Alain René Lesage
Der hinkende Teufel
Alain René Lesage

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Vorwort

Lesage steht inmitten des Uebergangs aus dem dogmatischen siebenzehnten in das skeptische achtzehnte Jahrhundert; er ist der Sohn einer Zeit, in welcher die große Emancipation der Ideen, die flüssige Strömung der modernen Gedanken beginnt, aber auch erst beginnt. Der Charakter und die Entwicklung seiner Epoche prägt sich deshalb mehr in seiner Form als in seinem Inhalt aus. Während jene die Anmuth und die von Humor angehauchte Eleganz zeigt, welche nur die Freiheit und Klarheit des Denkens verleihen, tritt uns der Inhalt seiner Werke mit einer Kritik des Lebens entgegen, die noch weit entfernt ist von der ätzenden Schärfe der skeptischen Autoren, welche ihm folgten, und, wie z. B. Voltaire, so viel in seiner Schule lernten.

Deshalb ist Lesage immer der Liebling ruhiger und milder Weltbeobachter gewesen. Er zeichnet die Schwächen der Menschennatur desto wahrer und treffender, je weniger er sich dabei erhitzt, je mehr er zu jener Schule kühler Darsteller gehört, die wohl den Muth haben, der Welt die Wahrheit zu sagen, aber nicht die Absicht, sie zu strafen, oder den Glauben, sie bessern zu können.

Alain René Lesage wurde 1668 zu Sarseau geboren. Sarseau ist ein Dorf in der Nähe von Vannes, und in diese Stadt, zu den dortigen Jesuiten, wurde Lesage in die Schule geschickt. In Vannes erhielt er auch seine erste Anstellung, ein kleines Amt beim Steuerwesen, Dann zog er nach Paris – 1692 – und begann seine literarische Laufbahn mit Uebersetzungen, z. B. der Liebesbriefe des griechischen Sophisten Aristänetus und der von Avellaneda verfaßten mißlungenen Fortsetzung des Don Quijote.

Damit und mit zahlreichen Bühnenversuchen waren für den jungen Mann keine Lorbeeren zu pflücken, aber das Studium der spanischen Sprache und Literatur hatte ihm ein neues, noch wenig bekanntes Gebiet aufgeschlossen. Er entnahm daraus zunächst die Stoffe zu seinen dramatischen Arbeiten, zu Lustspielen, Operntexten, Possen und dann, in der Zeit gereiftester Kraft, das Werk, welches ihn berühmt machen sollte, eine freie, überall mit Bezügen auf französische Zustände und Personen seiner Zeit durchwirkte Bearbeitung des Romans: »El Diabolo Cojuelo« von Velez de Guevara – den »Hinkenden Teufel«.

Der »Hinkende Teufel« hatte einen selten gesehenen Erfolg; die erste 1713 zu Paris erschienene Auflage wurde im Augenblick vergriffen, und zwei junge Hofleute kamen um das letzte Exemplar im Laden des Buchhändlers mit dem Degen an einander . . . so sehr riß man sich um ein Buch, in welchem namentlich der Französische Hof so treffend gezeichnet war.

Aus einem armen untergeordneten und wahrscheinlich in sehr kärglichen Verhältnissen lebenden Literator war Alain René Lesage jetzt mit einem Male ein berühmter Schriftsteller geworden. Die Wirkung der Anerkennung, des Ruhms, des Glücks aber war bei ihm die, welche sie bei edel organisirten Naturen immer ist. Sie hob seine Kraft, sie gab seinem Genius Schwingen, und dem »Diable boiteux« folgte die umfangreichere, eigene Schöpfung, der Roman »Die Abenteuer des Gil Blas von Santillana«, eines der meist gelesenen Bücher, welche je geschrieben worden sind, eines der glänzendsten Gebilde der Dichtung, die das achtzehnte Jahrhundert hervorbrachte. Es erschien zu Paris 1715.

