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Die Publikationen des Jahres 1838 waren: op. 29, Impromptu (der Ctsse. de Loban gewidmet); op. 30, 4 Mazurkas (der Prinzessin v. Württemberg, geb. Fürstin Czartoryska gewidmet); op. 31, 2. Scherzo (an die Ctsse. Adèle de Fürstenstein); op. 32, 2 Nocturnes (an die Baronin de Billing); op. 33, 4 Mazurkas (an die Ctsse. Mostowska); op. 34, Trois Valses brillantes (gewidmet der Mlle. de Thun-Hohenstein, der Mme. d'Ivri, der Mlle. A. d'Eichthal).
1839 erschienen nur die Prèludes op. 28, 1840 dagegen eine lange Reihe neuer Werke: op. 35, B-moll-Sonate; op. 36, 2. Impromptu; op. 37, 2 Nocturnes; op. 38, 2. Ballade (an Schumann); op. 39, 3. Scherzo (Guttmann gewidmet); op. 40, 2 Polonaisen (Fontana gewidmet); op. 41, 4 Mazurkas (dem polnischen Dichter Witwicki gewidmet); op. 42, As-dur-Walzer. Auffallend ist in den Dedikationen dieses Jahres die Abwesenheit adliger Namen; nur die Freunde sind bedacht, wohl zum Dank für die vielen Dienste, die sie ihm während seines Aufenthaltes im Süden leisteten.
1841 kamen heraus: op. 43, Tarantelle; op. 44, Polonaise, Fis-moll (der Princesse de Beauvau gewidmet); op. 45, Prélude Cis-moll (der Prinzessin Czernicheff gewidmet); 1842 erschienen: op. 46, Allegro de Concert (an Mlle. F. Müller); op. 47, 3. Ballade (an Mlle. de Noailles); op. 48, 2 Nocturnes (Mlle. L. Dupurré gewidmet); op. 49, Fantaisie (an die Prinzessin de Souzzo); op. 50, 3 Mazurkas (an Leon Szmitkowski). Von allen diesen Kompositionen seien hier nur drei betrachtet, die übrigen später im Zusammenhang.
Ueber die Tarantelle, op. 43, schreibt Schumann:
»Ein Stück in Chopins tollster Manier; man sieht den wirbelnden, vom Wahnsinn besessenen Tänzer vor sich, es wird einem selbst wirblich dabei zu Mute. Schöne Musik darf das freilich niemand nennen, aber dem Meister verzeihen wir wohl auch einmal seine wilden Phantasien, er darf auch einmal die Nachtseiten seines Innern sehen lassen.«
Chopin selbst spricht einmal etwas geringschätzig von der Tarantelle (vgl. S. 94). Trotz Schumann und Chopin jedoch ist dieses Stück in italienischer Manier äusserst brillant und durchaus wertvoll.
In den Briefen der dreissiger Jahre ist oft von einem dritten Konzert die Rede. Chopin gab später die Idee vollständig auf, es mit Orchester zu setzen. Das »Allegro de concert«, op. 46, für Klavier allein, enthält höchstwahrscheinlich die Ueberbleibsel des geplanten Konzerts. Obschon es erst 1842 veröffentlicht wurde, ist die Verwandtschaft mit den beiden Konzerten so auffällig, dass man annehmen muss, es sei, wenigstens in den Skizzen, nicht lange nach den Konzerten entstanden. Die Art der Themen, die auffallende Aehnlichkeit in der Passagenbildung, die gleiche breite Anlage sprechen dafür. Vieles mag später abgeändert oder neu hinzugetan worden sein. Auch Schumann sieht in dem Stück ein verkapptes Konzertstück mit Orchester, und in der Tat ist es auf den ersten Blick zu sehen, wie tutti und soli darin miteinander abwechseln. Dem Stück fehlt die rechte Einheitlichkeit. Sieht man die einzelnen Teile jeden für sich an, so bemerkt man überall zahlreiche Schönheiten, – das Ganze jedoch hat keinen genügenden Halt. Bis Takt 87 reicht das erste tutti, kenntlich durch den massigen Satz. Das solo beginnt bei der coda der Exposition und führt nach einer brillanten Kadenz wiederum nach der Tonika zurück, aber nicht zum Hauptthema, wie man erwarten dürfte, sondern zu einem neuen melodischen Gebilde. Das Hauptthema verschwindet überhaupt vollständig und kehrt im Verlauf des ganzen, langen Stückes nicht ein einzigesmal wieder. Lehrreich ist ein Vergleich zwischen der ersten orchestralen Fassung des Seitensatzes im tutti und der solistischen Behandlung des Klaviersatzes bei der Wiederholung. Auf diese Wiederholung folgt eine Art passagenhafte, sehr brillante Durchführung, die schliesslich zur Wiederaufnahme des letzten tutti-Abschnitts führt, jetzt in der Dominante. Hier könnte man sich tutti und solo vereinigt denken. Es ist der Höhepunkt des Satzes, eine Stelle von echt Chopinschem abandon. Das solo beginnt mit einer nochmaligen Aufnahme des Seitensatzes. Eine ziemlich freie, gedehnte coda führt zum glänzenden Schluss.
