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§ 1. Philal. Wir wollen uns indessen der angenommenen Sprechweise fügen und es uns gefallen lassen, daß man in einem gewissen Sinne den Glauben von der Vernunft unterscheidet. Dann ist es aber billig, daß man diesen Sinn ganz genau erklärt und die Grenzen zwischen beiden festsetzt, denn die Ungewißheit über diese Grenzen hat sicherlich in der Welt große Streitigkeiten hervorgerufen, ja vielleicht sogar große Unordnungen verursacht. Wenigstens ist offenbar, daß, bis man sie bestimmt hat, alles Streiten vergeblich ist: denn indem man über den Glauben streitet, muß man die Vernunft gebrauchen. § 2. Ich finde, daß sich jede Sekte mit Vergnügen der Vernunft bedient, so lange sie glaubt, aus ihr einigen Nutzen ziehen zu können; sobald indessen die Vernunft zu versagen beginnt, ruft man: das ist ein Glaubensartikel, welcher über der Vernunft steht. Aber der Gegner könnte sich derselben Ausflucht bedienen, wenn man versuchen wollte, gegen ihn mit Vernunftgründen zu streiten, falls man ihm nicht wenigstens bemerkt, warum ihm das in einem gleichscheinenden Falle nicht erlaubt sein solle. Ich setze dabei voraus, daß die Vernunft hier die Entdeckung der Gewißheit oder Wahrscheinlichkeit der Sätze ist, welche wir aus den Erkenntnissen abgeleitet haben, die wir durch den Gebrauch unserer natürlichen Fähigkeiten, d. h. durch Sensation und Reflexion erworben haben; während der Glaube die Zustimmung zu einem Satze ist, der auf die Offenbarung gegründet ist: d. h. auf eine außergewöhnliche Mitteilung, in der Gott ihn zur Kenntnis der Menschen gebracht hat. § 3. Aber auch ein von Gott inspirierter Mensch kann anderen keine neue einfache Idee mitteilen, weil er sich nur der Worte oder anderer Zeichen oder der Verknüpfung solcher Zeichen bedienen kann, die in uns nur solche einfachen Vorstellungen erwecken, wie sie die Gewohnheit mit ihnen verbunden hat. Mochte auch St. Paul noch so viel neue Ideen empfangen haben, als er in den dritten Himmel entrückt wurde, so ist doch alles, was er davon sagen konnte, nur: es sind Dinge, die kein Auge gesehen, kein Ohr gehört und die nie in eines Menschen Herz gekommen sind. Gesetzt, es gäbe auf dem Jupiter Geschöpfe mit sechs Sinnen, und Gott gebe einem Menschen wie wir die Vorstellungen dieses sechsten Sinnes auf übernatürliche Weise, so würde dieser Mensch doch nicht imstande sein, sie durch Worte im Geiste der anderen Menschen hervorzubringen. Man muß also zwischen ursprünglicher und überlieferter Offenbarung unterscheiden. Die erstere besteht in einer unmittelbaren Einwirkung Gottes auf unseren Geist, der wir keine Schranken setzen können; die andere kommt uns nur auf den gewöhnlichen Wegen der Mitteilung zu und kann keine neuen einfachen Ideen in uns hervorrufen. Allerdings könnten uns auch solche Wahrheiten, die man durch die Vernunft entdecken kann, durch eine überlieferte Offenbarung mitgeteilt werden, wie wenn Gott den Menschen geometrische Lehrsätze hätte mitteilen wollen, aber dies hätte dann nicht dieselbe Sicherheit gegeben, als wenn wir den Beweis für diese Sätze aus der Verknüpfung der Ideen besäßen. So hatte auch Noah eine sicherere Erkenntnis der Sündflut, als wir sie durch das Buch Mosis erhalten, und so war die Gewißheit dessen, der Moses selber schreiben und der ihn Wunder tun sah, die seine göttliche Eingebung bezeugten, größer als die unsrige. § 5. Daher kann die Offenbarung nicht gegen eine klare Evidenz der Vernunft gehen, weil wir selbst dann, wenn sie unmittelbar und ursprünglich ist, mit