Theodor Lessing
Haarmann
Theodor Lessing

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Erster Teil

Ort und Zeit des Dramas

Hannover, die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz und der Mittelpunkt der niedersächsischen Lande, liegt an den letzten Ausläufern des deutschen Mittelgebirges, von welchem aus sich die norddeutsche Ebene mit ihren sandigen Kiefern- und Heidebezirken bis fern zur Nordseeküste hinabzieht. Das Flüßchen Leine, vom Eichsfelde kommend und die zwischen Harz und Weserbergen eingesenkte hügelige Mulde Göttingens durchfließend, erreicht unterhalb Elze, zwischen dem Hildesheimer Wald und dem Osterwald hervorbrechend, die kahle norddeutsche Ebene; von Hannover ab macht der Fluß einen Bogen nach Westen und mündet hinter Hudemühlen im Großen Moor. Das »Hohe Ufer«, dort wo der Fluß die Deisterbäche Ihme und Föße aufnahm und in schnellem Laufe die Altstadt durcheilt, hat wohl dem um 1050 zuerst erwähnten Ort den Namen gegeben: »Honovere«. – Eine Stadt im Grünen! Denn ein Waldgürtel, die Eilenriede genannt, 2500 Morgen weit, umzieht die Stadt in weitem Halbkreis und läßt nur nach Süden die Ebene offen, in welche sich die sogenannte Masch (oder Marsch) hineinschiebt, ein wasserreiches, sumpfiges Flachland, an dessen Rand wiederum Waldhügel, genannt Deister (von Dixter-Dichtwald), die Stadt umgrenzen. Wenige europäische Städte haben zwischen 1850 und 1900 so völlig ihr Antlitz verändert. Bis 1866 war Hannover die weltfern-vornehme Residenz der alten englischen Welfenkönige. In dem grünumbuschten Idyll der durch sechshundert Jahre träumenden Niedersachsenstadt schlugen die ersten Lerchen der deutschen Lyrik: Hölty und Bürger, sodann die Frühnachtigallen der Romantik: die Brüder Schlegel; hier grübelten Lichtenberg und Leisewitz, Detmold und Feder, und vor allem der wissensreichste deutsche Denker: Leibniz. Moritz und Iffland sind hier geboren, sowie Hartleben und Frank Wedekind. Als Hannover 1866 durch Bismarck für Preußen annektiert wurde, hatte die Stadt kaum 70 000 Einwohner. Aber in der Zeit nach dem siegreichen Krieg mit Frankreich, zwischen 1870 und 1873, in der sogenannten Gründerzeit, hielt die Industrie machtvoll Einzug, so daß die kleinen lieblichen Dörfer der Umgebung, Hainholz, Döhren, Limmer, List bald zu rußigen Fabrikvororten sich wandelten. Eine Technische Hochschule wurde gebaut; die Deisterkohle geschürft, und vollends änderte sich das Stadtbild, als der schiffbare Rhein-Weser-Leine-Kanal angelegt und in den großen »Mittellandkanal« überführt wurde, gleichzeitig aber die riesigen Kalischätze des Bodens rund um Hannover abgebaut zu werden begannen. Eine einzige Fabrikanlage, die sogen. »Continental«, welche sich mit dem Herstellen künstlichen Kautschuks beschäftigte, machte binnen weniger Jahre aus dem kleinen Vorort Vahrenwald ein fünfzehntausendköpfiges Proletarierviertel. Brauereien, Spinnereien, Wollwäschereien, die Maschinenfabriken von Gebr. Körting und Georg Egestorff und die sogen. Hanomag, eine Wagen- und Waggonfabrik wandelten das jenseits der Ihme gelegene Dorf Linden in eine Fabrikvorstadt von über hunderttausend Beamten- und Proletarierfamilien. Immerhin war diese Entwicklung zu Geldherrschaft und Werkertum, darunter die alte Adels- und Bauernkultur Niedersachsens erstickte, keineswegs ungewöhnlich. Sie war das allgemeine Wesensgepräge des wilhelminischen Deutschlands. Wahres Höllenchaos aber setzte ein, als dies preußische Machtreich zerbrach und eine an Töten und »Requirieren« gewöhnte, im fünfjährigen Weltkrieg verwilderte Jugend, alle Zucht und Form abschüttelnd, in die völlig armgewordene, ausgesogene Heimat zurückkehrte. 14 Millionen Tote! Im Osten Hungersnöte, welche ganze Länderstriche dahinrafften und schließlich dahin führten, daß Eltern ihre Kinder, Kinder ihre Eltern fraßen. Entartung, Verarmung, Verwirrung ohnegleichen. Das deutsche Geld auf dem Weltmarkt so entwertet, daß nur durch das immer neue Drucken und Hinausschleudern immer neuer wertloser Papierfetzen ein trostloses Scheinleben von Tag zu Tag gefristet wurde. In dieser sogenannten »Inflationszeit«, anhebend mit dem Zusammenbruch der deutschen Heere im Weltkrieg und den Stürmen der deutschen Revolution, begann die Bedeutung der Stadt Hannover als eines internationalen Durchgangs- und Schiebermarktes plötzlich zu wachsen. Die Stadt beherbergte um 1918 etwa 450 000 Menschen. Knapp vier Eisenbahnstunden von Berlin, Deutschlands großem Wasserkopf entfernt, knapp acht Stunden entfernt von Köln (wo damals Engländer-, Franzosen- und Belgierherrschaft begann), war Hannover der günstigste Mittelpunkt für das Tausch-, Schieber- und Transaktions-Geschäft, welches Tausende ernährte. Alle Welt lebte von Spekulation. Da Geld nichts mehr galt, und nur Sachwerte das Leben fristen konnten, so wurde aufgekauft, getauscht und gestohlen wie nie zuvor. Und zwischen Berlin, in welches der slawische, wendische, polnische, jüdische Osten einströmte, Amsterdam, wo viel Reichtum abfloß nach Holland und England und endlich Köln, welches nach Belgien und Frankreich die Brücke schlug, lag Hannover aufs günstigste in der Mitte, so daß sich hier aufzutun vermochten hundert neue Gründungen, hundert neue Vergnügungs- und Lasterstätten, die ein schlimmes Händler-, Schieber-, Parasiten- und Schmarotzervolk ins Land brachten, langsam zerfressend die alte bürgerliche Tüchtigkeit und ehrenfesten Solidität der (wie ein großer Dichter sie nannte) »fahlsten unserer Städte«.

An drei Stellen der Stadt erhob sich ein Gauner-, Hehler- und Prostitutionsmarkt ohnegleichen, dessen die Behörden nicht mehr Herr wurden. Zunächst im Bahnhof und auf den ihn umgebenden Plätzen. Hier wurde in der schweren Brotmarkenzeit, wo man Brot, Fleisch und Milch nur in kleinsten Rationen gegen teures Geld und nach stundenlangem »Schlangenstehn« erhalten konnte, unter der Hand ein schwunghafter Handel mit gestohlenem und heimlich geschlachtetem Nutzvieh, auch mit Kaninchen, Ziegen, Hunden und Katzen, mit Kartoffeln, Mehl und mit allerhand gepaschter und verschobener Ware getrieben; vor allem aber mit Kleidern, Wäsche und Schuhen. Hier versammelten sich allnächtlich in den Wartesälen viele Obdachlose, Arbeitslose, Hungrige und Entgleiste.

Geht man vom Bahnhof aus die breite Baumallee der Bahnhofsstraße entlang, so gelangt man nach wenigen Minuten in die Georgstraße, die Herzader der Stadt. Ein weiter Boulevard, lindenüberblüht, voller Beete, Gartenanlagen, Pavillons und Denkmäler. Und dort zwischen dem alten berühmten Hoftheater und den schönen Gartenanlagen des sogenannten Café Kröpcke befand sich um 1918 ein zweites Zentrum der Sittenlosigkeit: der »Markt der männlichen Prostituierten«, deren 500 damals in den Polizeilisten eingeschrieben standen, indes der Kriminaloberinspektor die Gesamtzahl der sogenannten Homosexuellen in Hannover auf nahezu 40 000 veranschlagte. Sie bildeten eine eigene kleine Welt. In einem der schönsten Lokale der Kalenberger Vorstadt, dem sogen. Neustädter Gesellschaftshaus veranstalteten sie Gesellschaftsabende und Bälle, bei denen Knaben und Jünglinge in weiblicher Ballkleidung den Damenflor vertraten. Ein zweiter minder vornehmer Treffpunkt war der alte Ballhof, ein Barocksaal aus der Königs- und Kurfürstenzeit. Und für die allerunterste Schicht gab es in einer der ältesten und verrufensten Straßen der Altstadt, welche »Neue Straße« heißt, ein kleines Tanzlokal, genannt »Zur schwulen Guste«, wo nur auf ein bestimmtes Zeichen hin zugelassen, lesbische Mädchen und gleichgeschlechtlich gerichtete Männer nachts zusammenkamen. Aber das dritte Hauptzentrum alles Luder- und Lasterlebens war die malerische Altstadt, dort wo der Fluß an dem sogenannten Hohen Ufer entlang eine von vielen Brücken überquerte, als »Klein-Venedig« bekannte, uralte Inselstadt bildet: Verfallene Winkel, Jahrhunderte altes Gemäuer, ein trotziger altsächsischer Beguinenturm und ein Gewirr von Giebeln, Fachwerk und baufälligen, noch ans Mittelalter mahnenden Gassen, aus deren Mitte jene Kirche ragt, in welcher Leibniz begraben liegt, sowie der auf dem »Berge«, einer plangemachten Rampe, erbaute maurische Judentempel. Dieser Stadtteil, unmittelbar benachbart dem vom Strom bespülten mächtigen Schloß der Welfen, war einst der vornehmste Stadtteil, ist aber im Lauf der Zeiten, ähnlich der Umgebung des Berliner Schlosses, zum ärmsten Kaschemmen- und Verbrecherviertel herabgesunken. Gleich dem alten Hildesheim, Braunschweig und Goslar das Entzücken für jedes schönheitsuchende Auge, wurde dieses älteste Hannover die Brutstätte lichtloser, armutgelber, in Verfall und Moder atmender, zum Unglück verfluchter Geschlechter. –

Die »Neue Straße« mit dem einstigen Wohnhaus des Herzogs Friedrich Wilhelm von Braunschweig, dem späteren Armenhaus, zieht sich entlang der steilen Uferhöhe des Flusses. Die Hinterwände ihrer dreihundertjährigen Häuser, ihre Erker und Balkone stürzen jäh hinab in den Fluß, über dessen Ufern die grünumbuschten armen Höfe und rührend bescheidenen Gärtchen schweben. Nicht weit davon, dem Judentempel gegenüber, liegt die sogenannte »Rote Reihe«; eine Gruppe müder, einander kaum noch stützender morscher Häuser, in deren einem (dem Mordhaus benachbart) einst der Elektrotechniker Rühmkorff die Induktionselektrizität entdeckte. In diesem schmutzigen Häusergewirr, auf den seit Jahrhunderten ausgetretenen elenden Holzstiegen, in Verschlägen, mehr Käfigen gleich, nur durch dünne Tapetenwände oder Bretterverschläge voneinander abgetrennt, hausten in Deutschlands Elendszeit die Ärmsten der Armen. Die aus dem großen Kriege übriggebliebene Jugend hatte die Lehre begriffen, daß man um eines Rockes, um eines Paar Stiefel willen den Feind töten darf. Und »Feind« ist jeder andere. Auf der »Insel« war Diebesbörse und Hehlermarkt. Hier wurde (in der Sprache dieser Hinterwelt geredet) allabendlich geküngelt und gekütchebücht. Hier wurde Schores geschoben (d. h. Diebesware verhandelt), wurde Rebbes gemacht, wurde manche »heiße Sache gedreht«. Abends, wenn der Mond hing über den morschen Dächern und grauen Schloten und den gespenstigen schwarzen Fluß versilberte, kam die schwere, dürre, zermürbte, zerarbeitete Leidensmenschheit aus ihren alten Kästen hervor und hing und hockte über der stinkenden Lagune, auf der alten Brücke: arme, sorgenschwere, kinderreiche Mütter, müdegewordene, früh verstumpfte Männer. Und dazwischen wimmelte lebensgierig das junge Volk; die Unzahl der Gassendirnen und ihrer Zuhälter, »Nepper«, »Strezer«, »Schoresmacher«, die in der »Kreuzklappe«, im »Kleeblatt«, im »Deutschen Hermann« manche Missetat baldowerten, während die rätselhaften Sterne glitzerten im dunklen Wasser des in sich selbst versumpfenden Stromes.

Die ersten Leichenfunde

Am 17. Mai 1924 fanden Kinder, die an der Wasserkunst nahe dem Schloß Herrenhausen spielten, einen Menschenschädel. Am 29. Mai wurde mitten in der Stadt an der Brückmühle hinterm Leineschloß im Mühlengraben ein feiner Jünglingsschädel angespült. Am 13. Juni klagten die augenlosen Höhlen zweier neuer Schädel zum Licht. Wiederum: der eine im Osten der Stadt bei der Wasserkunst; der andere im Westen neben der Brückmühle. Die gerichtsärztliche Untersuchung ergab, daß es sich handelte um Köpfe junger Menschen im Alter von 18 bis 20 Jahren. Bei dem am 13. Juni bei der Brückmühle gefundenen um den eines 11 bis 13 Jahre alten Knaben. Bei allen Schädeln war festzustellen, daß sie mit einem scharfen Instrument vom Rumpfe getrennt worden waren. Fleischteile fehlten fast völlig oder waren verwest, da die Knochen anscheinend schon lange Zeit im Wasser gelegen hatten. An dem am 13. Juni bei der »Wasserkunst« gefundenen Kopf ließ sich feststellen, daß die Kopfhaut durch einen skalpartigen Schnitt vom Knochen abgelöst worden war. Man riet zunächst darauf, daß die Schädel aus der Göttinger Anatomie stammten, oder daß sie in Alfeld, wo zu jener Zeit eine Typhusepidemie herrschte, in die Leine geworfen waren, oder endlich, daß sie ins Wasser geschleudert wurden, gelegentlich von Gräberschändungen, die im Engesohder Friedhof entdeckt wurden. Keine von diesen Vermutungen bestätigte sich. Dagegen fanden Knaben, die auf einer Wiese in der Döhrener Masch spielten, einen Sack mit menschlichen Knochen, und am 24. Juli wurde in der Feldmark Garbsen abermals ein offenbar vom Körper getrennter skalpierter Schädel aufgefunden, welcher wiederum von einem ganz jungen Menschen stammte. Die vielen Knochenfunde konnten nicht verborgen bleiben. Es bemächtigte sich weiter Volkskreise eine schon lange vorbereitete Schrecksucht. Schon seit Jahr und Tag nämlich war im Volke ein abergläubisches Gerücht im Schwange: »Es gibt in der Altstadt Menschenfallen. Junge Kinder verschwinden in Kellern. Knaben werden in den Fluß versenkt.« Man erzählte, daß in der schweren Notzeit Menschenfleisch auf dem Markt verkauft worden sei. In den Dörfern um Hannover weigerten sich junge Mägde, in die Stadt einkaufen zu gehen. Und die ungewisse Angst vor einem die Gegend unsicher machenden »Werwolf« wuchs von Tag zu Tag. In den Jahren 1918 bis 1924 waren außergewöhnlich viele Menschen vermißt oder verschwunden. Im Jahre 1923 wuchs die Zahl der als vermißt Gemeldeten auf fast 600, und wenn auch die größere Anzahl der Vermißten sich wieder einfand, so blieb doch im Vergleich mit anderen gleichgroßen Städten die Anzahl der Verschwundenen in Hannover ziemlich groß. Die Nachforschung zeigte, daß es sich recht häufig handelte um Knaben und Jünglinge zwischen 14 und 18 Jahren.

Am Pfingstsonntag des Jahres 1924 zogen Hunderte aus Hannover und Umgebung an die »Hohen Ufer«, besetzten die kleinen Stege und Leinebrücken der Altstadt und begannen ein fieberhaftes Suchen nach Leichenteilen und Knochen. Am fünften Juli in der Morgenfrühe wurde, nachdem man noch eine ganze Anzahl menschlicher Knochen gefunden hatte, das ganze Flußbett von der Brückmühle an bis zur großen Leinebrücke am Clevertor abgedämmt und durch Polizeibeamte und städtische Arbeiter gründlich nach Leichenteilen durchsucht. Diese Stelle der Leine liegt mitten in der Stadt. Sie kann von Selbstmördern wegen des dort stattfindenden starken Verkehrs nicht aufgesucht werden. Das Ergebnis war furchtbar. Es wurden über 500 Leichenteile gefunden, deren Untersuchung durch den Gerichtsarzt ergab, daß es sich um die Reste von mindestens 22 Personen handelte, von denen ungefähr ein Drittel im Alter zwischen 15 und 20 gestanden haben mochte. Etwa die Hälfte hatte schon längere Zeit im Wasser gelegen. – An den noch frischen Knochen aber wiesen die Gelenke glatte Schnittflächen auf.

Inzwischen war teils durch das forsch zugreifende Vorgehen des Kriminalkommissars Retz, eines freundlichen jungen Riesen, teils durch eine Reihe merkwürdiger Zufälle die Aufklärung gelungen. Am 23. Juni wurde der vermutliche Täter ins Gerichtsgefängnis eingeliefert. Es war der am 25. Oktober 1879 zu Hannover geborene Friedrich, genannt Fritz, Haarmann; fünfzehnmal vorbestraft; seit 1918 Spitzel im Dienste der Kriminalpolizei; im übrigen Handel treibend mit Kleidern und Fleisch; seit vielen Jahren auf der Sicherheits- und Kriminalpolizei bekannt als Homosexueller. – Seine Erscheinung warf alle gewohnten Vorstellungen von Mord und Mördern über den Haufen.