Die Fantaisie op. 49 leidet an dem gleichen Fehler wie fast alle grösser angelegten Stücke Chopins: Form und Inhalt decken sich nicht vollständig. An der Form bleibt mancherlei unklar; es fehlt an Logik und stetigem Aufbau. Plötzlich erscheint hier und da ein Gedanke, der ebenso plötzlich in der Tiefe versinkt, ohne jemals wieder aufzutauchen. Wenn Bach und Beethoven mit peinlicher Sorge darauf achten, dass jedem Gedanken die ihm zukommende Entwickelung gegönnt sei, so ist Chopin in den grösseren Werken in dieser Hinsicht zu sorglos. Die grosse Form ist bei ihm nicht durchgeistigt und belebt. Doch köstlich ist rein musikalisch der Inhalt dieser Fantasie. Sie ist eins der leidenschaftlichsten, glühendsten Stücke in der ganzen Klavierliteratur. Eine Art Trauermarsch in F-moll leitet das Stück ein. Nach dem Abschluss dieser Einleitung belebt sich das Tempo allmählich. Zweimaliger Ansatz zu grossem Aufschwung, dann beim ersten ff rapider Absturz zu einem sehr erregten neuen Motiv in F-moll:
Hier beginnt der zweite Hauptteil. Kurz darauf besänftigt sich das agitato und eine herrliche lyrische Episode setzt ein:
Wie hier blühender Klang den Tasten entlockt wird, ist grosser Bewunderung wert. Die Stelle ist nur dreistimmig mit hoher Kunst gesetzt. Doch bald wühlt es wieder von unten herauf. Ein neues, höchst leidenschaftliches, kraftvoll trotziges Motiv taucht auf.
Man vergleiche damit gewisse Stellen aus dem grossen Duett im 2. Tristan-Akt (s. Klav.-Ausz. v. Bülow, S. 113). Immer kühner stürmt es vorwärts, zuletzt Schritt vor Schritt bis die Höhe erreicht ist. Da schmettern Trompeten und Posaunen in Siegesfanfaren, und mit einer Art Triumphmarsch (Es-dur) schliesst der stürmische Abschnitt ab.
Doch die Ruhe ist noch nicht gewonnen. Von neuem erhebt sich der Ansturm. Ein erheblicher Teil des vorangegangenen wird, in andere Tonarten transponiert, wiederholt. Es kommt jedoch nicht zu einer Steigerung wie vorher. Immer sanfter und ruhiger wird es schliesslich. Ein Intermezzo tritt ein: Lento sostenuto, H-dur 3/4. Es wirkt wie eine lichtumgossene Vision. Doch hart wird der Träumende aufgeschreckt. Wiederum (Tempo I) beginnt das rastlose Vorwärtsdrängen. Was nun folgt, die Reprise, ist eine Wiederholung des zweiten Haupabschnittes. Auch hier wird mit dem Triumphmarsch (jetzt in As-dur) abgeschlossen. Noch einmal beginnt es erregt zu werden, doch eine Reminiscenz an das intermezzo bringt den Ansturm zur Ruhe. Der auf- und abwogende As-dur-Dreiklang, majestätisch daherrauschend wie eine mächtige Welle, bringt das Stück zum Abschluss.
Die Fantasie ist eine eminent »nationale« Dichtung. Sie gehört als solche in eine Reihe mit den grossen Polonaisen, den Balladen, der B-moll-Sonate u. a.
* * *
Am 26. April 1841 spielte Chopin zum ersten Male seit Jahren wieder öffentlich. Das Publikum bestand fast ausschliesslich aus Chopins Freunden und Anhängern. Auch Liszt war anwesend. Ernest Legouvé, dem Referenten der Gazette musicale, gegenüber, sprach Liszt den Wunsch aus, selbst über das Konzert berichten zu dürfen. Legouvé war einverstanden. Er teilte Chopin die Tatsache mit. Dieser war darüber nicht sehr erfreut. Legouvé suchte ihn zu überzeugen, dass ein Artikel von Liszt für Chopin nur vorteilhaft sein könne. »Il vous fera un beau royaume«, sagte er zu Chopin, »Oui, dans son empire«, war die Antwort. Siehe Ernest Legouve: 60 ans de Souvenirs. Von Liszt erschien am 2. Mai 1841 in der »Gazette musicale« ein langer Artikel über dieses Konzert. Den sehr interessanten Bericht möge man bei Niecks II, 90 f. nachlesen. Diese Erzählung wirft ein helles Licht auf die damaligen Beziehungen zwischen Liszt und Chopin, wenigstens was Chopin betrifft. Es ist hier am Platze, auf den Gegenstand näher einzugehen.