Evidenz wissen müssen, daß wir uns, indem wir sie Gott zuschreiben, nicht irren, und daß wir ihren Sinn richtig erfassen. Diese Evidenz nun kann niemals größer sein, als die unserer intuitiven Erkenntnis, und folglich kann kein Satz als göttliche Offenbarung angenommen werden, wenn er dieser unmittelbaren Erkenntnis kontradiktorisch entgegengesetzt ist. Sonst bliebe in der Welt kein Unterschied mehr zwischen Wahrheit und Falschheit, kein Maßstab des Glaubhaften und des Unglaubhaften, übrig. Auch läßt sich nicht denken, daß von Gott, diesem wohltätigen Urheber unseres Daseins, etwas komme, was, wenn es als wahrhaft angesehen würde, die Grundlagen unserer Erkenntnis umstürzen und alle unsere geistigen Vermögen unnütz machen müßte. § 6. Und diejenigen, die die Offenbarung nur mittelbar entweder durch Überlieferung von Mund zu Mund oder auf schriftlichem Wege erhalten haben, bedürfen noch mehr der Vernunft, um sich ihrer zu versichern. § 7. Indessen bleibt es immer wahr, daß diejenigen Dinge, welche über das, was wir mit Hilfe unserer natürlichen Fähigkeiten möglicherweise entdecken könnten, hinausgehen, wie der Fall der aufrührerischen Engel, die Auferstehung der Toten, die eigentlichen Gegenstände des Glaubens sind. § 9. Hierin muß man allein die Offenbarung hören. Und selbst hinsichtlich der wahrscheinlichen Sätze werden wir uns, wenn eine evidente Offenbarung vorliegt, gegen die Wahrscheinlichkeit entscheiden.
Theoph. Wenn Sie den Glauben nur für das nehmen, was in Motiven der Glaubhaftigkeit (wie man sie nennt) begründet ist und ihn von der inneren Gnade, welche den Geist unmittelbar zu ihm bestimmt, trennen, so ist alles von Ihnen Gesagte unbestreitbar. Man muß zugestehen, daß es viele Urteile gibt, deren Evidenz die Gewißheit der Urteile, die sich auf dergleichen Motive stützen, übertrifft. Die einen gehen hierbei weiter als die anderen, ja es gibt eine Menge von Leuten, die solche Motive niemals gekannt und noch weniger erwogen haben und die folglich überhaupt nichts besitzen, was als ein Motiv der Wahrscheinlichkeit gelten könnte. Aber die innere Gnade des H. Geistes tritt hier als unmittelbare Ergänzung auf übernatürliche Weise ein, und dies macht eben das aus, was die Theologen eigentlich einen göttlichen Glauben nennen. Allerdings gibt ihn Gott stets nur, wenn der Glaube, der in uns hierdurch bewirkt wird, in der Vernunft begründet ist; denn sonst würden hierdurch die Mittel zur Erkenntnis der Wahrheit zerstört und der Schwärmerei Tür und Tor geöffnet werden; aber es ist nicht nötig, daß alle, welche diesen göttlichen Glauben haben, diese Gründe erkennen, und noch weniger, daß sie sie stets vor Augen haben. Sonst würden die Einfältigen und die Laien, wenigstens heutzutage, niemals den wahren Glauben haben; ja auch die am meisten Unterrichteten hätten ihn gerade dann nicht, wenn sie seiner vielleicht am meisten bedürfen würden, denn sie können die Gründe des Glaubens nicht stets im Gedächtnis gegenwärtig haben. Die Frage vom Gebrauch der Vernunft in der Theologie ist eine von denen, die am meisten umstritten worden sind; sowohl zwischen den Sozinianern und denen, welche man in einem allgemeinen Sinne Katholiken nennen kann, als auch zwischen den Reformierten und Evangelischen, wie man in Deutschland vorzugsweise diejenigen nennt, welche manche sehr unpassend als Lutheraner bezeichnen. Ich erinnere mich einmal eine, soviel ich weiß, noch ungedruckte Metaphysik von einem Sozinianer Stegmanus gelesen zu haben (nicht von Josua Stegmann, der sogar gegen die Sozinianer