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Kapitel XVI.
Von den Graden der Zustimmung.

§ 1. Philal. Was die Grade der Zustimmung betrifft, so muß man sich hüten, daß die Gründe, die wir für irgendeine Wahrscheinlichkeit haben, keine stärkere Wirkung ausüben, als sie dem Grade des Anscheins, den man in ihnen findet oder bei früherer Prüfung gefunden hat, entsprechen. Denn man muß zugeben, daß die Zustimmung nicht immer auf einer wirklichen Einsicht in die Gründe, die den Geist bestimmt haben, beruhen kann und selbst denen, welche ein bewundernswürdiges Gedächtnis haben, würde es sehr schwer sein, immer alle die Beweise zu behalten, welche sie zu einer gewissen Ansicht bestimmt haben, und die bisweilen, wenn es sich um eine einzige Frage handelt, einen ganzen Band füllen könnten. Es genügt, die Sache einmal mit Ehrlichkeit und Sorgfalt durchdacht und sozusagen die Summe gezogen zu haben. § 2. Sonst müßte man sehr skeptisch sein oder in jedem Augenblick seine Ansicht ändern, um jedem, der die Frage vor kurzem geprüft hat und der uns neue Gründe vorlegt, auf die wir aus Mangel an Gedächtnis oder an Muße nicht sogleich vollständig antworten können, gewonnenes Spiel zu geben. § 3. Freilich macht dies, wie man zugeben muß, die Menschen oft hartnäckig im Irren; der Fehler ist aber nicht, daß sie sich auf ihr Gedächtnis verlassen, sondern daß sie früher falsch geurteilt haben. Denn oft tritt bei den Menschen an die Stelle der Prüfung und der Vernunft die Bemerkung, daß sie niemals anders gedacht haben. Gewöhnlich aber sind diejenigen, welche ihre Meinungen am wenigsten geprüft haben, denselben am meisten zugetan. Indessen ist es zwar löblich, sich an das zu halten, was man gesehen, aber nicht stets an das, was man geglaubt hat, weil man irgendeine Erwägung ausgelassen haben kann, die alles umzustoßen imstande ist. Und es gibt vielleicht niemand in der Welt, welcher die Muße, die Geduld und die Mittel besäße, alle Beweise und Gegenbeweise betreffs der Fragen, in denen er seine Meinungen hat, zu sammeln, um diese Beweise miteinander zu vergleichen und daraufhin mit Sicherheit zu schließen, daß ihm für eine weitere Kenntnisnahme nichts mehr zu wissen übrig bleibt. Die Sorge für unseren Lebensunterhalt und unsere wichtigsten Interessen leidet indessen keinen Aufschub, und es ist durchaus notwendig, daß unser Urteil sich auch über solche Dinge entscheide, in denen wir zu einer sicheren Erkenntnis zu gelangen unfähig sind.

Theoph. Alles, was Sie eben sagten, ist durchaus richtig und stichhaltig. Indessen wäre es zu wünschen, daß die Menschen in manchen Fällen von den Gründen, die sie zu irgendeiner wichtigen Entscheidung bestimmt haben, einen kurzen schriftlichen Entwurf (in der Form einer Denkschrift) besäßen, da sie in der Folge noch oft genötigt sein können, diese Gründe vor sich selbst oder vor anderen zu rechtfertigen. Obgleich es übrigens in Rechtsangelegenheiten gewöhnlich nicht erlaubt ist, frühere Urteile umzustoßen und Rechnungen, nachdem sie einmal abgeschlossen sind, zu revidieren (sonst müßte man immerfort in Unruhe sein, was um so unerträglicher sein würde, als man die Notizen aus der Vergangenheit nicht für immer bewahren kann), so ist es nichtsdestoweniger in manchen Fällen zulässig, daß man sich, auf neue Entdeckungen hin, Gerechtigkeit verschaffe, ja sogar das erlange, was man die restitutio in integrum, gegenüber einer früher ergangenen Entscheidung, nennt. Das gleiche gilt von unsern eigenen Angelegenheiten, besonders bei sehr wichtigen Gegenständen, bei denen es uns noch frei steht, uns zu binden oder uns zurückzuziehen, und bei denen es unschädlich ist, die Ausführung aufzuschieben oder sie nur langsam zu fördern: denn auch in diesem Falle dürfen die Urteilssprüche unseres Innern, die sich auf Wahrscheinlichkeiten stützen, niemals derart als res judicata, wie die Juristen sagen, d. h. als ein für allemal feststehend gelten, daß man nicht zur Revision der gesamten Schlußfolge geneigt wäre, wenn sich hierfür neue gewichtige Gründe darbieten. Ist aber keine Zeit mehr, zu überlegen, so muß man dem einmal gefällten Urteil mit so viel Festigkeit, wenn auch nicht stets mit derselben Strenge folgen, als wenn es unfehlbar wäre.

§ 4. Philal. Da die Menschen also nicht vermeiden können, sich in ihrem Urteil dem Irrtum auszusetzen und da sie, sofern sie die Sachen nicht von der gleichen Seite betrachten können, zu verschiedenen Ansichten kommen müssen, so müssen sie bei dieser Verschiedenheit ihrer Meinungen untereinander Frieden halten und die Pflichten der Humanität achten, ohne den Anspruch zu erheben, daß der eine auf die Einwendungen des andern hin eine festgewurzelte Meinung sogleich ändern solle, besonders wenn er Grund zu der Annahme hat, daß sein Gegner aus Interesse oder Ehrgeiz oder aus irgendeinem anderen eigennützigen Motiv handelt. In der Tat haben diejenigen, die den anderen durchaus die Notwendigkeit aufdrängen wollen, sich ihren Ansichten zu fügen, häufig die Dinge nicht gründlich genug geprüft. Denn die, welche in der Untersuchung weit genug fortgeschritten sind, um des Zweifels überhoben zu sein, sind in so geringer Zahl und finden so wenig Veranlassung, andere zu verdammen, daß man sich von ihrer Seite eines gewaltsamen Auftretens nicht zu versehen braucht.