Das Signalement

Vor uns steht eine keineswegs unsympathische Erscheinung. Äußerlich betrachtet: ein schlichter Mann aus dem Volk. Freundlich blickend und gefällig, zuvorkommend; auffallend gepflegt, sauber und »tipp-topp«. Er ist gut mittelgroß, breit und wohlgebaut und hat ein zwar derbes, grobes aber gleichsam wie blankgescheuertes, klares und offenes Vollmondgesicht mit frischen Farben und kleinen neugierigen und fröhlichen Tieräuglein. Sein Schädel ist rund, zeigt breite fliehende Stirn, schmales Mittelhaupt und eine steile Linie des Hinterhauptes. Die Ohren sind nicht groß, liegen ein wenig unterhalb der Augenhöhe und stehen vom Kopf ab. Auch die Nase ist nicht groß und so wenig auffallend wie das ganze Antlitz. Im Profil nicht unedel, sieht sie doch von vorn betrachtet etwas knollig aus, ist an der Wurzel breit und hat starke witternde Flügel. Der Mund ist klein, frech und dicklippig. Die Zunge, in der Erregung vorschnellend und die Lippen netzend, ist auffallend fleischig; die Zähne sind weiß, stark, scharf und gesund; das Kinn tritt energisch vor. Die Oberlippe schmückt ein kleines englisches Bärtchen, die vollen Wangen sind sauber rasiert. Sein bräunliches Haupthaar, glatt anliegend und links gescheitelt, ist nicht eben voll. Das zwischen braun und grau schillernde Auge ist kalt und seelenlos; aber gerissen und verschlagen und meistens in Bewegung. Der Blick ist suchend nach außen gekehrt; aber vergletschert zu unnahbarer Verschlossenheit, sobald die hysterisch auf- und abflutende Stimmung auf Peinliches festgelegt wird. Merkwürdig aber ist folgender Gegensatz: Diese Physiognomie ist auffallend gebunden, ungelöst, und »wie eingespunden im Fasse ihres Ich«. Zugleich aber gibt sich der Mann unerträglich geschwätzig, mitteilungsbedürftig und überbeweglich. Er redet fortwährend auf sein Gegenüber ein; dabei fuchtelt er mit seinen weißen weichlichen Händen und den langen Fingern, an denen er in der Nervosität unaufhörlich zerrt und zupft. An der linken Hand fehlt ihm ein Fingerglied. Er gibt an, daß es bei einer Schlägerei ihm abgebissen worden sei. Auch sein Rumpf ist gut entwickelt; der Nacken ist stark und gemein; Brust und Rücken zeigen wie das Gesäß rundliche weibische Fettpolster. Der Leib ist zwar derb, aber hat etwas vom Weibe. Das Geschlechtsglied ist stark; die Schambehaarung verläuft nicht im spitzen Winkel zum Nabel, sondern im flachen Bogen oberhalb des Schambeines. Die plumpen Füße haben flache Sohlen. Die Stimme, breiig, schleimig und nah am Diskant, erinnert an das Organ alter Frauen. Der ganze Habitus ist »androgyn«. Man möchte sagen: nicht männlich, nicht weiblich, nicht kindlich. Aber männisch, weibisch und kindisch zugleich. Am auffallendsten an dem Mann (leider von den Sachverständigen nicht studiert und nicht einmal beachtet) sind die vielen Automatismen und Stereotypien. (Als »Automatismen« bezeichne ich solche Ausdrucksbewegungen, die unwillkürlich wiederkehren; als »Stereotypien« solche, die allmählich zu Gewohnheit geworden sind.) Automatisch sind z. B. gewisse Bewegungen: eine Art Taperigkeit oder Tatteligkeit des Ganges, sodann (besonders wenn man ihn lobt oder in Verlegenheit bringt) eine fast kokette Schwänzelei mit Gesäß und Unterkörper. Ferner: sobald er müde wird, beginnt er automatisch mit der linken Hand an eine bestimmte Stelle des rechten Mittelhauptes zu greifen, als wenn sich dort ein kranker Fleck befände. Wenn er den Faden verliert (denn er muß wie Sternes Korporal Trim »alle Sachen ganz von vorn erzählen«) macht er eine typische Leckbewegung mit der fleischigen Zunge. Stereotyp ist an ihm jenes ewige Zerren an den Fingern, das Benetzen der Lippen, das Einkneifen der Augenlider, sobald er eine Verteidigungshaltung annimmt. Auch sind alle seine Reden übervoll von stereotypen Redensarten. (Nüch? nüch wahr? Och! Och ne! »Und so weiter, und so weiter!« Ach Unsinn! . . . Er spricht übrigens auffallend hannoveranisch.) Bestimmte Lieblingsvorstellungen kehren immer wieder. (Z. B., daß alle Jungen in ihn verliebt seien; daß nicht er hinter Knaben, sondern daß die Knaben alle hinter ihm her seien; daß auch die Frauen [die er im übrigen tief verachtet und gleichsam als Nebenbuhlerinnen empfindet] gern mit ihm »poussieren« möchten.) Obwohl er nicht den mindesten Sinn hat für fremde Rechte und überhaupt keine sozialen (sympathischen, altruistischen; aus Mitleid fließenden) Gefühle hegt, ist er doch durchaus gesellig. Die beiden tiefsten Gefühle seiner Natur sind das Bedürfnis nach Wollust und das Bedürfnis nach Zärtlichkeit. Und sie sind so aneinandergefesselt, wie im Mahabharata der Menschenfresser Hidimba, der Dämon der Blutgier, gebunden ist an seine Schwester Hidimba, die Göttin der zärtlichen Schönheit. Er möchte geliebt, ja er möchte gerne bewundert sein und steckt voll von Beachtungs- und Beeinträchtigungsideen, wobei er mault und schmollt wie ein dummes störrisches Kind, das sich immer benachteiligt wähnt. – Er liebt weibliche Arbeiten, backt, kocht und stopft Strümpfe, raucht aber dabei schwere Zigarren. Immerhin gehört er zum Typus des »Weibmannes« (der sogenannten Tante). Seine Lieblingsgenüsse sind Bohnenkaffee, starke Zigarren und Harzkäse. Im allgemeinen erscheint er wie ein gar nicht bösartiges, ganz im Augenblick lebendes, völlig eigenbezügliches und durchaus triebhaftes Tier; renommistisch, aber leicht lenkbar. Jede Vorstellung, die man ihm eingibt, hat die Strebung für sein Bewußtsein sofort »Wirklichkeit« zu werden; eben darum ist er vollkommen außerstande, abstrakte, d. h. unbildliche Vorstellungen festzuhalten. Man könnte in dieser Hinsicht sagen, daß sein Verstand weit schlechter entwickelt ist, als seine Vernunft. Dieser »Kurzschluß« zwischen Vorstellung und Wirklichkeit ist so unmittelbar, daß, wenn er z. B. vom Köpfen (»Geköppt werden«) spricht, er bildhaft den Gang zum Schafott und das Fallen des Fallmessers dem Besucher vorahmt; wenn er erzählt, wie er die Leichen zerstückelte, so ahmt er mit den Händen die Schnitte nach; steigert er sich in Sentimentales hinein (»Ich will auf dem Klagesmarkt hingerichtet werden. Auf meinem Grab steht der Spruch: ›Hier ruht der Massenmörder Haarmann.‹ An meinem Geburtstag kommt Hans und legt einen Kranz nieder«), dann kommen ihm sogleich Tränen ins Auge; berichtet er von Geschlechtlichem, dann greift er (selbst im Gerichtssaal) automatisch in die Geschlechtsgegend. Er ist ein Stück Natur; ohne Logik und ohne Moral. Aber auch ohne logische und moralische Heuchelei.

Elternhaus und Jugend

Am 25. Dezember 1921 verstarb, 76 Jahre alt, in Hannover der »olle Haarmann«. Manche Hannoveraner erinnern sich noch an das vermickerte, gnitterische, zänkische, immer übellaunige und übelnehmerische Männlein als an das Urbild eines Krakeelers und mißwollenden Pfennigfuchsers. – – Hinter allen »Schürzen« war er her. Abendlich aber randalierte oder prahlte er in den alten Pinten, Kabakken und Kabuffs der Altstadt. Schon sein Vater war Querulant und Trinker gewesen. Und in der Familie gab es ebensoviel Erbbelastete wie in Zolas Familie Rougon-Macquart. Der »olle Haarmann« war in seiner Jugend Lokomotivheizer; hatte aber den Dienst, darin er für unzuverlässig galt, 1886 verlassen, wegen eines angeblich im Betrieb erlittenen Unfalls, wobei sein Lokomotivführer zu Tode kam. Er prozessierte, ein typischer Rentenhysteriker, mit der Eisenbahndirektion, obwohl er eigentlich in ganz behaglichen Verhältnissen leben konnte. Denn durch eine Nutzheirat mit einer sieben Jahre älteren Frau, seiner am 5. April 1901 verstorbenen Ehefrau Johanne, geb. Claudius, waren ihm ein paar Häuser und ein kleines Vermögen in die Hände gekommen, so daß er in der »Gründerzeit« zum wohlhabenden Bürger geworden, fortan auskömmlich zu leben vermochte. – Er war ein wüster, zänkischer, kleinlicher, verschlagener Mensch, und sein unzufriedenes Wesen wurde unleidlicher noch, als er, in reifen Jahren syphilitisch geworden, seinen alten Frauenzimmergeschichten – (bald nach seiner Heirat schon nahm er mehrfach Maitressen ins Haus) – nicht mehr nachgehen konnte . . . Die Mutter des Mörders war eine einfältige, etwas blöde Person, früh verbraucht, überaltert und seit der Geburt des sechsten Kindes (eben des Triebverbrechers) immer bettlägerig dahinkränkelnd. Von den sechs Kindern wurde der älteste Sohn Adolf ein braver kleinbürgerlicher Werkmeister auf der »Continental«, ordentlicher Philister und Familienvater. Der zweite Sohn, Wilhelm, wurde in jungen Jahren wegen eines Sittlichkeitsdelikts bestraft, begangen an dem 12jährigen Töchterchen eines benachbarten Gastwirts, und auch die drei Töchter, alle drei von ihren Männern früh geschieden, erwiesen sich als leicht aufgeregte, triebbelastete Naturen. Eine der Schwestern, Frau Rüdiger, verstarb in den Kriegsjahren. Mit der zweiten, Frau Erfurdt, konnte der Mörder sich nie recht vertragen, und nur die Schwester Emma, eine Frau Burschel, blieb stets mit ihm verbunden, was aber doch nicht ausschloß, daß auch diese beiden Geschwister zwischendurch miteinander prozessierten, ja, daß der Bruder gelegentlich in dem Zigarrenladen der Schwester Diebstähle und sogar Einbrüche veranstaltete, die er nachher unter Tränen ableugnete oder anderen in die Schuhe schob. – Friedrich (genannt Fritz), Heinrich, Karl Haarmann wurde am 25. Oktober 1879 als jüngstes Kind geboren; die Mutter war damals 41 Jahre alt. Aus der frühesten Jugend wissen wir nur (aus Erzählungen der Geschwister), daß dieses Kind von der immer kränklichen Mutter sehr verhätschelt wurde. – Für den Seelenforscher ist es von Wichtigkeit, daß schon der kleine Knabe in dem Vater eine Art Nebenbuhler sah, welchen er haßte und tot wünschte. Durch das ganze Leben zieht sich diese Feindschaft mit dem Vater. Die beiden beschuldigen und bedrohen einander. Der Vater droht, den Sohn ins Irrenhaus zu bringen, der Sohn will den Vater (wegen eines angeblichen Mordes an seinem Lokomotivführer) ins Zuchthaus setzen. Es kommt immer wieder zu Mißhandlungen und Schlägereien. Jeder behauptet, daß der andere ihm nach dem Leben trachte, ihn vergiften wolle, ihn beeinträchtige. Zwischendurch verbinden sie sich aber auch mal wieder zu gemeinsamen Betrügereien oder entlasten einander vor Gericht. Das Verhältnis Haarmanns zur Mutter dagegen ist von immer gleicher Schwärmerei. Sie ist die einzige, von der er Gütiges zu erzählen weiß und stets mit sentimentalen Gefühlen spricht. Im übrigen ist die Familie heillos zerrüttet. Die Geschwister prozessieren unaufhörlich. Erst um das Erbteil der am 5. April 1901 verstorbenen Mutter; späterhin auch um das väterliche Erbe. Aus den Anekdoten, die wir aus den Kinderjahren Haarmanns erfahren konnten, entnehmen wir zwei Züge: Erstens seine weiblichen (»transvestiten«) Neigungen. Er spielte gern mit Puppen, machte auch weibliche Handarbeiten und wurde in Gesellschaft von Knaben rot und verlegen. Zweitens: seine Neigung, Angst und Entsetzen in seiner Umgebung zu erregen, indem er die Schwestern festband, ausgestopfte Kleiderpuppen auf die Treppe legte, heimlich nachts an die Fenster klopfte und Gespensterfurcht erweckte. Ostern 1886 kam er auf die Bürgerschule 4 am Engelbostelerdamm. Die Lehrer schildern das hübsche Kind als verwöhnt, verzärtelt, still, leicht lenksam, allgemein beliebt und verträumt. Sein Betragen war »musterhaft«; aber alle Leistungen weit unter Durchschnitt. Nachdem er zweimal (1888 und 1890) in der siebenstufigen Schule »sitzengeblieben« war, wurde er 1894 als Schüler der 3. Klasse in der Christuskirche von Pastor Hardelandt konfirmiert. Noch nach einem Menschenalter beklagte er sich bitter darüber, daß er bei dieser Gelegenheit ein altes Gesangbuch getragen habe, während seine Geschwister ein neues bekommen hätten. Er sollte nun Schlosserlehrling werden, erwies sich aber als unbrauchbar, und so gab man ihn mit einem Schub anderer Kapitulanten auf die Unteroffizier-Vorschule Neu-Breisach. Am 4. April 1895 kam er in Neu-Breisach im Breisgau an: ein körperlich gut entwickelter, kräftiger, etwas zu Korpulenz neigender, 16jähriger, gesunder Junge mit hübschem, regelmäßigem aber ausdruckslosem Gesicht. Er war ein guter Turner, ein folgsamer Soldat; aber am 3. September wird er in das Garnison-Lazarett überführt, weil sich plötzlich »Anzeichen von geistiger Störung« bei ihm bemerkbar machten. Es handelte sich um zeitweise Bewußtseinstrübungen (Absenzen) oder um eine Angstneurose. Man führte sie auf eine Gehirnerschütterung beim Reckturnen zurück oder auf einen während der Manöverübungen erlittenen Sonnenstich. Nach 14 Tagen wurde er als gesund entlassen, weil nur vorübergehende Halluzinationen hatten festgestellt werden können. Aber schon am 11. Oktober mußte er wiederum dem Lazarett zugeführt werden, weil sich bei ihm erneut eine Störung zeigte, die im Krankenjournal bezeichnet wurde als »Epileptisches Aequivalent«. So wurde er denn am 3. November 1895 als ungeheilt in die Heimat entlassen, nachdem er selbst um seine Entlassung gebeten hatte, »weil es ihm auf der Unteroffizierschule nicht mehr gefalle«. Sein Vater, der 1888 eine kleine Zigarrenfabrik begründet hatte, wollte ihn in dieser beschäftigen, aber da der Junge nicht arbeiten mochte, so kam es nun täglich zu neuen Zänkereien zwischen Vater und Sohn. Inzwischen hatte auch das Geschlechtsleben des Frühentwickelten mächtig eingesetzt. Nachdem (offenbar schon im siebenten Lebensjahr) Geschlechtsvergehen auf der Schulbank den Jungen früh verdorben hatten und ihn zum Verderber für andere Knaben werden ließen, scheint seine erste »Liebeserfahrung« die gewesen zu sein, daß eine in der Nachbarschaft wohnende 35jährige mannweibliche Frauensperson den 16jährigen dazu verführte, nachts über ein Dach hinweg durchs Fenster bei ihr einzusteigen; von da ab setzten dann ein: jene fortwährenden Sittlichkeitsdelikte an kleinen und größeren Kindern, die durch das ganze Leben Haarmanns, man könnte fast sagen Tag um Tag, hindurch gehen (und es bedauerlich machen, daß man diesen Triebirrsinnigen nicht nach dem neunten oder zehnten Triebvergehen ruhig kastriert hat, wodurch alle seine späteren Mordtaten wären verhindert worden). Mitte Juli 1896 wurde ein erstes Strafgerichtsverfahren gegen den 17jährigen eingeleitet, weil er in mehreren Fällen kleine Kinder in Hauseingänge oder in Keller gelockt und mit ihnen unzüchtige Handlungen vorgenommen hatte. Auf Entschluß der Strafkammer wurde am 6. Februar 1897 der Bursche zur Beobachtung seines Geisteszustandes in die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Hildesheim überführt. Hier wurde bei ihm »Geisteskrankheit« (angeborener Schwachsinn) festgestellt. Er wurde am 25. März 1897 in Hildesheim entlassen und nunmehr von der Polizei als »gemeingefährlicher Geisteskranker« dem städtischen Krankenhaus auf der Bult in Hannover zugeführt. Das Strafverfahren wurde auf Grund des § 51 StGB eingestellt. Im Bultkrankenhaus verblieb der Schwerbelastete bis zum 28. Mai 1897. An diesem Tage wurde er auf Antrag des Magistrats Hannover wieder in die Hildesheimer Irrenanstalt gebracht, nachdem durch das Gutachten des Stadtarztes Dr. Schmalfuß (den ich als besonnenen und gewissenhaften Arzt kannte), unheilbarer Schwachsinn festgestellt war. In der Irrenanstalt nun muß der junge Mensch ein »psychisches Trauma«, d. h. eine Seelenverängstigung erlitten haben, die für sein ganzes weiteres Leben entscheidend blieb. Obwohl ich Haarmann als einen Erzschauspieler gekannt habe und nie geneigt war, ihm eine Angabe mehr als halb zu glauben, so glaube ich ihm doch ohne weiteres jene immer wiederkehrende Angst vor dem Irrenhause, die ihn immer neu ausrufen ließ: »Köpft mich; aber bringt mich nicht wieder ins Irrenhaus.« – Der Kreis von Lebensschmarotzern, der in späteren Jahren den monomanen Triebirrsinn des Unseligen ausnutzte und gleichsam auf den Spuren dieses Werwolfs sein Leben fristete wie Hyänen auf Spuren des Panthers, hatte unbedingt Gewalt über Haarmann, so bald man ihn nur mit der Drohung einschüchterte: »Wir bringen dich ins Irrenhaus.« Schon am 13. Oktober gelang es ihm, gelegentlich einer Gartenarbeit aus dem Irrenhause zu entweichen. Aber fünf Tage später wurde er in seiner elterlichen Wohnung ergriffen und nach Hildesheim zurückgebracht. Aber von nun ab lauerte er nur auf Gelegenheit, wieder auszubrechen. Sie bot sich, als man ihn Weihnachten nach der Idiotenanstalt in Langenhagen versetzte; zwei Tage später, am 25. Dezember 1897 – während der Lichterbaum brannte – war er entwichen. Er flüchtete – anscheinend mit Hilfe der Eltern – in die Schweiz, wo ein Verwandter der Mutter in der Nähe von Zürich als Kunstmaler lebte. Unerklärlich freilich ist es, wie es ihm gelang, von der Polizei ein Unbescholtenheitszeugnis zu erhalten.

Von Mai 98 bis März 99 arbeitete er erst als Handlanger auf einer Schiffswerft, dann beim Apotheker Dürenberger in Zürich. Im April 99 kehrte er nach Hannover zurück, wo inzwischen sein Entweichen in Vergessenheit geraten war. Er war jetzt 20 Jahre alt . . .