geschrieben hat), auf der anderen Seite hat ein sächsischer Theolog, Kessler, eine Logik und einige andere philosophischen Disziplinen ausdrücklich gegen die Sozinianer abgefaßt Die Metaphysik des Christoph Stegmann (der ebensowohl von Josua Stegmann, Professor in Leipzig, Wittenberg und Rinteln, wie von seinem Bruder Joachim Stegmann, einem bekannten Socinianer zu unterscheiden ist, wird von Leibniz auch in der Theodicee P. I, § 16 erwähnt. Andreas Kesslers Examen Metaphysicae Photinianae ist 1648, sein Examen logicae Photinianae 1663 erschienen.. Man kann im allgemeinen sagen, daß die Sozinianer zu rasch in der Verwerfung alles dessen sind, was der Ordnung der Natur nicht entspricht, selbst wenn sie dessen Unmöglichkeit nicht absolut beweisen können. Aber auch ihre Gegner gehen mitunter zu weit und treiben das Mysterium bis zu den Grenzen des Widerspruchs, worin sie der Wahrheit, welche sie zu verteidigen trachten, Abbruch tun. Ich war überrascht, einmal in der Summa theologiae des Pater Honoré Fabry, der sonst einer der gescheitesten seines Ordens gewesen ist, zu sehen, daß er, wie es außer ihm noch manche andere Theologen tun, jenes große Prinzip, daß Dinge, welche einem dritten gleich sind, untereinander gleich sind, in göttlichen Dingen leugnete Honoratius Fabri (1606-1688); von seinen Werken ist außer der von Leibniz zitierten »Summula theologica« sein System der Physik bekannt (Physica i. e. scientia rerum corporearum in X tractatus distributa, Lugd. 1669). Vgl. den Briefwechsel zwischen Leibniz und Fabri aus dem Jahre 1671-73, Gerh. IV, 241 ff.. Das heißt, ohne es zu wollen, den Gegnern gewonnenes Spiel geben, und jeder vernünftigen Überlegung alle Sicherheit nehmen. Man muß vielmehr sagen, daß dieses Prinzip hier falsch angewandt ist. Derselbe Schriftsteller verwirft in seiner Philosophie die virtuellen Unterschiede, welche die Scotisten in den erschaffenen Dingen annehmen, weil sie, sagt er, das Prinzip des Widerspruchs umstoßen würden; und wenn man ihm einwirft, daß man diese Unterscheidungen in Gott annehmen muß, so antwortet er, daß der Glaube es befehle. Wie kann aber der Glaube irgend etwas befehlen, was ein Prinzip umwirft, ohne das jeder Glaube, jede Bejahung oder Verneinung eitel wäre? Unmöglich können also zwei wahre Sätze zu gleicher Zeit einander völlig kontradiktorisch entgegengesetzt sein, und wenn A und C nicht dasselbe sind, so muß notwendig das B, welches mit A identisch ist, als etwas anderes genommen werden als jenes B, welches mit C identisch ist. Nicolaus Vedelius, Professor in Genf und später in Deventer, hat einmal ein Buch unter dem Titel Rationale theologicum veröffentlicht, dem Johann Musaeus, Professor in Jena (einer evangelischen Universität in Thüringen), ein anderes Buch über denselben Gegenstand, d. h. über den Gebrauch der Vernunft in der Theologie, entgegensetzte Über die Kontroverse zwischen Vedelius (Rationale theologicum de necessitate et vero usu principiorum rationis in controversiis theologicis) und Musaeus (De usu principiorum rationis et philosophiae in controversiis theologicis) s. Leibniz Theodicee P. I § 20.. Ich erinnere mich, beide früher geprüft und bemerkt zu haben, daß hierbei die Hauptstreitfrage durch Nebenfragen in Verwirrung gebracht wurde: z. B. durch die Frage, was ein theologischer Schluß sei, und ob man über ihn nach den Begriffen, aus denen er besteht, oder nach seinem Beweismittel beurteilen müsse, und ob also Occam Recht oder Unrecht darin gehabt habe, daß das Wissen von ein und derselben Folgerung stets dasselbe