Die Bekanntschaft mit Liszt datiert von Chopins frühestem Aufenhalt in Paris. In den ersten Jahren waren die persönlichen Beziehungen zwischen den beiden Künstlern die besten. Freilich blieb Chopin bei aller Herzlichkeit des Verkehrs Liszt gegenüber etwas reserviert, wie es überhaupt in seiner Natur lag, sein innerstes Empfinden in sich zu verschliessen. Liszt hat der Verehrung, die er immer für Chopin hegte, einen schönen Ausdruck gegeben in seinem nach Chopins Tode veröffentlichten Buche »Chopin.« Liszt's Studie erregte unter den Freunden Aerger. Jane Stirling (siehe »Rev. mus.« 1904, No. 1, p. 38, auch Karlow.s Buch) schreibt am 4. März 1852: »On raconte, qu'il a écrit cette étude dans le but de plaire à Mme. Sand, mais il a manqué ce but, car Mme. Sand est très mécontente.« Die Behauptung Liszt's, dass der Fürst Radziwill für Chopin's Erziehung Geld hergegeben habe, wird als falsch zurückgewiesen. »De la manière toute nouvelle de toucher le piano, qui en fit un tout autre instrument, Liszt ne parle pas ou ne veut pas parler.« Man kann ohne Uebertreibung sagen, dass Liszt neben Schumann der einzige unter den Zeitgenossen war, der Chopins Grösse zu würdigen imstande war. Schon im Jahre 1838 schrieb Liszt an Schumann:
»Pour parler fran et net; il n'y a absolument que les compositions de Chopin et les vôtres qui soient d'un puissant intérêt pour moi. Le reste ne vaut pas l'honneur d'être nommé ... à peu d'exccptions près du moins.«
Chopin seinerseits schätzte Liszt als Klavierspieler ungemein hoch, interessierte sich aber wenig für Liszts Kompositionen, die ja allerdings in den 30er Jahren vorwiegend äusserlich virtuoser Art waren. Chopins ausserordentlich grosse Empfindlichkeit wurde von Liszt bisweilen verletzt, der sich gestattete, beim Vortrag von Chopinschen Kompositionen eigenmächtig kleine Aenderungen, Varianten der Verzierungen und dergleichen anzubringen. Nach und nach wurde der Verkehr immer kühler. Lenz, der Autor des Buches »Die grossen Klaviervirtuosen unserer Zeit«, der 1842 bei Chopin Unterricht nahm, hörte aus dessen Munde über die Beziehungen zu Liszt: »Wir sind Freunde, wir waren Kameraden.« Niecks stellte Nachforschungen über den Grund der Verstimmung an. Liszt antwortete ihm: »Unsere Damen (Comtesse d'Agoult und George Sand) hatten Streit miteinander, und als Kavalier musste jeder von uns zur Seite seiner Liebsten halten.« Niecks erfuhr von Chopins Freund Franchomme den wahren Grund, teilte ihn aber nicht mit, wegen angeblich sehr delikater Natur der Sache. Liszt soll sich während Chopins Abwesenheit einmal in Chopins Wohnung mit einer anderen Person häuslich eingerichtet haben, und Chopin wurde so erzürnt, als er den Sachverhalt erfuhr, dass er den freundschaftlichen Verkehr abbrach. Vergebens hatte Liszt versucht, durch Chopins Schülerin Mme. Rubio Chopins Verzeihung seines »Junggesellenstücks« zu erbitten. Siehe Niecks II, 171. Nach Liszts Weggang von Paris scheinen die Beziehungen ganz aufgehört zu haben, wenigstens ist der bekannte Briefwechsel zwischen Chopin und Liszt kaum erwähnenswert, in den veröffentlichten Sammlungen der Lisztschen Briefe findet sich nur ein einziges, ganz kurzes Schreiben an Chopin, in dem Liszt den Verleger Benacci warm empfiehlt (Lyon 21. Mai 1845). In den neu veröffentlichen Briefen von Nicolaus Chopin finden sich einige Anspielungen auf Liszt. So schreibt der Vater z.+B. am 16. Oktbr. 1842: »Du bist also bei einem Diner mit Liszt zusammengekommen? Ich kenne Deine Klugheit; Du thust recht daran, nicht gänzlich mit ihm zu brechen trotz seiner Prahlerei. Ihr wäret Freunde gewesen.« Chopin beklagte sich seiner Schülerin Mme. Rubio gegenüber, dass Liszt nicht offen genug sei, gegen ihn intriguiere und sogar in Zeitungen ungünstige Feuilletons über ihn geschrieben habe. Wie weit diese Beschwerden begründet waren, lässt sich kaum feststellen. Immer ist jedoch daran zu denken, dass Chopin überaus reizbar war und oft Argwohn hegte, wo kein triftiger Grund dazu vorhanden war.
Den Sommer 1841 verbrachte Chopin mit G. Sand in Nohant. Eine Reihe Briefe von ihm aus Nohant an Fontana sind in demselben trockenen Geschäftston gehalten wie die schon erwähnten. Fontana scheint er als eine Art Geschäftsführer, sogar Lasttier benutzt zu haben. Fontana muss die Kompositionen kopieren, muss mit 1/2 Dutzend Verlegern unterhandeln, muss hunderterlei Aufträge erledigen. Wir erfahren, dass in Nohant das Prélude in Cis-moll (op. 45) geschrieben worden ist. Wegen der Widmung des Stückes an die Prinzessin Elisabeth Czernicheff hat Fontana viel Arbeit. Da Chopin nicht weiss, wie der Name geschrieben wird, soll Fontana Erkundigungen einziehen, wenn nötig, sogar zur Gouvernante der Prinzessin gehen. Von der neukomponierten Tarantella op. 43 soll Fontana nicht weniger als drei Kopien machen. »Es wird Dir langweilig sein, dies abscheuliche Ding so oft abzuschreiben; ich hoffe jedoch, dass ich für lange Zeit nichts so schlechtes komponieren werde.«
Wir erfahren ferner, dass der Boléro op. 19+500 Fr. eingebracht habe dass Chopin für das Allegro de concert op. 46, 600 Fr. verlangte, für die Fantasie op. 40 500 Fr., die Ballade op. 47, 2 Nocturnes op. 48, Polonaise op. 44 je 300 Fr.; diese Preise nur für das Verlagsrecht in Paris. Zieht man in Betracht, dass er für viele Kompositionen auch noch aus Deutschland und England Extrahonorare erhielt – für op. 46, 47, 48, 49 z.B. verlangt er 3000 Fr. – so kann man wohl annehmen, dass Chopin durch seine Kompositionen eine hübsche Summe Geldes verdient habe. Freilich darf man keine Vergleiche ziehen mit den Einnahmen, die berühmte Opernkomponisten hatten, wie Rossini und Meyerbeer, auch darf man nicht daran denken, was für Honorare manche berühmte Komponisten der Gegenwart erhalten. Aber im Vergleich mit Beethoven, Schubert u.a. waren die Verdienste Chopins glänzende zu nennen.