Wieder begann das alte Lungerleben. Der Vater versuchte, ihn in seiner Zigarrenfabrik zu beschäftigen. Der Sohn zeigte sich arbeitsscheu. Vater und Sohn schlugen sich; die schwache, vom Mann unterdrückte Mutter trat ohne rechten Rückhalt für den Jungen ein. In einem dem alten Haarmann gehörigen Haus in der Burgstraße wohnte ein Arbeiter namens Loewert. Seine Tochter Erna, ein derbes, blondes Mädchen, grob und hübsch, wurde Haarmanns »Braut«; Weihnachten 1899 verlobten sie sich förmlich, mit Einstimmung der beiden Familien, die von dieser festen Bindung eine Heilung für das Herumstreichertum des jungen Mannes erhofften. Dieses Liebesverhältnis dauerte drei Jahre. Die Erna Loewert wurde die nächste Freundin der Schwestern Haarmann. Sie wurde im Jahre 1901 von dem 23jährigen Burschen schwanger; aber das Kind wurde durch eine Hebamme abgetrieben. Im Oktober 1900 erhielt Haarmann einen Gestellungsbefehl. Er unterbrach sein arbeitsscheues Herumtreiberleben, um abermals Soldat zu werden. Am 12. Oktober 1900 wurde er als Ersatzrekrut beim Jägerbataillon 10 in Bitsch bei Colmar eingestellt. Von dieser Zeit sprach er stets als von der schönsten seines Lebens. Seine Vorgesetzten waren mit ihm zufrieden. Hauptmann v. Gottberg nahm ihn zum Burschen. Leutnant Fischer lobte ihn als »den besten Schützen in der Kompanie«. In diese Militärdienstzeit fiel der Tod seiner Mutter, zu deren Beerdigung er Ostern 1901 nach Hannover in Urlaub fuhr. Der Vater wollte jetzt den Verkehr mit der Erna Loewert nicht mehr leiden und schrieb, um das Verhältnis zu hintertreiben, an den Bataillonskommandeur nach Bitsch; aber man hatte keinen Anlaß, den dienstwilligen Soldaten zu tadeln, bis im Oktober die Manöver kamen und bei einem anstrengenden Marsch Haarmann zusammenbrach, wonach Schwindelanfälle und Schwächezustände eintraten, infolge deren er am 4. Dezember wegen »Neurasthenie« ans Garnisonlazarett in Bitsch überwiesen wurde. Hier soll ein junger Stabsarzt sich für den hübschen Jungen ungebührlich interessiert haben. Er blieb länger als vier Monate im Lazarett. Da man aus seinem Leiden nicht klug werden konnte, so wurde er am 14. Mai 1902 nach Straßburg ins Garnisonlazarett I auf die Station für Nervenkranke überführt. Und dort wurde Folgendes festgestellt: »Es liegt ein schon lange bestehender Intelligenzdefekt vor, der aber nur bei systematischer Prüfung zu Tage tritt, da im übrigen Haarmann durchaus keinen schwachsinnigen Eindruck macht. Mit höchster Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, daß er im Jahre 1895 an Hebephrenie (Jugendirrsinn) erkrankte, daß sich hieran ein erheblicher Schwachsinn anschloß, der eine angeborene Idiotie vortäuschte, worauf allmählich wieder eine gewisse Besserung eintrat. Haarmann ist wegen überstandener Geisteskrankheit, die einen gewissen Schwachsinn hinterlassen hat, für dienstunbrauchbar und teilweise erwerbsunfähig zu betrachten.« – Beim Generalkommando des 15. Armeekorps in Straßburg wurde angenommen, daß das früher bei Haarmann bestehende Leiden durch den Militärdienst, insbesondere durch die Anstrengungen bei den Herbstübungen 1901 erheblich verschlimmert worden sei. Durch Verfügung vom 23. Juli 1902 wurde er demgemäß »auf Grund innerer Dienstbeschädigung als dauernd ganzinvalide, zeitig teilweise erwerbsunfähig und dauernd untauglich zur Verwendung im Zivildienst anerkannt«. Er wurde sodann am 28. Juli vom Jägerbataillon in Bitsch entlassen. In der Überweisungsnationale ist seine Führung als »recht gut« bezeichnet. – Er bezog von nun an eine militärische Rente, die monatlich 21 Mark betrug. Er zog nunmehr zu seiner in Hannover wohnenden Schwester, Frau Burschel. Und wieder begann der alte Kriegszustand mit dem Vater. Er verklagte diesen (1902) auf Gewährung von Unterhalt, da er wegen seines Nerven- und Herzleidens außerstande sei, regelmäßig zu arbeiten und von seiner militärischen Rente nicht leben könne. Der Vater wendete ein, daß der Sohn seine Krankheit nur vorgetäuscht habe, um vom Militär frei kommen und sein Verhältnis mit der Erna Loewert fortsetzen zu können. Er sei ganz gesund und nur zu träge, um regelmäßig zu arbeiten. Haarmann wurde denn auch mit seiner Klage auf Unterhalt abgewiesen. Aber nunmehr wurde das Verhältnis zum Vater vollends unerträglich. Im Februar 1903 erstattete der Vater bei der Staatsanwaltschaft Anzeige, daß Haarmann ihn und seine Geschwister mit Totschlag bedroht, ihn der Ermordung des Lokomotivführers Schröder bezichtigt und von seinem Bruder Adolf habe Geld erpressen wollen. Gleichzeitig beantragte er (eigentlich im Widerspruch zu der früheren Angabe, daß der Sohn seine Krankheit nur vortäusche) den Haarmann als gemeingefährlichen Geisteskranken in eine Irrenanstalt unterzubringen. Das Verfahren wurde eingestellt, weil die Angehörigen bei ihrer polizeilichen Vernehmung die Behauptungen des Vaters nicht bestätigten. Der Sohn drehte nun den Spieß um und verklagte den Vater wegen wissentlich falscher Anschuldigung, worauf nunmehr wieder die Geschwister bei ihrer gerichtlichen Vernehmung die Angaben des Vaters bestätigten, so daß auch dies Verfahren ergebnislos eingestellt werden mußte. Auf Grund der in der Anzeige des Vaters enthaltenen Angaben über die Gemeingefährlichkeit des Sohnes veranlaßte aber nunmehr das Polizeipräsidium in Hannover eine Untersuchung durch den Kreisarzt Dr. Andrae. Dieser erstattete am 14. Mai 1903 sein Gutachten. Es kam darauf hinaus, daß »Haarmann zwar moralisch minderwertig, wenig intelligent, träge, roh, leicht reizbar, rachsüchtig und gänzlich egoistisch, nicht aber im eigentlichen Sinn ›geisteskrank‹ sei, so daß kein Anlaß bestehe, ihn von Amts wegen in eine Irrenanstalt unterzubringen«. Demgemäß wurde davon Abstand genommen. So war denn der Wolf (24 Jahre alt) auf die menschliche Gesellschaft losgelassen.

Auf der Verbrecherlaufbahn

Zunächst versteckte sich der junge Faulpelz hinter seiner »Braut«. Der Vater leiht 1500 Mark. Damit begründet der Sohn auf den Namen seiner Braut ein Fischgeschäft. (An der Lutherkirche 9.) Davon soll sie ihn ernähren. Er selbst versucht sich als Versicherungsagent; arbeitet aber gar nicht mehr, als durch Verfügung des X. Armeekorps in Hannover vom 15. Juli 1904 er als dauernd ganzinvalide und größtenteils erwerbsunfähig anerkannt und seine Monatsrente auf 24 Mark erhöht wird. Schon zu Anfang 1904 war das vom Vater erhaltene Geld völlig aufgezehrt, und mit dem Fischgeschäft ging es abwärts. Um diese Zeit ging auch die Verlobung mit Erna in die Brüche. Haarmann erzählt uns das so: »Erna war in anderen Umständen von mir; sie war lieb zu mir und wollte weiter poussieren; aber ich konnte nicht mehr. Sie verkehrte mit Student Heinemann. Ich sagte es zu Emma. Da wurde Erna giftig und hat mich aus dem Geschäft ›rausgeschmissen‹, und da es auf ihren Namen eingetragen war, konnte ich nichts machen.« – Die Wahrheit ist, daß Haarmann bei seinem Luderleben um diese Zeit gonorrhoisch erkrankte und seither, den Frauen gegenüber immer gleichgültiger werdend, sich ausschließlich einem gleichgeschlechtlichen Triebleben dahingab. Aber erst aus dem Frühjahr 1905 kann ein längeres Verhältnis mit einem Mann nachgewiesen werden, in welchem Haarmann zweifellos der passive Teil gewesen ist. Der Betreffende (um 1916 verstorben) war ein gräflicher Kammerdiener namens Adolf Meil, damals schon ein Mann Ende Vierzig (der von seiner ehemaligen Herrin eine Rente bezog, angeblich, weil er »etwas nachgeholfen hatte«, als der alte Graf im Bad einem Schlaganfall erlag und die junge Gräfin zur Witwe machte). Haarmann erzählte die Anfänge dieser Bekanntschaft uns folgendermaßen: »Ich komme vom Jahrmarkt und denke reine gar nichts. Plötzlich redet einer mich an. Er hat 'ne Brille auf. Er sagt: ›Kommen Sie auch vom Marcht?‹ Ich denke, das ist ein Schullehrer. Er nahm mich mit zur Nelkenstraße. Bei der Kranzbinderei von Goslar bleibt er stehen und sagt: ›Hier wohne ich nun.‹ Ich ging mit 'rauf. Er kochte Bohnenkaffee. Er küßt mich. Ich bin schüchtern. Mittlerweile wirds zwölf. Er sagt: ›Es ist doch schon so spät, schlafe bei mir.‹ Ich tat es. Er machte alles, was ich noch nicht kannte. Ich kriegt es mit der Angst. Ich habe ihm das ganze Bett vollgemacht. Danach lernte ich aber hundert solchene kennen.« – Bis 1904 war Haarmann immer der Justiz entgangen. Aber von seinem 26. Lebensjahre an rollt sich ab eine solche Strafliste, daß in den folgenden zwanzig Jahren nahezu ein Drittel aller Tage in Untersuchungszellen, Gefängnissen oder Zuchthäusern verbracht wurde. Seine erste Straftat hat einen Beigeschmack von Komik. Er liest in der Zeitung, daß in der Ultramarinfabrik »Laux & Vaubel« ein »Fakturist« gesucht werde. Er weiß nicht, was das Wort Fakturist bedeutet, aber er entsendet ein glänzend geschriebenes Bewerbungsschreiben. Der Chef läßt ihn kommen, und er verspricht mit der ganzen Treuherzigkeit, die er vorzutäuschen verstand, jede nur erforderliche Leistung. Man ließ ihn nun Rechnungen ausziehen; aber entdeckt nach einigen Tagen zahllose Unpünktlichkeiten. Er entschuldigt sich mit Krankheit und gelobt Besserung. Auf seinem Büro arbeitet ein kleiner Lehrling, den er durch Zigaretten und Liebkosungen besticht, statt seiner die schwierigeren Arbeiten zu machen. Er selbst kontrolliert lediglich die Nummern der abfahrenden Wagen. Er freundet sich an mit der in der Fabrik reinmachenden Scheuerfrau Guhlisch. Eine energische, vorurteilsfreie Person mit einem ebenso »vorurteilsfreien« zehnjährigen Schlingel von Sohn. Die drei begründeten eine Art Diebskompanie. Nach Schluß der Büros werden große Mengen Marineblau und andere Farbstoffe auf die Seite geschafft. Haarmann arbeitet dabei als Angestellter der Frau Guhlisch. Zwischendurch macht man auch bei einem Hausgenossen der Guhlisch kleinere Einbruchsdiebstähle und an freien Abenden unternehmen Haarmann und der kleine Guhlisch methodische Streifzüge auf die Kirchhöfe, wo sie Ketten, Metalle, Teile von Grabdenkmälern stehlen. – Die Diebstähle in der Fabrik kamen erst heraus, als Haarmann schon lange wegen Unbrauchbarkeit entlassen war, und zwar wurden sie erst entdeckt, als die Kunden sich darüber beschwerten, daß Waren, welche sie von Haarmann stets zu halben Preisen bezogen hätten, nunmehr wieder doppelt so teuer bezahlt werden mußten. Vom 4. Juli bis 19. Oktober 1904 wurde Haarmann nicht weniger als viermal vom Schöffengericht und von der Strafkammer wegen schweren Diebstahls und Unterschlagung verurteilt. Die folgenden Jahre brachten dann eine fortlaufende Kette neuer Diebstähle, Einbrüche, Betrügereien und Sittlichkeitsverbrechen, und es ist wohl auch für die Praxis des Strafvollzugs im 20. Jahrhundert kennzeichnend, daß jedesmal, wenn der Übeltäter aus dem »Kittchen« zurückkehrte, seine Verschlagenheit wie sein Verbrechen größer wurde. Die Planmäßigkeit seiner Taten war erstaunlich. Er kaufte sich z. B. einen kleinen Desinfektionsapparat und mietete ein Hofzimmer, angeblich, um eine Desinfektionsanstalt zu betreiben. Dann verfolgte er die Todesanzeigen in den Zeitungen und ging in die Trauerhäuser, wo er sich als »Beamter der städtischen Desinfektion« vorstellte und den Leuten riet, daß sie das Totenzimmer oder die Sachen des Verstorbenen desinfizieren lassen sollten; diese Desinfektion nahm er dann dem Scheine nach vor und benutzte die Gelegenheit zu Diebstählen; wenn man ihm gelegentlich eine Erquickung anbot, so lehnte er treuherzig ab mit der Begründung: »Ich darf als Beamter in den Häusern nichts annehmen.« Ein andermal wurde er nahe der Herrenhäuser Allee beim Abschrauben eines Türdrückers ertappt; er wies nach, daß an seiner Haustüre der Drücker fehle und daß er das fehlende eben habe ergänzen wollen. Seine Frechheit war so groß, daß er einmal unmittelbar, ehe er in Untersuchungshaft abgeführt wurde, noch schnell seinem Logiswirt einen Topf mit sechzig eingelegten Eiern stahl. Während des Jahres 1905 wurde Haarmann insgesamt zu 13 Monaten Gefängnis verurteilt; aber in den späteren Jahren scheint er seine Taten vorsichtiger ausgeführt oder besser verborgen gehalten zu haben. Die Feindschaft mit dem Vater, welcher ihn für kerngesund aber arbeitsscheu hielt und als großen Simulanten bezeichnete, führte dahin, daß Haarmann am 1. November 1906 wegen Körperverletzung des Vaters zu einem Monat Gefängnis verurteilt wurde. Die Streitigkeiten zwischen beiden hatten hauptsächlich zum Gegenstand, daß der Sohn die Herausgabe seines mütterlichen Erbteils verlangte und der Vater es nicht auszahlen zu können erklärte. In den folgenden Jahren unternahm er immer wieder mit dem jungen Guhlisch Raubausflüge auf die Kirchhöfe (wobei vielleicht der Grund gelegt wurde zu seiner späteren Gleichgültigkeit gegen das Hantieren mit Leichenteilen). Zwischendurch fand er durch Vermittlung seines Bruders Adolf Stellung auf der »Continental«, wo er gut verdiente. – Man darf es als Glücksfall betrachten, daß Haarmann ein Jahr vor Ausbruch des Weltkrieges eine Zuchthausstrafe von 5 Jahren erlitt, so daß er während der Kriegsjahre in den Strafanstalten Celle, Lüneburg, Rendsburg und Rawitsch interniert war; es wäre nicht auszudenken, was ein solcher Mensch in einer Zeit, wo jeder Gewaltinstinkt dem »Feinde« gegenüber freigegeben wurde, an Verbrechertaten hätte begehen können. Übrigens kann auch der folgende Umstand zu denken geben: Als in den letzten Kriegsjahren Mangel an Arbeitskräften herrschte, weil alle verfügbare Mannheit an der Front war, da wurden die Zuchthaussträflinge als Landarbeiter auf Gütern verwendet; auch Haarmann arbeitete in dieser Zeit auf den Ländereien eines Rittergutsbesitzers v. Hugo bei Rendsburg; und zwar so zu allgemeiner Zufriedenheit, daß man ihn lieb gewann und nicht wieder ziehen lassen wollte. Die fünfjährige Zuchthausstrafe 1913 wurde unter sehr erschwerenden Umständen verhängt. Ende 1913 fanden in dem vornehmen Viertel »die List« zahlreiche Kellerdiebstähle statt. Schließlich wurde Haarmann bei dem Versuch, einen Kellereinbruch zu verüben, ertappt und festgenommen. Man fand bei der Durchsuchung seiner Wohnung ein riesiges Lager gestohlener Konserven, Weinflaschen, Eier und Fleischwaren. Seiner Wohnungswirtin und seinem 17jährigen Freunde Fritz Algermissen hatte er lange Zeit hindurch Eßwaren geschenkt oder billig verkauft, unter dem Vorgeben, er sei Chemiker auf der Continental-Fabrik und habe eine Agentur für Lebensmittel. Trotz einwandfreier Beweise für schwere Diebstähle in zehn Fällen, schwur Haarmann: »Bei Gott und dem Grabe meiner Mutter. Machen Sie mich nicht unglücklich. Ich bin unschuldig«, verzichtete aber, als er zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, auf Einlegung eines Rechtsmittels. Von Ende 1905 bis Ende 1912 befand er sich nur wenige Monate in Freiheit. Merkwürdig ist es, daß, obwohl nach Haarmanns eigenen Angaben die sittlichen Verfehlungen an Knaben und Jünglingen, sobald er in Freiheit war, nahezu zur täglichen Gewohnheit wurden, die Verurteilung wegen solcher Vergehen verhältnismäßig selten erfolgte; meistens darum, weil die Betroffenen zu schamhaft waren ihn anzuzeigen. Erst 1911 wurde eine Anzeige wegen Vergehens gegen § 175 StGB erstattet, indem vier Väter wegen »Beleidigung« ihrer Kinder gemeinsam klagten, doch wurde das Verfahren eingestellt, da die Aussagen der Knaben gar zu unbestimmt blieben. Am abscheulichsten war wohl jener Fall, der im November 1912 ihm eine Zusatzstrafe von zwei Monaten Zuchthaus eintrug: er hatte einen ihm gänzlich unbekannten 13jährigen Schulknaben auf der Straße angesprochen und gegen Geldversprechen, mit der Mahnung, er dürfe seinen Eltern nichts davon sagen, in seine Wohnung zu verschleppen und zu homosexuellem Verkehr zu verlocken gesucht. –

Diese Vorgeschichte lag vor, als Haarmann im April 1918 aus dem Zuchthaus entlassen, nach kurzem Gastspiel in Berlin, wieder in Hannover auftauchte. Und nun erfolgten die ersten Mordtaten. Die ersten wenigstens, welche man (allerdings erst sechs Jahre später) ihm nachzuweisen vermochte.