ist, welches Mittels man sich auch zu ihrem Beweise bedienen möge. Auch mit einer Menge anderer noch unbedeutenderer Spitzfindigkeiten, die nur den Gebrauch der Ausdrücke betreffen, hält man sich in diesen Büchern auf. Indessen gab Musaeus selbst zu, daß die Vernunftprinzipien, deren Notwendigkeit rein logischer Natur ist, d. h. diejenigen, deren Gegenteil einen Widerspruch in sich schließt, in der Theologie mit Sicherheit angewendet werden können und müssen, während er mit Recht leugnete, daß das, was nur im physischen Sinne notwendig ist (d. h. das, was sich auf die induktive Beobachtung des tatsächlichen Verlaufs der Natur und auf die Naturgesetze stützt, die sozusagen von göttlicher Einsetzung sind), hinreiche, um den Glauben an ein Mysterium oder an ein Wunder zu widerlegen, weil es von Gott abhängt, den gewöhnlichen Lauf der Dinge zu verändern. So kann man der Naturordnung gemäß behaupten, daß ein und dieselbe Person nicht gleichzeitig Mutter und Jungfrau sein kann, oder daß ein menschlicher Körper notwendig sinnlich wahrnehmbar sein muß, obgleich es Gott möglich ist, das Gegenteil von beiden zu bewirken. Auch Vedelius scheint mit dieser Unterscheidung einverstanden zu sein. Man streitet aber mitunter darüber, ob gewisse Prinzipien logisch oder nur physisch notwendig sind. Von dieser Art ist der Streit mit den Sozinianern, ob die Substanz vervielfältigt werden kann, ohne daß die besondere Wesenheit vervielfältigt wird, und der Streit mit den Zwinglianern, ob ein Körper an mehr als einem Orte sein kann. Nun muß man zugeben, daß allemal, wenn die logische Notwendigkeit nicht bewiesen ist, man in einem Satz nur eine physische Notwendigkeit annehmen kann. Aber es bleibt meiner Meinung nach noch eine Frage übrig, die von den eben erwähnten Schriftstellern nicht zur Genüge geprüft worden ist. Gesetzt nämlich, es findet sich auf der einen Seite der wörtliche Sinn eines Textes der Heiligen Schrift und auf der anderen eine starke Wahrscheinlichkeit einer logischen oder wenigstens einer anerkannten physischen Unmöglichkeit: ist es dann vernünftiger, dem wörtlichen Sinn oder dem philosophischen Prinzip zu entsagen? Sicherlich gibt es Stellen, wo man kein Bedenken trägt, den Wortsinn zu verlassen, wie z. B., wenn die Schrift Gott Hände gibt und ihm Zorn, Reue und andere menschliche Affekte zuschreibt; sonst müßte man sich zu den Anthropomorphisten schlagen oder zu gewissen englischen Fanatikern, die glaubten, daß Herodes tatsächlich in einen Fuchs verwandelt worden sei, weil Jesus Christus ihn mit diesem Namen nannte. Hier müssen die Auslegungsregeln eintreten; bieten diese aber nichts dar, auf Grund dessen der buchstäbliche Sinn zugunsten des philosophischen Grundsatzes bestritten werden müßte und enthält im übrigen der wörtliche Sinn nichts, was Gott eine Unvollkommenheit beimißt oder irgendeine Gefahr für das praktische Verhalten in sich schließt, so ist es sicherer und sogar vernünftiger, ihm zu folgen.
Die beiden eben genannten Schriftsteller streiten ferner über das Unternehmen Kekermanns, welcher die Trinität durch die Vernunft beweisen wollte, wie Raimundus Lullus dies schon früher versucht hatte Über Raimundus Lullus vgl. Band I, S. 41, sein Versuch, die Trinität zu beweisen, findet sich besonders in der »Disputatio fidei et intellectus; Berthold Keckermanns »Systema theologicum« ist 1615 in Hannover erschienen. Vgl. Theodicee P. I § 59.. Aber Musaeus erkennt mit großer Billigkeit an, daß wenn der Nachweis des reformierten Schriftstellers gut und richtig gewesen wäre, nichts