Ende Februar 1842 gab Chopin im Pleyel Saal ein zweites Konzert. Das Programm kann man nach den Berichten der Pariser Musikzeitungen rekonstruieren. Chopin spielte nur eigene Kompositionen: Die As-dur Ballade, drei Etüden in As-dur, F-moll und C-moll, vier Nocturnes, darunter die in Fis-moll, ein Prélude in Des-dur und das Ges-dur Impromptu. Der Cellist Franchomme spielte ausserdem ein Solo, die Viardot-Garcia sang »Divers fragments de Händel«, eine air von Dessauer: Felice Donzella und ein Lied: Le chêne et le roseau, Komponist ungenannt.
Vom Jahre 1841 an beginnt die Familienkorrespondenz – in der neuen Briefsammlung kürzlich zum erstenmal veröffentlicht – wieder als Quelle benutzbar zu werden. Auffallend ist es, dass der Vater sich so häufig über Chopins langes Stillschweigen beklagt. Einmal spricht er von einer »silence de trois mois«. Wenn Chopin so selten schrieb, so ist wohl kaum eine Verminderung der verwandschaftlichen Zuneigung anzunehmen. Grund des Schweigens wird vielleicht das Verhältnis zu G. Sand gewesen sein, das Chopin vor den Eltern so lange als möglich zu verschleiern suchte. Die Eltern würden Anstoss daran genommen haben. Noch im Jahre 1841 (9. Januar) schreibt der Vater zweifellos mit Bezug auf G. Sand: »Wir sind beruhigt, da Du so wohl gepflegt wirst, wie Du uns mitteilst. Doch wären wir sehr neugierig, etwas über diese Intimität zu erfahren.« Chopin selbst nennt in den Briefen an die Eltern G. Sand immer nur: »Die Herrin des Hauses« (Pani domu), vermeidet sogar, ihren Namen zu schreiben.
Die Jahre 1841-47 verflossen für Chopin ohne besonders bemerkenswerte äussere Ereignisse. Jeden Sommer verbrachte er einige Monate in Nohant, den Rest des Jahres lebte er in Paris, mit seinen Kompositionen und seinen Schülern beschäftigt. Nohant war also eine Art zweiter Heimat für ihn. Der Ort liegt in Berry, nicht weit von der Stadt La châtre, ungefähr 5 Meilen von Chatauroux in einer fruchtbaren Niederung am Indre-Fluss. Von Paris aus war um diese Zeit die Reise ziemlich beschwerlich. Der Weg führte über Orleans, Vierzon, Chatauroux. Erst später, als die Eisenbahn gebaut wurde, kam man etwas bequemer hin.
G. Sand übte in Nohant Ueber das Leben in Nohant möge man G. Sand's autobiographische Schriften und ihre Korrespondenz einsehen; auch Liszt's Schriften enthalten einige Details; Charles Rollinat's bei Niecks abgedrucktes: »Souvenir de Nohant« (»Le Temps«, 1. Sept. 1874) enthält sehr interessante Details, ist aber nicht ganz glaubwürdig. die Gastfreundschaft im grossen Stil aus. Im Laufe der Jahre waren viele Dutzende der berühmtesten Zeitgenossen auf längere oder kürzere Zeit in Nohant zu Besuch. In den dreissiger Jahren waren Liszt und die Comtesse d'Agoult häufig da. Auch Pauline Viardot, der Maler Eugène Delacroix und Pierre Leroux gehörten zu den immer wiederkehrenden Besuchern. Für die Unterhaltung der Gäste war bestens gesorgt. Man unternahm oft lange Spaziergänge am Ufer des Indre oder in das Land hinein. Im Hause gab es einen Billardsaal, einen Theatersaal, in dem Stücke aufgeführt wurden. Die Gäste hatten vollkommene Freiheit. Wer jagen und fischen oder rudern wollte, fand Gelegenheit dazu; ein prächtiger Garten lud die trägen Geniesser ein. Auf der Bühne wurden oft ganze Stücke improvisiert in der Art der italienischen commedia dell'arte, – nur eine Skizze des Stückes war hinter der Bühne angeschlagen, die Schauspieler improvisierten den Dialog. Rechts und links von der Bühne waren 2 Klaviere als unsichtbares Orchester aufgestellt, und auf diesen lieferten Liszt und Chopin oft die Bühnenmusik. In ihren »Dernières Pages: Le Théâtre des marionettes de Nohant« berichtet G. Sand über eine dieser reizvollen Unterhaltungen:
»Das Ganze begann mit einer Pantomime, und dies war Chopins Erfindung, er sass am Klavier und improvisierte, während die jungen Leute agierten und komische Balletts tanzten ... Chopin leitete sie, wie es ihm gerade einfiel, vom drolligen zum ernsten, vom burlesken zum feierlichen, vom graziösen zum leidenschaftlichen. Wir improvisierten Kostüme, um mehrere Rollen hintereinander spielen zu können. Sobald der Künstler nun ein neues Kostüm auftauchen sah, passte er den Charakter seiner Musik in staunenswerter Weise der neuen Gestalt an.«
Aus dem Jahre 1842 sind eine Reihe Briefe von Delacroix In seinem Tagebuch spricht Delacroix auch mehreremal von seiner Freundschaft mit Chopin. Siehe Eugène Delacroix: Mein Tagebuch. Deutsche Bearbeitung von Erich Hencke. Bruno Cassirer, Berlin 1903. aus Nohant erhalten, die über das Leben dort interessante Einzelheiten bringen. Da heisst es z.B.:
»Wenn wir nicht versammelt sind, um gemeinschaftlich zu essen, Billard zu spielen oder spazieren zu gehen, dann ist jeder von uns in seinem Zimmer, mit Lektüre beschäftigt auf dem Sofa ausgestreckt. Ab und zu weht der Wind über den Garten her Klänge von Chopin's Fenster herüber, der in seinem Zimmer arbeitet; mit ihnen mischt sich der Gesang der Nachtigallen und der Duft der Rosen ... ein wenig Malen, Billardspielen und Spazierengehen füllen den Tag vollkommen aus. ... Wir erwarten Balzac, der nicht gekommen ist, und ich bin darüber froh. Er ist ein Schwätzer, der die Harmonie der nonchalance gestört haben würde, die mir hier so gut gefällt. ... Ich habe endlose intime Unterredungen mit Chopin, den ich sehr liebe, der ein wahrhaft vornehmer Mann ist; er ist der wahrhaftigste Künstler, dem ich je begegnet bin. Er ist einer der Wenigen, die man bewundern und schätzen kann ... Das wichtigste Ereignis war ein Bauernball auf dem Rasenplatz vor dem Château. Die besten Dudelsackpfeifer des Ortes spielten dazu auf.«
Doch waren in Nohant Nichtstun und ländliche Vergnügungen nicht alleinig an der Tagesordnung. G. Sand selbst arbeitete an ihren Schriften regelmässig, auch Chopin, hier von der Last des Unterrichtens befreit, konnte sich vollständig seinen Kompositionen widmen. G. Sand hat über Chopins Art des Schaffens überaus interessante, zweifellos authentische Mitteilungen hinterlassen. Sie schreibt (in ihrer Hist. de ma vie IV, 470 f.):
»Sein Schaffen war spontan, staunenerregend. Er fand Gedanken, ohne sie zu suchen oder vorherzusehen. Am Klavier kam ihm plötzlich der Einfall, ganz sublim, oder während eines Spazierganges sang es in ihm, und er hatte Eile, sich auf dem Klavier seinen Gedanken vorzuspielen. Dann aber begann die peinlichste Arbeit, die ich jemals gesehen habe. Da war kein Ende von ungeduldigen, unentschlossenen Versuchen, gewisse Einzelheiten des Themas festzuhalten, so wie er sie innerlich gehört hatte. Was er als ganzes koncipiert hatte, analysierte er hei der Niederschrift zu sehr, und sein Bedauern, dass er es nicht restlos darstellen konnte, stürzte ihn in eine Art Verzweiflung. Er schloss sich ganze Tage in seinem Zimmer ein, lief auf und ab, zerbrach die Federn, wiederholte, änderte einen Takt hundertmal, schrieb ihn und strich ihn ebenso oft wieder aus, fing am nächsten Morgen mit peinlicher und verzweifelter Ausdauer wieder an. Er arbeitete 6 Wochen an einer Seite, um sie schliesslich so niederzuschreiben, wie er sie im ersten Wurf skizziert hatte.«
Den letzten Satz braucht man nicht zu wörtlich zu nehmen. Ein Künstler wie Chopin wusste wohl, was er wollte, sein feilen und ändern war durchaus nicht zwecklos.
Im Jahre 1842 zog G.Sand und Chopin mit ihr von der Rue Pigalle nach Cité d'Orleans, in ein ganz zurückgezogenes, von der Strasse durch zwei Tore getrenntes Quartier. Um einen Rasenplatz mit Blumenbeeten und Fontaine geschmückt, waren dort (in der Nähe der Rue Taitbout) eine Anzahl Häuser gebaut. Wegen der Ruhe und angenehmen Lage war der Square ein von Künstlern bevorzugtes Quartier. Dort wohnten nebeneinander No. 5 George Sand, No. 4 ihre Freundin Mme. Marliani, No. 3 Chopin. Chopins Nachbarn waren die Sängerin Pauline Viardot-Garcia, der Klavierpädagoge Zimmermann, der Bildhauer Dantan (berühmt auch durch seine Karikaturen). Chopin, G. Sand und Mme. Marliani speisten zusammen. Chopins Wohnung bestand aus mehreren elegant möblierten Zimmern. Viele Geschenke seiner vornehmen Pariser Freunde, Handarbeiten der Mme. de Rothschild, der Fürstin Czartoryska u.a., Sèvres Porcellan »offert per Louis Philippe à Frédéric Chopin«, ein Pleyel-Flügel, Geschenk des Königs und hunderterlei bric à brac schmückten die Räume. In der Einrichtung, wie in der Kleidung Chopins zeigte sich nach Liszts Mitteilung die höchste Eleganz ohne jeden geschmacklosen Prunk. Er hatte seinen eigenen Diener, der nahezu 2000 Fr. Gehalt erhielt, der ihn auch nach Nohant begleitete. Ueber diese Einzelheiten siehe Niecks II, 133ff, und G. Sand's Briefe und Schriften. Im Jahre 1841 wurde der 10jährige Anton Rubinstein in Paris Chopin vorgestellt, er durfte ihm das 1. Impromptu vorspielen. Siehe Rubinstein, Meister des Klaviers; Verlag Harmonie, Berlin S. 77, Beschreibung dieses Ereignisses; er erwähnt den Flügel als Geschenk Louis Philippe's.