Die Zeit der Revolution 1918/19

Die Zeit der Heimkehr aus dem Zuchthaus Rawitsch schilderte uns Haarmann folgendermaßen: »Als ich aus dem Kittchen entlassen wurde, fuhr ich nach Berlin. Aber da war nicht viel los. Da ging ich wieder nach Hannover. Ich ging gleich zu Emma. Bertchen, Emmas Jüngste, sagte: ›Iß nicht so viel Brot, Onkel. Wir stehn Schlange; sind alle krank.‹ Da sagte ich: ›Will mal sehen, mein Kind, was sich machen läßt.‹ Ich ging gleich zum Bahnhof. Emma gab Geld. Da sind ja die Schiebers, die Hamsterers! Da klauten wir. Da hatten wir alles. Da wurden wir alle wieder schöne dick. Emma verkaufte weiter. Da ging aber der olle Haarmann zum Hauswirt. Da hat er mich verklatscht. Da sagte Emma: ›Fritz, geh' man wieder weg‹.« – Haarmann war in eine Zeit hineingeraten, in der alle seine bösen Urtriebe wild ins Kraut schießen konnten. Sein Hauptquartier wurde die große Vorhalle des Hauptbahnhofs in Hannover, wo ein schwunghafter Handel mit gestohlenem oder schwarzgeschlachtetem Fleisch und mit allen, in jenen Tagen nicht mehr aufzutreibenden, in Deutschland schwer entbehrten Gebrauchsgütern getrieben wurde. April 1918 mietete Haarmann von der Ww. Schildt in dem Haus Cellerstraße 27 einen Laden mit Hinterzimmer, angeblich zu Bürozwecken. Der Laden wurde mit einigen Möbelstücken notdürftig ausgestattet. Er wohnte zunächst noch bei seiner Schwester Burschel, zog aber Ende August in das Hinterzimmer des Ladens. Es begann dort ein Betrieb, der den Hausbewohnern immer rätselhafter und unheimlicher wurde. Aus und ein flogen junge Leute. Sie brachten Rucksäcke mit Fleisch. Nachts hörten die Nachbarn ein Hacken und Klopfen in dem Hinterzimmer; sie nahmen an, daß Haarmann das zu seinem Schleichhandel »gehamsterte« Fleisch zerlege. Neben dem Haarmannschen Laden war der Gemüseladen von Frau Seemann, einer verängstigten Frau, die in jenen schweren Tagen mit ihrem Nachbarn wohl ein bißchen Kippe machte und gelegentlich ebenfalls von den bei Haarmann ein- und ausgehenden jungen Leuten einige Schleichware billig erstand. Diese bängliche Frau war wohl die erste, der eine Ahnung davon aufstieg, daß in dem Nebenraum dunkle Mordtaten vorgehen könnten. Einmal, als Haarmann im Nebenraum Knochen hackte, klopfte sie an die Wand und rief hinüber: »Krieg' ich auch was ab?« Haarmann rief zurück: »Ne, das nächste Mal.« Anderen Tages brachte er ihr einen Sack Knochen. »Ich machte Sülze daraus, aber ich dachte: I gitte, die sehn so weiß aus; mir wird fies davor.« Erst sechs Jahre später klärte sich auf, daß in diesem Hinterzimmer in der Cellerstraße mindestens zwei Personen getötet wurden: der 14jährige Sohn Hermann des Fahrradhändlers G. Koch und der 15jährige Friedel des Gastwirts Rothe; und wenn auch ungewiß blieb, ob Haarmann das Fleisch der getöteten Knaben bei seinem Fleischhandel mit verwendete (vielleicht hat ein letztes Restchen menschlicher Scham ihn abgehalten, das Gräßlichste einzugestehen), so ist doch so viel gewiß, daß nicht erst 1923 der Tötungszwangstrieb einsetzte, sondern daß schon in den Jahren 1918-1923 manche Mordtat geschehen sein muß. Diese Taten sind nicht ans Tageslicht gekommen. Haarmann, der sonst ein ausgezeichnetes Erinnerungsvermögen hat, konnte sich an die Zahl seiner Opfer so wenig erinnern, wie an ihre Gesichter (wie er denn überhaupt alles Quälende aus seinem Bewußtsein zu verdrängen versucht). Nach der Zahl seiner Morde befragt, pflegte er, unsicher und wortkarg werdend, sofort zu erwidern: »Es können dreißig, es können vierzig sein; ich weiß das nicht«; im einzelnen aber gab er immer nur solche Fälle zu, die ihm nachgewiesen werden konnten, und mit einem fast gemütlichen Hohn hielt er oft dem Staatsanwalt vor: »Es sind auch Opfer da, die Sie nicht wissen. Die aber, die Sie meinen, sind es nicht.«

Stellung zur Polizei

Das Schauergemälde der Jahre 1918-1924 wird sich uns im Laufe des Prozesses enthüllen. Um aber das Ungeheuerliche der äußeren Möglichkeit nach zu begreifen, müssen wir uns vorweg erinnern an jene Rechts- und Polizeizustände, die gegen Ende des fünfjährigen Völkermordens fast in ganz Europa herrschten; in jenen Tagen, wo mehr als eine Million Menschen unter den Augen der »Kulturmenschheit« glattweg verhungerte. Deutschland hatte kein Heer. Die proletarische Jugend, aufgeregt, verwildert, und jahrelang aufs unverantwortlichste irregeleitet und mißbraucht, entbehrte plötzlich der Hemmung und Führung. Das geschlagene Volk schlug zurück. Der politische Mord wurde zur Gewohnheit. Die durch den Vertrag von Versailles beschränkte Polizeimacht (Schutz-, Sicherheits- und Kriminalpolizei) konnte mit den aus langem Kriegsleben Zurückkehrenden, der bürgerlichen Seßhaftigkeit entwöhnten verbrecherischen Elementen nicht fertig werden. Die untere Polizeimannschaft, nach der 4. bis 7. Gehaltsklasse besoldet, Männer, die mehrmals in der Woche die Nächte bis früh 4 Uhr auf der Straße zubringen und dann doch schon wieder gegen 9 Uhr auf dem Büro sein müssen, war so jämmerlich bezahlt, daß sie für jede kleinste Hilfe und für jedes Geschenk, sogar aus Verbrecherhänden, immer empfänglicher wurde. Man verlangte von diesen mit Recht verbitterten, nur wenig gebildeten Subalternbeamten Übermenschliches. Das gesamte Unzuchtsdezernat der Kriminalpolizei in Hannover bestand zu Haarmanns Zeiten aus 12 Kriminalbeamten und einem Kommissar, welche ungefähr 4000 von Prostitution lebende Frauen (wovon nur 400 eingeschriebene Dirnen sind) und mindestens 300 männliche Prostituenten zu überwachen hatten. Für die Nachforschung und das Wiederermitteln von »Vermißten« war (und ist) vom Staat eine so lächerlich geringe Geldsumme zur Verfügung gestellt, daß schon um der Kosten willen eine wirklich gründliche Suche nach verschwundenen Personen nicht einsetzen konnte. Dort, wo von Haarmanns Opfern die Spuren gefunden wurden, geschah das fast immer durch Privat-Detektive oder durch die nachforschenden Angehörigen selbst. Die Schuld lag also zweifellos am System, nicht an den einzelnen Beamten. Es ist aber klar, daß gerade in solchen verwilderten Tagen die Sicherheits-, Schutz- und Kriminalbehörden auf die Mithilfe des »Publikums« angewiesen sind und daß sie, wenn keiner ihnen hilft und jeder nur mit sich und dem eigenen Elend beschäftigt ist, sich aus der Verbrecherwelt selber ihre Helfer heranziehen müssen. Man bezeichnet solche Helfer als Spitzel, Zuträger, Achtgroschenjungen, Provokateure und Vigilanten. Sie spielen die Rolle der Spione im Kriege. Man benutzt sie und verachtet sie. Haarmann nun wurde von der Polizei in den Jahren 1918 bis 1924 beständig zu Spitzeldiensten herangezogen und erwies sich in vielen schwierigen Fällen – (bei der Aushebung einer Verbrecherbande, die falsches Geld herstellte; bei der Aufdeckung eines Diebstahles von Treibriemen; ja sogar beim Aufspüren von vermißten Personen) – als sehr verwendbar und nützlich. Wir werden sehen, wie dieser Mann in beiden Welten daheim war, bald einmal der Polizei einen seiner Buhljungen oder Kumpane in die Hände spielte, bald einmal wieder seine Beziehungen zu den Polizeiorganen zugunsten der Verbrecherwelt und vor allem zugunsten seiner eigenen, in tiefster Heimlichkeit wuchernden Mordwollust benutzte. Nahezu alle seine Verbrechen wurden dadurch möglich, daß er für das naive Volk (das in Deutschland den Polizeibeamten für eine Art richterliche Person hält) und zumal für die unerfahrene Jugend zwischen 14 und 18, die er zu verführen pflegte, eine amtliche Vertrauensperson war. Er durchforschte fast Nacht um Nacht die Wartesäle des Bahnhofs, die er (ganz gleich, ob nun dank eines nicht-offiziellen oder [wie eine große Reihe von Zeugen aussagen] dank eines offiziellen Polizeiausweises) jederzeit betreten konnte, obwohl sie sonst nur von Reisenden, die eine Fahrkarte vorwiesen, zur Nachtzeit besucht werden durften. Er konnte auch ungehindert jederzeit durch die Bahnsperren gehen, da die Beamten ihn kannten und ihm Ehrbezeugungen erwiesen. Er machte sich an durchreisende oder auf dem Bahnhof sich umhertreibende junge Menschen heran, durchmusterte ihre Personalausweise, befragte sie nach dem Ziel der Reise, machte gelegentlich die auf dem Bahnhof eingestellte Behörde (Bahn-, Sicherheits- und Kriminalwachen) auf Verdächtiges oder Verdächtige aufmerksam; ja, es ist vorgekommen, daß er selber auf der Bahnhofswache Telephongespräche führte und Verhöre aufnahm. Solchen Jungen, die ihm wohlgefielen (Obdachlosen, entlaufenen Fürsorgezöglingen, Arbeitslosen) bot er gerne Essen, Arbeit und Wohnung an, behielt sie eine oder auch mehrere Nächte bei sich, verführte sie zu Geschlechtsvergehen und tötete die schönsten im nachtumgrauten Sinnenrausch. Da er alle Bereitschaften kannte, das Fahndungsblatt las, die Razzien vorauswußte und überhaupt wie ein Zugehöriger zur Kriminalpolizei obwaltete, so hatte er es leicht, solche Lieblinge, die selber irgend etwas ausgefressen hatten, in seinen Schutz zu nehmen und vor der Polizei zu decken, während umgekehrt dort, wo er gereizt, gehänselt oder nicht ernst genommen wurde, er die Jünglinge dem Weibel in die Finger spielte und »verschütt gehen« ließ. Dieser Tatbestand, daß Haarmann die Polizei nutzte, so wie er selber zu oft recht billigen Lorbeeren von den kleineren Beamten genutzt wurde, ist bei dem ganzen Kriminalfall mit stillschweigender Übereinkunft aller Behörden verschleiert worden; ähnlich wie man das ungeheure Spionage- und Lügensystem der Kriegsjahre allgemein verschleiert. Es geschieht gar nicht selten, daß eine zum Häscherdienst benutzte Verbrecherpersönlichkeit jedem einzelnen Mitgliede der Behörde recht gut bekannt ist, daß aber, wenn der Mann seine Beziehungen mißbraucht, die Institution von ihm abrückt und in der Öffentlichkeit erklärt: »Die Stellung des Mannes war nicht amtsförmlich; er bezog keinen Sold; er führte keine amtlichen Ausweise, kurz, die Behörde kennt ihn gar nicht. Spitzel, Aufpasser, Zuträger, Vigilanten sind eben niemals »offiziell«. Und es gibt zahllose kleine Gefälligkeiten zwischen Behörden und Verbrecherwelt, die viel gewagter und gefährlicher sind, als ein ehrlicher Sold. Das Wort »Behörde« ist eben nur ein Gedankenwort; dahinter stehen Menschen und ihre Menschlichkeiten. – Die Wahrheit ist, daß das Treiben Haarmanns zwischen 1918 und 1924 gerade nur darum möglich war, weil er unter beständiger Polizeiaufsicht stand und weil von einem so allvertrauten, allgemein beliebten und täglich mit allen Polizeipersonen freundschaftlich verkehrenden Manne man zwar alle erdenklichen sittlichen Laster, ganz sicher aber nie einen tief verborgenen Mordwahnsinn vermutete. Wollte auch ich diesen Punkt hier verschleiern, so wäre es mir unmöglich, den Kriminalfall aufzuklären. Wir müssen gerade diesen Umstand: die Polizeifunktion des Haarmann, scharf herausstellen.

Die Geschlechtsverbrechen

Obwohl somit bis zum Jahre 1924 die vielen Mordtaten des Haarmann trotz mehrerer Anzeigen aus seinem Bekannten- und Nachbarkreise und trotz mannigfacher Verdachtsgründe unentdeckt und im dunkeln blieben, so wurde doch bei den immer wiederkehrenden Haussuchungen und Überwachungen etwas anderes vollkommen klargestellt: Der Gewohnheitsverbrecher, der beständig von Schwärmen blutjunger Menschen umgeben lebte, welche er nutzte, oder welche ihn nutzten, frönte jeder nur erdenklichen Widernatürlichkeit des Geschlechtslebens. Als man wegen des verschwundenen Rothe bei ihm forschte (Oktober 1918), fand man zwar nicht den vermißten Knaben, wohl aber einen anderen nackten Knaben bei ihm im Bette. Er hatte die Knaben angesprochen, bewirtet und dann mit in die Wohnung genommen, wo sie gegen Geld Unsagbares machen mußten. Da er auch andere Fälle dieser Art zugab, so wurde Oktober 1918 ein Strafverfahren wegen tätlicher Beleidigung eingeleitet, welches im April 1919 mit seiner Verurteilung zu neun Monaten Gefängnis endete. Inzwischen war ihm die Wohnung in der Cellerstraße zu »heiß« geworden, und er verzog Anfang Dezember 1918 nach Seydlitzstraße 15 zu einer Frau Hederich, bei welcher er eine Wohnung mietete, angeblich als »Lagerraum für Zigarren, Chemikalien und anderes«. Es gehörte zu Haarmanns Gepflogenheiten, sich immer einen jungen Menschen als »Meschores« (Faktotum) zu halten. Dieser hatte die Wohnung reinzuhalten und alle Verrichtungen zu erfüllen, die man sonst einem Mädchen zumutet. Ein junger Arbeiter, namens Friedrich Oswald, welchen Haarmann mittellos am Bahnhof aufgriff, wurde in die neue Wohnung eingesetzt, bekam sein eigenes Zimmer und hatte im Auftrage Haarmanns nebenher auch tätig zu sein für eine der Schwester befreundete Zigarrenhändlerin, mit welcher Haarmann lichtscheue Beziehungen unterhielt. Auch in dieser Wohnung fanden bald wieder polizeiliche Durchsuchungen statt, als Haarmann in Verdacht geraten war, den seit September 1918 vermißten Schüler Koch getötet zu haben, und auch in diesem Falle mußte der Mordverdacht zwar fallengelassen werden, dagegen wurde erwiesen, daß Haarmann neuerdings mit ganz jungen Burschen widernatürliche Unzucht getrieben hatte, woraufhin Haarmann vom 2. Juni bis 19. Juli in Haft behalten wurde, sodann aber das Verfahren aus § 175 eingestellt werden mußte, da die beteiligten Burschen ihre ursprünglichen Angaben nicht aufrecht erhielten. Vor der Hauptverhandlung in dieser Sache war auf Veranlassung der Staatsanwaltschaft eine gerichtsärztliche Untersuchung des Angeschuldigten auf seinen Geisteszustand vorgenommen worden, weil dieser in dem vorerwähnten Verfahren, in welchem er zu neun Monaten Gefängnis verurteilt war, behauptet hatte, daß er »nicht zurechnungsfähig« sei und an Fallsucht leide. Der Gerichtsmedizinalrat Dr. Brandt gab am 12. Juni 1919 das Gutachten ab, daß Haarmann nicht geisteskrank und für alle Delikte, insbesondere für sexuelle, voll verantwortlich sei. Das Gutachten war im wesentlichen auf Grund der eigenen Angaben Haarmanns erstattet, wobei dieser verschwiegen hatte, daß er in früheren Jahren im Irrenhaus gewesen sei. – Da ihm nun auch diese Wohnung »heiß« geworden war, so verzog Haarmann im September 1919 zu einer Frau Kroell, Nikolaistraße 13. Auch hier setzte er den Verkehr mit jungen Leuten fort. Die Logiswirtin beobachtete, daß er mit diesen Unsägliches trieb und bestand darauf, daß er sogleich ausziehe. Er verzog darauf in eine andere Wohnung der Nikolaistraße. Um diese Zeit, Anfang Oktober 1919 trat aber in Haarmanns Leben jener Freund, mit dem er fortan auf Tod und Leben zusammengeschmiedet blieb. –

