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Vorwort.

Bis vor kurzer Zeit galt Niecks' Frederick Chopin as a man and musician. By Frederick Niecks. 2 Bde. London & New York, Novello, Ewer & Co., 1888. (Deutsche Uebersetzung von Wilhelm Langhans. Leipzig, Leuckart 1890. 2 Bde.) zweibändige Chopin-Biographie als Ende der Chopin-Literatur, weil es schien, als ob neue, von Niecks unbenutzte Quellen von Bedeutung sich nicht mehr würden auffinden lassen. Ganz unerwartet jedoch ist in den letzten Jahren viel neues, wichtiges Material über Chopin bekannt geworden. Niecks' Werk ist vielfach überholt worden durch Ferdinand Hoesicks Chopin-Biographie, Ferdynand Hoesick: Chopin zycie i twórczs&#263; (Leben und Werke). Band 1. (1810-1831). Warschau, F. Hoesick 1904. von der bis jetzt nur der erste Teil vorliegt. Ein dicker Band von fast 900 Seiten beschäftigt sich mit Chopins Leben bis zum 22. Jahr. Man ermesse die Fülle des Stoffes! Zudem ist in polnischen Zeitschriften und anderwärts verstreut in den letzten Jahren im einzelnen sehr viel neues Material herbeigeschafft worden. Das vollständige Verzeichnis der neueren polnischen Beiträge zur Chopin-Literatur findet man in Hoesicks Buch Seite XLVIII. Endlich hat Karlowicz Mieczyslaw Karlowicz: Niewydane dotychczas Pamiatki po Chopinie. Warschau, Jan Fiszer, 1904. (»Bis jetzt ungedruckte Erinnerungen an Chopin«). Ein Auszug daraus in französischer Uebersetzung in der Revue musicale, Paris 1903/4. 1904 einen Band von ca. 400 Seiten bis dahin unbekannter Briefe von und an Chopin herausgegeben, die auf viele Ereignisse in Chopins Leben ein ganz neues Licht werfen und eine Menge neuer Information enthalten. Ich hatte das Glück, alle diese neuen, bedeutsamen Funde zu der vorliegenden Arbeit benutzen zu können, war aber allerdings genötigt, bei dem mir zugemessenen, verhältnismässig geringen Raum aus der Ueberfülle des Materials viele Einzelheiten fortzulassen und mich auf das Wesentlichste zu beschränken.

Was die älteren Quellen betrifft, so ist Karasowski's Buch, Friedrich Chopin. Sein Leben und seine Briefe. Von Moritz Karasowski. Dresden, F. Ries, 1878. auf das Niecks sich vielfach stützte, durch Niecks keineswegs überflüssig gemacht worden. Wichtig sind in Karasowski's Buch allerdings nur die Briefe von Chopin, die er mitteilt. Sie sind für einige Abschnitte der Biographie, wie z.B. den Aufenthalt in Wien, fast die einzige Quelle. Freilich muss daran erinnert werden, dass Karasowski, wie Hoesick beweist, Chopins Worte oft im Ausdruck gemildert, poliert, stilisiert, manches auch falsch gelesen und so manchmal den Sinn entstellt hat. Der eigentümlich sprunghafte, ungeschliffene, gelegentlich derbe Briefstil Chopins kommt in seiner Uebersetzung nicht klar genug zum Vorschein. Sie ist nur annähernd dem Wortlaut entsprechend. Eine bessere deutsche Uebersetzung existiert jedoch nicht, überdies sind die polnischen Briefe in ihrer Originalfassung in Deutschland sehr schwer aufzutreiben. Es ist daher auch hier Karasowski noch vielfach herangezogen worden, aber mit Vorsicht, und die Citate nach ihm sind, wo immer möglich, nach den polnischen Originalen sorgfältig kontroliert worden. Auch Liszt's Buch F. Chopin par F. Liszt. Nouvelle édition. Leipzig, Breitkopf & Haertel. 1879. (Deutsche Uebersetzung von Lina Ramann. ist benutzt worden. Es ist zwar als Biographie unbrauchbar, hat aber den grossen Vorzug, dass es von einem Manne geschrieben ist, der Chopin nahe stand, und der als Freund den Zauber der Persönlichkeit Chopins, als Kunstgenosse den Geist Chopinscher Kunst dem Leser nahe zu bringen verstand. Ein in Deutschland beinahe unbekanntes, auch von Niecks nicht benutztes Werk ist eine kleine Skizze von Tarnowski, die wertvolle Beiträge zur Charakteristik Chopins liefert. Es existiert davon eine englische Uebersetzung von Natalie Janotha, die im »London Musical Courier« (20. Juli bis 28. Sept. 1899) veröffentlicht worden ist. Viele andere Quellenwerke sind hier und da ausserdem noch herangezogen worden. Nachweis darüber wird an den betreffenden Stellen gegeben werden.

Es sei nun in Kürze angegeben, welcher Zuwachs an Kenntnissen den neuen Quellen zu verdanken ist. Zunächst ist über die Warschauer Zeit bis 1830 ein sehr reiches, Niecks ganz unbekanntes Material hinzugekommen. Niecks hatte keinen Zutritt zu polnischen Quellen und hatte so aus Mangel an Kenntnis aus erster Hand das polnische Milieu vielfach falsch und unzulänglich geschildert. Ueber Chopins Schulzeit im Lyceum, über die musikalischen Verhältnisse, überhaupt das geistige Leben in Warschau sind wir jetzt aufs genaueste unterrichtet. Ferner ist es jetzt ziemlich sicher, dass eine Reihe bedeutender Kompositionen, wie ein grosser Teil der Etüden, die Nocturnes op. 9 und 15, die G-moll-Ballade, das H-moll-Scherzo, die Mazurkas op. 6 und 7, einige Préludes, die meisten der chants polonais u.a. schon vor der Pariser Zeit, wenigstens der Skizze nach geschrieben waren. Man war bis jetzt allgemein geneigt, fast alle diese Kompositionen in die ersten Pariser Jahre zu verlegen. Die Einzelheiten von Chopins Beziehungen zu Maria Wodzinska im Jahre 1835 sind geklärt. Man weiss jetzt, dass Chopin sich mit ihr förmlich verlobt hat, und aus welchen Ursachen die Verlobung zurückging, ist leicht ersichtlich. Ueber die späteren Lebensjahre, besonders die letzte Zeit der Beziehungen zu George Sand, den Bruch des Verhältnisses und seine Ursachen geben die neuen Briefe viel wichtige Information. Sie bieten auch neue Beiträge zur Charakteristik von George Sand und Chopin. Eine Menge neuer interessanter Details über die Pariser Zeit ist hinzugekommen.

Was die Erörterung der Kompositionen angeht, so habe ich mich bestrebt, wenigstens eine Seite der Chopin'schen Kunst sachlich genauer darzustellen, als es bis jetzt geschehen war, nämlich die neuartige Harmonik Chopins. Freilich musste ich innerhalb der mir gezogenen Grenzen bleiben und konnte oft nur andeuten, wo ich gern tiefer auf den Gegenstand eingegangen wäre. Er verdient eine besondere eingehende Untersuchung, die ich mir auf eine andere Gelegenheit aufspare.

Endlich sei die angenehme Pflicht erfüllt, allen denen Dank zu sagen, die mir bei meiner Arbeit mit Rat zur Seite standen, so ganz besonders Herrn Professor Dr. Max Friedländer in Berlin.

Berlin, im Oktober 1904.
Hugo Leichtentritt.


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