Die erste Hälfte der 40er Jahre ist nicht reich an mitteilenswerten Ereignissen. Chopin lebte ziemlich ruhig, unterrichtete, komponierte. Es mag also gerade hier, wo sich eine Lücke in der Biographie öffnet, am Platze sein, seine noch nicht betrachteten Kompositionen im Zusammenhang zu behandeln. Die Nocturnes, die Tanzstücke, Scherzi, Balladen, Sonaten u.a waren um diese Zeit ohnehin schon zum grössten Teil fertig.
Die Nocturnes sind kürzere Stücke im langsamen Tempo, oft mit einem bewegteren Mittelsatz und von elegischem, romanzenartigem, Rêverien-Charakter. Die Gattung verdankt ihre erste Blüte John Field. Auf ihm fusst Chopin, der aber in jeder Hinsicht weit über seinen Vorgänger hinausgeht. Lange Zeit waren die Nocturnes die beliebtesten Werke Chopins, was erklärlich ist, einmal dadurch, dass sie technisch leichter zu bewältigen sind, als die meisten anderen Chopinschen Stücke, und dann, dass die Kantilene in ihnen die Hauptrolle in grösserem Umfang spielt, als sonst bei Chopin. Die meisten von ihnen sind schöne Melodien, im gewöhnlichen Sinne des Wortes, von Anfang bis zum Ende; manchmal streift diese Melodie sogar das weichliche, sentimentale, gar zu süsse. Gelegentlich schreibt Chopin hier für die Damen der eleganten Pariser Salons. Doch haben die Nocturnes im Ganzen so viel künstlerisch wertvolles, dass sie ein köstlicher Besitz genannt zu werden verdienen.
Die drei Nocturnes des op. 9 und op. 15 No. 2 sind frühe Werke, die wahrscheinlich vor Chopins Ankunft in Paris schon geschrieben waren.
op. 9. No. 1 (B-moll). Von fast Bellinischer Süsse der Melodie.
Bei dem Uebergang nach Des-dur erinnere man sich an die Des-dur-Stelle des Beethovenschen Andante in F, die Chopin vielleicht vorgeschwebt haben mag.
No. 2 (Es-dur). Von schönem Wohllaut, aber in der Empfindung ziemlich flach. Vielleicht gerade deshalb eins der abgedroschensten Stücke aus Chopin. Die Rêveries der Vieuxtemps, Ernst, Raff und andere Geigenstücke scheinen von hier her zu stammen. Diese beiden Nocturnen zeigen deutlich, wo Chopin an Field anknüpfte.
No. 3 (H-dur). Viel gehaltvoller als die beiden vorigen. Der Hauptsatz schmeichelnd, graziös, stellenweise kokett, weiblich. Der Mittelsatz energisch, erregt, männlich, wie eine Antwort. Schliesslich Rückkehr des Hauptsatzes, jetzt gekürzt, aber von entzückend feiner Klangwirkung, mit Verzierungen elegantester Art. Besonders die letzte Kadenz schon sehr Lisztisch.
Bedeutend höher stehen als musikalische Dichtungen die 3 Nocturnes op. 15.
op. 15. No. 1 (F-dur). Unendlich zart, wie mit Silberstift gezeichnet schwebt die Melodie des ersten Teils über dem leicht gewölbten Unterbau. Die Tenormelodie in der linken Hand wirkt wie ein heller Schatten, wenn sie stellenweise die Oberstimme in der Oktave verdoppelt. Aber nichts von Nachtstimmung. Weisse Wölkchen am blauen Himmel, ein warmer Sommertag. Plötzlich im Mittelsatz stürmt es los, ein Ausbruch der Leidenschaft, aber wieder wendet sich der Blick zu der friedvollen Landschaft im Sonnenglanz und nach prächtiger Ueberleitung kehrt der lichte Hauptsatz zurück.
op. 15. No. 2 (Fis-dur). Der erste Teil Larghetto im Salonton, aber von ausgesuchter Eleganz der Bewegungen. Jedoch im Mittelsatz vergisst der improvisierende Spieler seine Umgebung, spielt nicht mehr für die bewundernden Damen, sondern für sich. Und wie klingt ihm hier das Klavier! In weiten Bögen hebt und senkt es sich, allmählich an Fülle wachsend, dann Schritt für Schritt herabsteigend, bis das schöne Gebilde in der Tiefe ganz verschwunden ist. Nun eine Fermate, und wiederum beginnt der elegante Hauptsatz, jetzt noch viel reicher mit Fiorituren geschmückt. Schöne Augen, rauschende Seidengewänder, Juwelen, Lichterglanz, kostbarer Parfüm. Sehr mondain.
op. 15. No. 3 (G-moll). Languido und rubato beginnt ein elegischer Gesang; seufzende Synkopen, jeder Abschnitt in langgehaltenem Ruf verhallend. Sotto voce, sostenuto geht es dann in abgebrochenen Melodiephrasen weiter, hebt sich in wilder Leidenschaft (accellerando in prächtigem Orgelpunkt auf cis) und sinkt schnell wieder in sich zusammen. (Man vergleiche damit, wie im Walküren-Vorspiel das Donner-Motiv in der Ferne verschwindet, auch die merkwürdigen Folgen von verminderten Sept-Akkorden). Religioso beginnt nun ein Trostgesang, choralartig. Markig dröhnen Hörner und Trompeten später hinein, Zuversicht kehrt zurück, zum Schluss blasen sogar die Posaunen, feierlich klingt das Stück in gehobener Stimmung aus. Chopin wollte das Stück ursprünglich betiteln: »Nach einer Vorstellung des Trauerspiels Hamlet« (s. Kleczynski, p. 27).
op. 27 bildet vielleicht den Höhepunkt der ganzen Sammlung. Nirgends sonst bei Chopin ist das Nocturno als Nachtstück mit derart überzeugender Kraft hingestellt. Aber wie verschieden sind die Nächte, in die uns diese beiden Stücke versetzen!