Zur Seelenkunde

Wir haben gehört, daß im Juni 1919 der hannoversche Gerichtsarzt den Haarmann für »zurechnungsfähig« und »verantwortlich« erklärte. Dieses Gutachten steht in merkwürdigem Widerspruch zu einem andern, welches der Nervenarzt Dr. Bartsch am 18. Dezember 1922 über Haarmann an das Versorgungsamt der Stadt Hannover erstattete. Haarmann war damals bezüglich Fortbezugs oder Erhöhung seiner Invalidenrente vom Versorgungsamt dem genannten Arzt zur Untersuchung zugesandt worden, und dieser stellte fest (allerdings nach einer nur kurzen Unterredung und Intelligenzprüfung) einen »hochgradigen Schwachsinn«; ja, regte an, den Bruder Haarmanns zu veranlassen, den Schwachsinnigen zu entmündigen. Die Gerichtssachverständigen im späteren Prozeß (die zwei hannoverschen Gerichtsärzte und der Ordinarius für Psychiatrie in Göttingen) haben es wahrscheinlich zu machen versucht, daß die Gutachten der Irrenärzte in Hildesheim und Langenhagen von 1899, jene der Militärärzte von 1898 und 1902 und endlich auch das Gutachten des Dr. Bartsch von 1922 auf Grund »hysterischer Simulationen« zustande gekommen seien, indem Haarmann das eine Mal das Bestreben hatte, vom Militärdienst loszukommen, das andere Mal das Bestreben, eine möglichst hohe Rente herauszupressen. – Alles Gefrage nach »Zurechnungsfähigkeit«, »Verantwortlichkeit«, »Irrsinn« bleibe nun hier zunächst ganz dahingestellt! Der Leser sei gewarnt, verwickelte Dinge so einfach, einfache sich so verwickelt zu denken, wie das die auf Eingliederung und »klinische Bilder« versessene, mit sehr schwer bestimmbaren und oft schnell wieder veraltenden griechisch-lateinischen Orakelworten (schizophren, ziklothym, hysterisch, hebephrenisch usw.) arbeitende medizinische Psychologie unvermeidlich tun muß. Die Tatsache, daß alle Regungen des logischen Oberbaues tadellos in Ordnung sind, schließt nicht aus, daß die gesamte seelische Unterwelt ohne jede Zusammenhangsmöglichkeit mit Vernunft oder Einsicht ihr eigenes vollkommen krankes Leben führt. Erkrankungen sind nicht immer von positiver Natur. Sie können oft nur als »Ausfallserscheinungen« oder als »Vereinzelungen« (Dissoziation) erspürt werden. Auch die Tatsache, daß ein Mensch Irrsinn oder Schwachsinn simuliert, oder sich in Krankheiten hineinflüchtet, schließt nicht aus, daß er nicht zugleich doch wirklich irrsinnig oder schwachsinnig ist, und zwar kann ebensowohl (wie bei Hamlet) ein gespielter Irrsinn einen wirklichen überdecken, wie auch just das Spielen der Krankheit gerade die wirkliche Krankheit sein kann. Ja, die Verfilzung und Überschneidung wirklicher und bloß gespielter Erlebnisreihen pflegt selbst im einfältigsten Triebwesen weit verwickelter zu liegen, als wir das ahnen. Um daher das Folgende wirklich zu verstehen und so zu verstehen, daß es auch nach hundert Jahren (wo unsere gesamte heutige Psychiatrie und wissenschaftliche Psychologie veraltet sein wird) noch einige Gültigkeit behält, müssen wir uns vereinbaren, bloß Seele zu Seele, uns einzufühlen und »mitzuahmen«, aber alle vorzeitigen Formulierungen und wissenschaftlichen Erklärungen streng zu vermeiden. Dazu aber ist auch dies erforderlich, daß wir keine »Analogien« und »Parallelen« zu dem merkwürdigsten Kriminalfall unserer Tage aufsuchen. Vor allem meide man das unerträgliche »sexualpathologische« Geschwätz über »Sadismus«, »Masochismus« und dergl. Mit dem Kriminalfall des Marquis de Sade (welcher eine widernatürliche Lust am Quälen zeigte; von dem Blute grausam gemarterter Kinder sich heiße Bäder bereiten ließ u. a. m.) hat der hochnotpeinliche Fall des Haarmann nicht die mindeste Verwandtschaft, da bei Haarmann nicht die Machtwut des Anderequälens, sondern schlechthin nur das Töten im Geschlechtsrausch und schließlich die dunkle Heimlichkeit des Zerreißens und Verschlingens überhaupt zur überwertigen Triebballung geworden ist. Anderes stärkeres Leben vernichten oder sich von anderem stärkeren Leben vernichten lassen; sich selber hinzugeben an den Tod oder tötend das andere sich einzuverleiben, Fressen und Gefressenwerden, das sind die beiden polaren Achsen des gesamten kosmischen Lebensspieles, und es ist nicht viel damit erklärt, wenn man im Schwengelspiel erotischer Willensgewalten bald den einen, bald den andern Pol in einseitiger Übersteigerung entartet findet. Will man aber durchaus für das auf den folgenden Blättern Niedergelegte eine vorläufige Formel, so erinnere man sich an die uralten germanischen Mythen von dem in Wolfsgestalt menschgewordenen »Urbösen«; an die Sagen vom Werwolf (dem roman. loupgaron, den angelsächs. werewolfes), dem »kugelfesten«, nur gegen heilige Hände wehrlosen Unhold, der verflucht ist, Kindern die Kehle durchbeißen und sie zerfleischen zu müssen. An vergessene Mären der Urzeit denke man, von Elsen, Alpen, Luren, von Drachen, Sauriern, Leopardenmenschen, von Wendehäutern, Succubi und Incubi. Man denke an den geilen Blutschink, der noch heute haust im Paznaunertal, allnächtlich dem See entsteigend und nach Opfern suchend, denen er das Blut aussaugt. Man denke an den Nachtmahr unserer Wälder, die blutdürstige Ludak der Finnen und Lappen. Lykanthropen nannte die antike Welt solche Mordwesen. Mit einem solchen Fall von Lykanthropie haben wir im folgenden uns zu befassen. Es ist sehr merkwürdig, daß in denselben Tagen, wo der Kriminalfall Haarmann verhandelt wurde, noch ein zweiter Fall von Anthropophagie (Triebkannibalismus) ans Tageslicht kam. In einem von mehreren Parteien bewohnten Wohnhaus nahe der Stadt Münsterberg, an der Strecke Breslau-Glatz in Schlesien, lebte durch lange Jahre der Landwirt Karl Denke, ein als frömmster Kirchengänger des Sprengels bekannter und geehrter Einsiedler, 54 Jahre alt. Am 20. Dezember 1924 sprach ein vorübergehender Handwerksbursche, namens Vincenz Oliver, den Mann um eine Gabe an und wurde eingeladen, ins Haus zu kommen. Als er am Tische Platz genommen hatte, wurde er plötzlich von Denke mit einer Spitzhacke überfallen, doch gelang es ihm, zu entkommen. Nunmehr wurde Denke in Schutzhaft genommen, erhängte sich aber im Untersuchungsgefängnis. Darauf nahm die Polizei eine Haussuchung im Gehöft des Denke vor. Man fand zahlreiche Papiere von verschwundenen Handwerksburschen, sowie in der Scheuer Töpfe mit gepökeltem Fleisch, das von den Gerichtsärzten einwandfrei als Menschenfleisch festgestellt wurde. – Man konnte feststellen, daß der Mann seit mindestens 20 Jahren sehr viele Menschen, Mädchen und Jünglinge, tötete, aß, verschlang oder ihr Fleisch auf Märkten verkaufte.

Der Freund

Man denke sich in den Tiefen der Untersee einen zähen, klugen Taschenkrebs, welcher nistet auf dem Höhlenhaus eines im Dunkel sich vollsaugenden, schleimigen Quallentieres, etwa eines pflanzenhaften Riesenpolypen, so hat man ein ungefähres Bild für die merkwürdige »Symbiose« von Triebverbrechen und Intelligenzdrohnentum, von Lebensirrsinn und Geistschmarotzerei, welche vom Oktober 1919 ab den blonden zarten mädchenhaften Hans Grans (den dennoch zäheren und wehrfähigeren) mit dem um 21 Jahre älteren weibisch rohen, schwammigen und wüsten Haarmann untrennbar verband. Grans ist ein hübscher, lebensgieriger, eigenbezüglicher Junge aus einem kinderreichen Elternhaus, wo Frau Sorge wohl oft saß an Stelle der Seele. Die Eltern haben in der dunkelsten Altstadt einen kleinen Papier- und Buchbinderladen mit einer Leihbücherei alter Schmöker, aus denen der ehrgeizige, liebenswürdige Schlingel sich Fernweh anlas nach großem Leben und vornehmer Welt. Er besucht bis Quinta die Oberrealschule, wird dann auf die Bürgerschule gesteckt, und als er sie durchlaufen hat, 1915 konfirmiert. Als Handlungslehrling in einer Metallwarenfabrik (Söhlmann) unterschlägt er Portokassenbeträge und geht mit gefälschten Quittungen zu Kunden der Firma, um Beträge einzukassieren, die er vernascht und verraucht. Dann arbeitet das hoffnungsvolle Früchtchen in der Industrie rund um Hannover, zuletzt in der Bergmann-Elektrizitäts-Gesellschaft in Berlin. 1918 wird er Aushelfer bei der Post, scheidet aber bald wieder aus, um beim Minenwerfer-Sturm-Detachement Heuschkel einzutreten. Am 1. Oktober 1919 wird er auch hier wegen Unpünktlichkeit im Dienst entlassen. Er fällt nun wieder dem Vater zur Last, dem er vorspiegelt, daß er bei der Reichswehr eintreten wolle. In Wahrheit treibt er sich mit Weibern herum, und als der Vater nachprüft, ob der Junge sich denn überhaupt bei der Reichswehr gemeldet habe, läuft er eines Tages von Hause fort, nächtigt in den Spelunken der Altstadt und erwirbt seinen Unterhalt durch Handel mit alten Kleidungsstücken auf dem Bahnhof. Damit war er in den Bereich des Haarmann getreten. Einer der anderen jungen Spitzbuben auf dem Bahnhof macht ihn auf »das schwule Paket« aufmerksam. »Du, Hans, der hat neulich einem hübschen Jungen 20 Mark gegeben« und der junge Grans, durchaus nur in der Absicht, Geld zu verdienen, macht sich auf der Straße an den weit älteren Mann heran. Der nimmt ihn mit in seine Wohnung Nikolaistraße 46 bei Kisserow. »Ich hatte zuerst einen Tick auf Hans. Aber als ich ihn nackt sah, mochte ich ihn nicht. Er ist so behaart wie ein Affe. Wirklich, Sie können mir es glauben; wie ein Affe sah Hans aus. Aber später hat er sich alles abrasiert.« Der Junge bleibt nun bei Haarmann wohnen, und es entwickelt sich das merkwürdigste Verhältnis. »Er war wie mein Kind. Ich habe ihn gehalten wie meinen Sohn. Ich habe ihn aus dem Sumpfe geholt und wollte nicht, daß er wieder unter die Räder komme.« Vier Jahre lang blieben die beiden befreundet. Offenbar bestritt Haarmann den Lebensunterhalt des hübschen Jungen. Zeitweise gab er dem Grans englische Zigaretten zu verkaufen; wenn der dafür mehr erhielt als ihm von Haarmann in Rechnung gestellt wurde, so durfte er den Mehrerlös für sich behalten. Das Verhältnis war wohl geschlechtlich, aber nicht nur geschlechtlich. Denn alles, was an idealen Regungen in Haarmanns völlig roher Tierseele überhaupt aufkommen konnte, das sammelte sich um den jungen Grans, und wenn man behauptet hat, daß es lediglich das Bewußtsein der Mitwisserschaft an schlimmen Taten und die Angst vor Verrat war, was Haarmann in späteren Jahren völlig unter die Hörigkeit seines kindlich rücksichtslosen Quälers und geliebten Tyrannen brachte, so muß man doch andererseits auch bedenken, daß Haarmann jederzeit den jungen Schnösel hätte beseitigen können, wie er andere Mitwisser seiner Morde möglicherweise beseitigt hat (wie denn in der Tat die beiden oft einander gegenseitig mit Polizei drohten ja, mit gezückten Messern, »Mörder« schreiend, sich gegenüberstanden; aber zuletzt doch immer wieder zusammenkrochen). – Gericht und Geschworene haben sich das Verhältnis recht einfach zurechtgelegt: »Grans wußte um den ersten Mord an Friedel Rothe. Um einen Mitwisser stumm zu machen, darum nahm Haarmann den Grans bei sich auf und wurde sein Pflegevater.« Wir werden sehen, daß ein ungemein verwickeltes Gefühlsverhältnis diese zwei Entgleisten am Außenrande der menschlichen Gesellschaft so aneinanderband, daß sie weder ganz miteinander, noch auch ohne einander zu leben vermochten. Zu der Zeit, wo Haarmann den jungen Freund bei sich aufnahm, sollte er gerade die am 23. April 1919 erkannte Gefängnisstrafe von neun Monaten antreten. Um ihr nun zu entgehen, wechselte er schnell die Wohnung, ohne sich polizeilich abzumelden. Er wohnte Dezember und Januar bei einer Witwe Birnstiel in der Füsilierstraße; Grans zog in die nah benachbarte Bronsartstraße. Es kam aber auch mit der Birnstiel zu Zänkereien, und als Haarmann sie mißhandelte, zeigte die alte Frau ihn an, worauf er festgenommen und gleich zur Vollstreckung der neun Monate Gefängnis zurückgehalten wurde. Bis 3. Dezember 1920 blieb er nun im Gefängnis. Während dieser Zeit (vom März bis Dezember 1920) war der junge Grans wieder sich selbst überlassen. Er trieb sich herum, wurde mehrfach wegen Diebstahls, auch einmal wegen widernatürlicher Unzucht angezeigt; aber die Verfahren mußten wegen nicht ausreichenden Beweises eingestellt werden. Am 27. November wurde er endlich festgenommen, weil er ein unterschlagenes Fahrrad auf dem Hehlermarkt am Hohen Ufer zu verkaufen suchte. Schon am 1. Dezember wurde er, da kein Fluchtverdacht bestand, wieder entlassen, und zwei Tage später kam Haarmann aus »Numero Sicher« zurück und sie feierten ein frohes Wiedersehen in ihrer Stammkneipe beim »dicken Fritz«. Allerdings wurde Grans schließlich doch am 5. März 1921 wegen Hehlerei zu drei Wochen Gefängnis verurteilt, erhielt aber bedingte Strafaussetzung auf drei Jahre.

So folgte nun wieder eine Zeit unausgesetzten Zusammenlebens, von Dezember 1920 bis Ende August 1921. Sie traten auf als zwei gutgekleidete äußerlich anständige Herren. Zunächst nahmen sie Wohnung im »Christlichen Hospiz« und späterhin mieteten sie sich ein in einem kleinen bürgerlichen Gasthof »Fürst zur Lippe« in der Osterstraße, lebten dort recht gut und scheinbar solide und führten angeblich ein Wäschegeschäft. Es wirkte fast ergreifend, als der Besitzer dieses Gasthofes, ein Herr Wiedemann und seine Tochter, eine Frau Koch, vor Gericht erschienen und bekundeten, daß sie zwei so noblen und liebenswürdigen Herren unmöglich etwas Schlechtes zutrauen konnten. Abends, wenn die beiden von ihren Geschäftsgängen zurückkehrten, brachten sie dem dreijährigen Töchterchen der Frau Koch ein Spielzeug oder Süßigkeiten mit, und selbst, als beim Wegzug der beiden alle Wäsche des Gasthauses mit verschwand, kam keiner auf den Gedanken, daß just Herr Haarmann und sein »junger Angestellter« die Täter sein könnten. In Wirklichkeit aber bestand ihr Geschäft damals darin, daß Haarmann in den vornehmen Stadtteilen Wäschestücke erbettelte, indem er den Leuten vorspielte, er sei vertriebener Oberschlesier, sei ein notleidender Kriegsinvalide, sammele für die »Herberge zur Heimat«, müsse für seinen 76jährigen Vater sorgen und ähnliches mehr. Er fragte bescheiden, ob er nicht alte Wäschestücke oder Kleider billig kaufen könne; meistens erhielt er dann allerlei zum Geschenk, was Grans ihm abnahm und bei den Trödlern in der Burgstraße verkaufte. Sie erzielten durch den Verschleiß der so erbettelten Sachen einen Tagesverdienst von 30 bis 60 Mark. Zwischendurch gaben sie mal eine Gastrolle in Hamburg oder Berlin. Grans verbrachte das Geld mit Weibern und im Kartenspiel. Bei solcher Streiferei wurden sie schließlich am 10. Januar 1921 festgenommen, doch gelang es Grans, sich freizulügen, während Haarmann zu drei Wochen Haft wegen Bettelns verurteilt wurde. Da in den Zeitungen vor den beiden Schwindlern gewarnt wurde, so begannen sie nunmehr ihren Wäschehandel anders aufzuziehen; Haarmann mußte auf die Höfe gehen und die zum Trocknen aufgehängte Wäsche stehlen; Grans entfernte die eingestickten Namenszeichen und verkaufte sodann die Wäsche. Bei der Ausführung eines solchen Diebstahles wurden sie am 31. August 1921 abermals abgefaßt und wieder gelang es dem jungen Fuchs, sich herauszuwinden, während der alte Wolf verurteilt wurde zu sechs Monaten Gefängnis, die er vom November 1921 bis März 1922 in der Gefangenenarbeitsstelle Jägerheide im Müggenburger Moor bei Celle absaß. – Zuvor aber hatten sie die Wohnung gewechselt. Sie zogen in das Mordhaus Neue Straße 4. Mitten ins Gespensterviertel.

Psychologische Bemerkungen

Man erzählt von einer Stütze der kapitalistischen Gesellschaft, daß, als an seinem siebzigsten Geburtstag der Bürgermeister und die Vertreter der Behörde ihm Ehrenanschriften überreicht und ihre Ansprachen gehalten hatten, der Gefeierte seine Danksagung folgendermaßen begann: »Ich danke Ihnen, meine Herren, für alle Ehren, die Sie mir erwiesen haben. Sie haben recht; ich lebe nun vierzig Jahre unter Ihnen und man kann mir nichts beweisen.« Solches Urbild einer Kulturgesellschaft, welche durchweg mit Leben wuchert, dabei aber »Vogel Strauß« spielt und nach außen hin durchaus schuldlos und ehrenfest bleibt und dasteht, ein solcher, nur dem Selbst und der Selbsterhaltung dienender Intellekt ohne Seele ist der junge Grans, der im Grunde gar nichts anderes trieb, als was eine untergangsreife Bildungsmenschheit überhaupt treibt: mit nur halbbewußter Heuchelei vom Mark der Erde zehren, ohne genau hinzusehen. Ganze Pflanzen- und Tierwelten, Millionen Menschen werden geopfert, Kinder verkümmern an Webstühlen, in Bergwerken, an Maschinen, überall zehrt die »Kultur« vom fremden Leben; wir aber spielen Vogel Strauß und tun, als ginge es uns nichts an. Grans hatte die kranken oder wüsten Triebe Haarmanns irgendwie durchschaut und auch dies durchschaut, daß diese Triebe ihm die Macht und Herrschaft über den weit älteren Gefährten sicherten. Er hatte freilich seinen »dummen August« recht gern. Er fühlte auch etwas Dankbarkeit; denn er besaß an Haarmann so etwas wie Bleibe und Heimat. Vor allem: einen ausgekochten, auf dem Weg zu Abenteuer und Hochstapelei erfahrenen Lehrmeister. Ja, er verspürte zuweilen etwas wie Mitleid mit dem alternden Mann, der sich in die Hand dieser skrupellosen jungen Lebensgier begab, weil er im Frost der Hölleneinsamkeit wenigstens einen haben wollte, den er liebhaben könnte. »Ich mußte einen Menschen haben, dem ich alles galt. Hans lachte mich oft aus. Dann wurde ich wütend und wies ihm die Tür. Aber ich ging ihm doch immer gleich wieder nach und holte ihn mir wieder. Ich hatte nun mal an ihm den Narren gefressen.« Haarmann liebte den Grans und das wußte dieser zu nutzen. Wenn der Alte tobte, so pflegte der Junge ihn um die Hüfte zu nehmen und seine Zunge ihm in den Mund zu stecken; dies erregte den Haarmann so, daß er wachsweich und dem hübschen Jungen zu willen wurde. Hans ließ sich wohl auch von Haarmann küssen, wobei er ihm aber vorsichtig die Arme festhielt, weil der andere die Eigenheit hatte, in wachsender Erregung ihm an den Hals zu springen, sich daran festzusaugen und ihn zu würgen. Grans war der weitaus Klügere; zäh und zart zugleich, mädchenhaft aber von eherner Schweigsamkeit. Daher bedurfte er auch, um sich zu gewagten Fahrten aufzupeitschen, des Alkohols und betrank sich oft sinnlos; während Haarmann den Alkohol, der ihn müde machte und für den er überempfindlich war, ängstlich mied. – Zur Charakteristik des Grans seien zwei kleine Züge herausgegriffen. Als typische Zuhälternatur hatte er immer eine Anzahl Mädchen an der Hand, die in ihn verliebt waren und für ihn Geld schaffen mußten. So veranlaßte er eine hübsche junge Person, gelegentlich eines Stelldicheins einem Ingenieur die Brieftasche fortzunehmen und sie ihm, dem Hans Grans, zuzustecken. Als der Diebstahl herauskam, konnte nur das Mädchen bestraft werden, da er schwor, die Tasche von ihr zum Geschenk erhalten zu haben. – In der Inflationszeit, als auf der Insel am Hohen Ufer der Stehler- und Hehlermarkt blühte, wurden dort an der Verbrecherbörse viele gestohlene Gold- und Silberwaren verkauft; diese Gelegenheit nutzte Grans, um von zwei großen Firmen unechte Gold- und Silbersachen, sogenannte Neppware, zu beziehen, mit der er sich dann unter die Diebe mischte; kam es nun zu Verhaftungen, so konnten alle bestraft werden, nur Grans nicht, da er ja nachzuweisen vermochte, daß seine Waren ehrlich erworben seien. Daß man ihm dafür mehr zahlte, als sie wert waren, das fügte die Dummheit der Welt; die anderen verkauften echtes Gold; aber es war gestohlen; er bot unechtes feil, aber es war »ehrlich erworben«.