Es ist Gegenstand lebhafter und heftiger Erörterungen gewesen, ob Lesage den Gil Blas spanischen Quellen entlehnt, oder ob das Buch sein völliges Eigen sei. Jenes haben vorzugsweise spanische Literatoren, dieses französische verfochten. In der Hitze des Streites behauptete sogar ein Madrider Gelehrter von großem Ansehn, der Ordensgeistliche Isla, das Werk Lesage's sei aus einem ungedruckten spanischen Manuskript gestohlen, und als unwiderleglichen Beweis übersetzte er den Gil Blas in die Sprache Castiliens zurück unter dem echt spanischen und stolzen Titel: »Die Abenteuer des Gil Blas von Santillana, aus dem Spanischen gestohlen von Lesage, ihrem natürlichen Vaterlande und ihrer ursprünglichen Sprache zurückgegeben durch einen eifrigen Spanier, der nicht duldet, daß man sein Volk verunglimpfe.«

Wo aber das ungedruckte Original aufbewahrt werde, das hat Vater Isla nie anzugeben für gut gefunden; und eben so wenig hat ein Andrer ein spanisches Originalwerk beizubringen gewußt, dem Lesage für seinen Stoff oder einzelne Episoden seines Werkes verpflichtet wäre. Desto mehr Gestalten hat er dem Leben und der Zeitgeschichte Spaniens entlehnt, wie z. B. die bewundernswürdigen Schilderungen des Herzogs von Lerma und des Grafen von Olivares beweisen.

Der ganze Streit um die Echtheit des Gil Blas macht übrigens dem Verfasser die höchste Ehre. Es ist wohl noch nie vorgekommen, daß ein Gemälde fremder Sittenzustände einen solchen Charakter der Wahrheit erreichte, daß das fremde, das abgeschilderte Volk sich darauf steifte, ein heimisches Werk darin sehn zu wollen.

Auch ist so viel gewiß, daß die französische Literatur sehr Unrecht hätte, wenn sie alle und jede Verpflichtung gegen die spanische in Beziehung auf den Roman Lesage's ableugnete. Schon Villemain hat dieß bereitwillig anerkannt; er sagt in seinen geistreichen Vorlesungen über die französische Literatur des achtzehnten Jahrhunderts: »Unser Gil Blas ist nicht ein Plagiat, was auch der ehrwürdige Isla und neuerlich der gelehrte Llorente darüber behaupten; aber es unterliegt keinem Zweifel, daß Lesage jene heitre Laune voll Mutterwitz, jene Philosophie voll milden Ernstes und lustiger Bosheit, wie sie in Cervantes und Cuevedo glänzen und mehr oder weniger alle spanischen Moralisten und Erzähler auszeichnen, sich geschickt aus ihnen anzueignen gewußt habe. Mit dieser allgemeinen und freiesten Nachahmung aber verbindet Lesage den besten klassischen Geschmack; er ist, was die Form betrifft, der Schüler des Terenz und des Horaz.«

Noch ein dritter großer Erfolg bezeichnet das Autorleben Lesage's. Es war die Aufnahme, welche sein Lustspiel »Turcaret« fand, das eine Satire auf die Finanzpächter jener Zeit enthielt und, im Jahre 1718 zum ersten Male aufgeführt, mit dem ungemessensten Beifall gekrönt würde. Neben »Turcaret« ist »Crispin rival de son maître« als gelungenes Lustspiel zu nennen; was sonst von den Schriften Lesage's noch hervorgehoben wird, der »Baccalaureus von Salamanca«, »die Abenteuer des Guzman von Alfarache,« »Estevanilla,« sind Bearbeitungen aus dem Spanischen, und zwar von Werken, welche die Bedingungen nicht in sich tragen, unter denen ein Werk der Fiction, den Wandlungen des Zeitgeschmackes zum Trotz, seinen dauernden Werth behält.

Das äußere Leben Lesage's verlief ohne große Ereignisse und scheint von stürmischen Leidenschaften nicht bewegt worden zu sein: er hatte zur Devise das Wort La Bruyère's genommen: »Der Philosoph nutzt seine Geisteskräfte ab, die Laster und Lächerlichkeiten der Menschen zu erkennen« (Le philosophe use ses esprits à démêler les vices et le ridicule des hommes). Seine letzten Jahre brachte er in Boulogne am Meer bei einem seiner Söhne zu, der dort eine geistliche Pfründe erlangt hatte. Sein zweiter Sohn war Comödiant geworden. Bis in sein hohes Alter hinein und trotz des Verlustes des Gehörsinnes behielt er seine Geistesklarheit und die heitre Laune bei, welche den Hauptreiz seiner Werte gebildet hatten. Er starb am 17. November 1747.

Levin Schücking

 


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