No. 1 (cis-moll). Lichtlos, schon fast tiefschwarz, kein Stern, kein Mondesglanz. Ueber dem schwankenden Bass erhebt sich müde ein sehnender Gesang. (Man achte darauf, wie in gewissen Schlussfällen durch eine chromatische Veränderung der Eindruck des Müden hervorgerufen wird.):
Zum zweitenmal erscheint die Melodie, jetzt durch einen Nebengesang in der Mittelstimme noch intensiver. Eine ungeheure, leidenschaftliche Steigerung setzt im Mittelsatz ein. Kaum ist der erste Gipfel erstiegen, das triumphierende As-dur erreicht, so geht das fff unmittelbar zum p sotto voce zurück, und noch einmal geht die Steigerung an (die Wagnersche, auch Beethovensche Art der Steigerung), bis ein ritterliches, glanzvolles Des-dur-Motiv erscheint, das nun in frenetischer Steigerung zu nochmaligem fff geführt wird, worauf ein donnernder Oktavengang im Bass wieder in die tiefsten Tiefen hinableitet, und nun setzt der Anfangsgesang wiederum in trostloser Müdigkeit ein. Doch nicht lange bleibt alles in schwarze Finsternis gehüllt. Die wehmütig klagende Mittelstimme erscheint wieder, con duolo, und plötzlich (calando) löst sich der Schmerz: ein mildes Cis-dur erklingt, Trost und Zuversicht senken sich hernieder, am dunklen Himmel sind die Sterne aufgegangen. Diese Nocturne entstand zur Zeit des Verlöbnisses mit Maria Wodzinska.
No. 2 (Des-dur). Eine warme, südliche Sommernacht. Ruhig wogt der Bass. Ein weicher Liebesgesang erhebt sich, von berückender Schönheit in der Kantilene. Terzen und Sexten kommen hinzu, Verzierungen von entzückender Grazie, manchmal hebt es sich schwungvoll, in Oktaven schreitet dann die Melodie einher. Dreimal erscheint die Hauptmelodie, jedesmal anders eingeführt, bei jeder Wiederkehr reicher ausgestattet. Zum Schluss ein langer Orgelpunkt auf Des, mit prächtigen Pedaleffekten, z.B.:
Zitterndes Mondlicht über dem Wasserspiegel. Den Vortrag betreffend gibt Kleczynski einige interessante Winke. Wie Chopins Freund Fontana ihm mitteilte, habe Chopin diese Nocturne abweichend von der veröffentlichten Fassung nuanciert. Er spielte das Thema beim erstenmal piano »mit Lieblichkeit und Einfachheit«, das zweitemal pianissimo (zweites Pedal), das drittemal forte (nicht wie vorgeschrieben zart und dimin.).
op. 32. No. 1 (H-dur). Romanzenartig entwickelt sich ein schöner Gesang. Ohne grössere Erregung scheint das Stück einem weichen Schluss zuzutreiben. Da plötzlich drei Zeilen vor dem Schluss eine Ueberraschung: Wie eine schreckensvolle Gespenstererscheinung hebt sich plötzlich eine Faust. Ist es die Wahnvorstellung einer fiebererhitzten Phantasie? Lähmende Furcht, unheimliches Grauen, dann wieder leises Schluchzen, fliessende Tränen sprechen aus diesem erschütternden Schluss. Durchaus tragisch, trotz des H-dur am Ende.
op. 32. No. 2 (As-dur). Wiederum romanzenartig, diesmal aber ohne jegliche aufregende Ueberraschung. Weich und ruhig entwickelt sich der Hauptsatz. Der etwas lebhaftere Mittelsatz ist in der Harmonik sehr Chopinsch. Er beginnt in F-moll, endet nach grosser Steigerung in Fis-moll, wird nun in Fis-moll vollständig wiederholt und leitet schliesslich nach As-dur in den Hauptsatz zurück. Bei den Klassikern wird man eine derartige Behandlung der Wiederholung nur höchst selten finden. Etwas ähnliches findet sich, soviel ich erinnere, nur einmal bei Beethoven, im Trauermarsch der As-dur-Sonate, op. 26, wo der Hauptsatz bei der Wiederholung nicht in As-dur steht, sondern eine kleine Terz höher, in H-dur beginnt.