Hugo

Gelegentlich der dunklen Handelsgeschäfte auf dem Bahnhof trat in das Leben des jungen Grans noch ein zweiter Freund: Ein gleichaltriger, auffallend begabter Bursche, welcher sich ebenfalls auf den Straßenhandel verlegt hatte: Hugo Wittkowski, ein graziöser, schwarzhaariger Junge, schlank, beweglich, mit lebendigen und doch etwas verträumten Augen, sinnlichem Mund und kluger Stirn. Besseres Naturmaterial als so mancher, der »niemals aß von des Schierlings betäubenden Körnern«. Dieser Wittkowski, viel gewandter und nachdenklicher als Haarmann, wurde Haarmanns großer Haß. Aus vielerlei Gründen! Zunächst aus Eifersucht, da Wittkowski den Grans dem Haarmann »entfremdete«. Sodann, weil Wittkowski mit Grans gemeinsam den Haarmann mehrfach ausnutzte, ihm Geld entlieh und nachher gar nicht oder nur tropfenweise zurückzahlte. Vor allem aber darum, weil mit Wittkowski, der keine Neigung zur gleichgeschlechtlichen Liebe zeigte, eine tolle Weiberwirtschaft in Haarmanns Behausung einzog. Als der Alte und die zwei Jungen zwei Jahre später vor Gericht standen und in Haarmann ein (vom Gericht viel zu spät durchschauter) teuflischer Plan gereift war, die beiden Jungen (den geliebtesten seiner Buhljungen, wie den verhaßtesten) mit sich in den Tod zu reißen, da zischte Haarmann den Wittkowski an: »Du bist ja immer hinter mir her gewesen! Du hast dich mir hundertmal zur Liebe angeboten! Aber ich wollte dich nicht. Du warst zu schlecht für mich.« Und der andere erwiderte ruhig höhnend: »Ich liebe nur Frauen.« –

Mordidyll: Neue Straße 8

Von einem Bekannten dieses Wittkowski mit Namen Alwin Köhler hörte Haarmann eines Tages, daß Köhler ein alleinliegendes Zimmer, welches ihm als Lagerraum diente, gern anderweitig abgeben wolle. Die Wirtin des Hauses, ein älteres Fräulein namens Rehbock, welches bald darauf einen Herrn Daniels heiratete, hatte keine Bedenken, das Zimmer zum 1. Juli 1921 an Haarmann zu überlassen, welcher angab, daß er ebenfalls ein Warenlager dort deponieren wolle, zu dessen Bewachung aber »sein junger Mann« (eben Grans) in dem Zimmer schlafen müsse. – Das uralte Haus am Fluß hat eine breite Durchfahrt, welche zu dem dahinterliegenden gemeinsamen Hof und den Hintergebäuden der Nachbargrundstücke führt. Das von Haarmann gemietete Zimmer liegt gleich rechts vom Hauseingang an dieser Durchfahrt. Neben dem Zimmer führt eine Treppe zu den oberen Stockwerken. Der Raum hat zwei hohe durch einen schmalen Pfeiler getrennte Fenster nach der Straße zu. An der den Fenstern gegenüberliegenden Seite in der Wand, die das Zimmer vom Treppenhause trennt, befindet sich ein in den Hohlraum unter der Treppe hineingebauter Wandschrank. Eine sogenannte Butzenklappe, 1,90 m breit, 1,25 m hoch und 1 m tief; durch zwei Klappen vom Zimmer aus verschließbar. Dies war der Ort, wo die Leichen aufbewahrt wurden. Auf einem diesem Wandschrank entnommenen Brette sind bei der späteren chemischen Untersuchung reichliche Spuren von Menschenblut festgestellt. Oberhalb des Wandschranks befindet sich dicht unter der Decke des 3 m hohen Zimmers ein 30 cm hohes und 60 cm breites Fenster, durch das man vom Treppenabsatz in den Raum hineinsehen kann. An der Wand zum Hausflur neben der Tür steht ein Gasofen. Dahinter in der Ecke am Fenster die Gasuhr. Auf der anderen Seite der Durchfahrt wohnt eine Arbeiterfamilie namens Bertram. Das Haus ist dichtbevölkert; in der rechten Ecke des Hofes liegen die Klosetts, vor denen an der Rückwand des Hauses eine Pumpe steht. Der Leinestrom fließt an der Hinterseite des Hauses, war also von Haarmanns Zimmer aus nicht erreichbar. Bei seinem Einzuge am 1. Juli 1921 brachte Haarmann nur ein armseliges Bett und einen Waschständer mit; im übrigen blieben in dem Zimmer nur einige Möbelstücke, die der Wirtin Fräulein Rehbock gehörten. Haarmann und Grans benutzten das Zimmer zusammen als Wohnraum, was sogleich die Unzufriedenheit der wenig entgegenkommenden Hauswirtin erregte; aber am 31. August verschwand Haarmann und ließ den jungen Grans allein zurück; dieser erzählte der Wirtin zunächst, sein »Chef« sei auf einer Geschäftsreise und sodann: »Der Chef weilt zu seiner Erholung im Luftkurort Jägerheide.« In Wahrheit hatte Haarmann die wegen der Wäschediebstähle über ihn verhängte halbjährige Gefängnisstrafe in Jägerheide angetreten. In diesem halben Jahr begann nun Grans (dessen Elternhaus wenige Schritte von Haarmanns Wohnung entfernt liegt) in dem verrufenen Raum ein tolles Leben. Der Raum wurde zum Absteigequartier für die das Kaschemmenviertel abstreifenden jungen Dirnen: Dörchen, Elli und Anni, welche dem Grans dafür gerne »Zimmergeld« abgaben. Heruntergekommene Burschen und dunkles »Gesoks« verkehrte in dem Raum. Es gab Trinkgelage und Messerstechereien, so daß es zu scharfen Streitigkeiten mit der Wirtin kam, welche an Haarmann ins »Sanatorium Jägerheide« schrieb, worauf dann, hochmoralisch und entrüstet, Haarmann zurückschrieb, die Wirtin möge nur auf seinen »jungen Mann« bis zu seiner Rückkehr gut aufpassen und streng auf Ordnung halten; wenn er zurückkomme, dann werde er den jungen Mann für seine »Schweinereien« fortjagen. Gleichzeitig aber unterhielt Haarmann mit Grans einen zärtlichen Briefwechsel. Der Wirtin Rehbock wurde das Treiben schließlich doch zu toll, so daß sie eines Tages Ende Februar 1922 das Zimmer sperrte und den Grans hinauswies. Am 1. März 1922 kam Haarmann zurück. Er brach das Sperrschloß auf und fand sein Zimmer – leer. Grans und Wittkowski hatten alle Sachen verkauft, ja, hatten sogar Haarmanns Militärrente abgehoben und verjubelt. Die Wirtin Rehbock aber hatte die ihr gehörenden Möbelstücke herausgeholt und in Sicherheit gebracht. Haarmann tobte und fluchte über das leere Zimmer. Die Rehbock forderte, daß Haarmann das Zimmer räume und wendete sich, da der andere sich weigerte, an das Mieteinigungsamt. Aber dieses stellte sich, als der Obdachlose mit großer Gewandtheit und Sachkunde mehrere Eingaben gemacht hatte, auf Haarmanns Seite, so daß es dem Halunken gelang, bis zum Juni 1923 gegen den Willen der Vermieterin dennoch das Zimmer zu behalten. Er mußte sich nun zunächst wieder Möbel beschaffen. Sein Bruder Adolf zahlte ihm eine kleine Summe als seinen Anteil am mütterlichen Erbe und davon richtete Haarmann sich neuerdings ein, wonach auch Grans alsbald wieder erschien und trotz der früheren Ausräuberung der Wohnung liebend aufgenommen wurde. Bis zum 9. April blieb er bei Haarmann wohnen. Vom 9. April bis zum 30. Juli kam Grans ins Gefängnis . . .

Man darf sich das Leben in dem Mordhause keineswegs düster vorstellen. Es war ein heiter bewegtes Idyll. Fortwährend kamen und gingen Knaben und Jünglinge. Schüler, Obdachlose, Arbeitslose, entlaufene Fürsorgezöglinge, Gäste aus der Herberge zur Heimat. Es wurde getauscht, gehandelt, getrunken, gesungen, geschmaust. Haarmann galt ihnen allen als guter Beschützer und Herbergsvater. In der großen Butzenklappe unter der Treppe, wo er die Toten verbarg, standen neben der Leiche Töpfe mit Fleisch, lagen Näschereien, Käse, Wurst, Schokolade für die hübschen Jungen. Man schlief oft zu dreien und vieren; wechselweise Geschlechtliches treibend. Auch Elli, Dörchen und Anni kamen oft zu Gast. Dörchen, eine energische resolute Person, trotz Lues und Luderleben immer noch schön und wohlansehnlich, besorgte Haarmanns kleinen Haushalt; nahm das Zimmer auf, kochte für die ganze Gesellschaft Schokolade oder Kaffee und saß wohl auch an langen Nachmittagen bei Haarmann auf dem Bett. »Herr Haarmann konnte alles. Wir stopften zusammen Strümpfe, besserten die Kleider aus. Auch Sülze machen und Wurst bereiten konnte Herr Haarmann. Wenn wir nähten oder flickten, dann rauchten wir Zigarren; dann nahm mich Herr Haarmann fest um die Taille und sagte: ›Dörchen, du bist die Beste. Ich heirate dich doch noch.‹ Aber Herr Haarmann machte doch nur Spaß. Denn er wollte mich ja nicht; er war ja man immer bloß für Jungens.« – Freilich gab es dann auch immer wieder ganze Tage und Nächte, wo Haarmann niemanden in sein Zimmer einließ und die Besucher wegschickte. Dann waren die zwei Fenster nach der Straße und das Fenster am Treppenabsatz sorglich verhängt, und das Schlüsselloch der Türe war verstopft. Er zerlegte dann eine Leiche. Es ist freilich rätselhaft genug, daß in dem dichtbevölkerten Hause in der engen Gasse niemand davon merkte, ja daß sogar die drei Dirnen und die ab- und zulaufenden Jungen zunächst keinen Verdacht faßten. Aber der Leser bedenke auch dies: Man dachte an vielerlei anderes. Man brauchte nicht gleich an Mord zu denken. Die unzüchtigen Gewohnheiten und Diebereien des Herrn Kriminal waren ja auf der »Insel« so allgemein bekannt, daß die Gassenbuben, die hannoverschen »Buttjers« und »Binken«, ihm unanständige Worte nachriefen, ihn »Pittenwieser« hänselten oder sich für Geld ihm anboten: »Fritze, wollen wir mal! Fritze, nimm auch mich mal. Fritze, was gibste mir dafür?« – Vom 1. März 1922 bis Juni 1924 blieb Haarmann in Freiheit; (vielleicht nur dank seiner Tätigkeit im Dienst der Polizei). Seine Einnahmen wurden in diesen zwei Jahren sehr gut. Zunächst erhöhte das Fürsorgeamt auf das Attest des Dr. Bartsch hin (welches ihn für ganz invalide und arbeitsunfähig erklärte), die Militärrente. Mit seiner Invalidenkarte ging er nun in die Häuser und stellte sich, bescheiden und freundlich, vor, als »Aufkäufer alter Kleider«. Er bekam viel geschenkt, an einer Stelle einmal fünf Paar Stiefel. Das Erbettelte wurde durch die »Puppenjungens« (Pupen = Buhljungen), besonders aber durch Hans Grans an die »Juden« (Althändler) verkauft. Sodann blühte in den Jahren 1922 bis 1924 (wo ihm auch das mütterliche Erbteil ausgezahlt wurde) seine emsige Tätigkeit als »Kriminal«. Einer der tüchtigsten Beamten der hannoverschen Kriminalpolizei, der Kommissar Müller, wurde Haarmanns besonderer Gönner und Auftraggeber. Müller hat nachmals ausgesagt, daß er Haarmann für eine taktvolle und feinere Natur gehalten habe und daß er den Zuchthausentlassenen wieder auf bessere Wege habe bringen wollen, ja oft väterlich auf ihn eingewirkt habe, wobei der Haarmann (die Heuchelei unserer Gesellschaft noch überheuchelnd) das reuige Lamm und gebesserte Schäfchen spielte. Die Zutreiberdienste für Müller nahm Haarmann in folgender Weise vor: Wenn ein Diebstahl im Verbrecherviertel dank seiner zahllosen Verbindungen mit allen zweifelhaften Elementen ihm bekannt geworden war, dann ließ er die Diebe auffordern, nachts in seine Höhle an der Neuen Straße zu kommen, wo er die Diebsware verstecken oder aufkaufen wolle; zugleich aber gab er heimlich dem Polizeikommissar einen Wink, welcher zur selben Stunde, wo die Diebe in der Wohnung waren, ein paar Wachen losschickte, die das ganze Nest aushoben und gefesselt aufs Polizeipräsidium brachten; Haarmann wurde zum Schein mitgefesselt und mitverhaftet, so daß seine Verrätereien an die Polizei sogar in der Verbrecherwelt streng verborgen blieben. Umgekehrt pflegte er natürlich auch seine Polizeikenntnisse zu Gunsten seiner nachts auf dem Bahnhof oder in den Herbergen aufgegriffenen »Lieblinge« zu verwerten. Denen sagte er oft: »Wenn ihr mal was ausgefressen habt, dann haltet euch an mich.« Er pflegte auch der Hehler- und Diebeswelt in der Altstadt manche nützliche Winke zu geben, ja war eine Art Ordnungsstifter und Auskunftsbüro in allen Kriminalsachen. Er unterschied sich von den kleineren Kriminalbeamten wohl nur dadurch, daß er – intelligenter war . . .

Nicht weit von Haarmanns Wohnung befand sich der Friseurladen von Fridolin Wegehenkel, wo das ganze Viertel sich rasieren und verschönern ließ, zugleich aber auch allerlei kleine Schiebergeschäfte gern im Vorübergehen verabredete. Fridolin Wegehenkel, ein blonder, langer, schmächtiger Mann, besorgt und ernst blickend, und seine Gattin Josefine geborene Gerke, 48 Jahre alt, sowie deren verheiratete Tochter, Frau Stille, bildeten den Mittelpunkt von Haarmanns »Familienverkehr«. Bei Wegehenkels feierte man Weihnachten und Neujahr. Bei Wegehenkels sangen Haarmann, Hans und Hugo »Stille Nacht, heilige Nacht« und zündeten den Lichterbaum an. Bei Wegehenkels im Laden gab man sich gerne Stelldicheins und machte mittags ein frohes Schwätzchen. Madame Wegehenkel, immer etwas süßlich, leidend und kränklich, wurde allmählich Haarmanns Vertraute. Sie diente als Kommissärin für einen schwunghaften Handel mit älteren und neueren Knaben- und Jünglingskleidern. So wurden die Kleider der Toten sofort aus dem Hause geschafft. Haarmann verschenkte wohl auch die Kleider des ersten sofort an einen nächsten und verwischte damit die Spur. Das ganze Viertel hielt ihn für einen Wohltäter der Obdachlosen, wußte auch allgemein von seinen homosexuellen Neigungen, fragte also gar nicht nach der Herkunft der Mäntel, Jacketts, Hosen und Wäschestücke, die er täglich brachte. Denn daß sie aus immer neuen Morden herrührten, konnte man in der Tat nicht gut annehmen. Wir wollen also immerhin glauben, daß keiner in dieser notigen kellerfarbenen Hinterwelt merkte, was Haarmann in seiner Mordhöhle trieb. Sicher aber ist jedenfalls auch, daß man das gar nicht wissen wollte, und daß jedermann ein Interesse daran hatte, nicht allzu genau hinzusehen. So half die ganze Umgebung eben doch auch an den Mordtaten mit. Aber zu ihren Gunsten möge man stets bedenken, daß sie alle in Haarmann einen »besseren Herrn« sahen, der in schwerer Notzeit ihnen Geld zu verdienen gab, mit ihnen bei zahllosen kleinen Gaunereien und Mistfinkeleien durchsteckte (und jeder hat ja schließlich irgend etwas zu verbergen) und der, wie alle wußten, auf dem »Polizeipräsidium« aus und ein ging, ja, zuweilen sogar Besuch erhielt von einflußreichen und bedeutenden Herren, wie den Kriminalkommissaren Müller und Olfermann. Einmal bot ein Bursche in Wegehenkels Laden einen Schinken aus, der offenbar nicht ehrlich erworben war. Die blonde, schmachtende Madame Wegehenkel schickte sofort heimlich zu »Kriminal Haarmann« hinüber, der denn auch erschien, den jungen Dieb verhörte und den Schinken beschlagnahmte, welchen Wegehenkels vergnügt anschnitten »zu Pfingsten, als der Kuckuck schrie«. Haarmann schimpfte sehr, als er nichts davon abbekam. Ein andermal wurden Hunderte von Säckchen mit Blumensamen zum Verkauf angeboten und wieder erschien »Kriminal Haarmann« im richtigen Augenblick und beschlagnahmte die Säcke, worauf die jungen Diebe schleunigst die Flucht ergriffen. War es also zu verwundern, daß das Ehepaar Wegehenkel, welches gelegentlich übrigens auch mal den Herrn Kriminal »übers Ohr balbierte«, seinerseits gern die Augen zudrückte, falls in Haarmanns Staate wirklich etwas faul war? Aber die wahre Blütezeit für den Kriminal setzte doch erst ein, als er selber Chef eines Detektivinstituts und somit eine Art selbständige Polizeimacht geworden war.