dagegen einzuwenden gewesen wäre, und er recht gehabt hätte, hinsichtlich dieses Punktes zu behaupten, das Licht des Heiligen Geistes könne durch die Philosophie entzündet werden. Beide haben auch die berühmte Frage verhandelt, ob diejenigen, welche ohne von der Offenbarung des Alten oder Neuen Testaments Kenntnis erlangt zu haben, in den Gesinnungen einer natürlichen Frömmigkeit gestorben sind, hierdurch gerettet werden und Vergebung ihrer Sünden erlangen könnten? Man weiß, daß Clemens von Alexandria, Justinus Martyr und der h. Chrysostomus sich dieser Ansicht zuneigten, ja ich habe einst Pelisson nachgewiesen, daß viele ausgezeichnete Lehrer der römischen Kirche, weit entfernt, die nicht hartnäckigen Protestanten zu verdammen, sogar die Heiden von der Seligkeit nicht haben ausschließen wollen, indem sie behaupteten, daß jene, von denen ich eben sprach, durch einen Akt der Zerknirschung hätten gerettet werden können: d. h. durch einen Akt der Reue, die sich auf die Liebe zum Guten gründet, vermöge deren man Gott über alle Dinge liebt, weil seine Vollkommenheiten ihn im höchsten Maße liebenswert machen. Dies hat dann zur Folge, daß man von ganzem Herzen getrieben wird, sich nach seinem Willen zu richten und seine Vollkommenheiten nachzuahmen, um sich mit ihm näher zu vereinigen, und es erscheint gerecht, daß Gott seine Gnade denen nicht versage, die solche Gesinnungen hegen. Und ohne von Erasmus und Ludovico Vives zu sprechen, führte ich die Ansicht des Jakob Payva Andradius, eines sehr berühmten portugiesischen Lehrers seiner Zeit an, der einer der Theologen des Tridentiner Konzils gewesen war und sogar gesagt hatte, daß diejenigen, welche nicht dieser Ansicht wären, Gott im höchsten Grade grausam sein ließen ( neque enim, inquit, immanitas deterior ulla esse potest). Pelisson hatte Mühe, dies Buch in Paris zu finden: ein Beweis, wie zu ihrer Zeit geschätzte Schriftsteller in der Folge oft vernachlässigt werden Dieser Briefwechsel zwischen Leibniz und Pelisson ist bei Dutens (I, S. 678ff.) und später ausführlicher in Foucher de Careils Ausgabe von Leibniz' Werken veröffentlicht worden. Die Schrift des Diego de Payva de Andrada, auf die Leibniz sich hier bezieht, führt den Titel: »Orthodoxicarum explicationum de religionis christianae capitibus LX contra Chemnitium, Venetiis 1564, (vgl. über sie Dutens I, 34).. Bayle hat daher gemeint, daß viele den Andradius nur auf Treu und Glauben nach den Angaben seines Gegners Chemnitius anführen. Dies mag wohl sein; was aber mich betrifft, so hatte ich ihn, ehe ich ihn zitierte, gelesen. Sein Streit mit Chemnitius hat ihn auch in Deutschland berühmt gemacht, denn er war, gegen diesen Autor, für die Jesuiten eingetreten und man findet in seinem Buche einige spezielle Nachrichten über den Ursprung dieses berühmten Ordens. Ich habe bemerkt, daß einige Protestanten diejenigen, die über den erwähnten Gegenstand seiner Meinung sind, Andradier nennen. Es hat Autoren gegeben, welche eigens über die Seligkeit des Aristoteles auf Grund dieser nämlichen Prinzipien unter Billigung der Zensoren geschrieben haben. Auch sind die Bücher Collins' in Latein und La Mothe le Vayers im Französischen über die Seligkeit der Heiden sehr bekannt. Ein gewisser Fr. Puccius aber ging zu weit La Mothe le Vayers Schrift »De la vertu des paiens« ist zuerst in Paris 1642 erschienen. Puccius hat in der Schrift »de efficacitate Christi servatoris in omnibus et singulis hominibus quatenus homines sunt« die Meinung aufgestellt, daß alle Menschen durch die natürliche Kraft der