Als Dichtung höher steht op. 37, No. 1, (G-moll), eine Elegie, sehr melancholisch. Der Mittelsatz choralartig. Wie eine Prozession von Mönchen, die singend vorüberschreiten. Kaum ist der letzte Ton des Chorals verklungen, so setzt der elegische Anfangsgesang wieder ein. Wie die Rückleitung mit einem einzigen unerwarteten Akkord bestritten wird, wie zwischen verschiedenen Stimmungen in der einfachsten Weise überzeugend vermittelt wird, das ist ein meisterlicher Zug.
op. 37. No. 2 (G-dur). Hauptsatz hell und heiter, wie ein anmutiges Drehen im Reigentanze. Harmonie ausserordentlich buntschillernd. Dem bei allen Reizen der Einzelbewegungen im ganzen doch etwas unruhigen Hauptsatz steht ein getragener Nebensatz entgegen. Von schönster Wirkung ist die aufstrebende Sexte:
Man beachte die Durchführung des Motivs, das nicht in der Beethovenschen Art logisch weitergeführt wird, sondern, ähnlich wie Schubert es liebte, melodisch unverändert mehrfach in verschiedenen Tonarten erscheint, also nicht durch die Linie wirkt, vielmehr durch die Harmonik, die Farbe, jedesmal in anderer Beleuchtung gezeigt wird. So erscheint das Motiv z.B. in C-, E-, B- und D-dur; man beachte auch die Wahl der Tonarten, jedesmal die hellere Farbe nach der matteren. Das ganze Stück besteht aus mehrfachen Alternieren des Haupt- und Nebensatzes, wobei jedesmal das Hauptgewicht auf koloristische Harmonik gelegt ist. Die Tonart des Stückes, G-dur, ist eigentlich nur ganz zu Anfang und ganz am Schluss deutlich ausgeprägt. Ein bemerkenswerter Vorläufer neuzeitlicher Harmonik. Das Thema des Mittelsatzes entstammt vielleicht einem in der Normandie gesungenen Volkslied. (Kleczynski p. 27.)
op. 48. No. 1 (C-moll) ist die eroica unter den Nocturnes. Die mannhafteste, kräftigste von allen. Der Hauptsatz pathetisch, breit. Der Mittelsatz episch, rhapsodenhaft. Ein Bardengesang, von vollen Harfenklängen begleitet. Ruhig setzt die Erzählung ein. Aber allgemach gerät der Sänger in Feuer, immer mächtiger schwellen die Töne an, bis zum brausenden Triumphgesang. Doch nur einen Moment hält die Siegesfreude an. In jähem Absturz wandelt sie sich in Schmerz und Trauer. Der Hauptsatz kehrt wieder, aber jetzt nicht gefasst, wie zuerst, sondern überaus leidenschaftlich erregt, ein mannhafter Klagegesang über den Jammer der Gegenwart, den glorreichen Taten der Vorfahren gegenüber.
op. 48. No. 2 (Fis-moll). Der Hauptsatz lyrisch, eine zarte, weit gedehnte Kantilene. Wiederum ein Beispiel für Chopins prächtige Behandlung des zweistimmigen Klaviersatzes. Der Mittelsatz balladenartig, rhapsodenhaft, wie ein Sang von den Taten der Vorfahren. Bei der Wiederaufnahme des Vordersatzes sehr wirksame Variante von der Stelle an, wo der zweistimmige Satz verlassen wird. Prächtige Steigerung. Niecks II, 265. Zu Noct. op. 48, No. 2. Nach Guttmann's Mitteilung habe Chopin über den Vortrag des Mittelsatzes sich geäussert: »Ein Tyrann befiehlt, der andere bittet um Gnade.«
op. 55. No. 1 (F-moll). Aehnlich geartet. Lyrischer Hauptsatz, rhapsodischer Mittelsatz. Die Rückleitung des Hauptsatzes harmonisch so eigenartig, dass sie besonderer Beachtung wert ist:
ein Drehen im Kreise von C-dur nach C-dur, von ganz aparter Wirksamkeit. Die Wiederholung nur angedeutet. Allmählich löst sich alles in leichtes Figurenwerk auf und verschwindet in der Höhe wie zarte Wölkchen beim Sonnenuntergang. Feierlicher Posaunenschluss.
op. 55. No. 2 (Es-dur). Durch überaus feine Linienführung ausgezeichnet. Im allgemeinen ganz streng dreistimmig geführt, so streng, wie etwa ein Bachsches Stück. Wie ein Duett zweier Soloinstrumente mit einem continuo, dabei aber in Harmonik und Melodik durchaus modern. Entzückend klingt die obligate Mittelstimme. Besonders schön die Trillerkette in der Mittelstimme vor dem Eintritt des Orgelpunktes auf Es gegen den Schluss. Dieser Orgelpunkt selbst bewundernswert wegen seiner reichen Harmonik, der schön geschwungenen Melodie in den Oberstimmen. Das ganze von zauberhaftem Wohllaut. Wie eine Abendphantasie unter südlichem Himmel. Vielleicht eine Erinnerung an Majorka?
Die beiden Nocturnes op. 62, No. 1 (H-dur) und No. 2 (E-dur) sind dem op. 55, No. 2 ähnlich geartet. Zarte Abendfantasien, liebliche Klänge, wundervoller Wohllaut. No. 1 beginnt in Chopinscher Weise mit der Schlussformel II, V, I. Auch hier fein geführte Mittelstimmen. In dem Dis-moll-Ueberleitungssatz klingen alte Kirchentonarten an. Der Mittelsatz in As-dur wird durch sehr schönen Orgelpunkt abgeschlossen. Der Hauptsatz ist bei seiner Wiederholung mit dem reichsten Schmuck zarter Verzierungen überschüttet. Die Rückleitung des letzten H-dur von ausserordentlicher Feinheit:
niemand als Chopin hätte sie ersonnen.
op. 62. No. 2 (E-dur) ist den beiden eben genannten Nocturnen nicht gleichwertig. Es ist ein schönes Stück, mild, warm, sanft leuchtend, das aber Eigenheiten ganz besonderer Art nicht aufweist. Am meisten fesselt der Mittelsatz mit seinem bewegten Bass.