Das kam so: In der großen Geschäftsbücherfabrik von Edler & Krische wurde in der Inflationszeit im Auftrage der deutschen Reichsbank Papiergeld gedruckt. Dabei kam Druckpapier abhanden, aus welchem falsche 50-Mark-Scheine hergestellt wurden, die im Betriebe der Firma plötzlich auftauchten. Die Firma wendete sich zur Aufklärung des Falles an die »Detektivzentrale ehemaliger Polizeikommissare«, welche von einem Grenzpolizeikommissarius Olfermann geleitet wurde. Dieser erhielt Auftrag, die Fälscher zu ermitteln und ihm wurde empfohlen, sich mit Haarmann in Verbindung zu setzen, der in früheren Fällen so gute Spitzeldienste geleistet habe. Olfermann erhielt nun in der Tat von Haarmann einige günstige Fingerzeige, so daß er die Verbindung mit Haarmann fortan auch fernerhin aufrecht erhielt. –

Kaum eine zweite Gestalt in dem großen Kriminalprozeß ätzt sich so ehern in die Erinnerung ein, wie dieser »Kriminalkommissarius a. D. Olfermann«, Beamter eines Herrn v. Willms, welcher vorsteht dem vom »Niedersächsischen Adelsbund« begründeten Detektivinstitut »Heimschutz«. Ein stocksteifer, langer, dürrer, von moralischer Entrüstung geschwellter Würdeherr, in schwarzem Gehrock mit dunklen Glacéhandschuhen; die Augen hinter einer goldenen Brille verborgen; in jeder Bewegung der untadelige, honorige, gestrenge Beamte, mit sonorem Pathos unter Eid jede nähere Bekanntschaft mit Haarmann entrüstet ableugnend und weit von dem Verbrecher abrückend, bis ihm Schritt um Schritt nachgewiesen wird, daß er mehrfach von Haarmann Geld und Geschenke angenommen hat, daß er mit Haarmann in vielen Fällen zusammenarbeitete und schließlich, als er am 1. April 1923 aus seiner Detektivzentrale ausschied, dem Haarmann gemütlich den Vorschlag machte, gemeinsam ein eigenes Detektivgeschäft zu gründen, denn Haarmann hatte es verstanden, ganz in das Vertrauen des wohlhabenden, aber immer auf neue Verdienstmöglichkeiten erpichten, nicht allzu wählerischen aber doch hochbürgerlich korrekten Herrn sich einzuschleichen. Er erzählte bei gemeinsamen Beratungen im Café, im Restaurant, in seiner oder in Olfermanns Wohnung von seinen guten Beziehungen zu Verbrechern und Polizei, von neuen »Methoden« in der Entdeckung von Verbrechen, nach denen er »arbeitete« und hatte den Olfermann schließlich so weit, daß sie gemeinsam begründeten das »Amerikanische Detektivinstitut Lasso«. (In der Tat das Lasso, welches Haarmann fortan zum Einfangen seiner Mordopfer auszuwerfen pflegte.) – Haarmann ließ einen Stempel verfertigen, Olfermann stempelte in Haarmanns Wohnung verschiedene Ausweise, welche mit einem Lichtbild versehen wurden und folgendermaßen lauteten: »Inhaber dieser Karte ist Detektiv der ›Lasso‹ und arbeitet für das Hannoversche Polizeipräsidium. Er bittet alle in Ausführung seines Berufes um Beistand. Lasso Detektive.« – Von diesem Ausweis machte fortan Haarmann bei seinen Streifzügen im Bahnhof den ausgiebigsten Gebrauch, auch noch, nachdem im Juni 1923 die Freundschaft mit Olfermann in die Brüche ging. Nachmals, während des Prozesses, spielte diese Ausweiskarte eine willkommene Rolle zur Entlastung der Polizeibehörde, weil mittels ihrer leicht zu erweisen war, daß Haarmann als »Privatdetektiv« und nicht mit offizieller Unterstützung auf dem Bahnhof seine Mordzüge unternommen hat.

Zu allen diesen dunklen Erwerbs- und Einnahmequellen des Haarmann in den Jahren 1922 bis 1924 kommt nun noch eine dunkelste, denn wenn es uns auch gelingen sollte, den ganzen wunderlichen Komplex nach allen Seiten hin zu durchleuchten, so bleiben doch zwei Punkte tief im dunkeln: Erstens: der unmittelbare Mordakt, von welchem Haarmann, der sonst mit breiter Geschwätzigkeit alles aufklärt, immer nur störrisch und widerwillig Beschreibungen gibt, und zweitens: der mystische Fleischhandel, den er stets abschob auf einen Unbekannten namens »Schlachterkarl«, von welchem er bald aus Recklingen, bald aus Ronnenberg, bald aus der Markthalle das Fleisch bezogen haben will, welches er zur Hälfte des sonst für Pferdefleisch üblichen Preises in kleinen knochenlosen Stücken oder als Hackfleisch auszubieten pflegte. Er belieferte damit die Familie des Friseurs Wegehenkel und deren Bekannte und bezahlte auch die Waschfrau Johanne Alsdorf, bei der er seine Wäsche reinigen ließ und durch die er gelegentlich auch Wäschestücke verkaufte (eine arme verkümmerte, fast leichenhaft aussehende Frau), statt mit Geld immer nur mit frischem Fleisch. – Vollends als er zu der Familie Engel in die »Rote Reihe« zog, wurde das von Haarmann gelieferte Fleisch in der Speisewirtschaft des Vater Engel verwendet.

War denn nun aber in dem ganzen Neuen-Straßen-Viertel niemand, der an diesem offensichtlich lichtscheuen Treiben Anstoß nahm, niemand der sich gelegentlich Gedanken darüber machte? Doch! Es wurden in der Tat verschiedene Male Anzeigen erstattet und Haussuchungen abgehalten; aber es war, wie wenn alle Dämonen der Finsternis mit Haarmann im Bunde stünden.

Schräg gegenüber der Haarmannschen Wohnung liegt ein Zigarrenladen, in dem er sich täglich Zigarren und Zigaretten kaufte. Der Zigarrenhändler Christian Klobes, ein zweifellos cholerischer und eitler, aber scharfsichtiger Mann, fand das Getriebe in der Nachbarschaft stets verdächtig und sagte seinem Nachbar, dem Klempner Lammers, wenn sie abends vor der Tür ihr Schwätzchen hielten: »Karl, dat geiht nich tau mit rechten Dingen! Dat vele Jungensvolk. Ik glöbe, hei let se rinn, aber sei komet nüch wedder rute«; und Lammers antwortete: »Wat ik glöve, hei verköft Jungens nach Afrika, an de Fremdenlegion.« Daraufhin beruhigte man sich zunächst. Aber Klobes beschloß, den merkwürdigen Nachbarn gelegentlich mal »hoch zu nehmen«. Als Haarmann eines Mittags wieder Zigarren kaufte, begann der dicke Klobes: »Sagen Se mal, Herr Nachbar, bei Sie kommen die vielen jungen Leute; Sie haben gewiß 'ne Stellenvermittlung?« Haarmann blickte mißtrauisch auf, dann rief er, plötzlich auf eine am Laden vorübergehende Frau zeigend: »Dunnerslag, die muß ich sprechen; das is 'ne Bekannte«; und fort war er. Aber der Zigarrenhändler beobachtete, daß er die Frau nicht anredete, sondern um die nächste Ecke bog. Seither ließ Haarmann sich in dem Zigarrenladen nicht mehr sehen. Denn von solchen kleinen Schlauheiten saß der Mann voll. Als ihm die Hauswirtin Rehbock nach einem Zank das Zimmer sperren wollte, stieg er von außen durchs Fenster. Aber um die Glasscheibe nicht bezahlen zu müssen, lief er zum Schein auf der Straße hinter einem Jungen her, stieß selber im Vorbeilaufen das Fenster ein und brüllte dabei über die Gasse: »Haltet den Jungen. Er hat das Fenster eingeschmissen.« Dann erst kletterte er durch die zertrümmerte Scheibe. – Der Zigarrenhändler, der Klempner und noch eine Nachbarsfrau verabredeten, sie wollten aufpassen, was mit »dem Kriminal los is«. – Kam man nachts durch die alte Gasse, so sah man hinter den Fensterläden Schatten auf und ab wogen, und mehrmals bemerkten die Beobachter, daß in dem Zimmer Personen sich bewegten, die völlig nackt schienen. In anderen Nächten brannte ein gedämpftes Gaslicht. Alles war dicht verhängt, und man hörte bis zum frühen Morgen dumpfes Hämmern, Klopfen und Sägen, als wenn in dem Raume, in dem übrigens auch ein sogen. »Fleischwolf« stand, Knochen gehackt oder Fleisch bereitet würde. Da die dort einströmenden Jungen manchmal Geflügel oder Kaninchen brachten, einige Male auch eingefangene Hunde in dem Raume geschlachtet wurden (wobei Haarmann sich benahm, als ob er das Schlachten nicht mitansehen könne), so hatte man auch aus diesen Geräuschen lange kein Arg. Immerhin verabredeten die Nachbarn, als in den Zeitungen so viele Anzeigen von vermißten Knaben zu lesen waren, sie wollten sich die Gesichter der jungen Leute merken, die in Haarmanns Gesellschaft auf der »Insel« gesehen wurden. Als nun wieder einmal ein junger Mensch, Sohn eines höheren Beamten aus Darmstadt, der auf der Durchreise sich in Hannover aufhielt, verschwunden war, da ging der brave Zigarrenhändler aufs Polizeipräsidium und ließ sich die Photographie des Vermißten zeigen, und richtig! es war einer von den jungen Leuten, die er in Haarmanns Gesellschaft gesehen hatte. Es wurde denn auch sofort eine Haussuchung bei Haarmann angeordnet, aber es war, als ob auch in diesem Falle die Dämonen der Unterwelt schützend vor dem Verbrechen ständen; man fand zwar Kleider von dem Jungen, Haarmann gab auch sogleich zu, daß er mit dem jungen Manne widernatürlichen Verkehr gehabt habe, bestritt aber, den Verbleib des jungen Mannes zu kennen, und wirklich stellte sich einige Tage später der Verschwundene bei seinen Eltern in Darmstadt wieder ein, und als nun abermals der biedere Klobes auf dem Polizeipräsidium erschien, um Verdächtiges anzuzeigen, wurde er als ein lästiger Quengler grob angelassen und verlor nun die Lust, noch weiterhin als privater Späher tätig zu sein. Und doch beobachteten er und seine Frau gerade um diese Zeit einen Vorgang, der leicht zu einer Entdeckung hätte führen können. Sie hatten bemerkt, daß Haarmann oft gegen Abend mit Paketen oder mit Säcken seine Wohnung verließ und schlichen ihm an einem Maiabend in der Dämmerung nach, als er mit einem schweren Sack die Leine entlang in die »Masch« ging; hinter einem Busch versteckt sahen sie, daß er den Sack in den Fluß warf. Bei solchen Beobachtungen wäre wohl im Laufe der Zeit der Mordbetrieb ans Licht gekommen, wenn nicht Haarmann am 9. Juni aus der Neuen Straße fort- und nach Rote Reihe 4 verzogen wäre, wo er eine im 4. Stockwerk gelegene unmöblierte kleine Bodenkammer von einer Frau Engel gemietet hatte. – Grans machte den Umzug nicht mit. Er saß vom April bis Juli im Gefängnis, weil er eine aus einer Kaserne gestohlene wertvolle Stoppuhr unterschlagen hatte. Als er wieder herauskam, trieb er sich zunächst herum, nächtigte auch gelegentlich wieder bei ›Onkel Haarmann‹, zog dann aber schließlich mit seinem Freunde Hugo Wittkowski zusammen nach Burgstraße 14, wo sie von einer Arbeiterfamilie namens Krohne ein Zimmer mieteten. Sie lösten sich einen Gewerbeschein und begannen auf Jahrmärkten und in Wirtschaften mit unechten Ketten, Ringen und Uhren zu handeln; führten im übrigen ein rechtes Luderleben und bekamen auch Geld von ihren »Bräuten«. Das Verhältnis zu Haarmann aber wurde fremder und feindlicher.

In der »Roten Reihe«

Das Haus, an 250 Jahre alt, ist ein altes Fachwerkhaus mit zwei Fronten, und zwar mit der einen nach der »Roten Reihe«, dem Judentempel gegenüber, und mit der anderen nach der Bäckerstraße zu gelegen. Im Parterre befand sich ehemals eine von der Familie Engel geführte kleine Schankwirtschaft. Durch einen sehr engen Hausflur über eine schmale, winkelige, steile Treppe gelangt man in das Dachgeschoß, das nach der Bäckerstraße zu das dritte, nach der Roten Reihe zu das vierte Stockwerk bildet. Oben führt eine schräge Rampe auf den engen Gang, in dem rechts hinten die Eingangstür zu dem Mordraum liegt. Es ist eine nur etwa 7 qm große Kammer. Der Fußboden wie die Wand zeigten sich bei der späteren Untersuchung mit Menschenblut durchtränkt. In der Kammer befindet sich linker Hand von der Eingangstür ein kleiner, aus dem Dache hervorgebauter Erker mit einem Fenster nach der Roten Reihe zu. Daneben fällt das schräge Dach zurück. In dem dadurch gebildeten Winkel an der der Tür gegenüberliegenden Wand stand ein Bord; neben diesem das blutdurchtränkte, seegrasgepolsterte Feldbett. An den Wänden rechts und links von der Tür standen kleine Tische. Ein Waschständer und zwei Stühle vervollständigten die Einrichtung. In der Tapete steckten Postkartenbilder unzüchtigen oder sentimentalen Geschmacks. An der Zimmerdecke, zwischen dem Tische rechts und dem Bette hatte Haarmann an Ketten einen Kochtopf aufgehängt, so daß er von unten erhitzt werden konnte. Ein Ofen ist nicht vorhanden. Unter dem Fenster im Erker befindet sich ein kleiner Verschlag. In demselben Geschoß liegen die Wohnräume der Eheleute Lindner, deren Küche unmittelbar an Haarmanns Zimmer stößt (von ihm nur durch eine dünne Wand getrennt) sowie mehrere zu den anderen Wohnungen des Hauses gehörige Bodenkammern. Auf dem Flur ist eine Wasserleitung. Die Klosetts liegen auf dem engen Hofe, auf den zahlreiche Fenster münden . . .

