrank lange Adolfs Mantel hing. Auch sein Bruder, ein junger Arbeiter und sein naher Freund Willi Rackebrand erkennen den Mantel. Und endlich auch die Kleiderfirma, bei welcher dieser Mantel auf Abzahlung von Hennies gekauft wurde. Die Einerleiheit ist also gesichert. Wie aber kommt der Mantel in den Besitz von Grans? Grans behauptet, er habe ihn von Haarmann auf Abzahlung gekauft und schulde dem Haarmann noch heute einen Teil des Kaufpreises. Haarmann gibt an: »Eines Nachmittags, es war Schneetreiben und Frost, kamen Wittkowski und Grans zu mir und baten: ›Laß uns zu heut abend dein Zimmer. Wir haben eine Besprechung.‹ Ich sagte: ›Meinetwegen‹, und ging abends, wie ich immer tat, zum ›schwulen Kessel‹ (der Zusammenkunftsort der Gleichgeschlechtsliebenden unter den Linden am Hoftheater), blieb dort einige Stunden und ging dann auf den Bahnhof. Erst gegen Morgen komme ich nach Haus. Liegt da im Zimmer ein Toter. Ganz entkleidet. Hugo und Hans schnüren grade Kleider zusammen. Ich frage: ›Was ist das?‹ Sie sagen: ›Einer von den deinen.‹ Ich denke: ›Er hat am Halse keine Wunde. Die meinen haben Lutschflecke.‹ Sie blieben bei ihrer Behauptung und liefen fort. Nur der Mantel blieb zurück; den hat Grans folgenden Tages auch geholt und mir acht Mark dafür hingelegt. Ich hatte die Mühe, die Leiche zu zerlegen und fortzuschaffen. Ich weiß nicht, wer es war. Aber es war der, dem dieser Mantel dort gehört hat.« – Die Beschuldigung gegen Grans machte Haarmann in größter Steigerung mit tränenerstickter Stimme; am zweiten Verhandlungstage. Vor dem Untersuchungsrichter hatte er angegeben, er habe den Mantel gekauft und später an Grans überlassen; mit der Mahnung: »Ich glaube, der Mantel ist heiß«, weswegen Grans sich gleich andere Knöpfe annähte. – Die Mutter berichtet: »Mein Sohn war streng ehrbar; er ist nie nachts fortgeblieben. Es war das erstemal, daß er abends nicht nach Hause kam. Er besuchte nur hie und da mit seinem Freund Wedemeyer Tanzlokale, aber das wußten wir stets. Wedemeyern hat er anvertraut, daß er für eine junge Frau schwärme, die er als Laufbursche beim Großschlächter Ahrberg einst bedient hatte; er möchte sie so gern mal ins Kino einladen, wage das aber nicht.« – Hennies war gerade stellenlos und suchte neue Arbeit. An dem Tage seines Verschwindens bewarb er sich um eine Stelle als Seifenreisender bei einem Kaufmann G. in der Alten Cellerstraße (da dieser der homosexuellen Sphäre nahe stand, so knüpften sich an seine Seifenfabrik ganze Romane). Es ist kein rechter Anhalt dafür da, daß Hennies den Haarmann näher kannte, doch hat er sowohl seinem Bruder wie seinem Freunde erzählt: »Ich habe einen Kriminalbeamten kennengelernt, der mir Arbeit nachweisen will und Kleider versprochen hat.« – Es ist anzunehmen, daß Haarmann durch solche Versprechungen den Hennies in seine Wohnung gelockt hat. Aber klar ward das nicht. Daß Haarmann gerade diesen Mordfall auf Hugo und Hans abzuschieben versuchte, erkläre ich mir aus einfachsten Gründen: Der hinterbliebene Mantel war in der Tat ein Streitobjekt der drei. Sie haben sich darum geprügelt und bedroht. Grans und Wittkowski wollten Haarmann das Geld dafür nicht geben; darum knüpfte sich gerade an diesen (dazu gelegenen) Fall die »kompensatorische« Fantasie des Eifersuchtshasses gegen Wittkowski und des Hasses aus verschmähter oder verdrängter Sexualität gegenüber Grans. Der gewaltigste aller Kriminalfälle, der des französischen Marschalls Gilles de Rais zeigt viele ähnliche »Kompensationen«. – Immerhin kann man Haarmann nur der Tat überführen, nicht sie ihm beweisen. Er wurde freigesprochen.