Vernunft oder durch den natürlichen Glauben an den Weltschöpfer selig werden könnten. Claude Pajon war Geistlicher in Orleans (Sch.).. Der h. Augustin, so gescheit und scharfsinnig er gewesen ist, ist in ein anderes Extrem verfallen, so daß er sogar die ohne Taufe gestorbenen Kinder verdammt, und die Scholastiker scheinen recht gehabt zu haben, ihm hierin nicht zu folgen; wenngleich manche sonst gescheite Männer, darunter solche von großem Verdienst, aber in dieser Hinsicht von etwas misanthropischer Gemütsart, die Lehre jenes Kirchenvaters wieder aufbringen wollten und sie vielleicht noch übertrieben haben Eine Anspielung, die sich auf die Theologen von Port Royal, insbesondere auf Pascal zu beziehen scheint.. Dieser Geist scheint auch einigen Einfluß in den Streitigkeiten zwischen manchen allzu leidenschaftlichen Lehrern und den Jesuiten, die als Missionare in China tätig waren, gehabt zu haben, welche angedeutet hatten, daß die alten Chinesen die wahre Religion ihrer Zeit und wahre Heilige gehabt hätten, und daß die Lehre des Konfuzius nichts Abgöttisches oder Atheistisches enthalte. Es scheint aber, daß man in Rom richtiger daran getan hat, eine der größten Nationen nicht verdammen zu wollen, ohne sie gehört zu haben. Wohl uns, daß Gott mehr Menschenliebe besitzt als die Menschen. Ich kenne Leute, die sich in der Meinung, ihren Eifer durch harte Ansichten beweisen zu müssen, einbilden, man könne nicht an die Erbsünde glauben, ohne in diesem Punkte ihrer Ansicht zu sein; aber darin irren sie sich. Auch folgt nicht, daß diejenigen, welche die Heiden oder andere, die der gewöhnlichen Heilsmittel entbehren, retten wollen, dies den bloßen Kräften der Natur zuschreiben müssen (obwohl vielleicht einige Kirchenväter dieser Ansicht gewesen sind), denn man kann sagen, daß Gott, wenn er kraft seiner Gnade in ihnen einen Akt der Zerknirschung hervorbringt, in ihnen auch stets, sei es tatsächlich, sei es der Anlage nach, immer aber auf übernatürliche Weise, vor dem Tode, wenn es auch nur in den letzten Augenblicken wäre, das ganze Licht des Glaubens und die ganze Glut der Liebe, welche ihnen zur Seligkeit nötig ist, entzündet. So erklären auch die Reformierten bei Vedelius die Ansicht Zwinglis, der sich über diesen Punkt der Seligkeit tugendhafter Heiden ebenfalls so entschieden ausgesprochen hat, als die Lehrer der römischen Kirche es nur immer tun konnten. Auch hat diese Lehre um deswillen nichts mit der speziellen Lehre der Pelagianer oder Semipelagianer gemein, von der, wie man weiß, Zwingli weit entfernt war Über die Lehre der Pelagianer und Semi-Pelagianer vgl. Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte 3 III, 175ff., 225ff.. Und da man, im Gegensatz zu den Pelagianern, eine übernatürliche Gnade, bei allen denen, welche den Glauben haben, lehrt (worin die drei anerkannten Religionen übereinstimmen, ausgenommen vielleicht die Schüler Pajons), ja da man sogar den Kindern, die die Taufe empfangen, den Glauben oder wenigstens Regungen, die ihm ähnlich sind, zuspricht, so ist es nicht sehr außerordentlich, ihn – wenigstens in der Todesstunde – Leuten von gutem Willen zuzugestehen, die nicht das Glück gehabt haben, auf die gewöhnliche Weise im Christentum unterrichtet zu werden. Das Vernünftigste aber ist, über so wenig bekannte Punkte nichts bestimmen zu wollen und sich im allgemeinen mit dem Urteil zu begnügen, daß Gott nichts tun könne, was nicht voller Güte und Gerechtigkeit ist: melius est dubitare de occultis, quam litigare de incertis. (Augustin L. 8. Gen. ad litt. c. 5.)