Vergegenwärtigen wir uns die Hausbewohner: Vor uns steht ein kleiner, mit allen Hunden gehetzter, in allen Wassern gewaschener Zwergteufel, ein Weib von der Physiognomie jener Gesche Margarete Gottfried, die man in Kriminalwerken oft abgebildet findet. Das ist Elisabeth Engel, geborene Bräutigam, eine Frauensperson von 50 Jahren, klein, dürr, überintelligent, war dreimal verheiratet, hatte acht Kinder, von denen nur eins am Leben blieb (nämlich der Arbeiter auf der »Continental« Theodor Hartmann, ein 18jähriges, sehr verschlagenes, etwas geckenhaftes Bürschchen). Gegenwärtig ist Mutter Elisabeth verheiratet mit dem Arbeiter Wilhelm Engel, Ordner in der sozialdemokratischen Partei (verschwiemelt und roh, aber gutmütig-phlegmatisch, wenn er nicht getrunken hat). – Wie hatten Haarmann und seine Getreueste sich kennengelernt? Im Frühling 1923 wollte die Engel beim Roßschlächter auf der Insel Fleisch einholen, aber es war ausverkauft, da traf sie nahe dem Laden den Kriminalbeamten Haarmann, den sie von Ansehn kannte (denn sie ist Scheuerfrau auf der Kriminalpolizei), und Haarmann bot ihr ein Pfund Pferdefleisch, welches damals 60 Pfennig kostete, schon für 35 Pfennig an. Daraus entwickelte sich eine Fleisch-Freundschaft. Sie kamen bald auf Du und Du; gingen miteinander ins Kino, »kungelten«, »kütchebütchten«, »tusterten«, »trampelten«, »hamsterten« und »drehten manche schwule Sache«! Haarmann schenkte der Frau manch abgetragenes Kleidungsstück (er war ja Kleiderhändler und hatte Gewerbeschein); dafür übernahm sie es, die anderen Kleidungsstücke für ihn zu verkaufen (sie stammten ausnahmslos von Knaben und jungen Leuten). Im Radfahr- und Turnverein »All Heil«, in welchem Vater Engel und sein Stiefsohn, der junge Theodor Hartmann große Nummern waren, fand sich mancher, der bald einen Selbstbinder, bald einen Hut, bald eine Breecheshose gern billig erwarb. »Eine Hand wäscht die andere.« Haarmann überließ der Familie für ihren Ausschank billiges Fleisch, und als er sich im April mit seiner Hauswirtin Rehbock herumschlug, fragte er die Engel: »Können Sie mir nicht ein anderes Zimmer schaffen?« Die Engel erwiderte: »In unserem Hause ist eine leere Dachkammer; die können Sie haben.« So kam er denn am 9. Juni in die alte Baracke am Judentempel, wo wenigstens 20 Morde mitten in einer menschenvollen, aller Wohlfahrt spottenden Mansardenhöhle ausgeübt wurden. (Man stelle sich einmal vor, Haarmann wäre ein Jude gewesen, welche Ritualmordmären und Pogrome hätten dann im Volke entstehen müssen.) – Nur durch eine dünne Tapetenwand von Haarmanns Dachzimmer getrennt, liegt die Küche der Frau Lindner. Frau Lindner ist eine junge, schlanke, blonde Frau, sehr fürs Feine. Als Haarmann in das Haus einzog, erzählte er sogleich allen Mitbewohnern, daß er für Sauberkeit sorge und sehr »apart« sei; daher das Klosett, das man zu fünf Parteien gemeinsam benutzte, nicht besuchen, sondern seinen Eimer dorthin tragen werde, und sein Stoffwechsel mußte außerordentlich sein, denn man sah ihn nun alle Viertelstunde mit einem verdeckten Eimer zu dem ewig verstopften Klosett und dann zu der im Flur liegenden Wasserleitung gehen, wie er denn unaufhörlich in seinem Zimmer, das die Engel (angeblich!) nie betrat, wischte und schrubbte. Der Mann von Frau Lindner ist Glasarbeiter; ein kleiner, gutartiger, schwarzer Stiesel. Außerdem wohnte bei ihnen ein besseres Fräulein, das zuweilen Herrenbesuche empfängt. Und dann war da auch ein kleiner Hund namens Fuchsie. Dem brachte Haarmann zuweilen Knochen. Aber Frau Lindner konnte Haarmann nicht leiden und ärgerte sich über die vielen Besuche von Jungen, die auf der engen Stiege trampelten. Es gab in dem Hause vielen Zank. Das Ehepaar Lindner schlug sich. Er sagte: »Du Hure.« Sie vermöbelte ihn mit dem Besen. Auch das Ehepaar Engel zankte sich im Parterre, wenn er »knülle« war. Grans hatte vor Frau Lindner auf der Straße ausgespuckt; darauf hatten sich Haarmann und die Lindner auf der Treppe angeschrien; dann hat »Herr Haarmann« um Entschuldigung gebeten und hat gesagt: »Darf ich die Herrschaften miteinander bekannt machen? Meine Nachbarin Frau Lindner – mein langjähriger Mitarbeiter Herr Grans.« Seit der Zeit haben sie sich wieder gegrüßt. – Aber wenn die vielen Jungen zu Herrn Haarmann kamen, dann haben Frau Lindner, das Fräulein, das bei Lindners wohnte und ein unbekannter aber feiner Herr, der gerade zum Besuch war, durch die Türritze zugesehen. So sind sie bald dahintergekommen, daß bei Haarmanns Verkehr mit den jungen Leuten dunkle Dinge im Spiele waren. Sonst aber war das Leben lustig! Große Platten Fleisch wurden in Engels Küche gebraten. Auf Haarmanns Zimmer wurde gesungen und getrunken. Die Eheleute Lindner haben wiederholt »Schupo« und »Sipo« herbeigeholt. Einmal hat sogar die junge Frau zusammen mit einem Kriminalassistenten eine ganze Nacht drüben am Judentempel gestanden und Haarmanns Licht belauert. Aber der Zufall fügte es, daß gerade immer dann, wenn die Polizei eingriff, nichts Besonderes zu entdecken war. Auch war Haarmann von großer Frechheit. Einmal kam nach wiederholtem Ansuchen der Nachbarn die Polizei in der Nacht, um bei Haarmann Haussuchung zu halten. Haarmann schloß die Türe nicht auf. Er machte die Beamten ruhig darauf aufmerksam, daß, wenn kein Befehl zur Verhaftung vorliegt, nach § 106 keine Haussuchung zwischen 10 Uhr abends und 6 Uhr morgens stattfinden darf. »Kommen Sie also um 6 Uhr wieder.« Als die Polizei dann wiederkam, war nichts Verdächtiges zu finden. Die Nachbarn aber sagten: »Es hat doch keinen Zweck, das Treiben anzuzeigen. Haarmann behält immer Recht. Er ist mit allen Beamten auf Du und Du.« – Im zweiten Stock wohnte Frau Fobbe, eine große, kräftige, energische und brave Frau, Spiritistin, Gesundbeterin und Todfeindin der Engel im Parterre. Im dritten Stock wohnt Frau Mühlhan. Sie sieht aus wie eine gute, alte Eule und legt den Mädchen die Karten. Diese beiden braven Seelen waren überzeugt: »Herr Haarmann ist bei der Mitternachtsmission. Er tut Gutes an die Obdachlosen. Er führt sie zum Arbeitsnachweis und gibt die armen Jungens zu essen.« – In der Küche der Mutter Engel im Parterre wurde Sülze bereitet. Haarmann brachte in einer Schüssel, die er mit einem Tuche verdeckt hatte, in kleine Würfel geschnittenes Fleisch und schüttete es in kochendes Wasser. Von dem gekochten Fleisch, das blaß aussah und nach seinen Angaben Schweinefleisch sein sollte, füllte er das Fett ab, glühte dieses Fett dann noch einmal aus und füllte es in Flaschen. Das Fleisch wurde durch eine Fleischmaschine gedreht und dann in die Schale gefüllt. Vor Weihnachten 1923 machte Haarmann in der Engelschen Küche auch einmal Wurst in Därmen, die angeblich Hammeldärme sein sollten. Haarmann, der regelmäßig bei Engels aß, verzehrte diese Wurst gemeinschaftlich mit seinen Wirtsleuten; sie war gut gewürzt und schmeckte wie Brägenwurst. Auch von der Sülze und dem ausgeglühten Fett bekam die Familie Engel jedesmal ihren Teil. Aber seit Mitte April 1924 bezogen sie kein Fleisch mehr von Haarmann, weil ihnen danach übel wurde und sie es nicht mehr mochten. Über die Herkunft dieses Fleisches ließ sich gar nichts feststellen. Die Hausgenossen geben an, es sei ihnen aufgefallen, daß Haarmann oft mit Fleischpaketen das Haus verließ, aber nur selten mit Paketen ankam. – Haarmann führte im übrigen ein gutes Leben und ließ viel Geld springen. Er verkehrte mit seinem Liebling Grans in guten Wirtschaften und machte dort manchmal Zechen von 50 bis 60 Mark an einem Tage. Gelegentlich wurden auch Dörchen und Elli mitgenommen. Dann trank man Kognak und Sekt.

Die Entdeckung

In den Monaten Mai und Juni 1924 hatten sich die Schädel- und Leichenfunde so gemehrt, daß eine Volkspanik auszubrechen drohte. Es wurden Ausschreiben in der Presse mit einer Beschreibung der aufgefundenen Schädel veröffentlicht, um Anhaltspunkte aus der Bevölkerung zu gewinnen. Zugleich erinnerte man sich nun endlich der vielen Anzeigen, die im Laufe der Jahre gegen Haarmann eingelaufen waren und des Verschwindens der beiden Schüler im Jahre 1908, wobei schon einmal Haarmann in Mordverdacht geraten war. Man beschloß nun folgendermaßen vorzugehen. Da Haarmann alle Polizeipersonen der Stadt kannte, so ließ man zwei junge Kriminalbeamte aus Berlin kommen, die sich als scheinbar Obdachlose am Bahnhof herumtreiben und an Haarmann heranmachen sollten, um sein Treiben ständig zu beobachten und ihn womöglich auf frischer Tat zu ertappen. Aber wieder machte der Zufall einen Strich durch diese Rechnung. Der letzte Junge, den Haarmann aufgegriffen, in seine Wohnung verschleppt und dort mißbraucht hatte, war ein 15jähriger Fürsorgezögling namens Kurt Fromm, ein dumpfer, schwerfälliger und begriffsstutziger Mensch, den er am 18. Juni am Bahnhof angesprochen und dann mehrere Tage bei sich in der Wohnung behalten hatte. In der Nacht des 22. Juni traf Haarmann mit dem jungen Fromm abermals in der Nähe des Bahnhofs zusammen, wobei die beiden in Streit gerieten und Fromm den Haarmann frech und überlegen zu behandeln begann. Um den Jungen zu ducken, um seinem Ärger Luft zu machen, oder aus einem gleich zu erwähnenden anderen Beweggrund hatte Haarmann die ungeheure Keckheit, auf die Bahnhofswache zu gehen und zu fordern, daß man den jungen Fromm verhaften möge; Fromm, so gab er an, habe ihm anvertraut, daß er auf falsche Papiere reise. In der Tat erfolgte nun sofort die Verhaftung des Jungen. Es war zwei Uhr nachts. Auf der Wache bezichtigte der Junge nun auch den Haarmann, daß dieser ihn mehrere Tage und Nächte bei sich behalten, ins Zimmer eingeschlossen und zu widernatürlicher Unzucht verleitet habe. Morgens beim Erwachen habe Haarmann ihm ein scharfes Brotmesser an die Kehle gesetzt und gefragt, ob er sich wohl vor dem Tode fürchte. Als er sehr erschrocken gewesen sei, da habe Haarmann gelacht und gesagt, das sei nur Spaß; wenn ihm jemand etwas tun wolle, so möge er nur kräftig schreien. – Da zufällig ein Beamter des Unzuchtsdezernats auf der Wache war, welcher wußte, daß man ohnehin den Haarmann zu verhaften wünschte, so beschloß dieser, den gefährlichen Vigilanten nun doch gleich mitzunehmen, bevor er möglicherweise Verdacht schöpfen und sich in Sicherheit bringen könne. So wurde Haarmann am 23. Juni morgens ins Gefängnis eingeliefert. Er selber hat in späterer Zeit erklärt, daß er die Verhaftung des jungen Fromm nur darum veranlaßt habe, weil er gewußt habe, daß er auch diesen Jungen töten werde und von einer dunklen Angst erfaßt worden sei, daß er diesem Mordwollusttriebe nicht lange mehr widerstehen werde. Könnte man dem Haarmann das glauben (und wer sein Wesen beobachtete, dürfte geneigt sein, dies zu glauben), so wäre die erste Gelegenheit, bei welcher eine Art »moralischer« Hemmung ihn ergriff, auch sein Untergang geworden. – Dies war am 22. Juni. Erst am 29. Juni erlangte man ein dämmerndes Geständnis.

Das Geständnis

Nachdem man die Wirtinnen und Hausbewohner des Haarmann vernommen, eine Fülle von Zeugen verhört, vor allem aber unter den in Haarmanns Wohnung aufgefundenen, oder in seinem Bekanntenkreis beschlagnahmten, oder auch von diesem freiwillig herbeigebrachten Kleidern und Wäschestücken mehrere hundert Asservate zusammengebracht hatte, die im Kriminalpräsidium ausgestellt und von den Angehörigen vermißter Personen besichtigt, als Eigentum verschwundener Knaben und Jünglinge erkannt worden waren, da waren die Belastungsmale so gehäuft, daß man sicher war, in Haarmann den gesuchten Massenmörder eingefangen zu haben, aber dennoch vermochte man in keinem einzigen Falle ihm eine Tat einwandfrei zu beweisen. Daß die Kleider und Eigentumsstücke so vieler vermißter Personen in seiner Umgebung gefunden wurden, oder durch seine Hände gegangen waren, erklärte er mit seinem Tausch- und Ramschhandel, gab auch zu, die meisten Verschwundenen gekannt und mit ihnen geschlechtlich verkehrt zu haben, behauptete aber, von ihrem Verbleib nichts zu wissen und gab für die Blutspuren in Wäsche, Betten und Kleidern harmlose Erklärungen, ja, verstand es, mit eherner Geschicklichkeit sich durch alle Torturen des Inquisitionsverfahrens hindurch zu winden. Wieder mußte ein Zufall die volle Überführung ermöglichen. Unter den von Haarmann Getöteten befand sich ein junger Mann namens Robert Witzel, dessen Eltern seit nahezu einem Jahr siebenzehnmal das Polizeipräsidium nach dem verschwundenen Sohn bestürmt hatten. (Zwischen der ersten Anzeige, die diese Familie gegen Haarmann erstattete, bis zu dessen Verhaftung geschahen noch fünf Morde.) Als die ersten Schädel im Lustgarten des Königschlosses angespült wurden, ließ ein Ingenieur der »Excelsior«, in welcher der Vater des Witzel als Werkmeister arbeitet, diesen Vater kommen, um ihn nach der Lebensweise des Verschwundenen zu befragen. Und dieser Ingenieur Heinrich Meldau, der sich aus Liebhaberei gern mit sexualpathologischen Fragen beschäftigte, veranlaßte auch den Vater, die Schädelfunde zu besichtigen, um etwa den Schädel des Sohnes, der ein sog. Sägegebiß hatte, daraus zu ermitteln. Man wußte von dem Vermißten nur, daß er am letzten Abend vor seinem Verschwinden einen Zirkus besuchte. (Daher die Polizei angenommen hatte, daß der Junge abenteuerlustig mit dem Zirkus auf und davon gegangen sei.) Es bestand aber bei den Eltern dauernd der Verdacht, daß der nächste Freund ihres verschwundenen Sohnes, ein 14jähriger überaus frühentwickelter Jüngling namens Fritz Kahlmeyer, sehr kräftig, mit auffallend hübschem Mädchengesicht, ein verstockter und verschlagener Bursche, von dem Zirkusbesuch etwas wissen müsse, was er aus Angst oder Scham vorenthielt. Nachdem alles Einreden aus dem jungen Kahlmeyer nichts herausgebracht hatte, machte der Vater noch einen letzten Versuch, als der trotzige Junge von dem älteren Bruder des Entschwundenen ein Fahrrad entleihen wollte, um zu dringlichem Geschäft über Land zu fahren. Es wurde ihm direkt gesagt: »Du bekommst das Rad nur dann, wenn du sagst, mit wem Robert am 26. April im Zirkus gewesen ist.« Nun endlich kam die Antwort: »Es war ein Kriminalbeamter vom Bahnhof.« Der Junge hatte ehern geschwiegen, weil auch er selber von Haarmann angesprochen, geschlechtlich mißbraucht und später sogar an homosexuelle »Herren der Gesellschaft« verkuppelt worden war. So war denn nun zu dem Schädelfund das zweite Indizium hinzugekommen und das dritte war da, als auch Kleidungsstücke des Vermißten unter Haarmanns Sachen gefunden wurden. Dennoch wollte Haarmann sich zu keinem Geständnis bequemen. Da aber geschah folgendes. Die Eltern Witzel sitzen wartend, zusammen mit dem jungen Kahlmeyer, vor einer Türe im Polizeivorsteheramt, um noch einmal ihre Vermutungen dem Polizeikommissar Retz vorzutragen, plötzlich geht an ihnen eine kleine spitzmausige Frauensperson mit einem jungen etwa 18jährigen Mann vorüber und die Mutter, erschrocken nach dem Arm des Vaters greifend, ruft: »Der junge Mann trägt den Rock unseres Robert.« Die Frauensperson und der Jüngling verschwinden, als sie merken, daß man auf sie aufmerksam ist. Aber die Eltern eilen mit einem Kriminalbeamten hinterher, holen sie ein und fragen nach der Herkunft der Kleider. Statt einer Antwort fragt der junge Mann zurück: »Heißen Sie etwa Witzel?« Eine Ausweiskarte auf diesen Namen hat in der zu seinem Rock zugehörigen Hose gesteckt, der Anzug kam von Haarmann. Die Frauensperson ist die Engel, die Wirtin Haarmanns, die sich zufällig gerade auf dem Präsidium nach Haarmanns Militärrente erkundigen wollte. Die sämtlichen Indizien wurden nun sofort dem Haarmann vor Augen gestellt: Die Eltern, der Schädel, die Kleidungsstücke, der junge Kahlmeyer, die wiedererkannten Kleider, in denen der an Haarmann zurückgegebene und von ihm vernichtete Personalausweis gesteckt hat. Und da nun ein Tatbestand von so viel Seiten belichtet ist, gibt er zum erstenmal, auf Zureden seiner Schwester, die Möglichkeit zu, in Geschlechtstollwut junge Leute gewürgt, gebissen und erdrosselt zu haben. Von nun an setzte jene Befragungsmarter ein, die der modernen Strafrechtspflege so wenig ferne steht wie der mittelalterlichen, indem man durch unaufhörliche Verhöre, Entziehen des Schlafes, Schwächung des Organismus durch Abführmittel, oder durch eine »strenge Therapie« auch den Zähesten und Verstocktesten so mürbe machen kann, daß er schließlich zusammenbricht, wonach man dann ihm Erleichterung, Stärkung, Zuspruch, Ermutigung zuteil werden läßt, im selben Maße, als er »sein Gewissen entlastet«. Nach sieben Tagen brach Haarmann, nachdem er abwechselnd in Tobsucht oder in Weinkrampf verfallen war, endlich verstumpft zusammen und bat, daß man den Pastor Hardelandt, der ihn eingesegnet hatte, herbeiholen möge, damit er diesem eine Beichte mache. Der Geistliche aber konnte in Hinsicht auf seine Amtsschweigepflicht solche Beichte nicht annehmen und so bequemte sich Haarmann schließlich dazu, dem Kriminalkommissar und dem Untersuchungsrichter Schritt für Schritt immer weitere Taten einzugestehen, doch blieb er dabei, daß die im Flusse gefundenen Schädel nicht die seiner Opfer sein könnten, weil er stets seine Schädel ganz klein geschlagen habe; dagegen führte er die Beamten und den Gerichtsarzt zu Stellen des Georgengartens bei Herrenhausen, wo er Leichenteile ins Gebüsch geworfen und Knochen in einen Teich versenkt hatte, zeigte dort auch das Skelett eines jungen Mannes von 16 Jahren, dessen Gelenkflächen noch fettig und schlüpfrig waren, so daß es als Überrest des letzten Opfers, des am 15. Juni getöteten Erich de Vries anerkannt werden konnte. Von nun an meldeten sich immer neue Personen, welche Kleidungsstücke oder Fleisch von Haarmann, Grans, der Engel oder der Wegehenkel bezogen hatten, und so konnten immer weitere Mordtaten, die noch uneingestanden waren, dem Mörder sehr wahrscheinlich gemacht werden, bis er gar nicht mehr versuchte zu leugnen, sondern seine gewöhnliche Redensart gebrauchte: »Schreiben Sie man dazu.«

Von nun an veränderte sich auch sein Wesen. Der zu Anfang bei all seiner Geschwätzigkeit voller »Verhaltungen« (Retentionen) sitzende dumpfe Mensch schloß gleichsam Klappe nach Klappe seines Gemütes auf, begann zutunlich, kindlich, ganz aufgetan zu werden, und nur, wenn die Eltern der Gemordeten vor ihm standen, oder sonst etwas Bedrohliches vor ihm aufstieg, oder die Rede kam auf das unmittelbare Durchbeißen der Kehle, oder den dunklen Fleischverkauf, so vereisten sofort wieder die kleinen giftigen Lichter und dummtrotzig, wie maulend oder schmollend, zog er sich wieder in sich zurück. Im allgemeinen aber hatte jedermann das Gefühl, daß dieser Mensch sich wie erlöst fühlte, weil er über die Dunkelheiten und die große Angst seines wirren Trieblebens nun endlich sprechen durfte; ja, es kam etwas wie kindliches Sichaufspielen in seine Berichte, wenn er erzählte, wie er durch so lange Jahre die »Menschheit« (über die er stets böse sprach) zu täuschen verstanden habe. Bis zum 16. August 1924 hielt man ihn im Gerichtsgefängnis. Dann kam er zur Untersuchung seines Geisteszustandes in die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt nach Göttingen. Die Untersuchung durch den Geheimrat Prof. Schultze wurde abgeschlossen am 25. September 1924. Er kam dann ins Gerichtsgefängnis zurück, um auch dort noch längere Zeit beobachtet zu werden. Am 4. Dezember begann die Verhandlung vor dem Schwurgericht in Hannover. Die Akten umfaßten 60 Bände. Auf die aus Haarmann herausgenötigten Angaben hin war inzwischen auch Hans Grans am 8. Juli verhaftet worden. Die beiden hatten einige Male Gelegenheit, sich vor der Verhandlung zu sehen, wobei Haarmann beunruhigt, Grans dagegen ruhig ablehnend und sehr kalt erschien. Grans wurde beschuldigt, nicht nur um die Morde des anderen gewußt zu haben, sondern in mindestens zwei Fällen ihm die Opfer zugeführt oder zu ihrer Tötung suggestiv angetrieben zu haben, weil er die Kleider der Gemordeten für sich selber begehrte.

 


 


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