Theoph. In der Tat ist das Tadelnswerteste an den Menschen nicht ihre Meinung, sondern die Verwegenheit, mit der sie in ihrem Urteil die Meinungen der anderen tadeln; als müßte man einfältig oder schlecht sein, um anders wie sie zu urteilen. Der Grund hierfür liegt bei denen, die an dieser Leidenschaftlichkeit und Gehässigkeit schuld sind und sie im Publikum verbreiten, in einem hochfahrenden und unbilligen Gemüt, das zu herrschen wünscht und keinen Widerspruch ertragen kann. Nicht als ob nicht sehr oft wirklich Grund dafür bestände, die Meinungen anderer zu kritisieren, aber man muß dies im Geiste der Billigkeit und des Mitleids für die menschliche Schwäche tun. Man hat allerdings recht gegen schlimme Lehren, welche auf die Sitten und die Ausübung der Frömmigkeit Einfluß haben, Vorkehrungen zu treffen, aber ohne strenge Beweise hierfür zu haben, soll man sie anderen nicht zu ihrem Schaden zuschreiben. Wenn die Billigkeit verlangt, die Person zu schonen, so macht es die Frömmigkeit zur Pflicht, die schlimme Wirkung ihrer Dogmen, sofern sie schädlich sind, am gehörigen Orte darzutun: wie dies z. B. für diejenigen Dogmen gilt, die sich gegen die Vorsehung eines vollkommen weisen, guten und gerechten Gottes und gegen die Unsterblichkeit der Seele richten, vermöge deren sie für die Wirkungen seiner Gerechtigkeit empfänglich wird – ohne von anderen für die Moral und Politik gefährlichen Meinungen zu reden. Ich weiß, daß vortreffliche und wohlgesinnte Männer behaupten, diese theoretischen Meinungen hätten in der Praxis weniger Einfluß, als man denkt, und ich weiß auch, daß es Leute von trefflichem Naturell gibt, die durch ihre Meinungen niemals dahin kommen werden, etwas ihrer Unwürdiges zu tun, wie überhaupt diejenigen, die durch die Spekulation zu Irrtümern dieser Art geführt worden sind, gewöhnlich ihrem Naturell nach von den Lastern, für welche die große Masse der Menschen empfänglich ist, weiter entfernt sind, abgesehen davon, daß sie noch für die Würde der Sekte, als deren Häupter sie gelten, Sorge tragen müssen. So kann man in der Tat sagen, daß z. B. Epikur und Spinoza ein völlig mustergültiges Leben geführt haben. Aber diese Gründe hören bei ihren Schülern oder Nachahmern meistens auf, die nun, da sie sich von der unbequemen Furcht vor einer wachsamen Vorsehung und einer drohenden Zukunft befreit glauben, ihren tierischen Leidenschaften die Zügel schießen lassen und ihren Geist darauf richten, andere zu verführen und zu verderben. Sind sie außerdem ehrgeizig und von etwas gewalttätigem Naturell, so sind sie imstande, für ihr Vergnügen oder ihren Vorteil die Welt an allen vier Ecken anzuzünden, wie ich Leute dieses Schlages, die der Tod nunmehr hinweggerafft hat, gekannt habe. Ich finde sogar, daß Meinungen dieser Art, indem sie sich nach und nach in das Gemüt der Männer der vornehmen Welt einschleichen, welche den Ton für die anderen angeben, und von denen die Geschäfte abhangen, und indem sie in die gangbaren Schriften übergehen, alles zu der allgemeinen Revolution vorbereiten, mit der Europa bedroht ist, und daß sie schließlich alles zerstören müssen, was noch in der Welt von den edlen Gesinnungen der alten Griechen und Römer übrig ist, die die Liebe zum Vaterland und zur öffentlichen Wohlfahrt und die Sorge für die Nachwelt dem Glück und selbst dem Leben vorzogen. Jene public spirits, wie die Engländer sie nennen, nehmen außerordentlich ab und sind nicht mehr in der Mode; und sie werden noch mehr schwinden, wenn sie nicht mehr durch die richtige Sittenlehre und die wahre Religion, welche die natürliche Vernunft selbst uns lehrt, unterstützt sein werden. Die Besten unter den Anhängern der entgegengesetzten Denkart, die jetzt die herrschende zu werden beginnt, haben kein anderes Prinzip mehr als das, was sie Ehre nennen. Aber das Zeichen des ehrenhaften Mannes und des Mannes von Ehre besteht bei ihnen lediglich darin, keine Niederträchtigkeit, wie sie dieselbe verstehen, zu begehen. Wenn aber jemand um der Größe willen oder aus Eigensinn Ströme Blutes vergösse, wenn er alles kopfüber stürzte, so würde man all dies für nichts rechnen, und ein antiker Herostrat oder ein Don Juan im »Steinernen Gast« Ein Hinweis auf Molières' Don Juan ou Le Festin de Pierre (1665). würde als Held gelten. Man spottet ganz laut über die Liebe zum Vaterlande, man verlacht diejenigen, welche für das öffentliche Wohl sorgen, und wenn irgendein Wohlgesinnter davon spricht, was aus der Nachkommenschaft werden soll, so antwortet man: kommt Zeit, kommt Rat. Aber es könnte solchen Leuten begegnen, daß sie die Übel, welche sie anderen aufbehalten wähnen, an sich selbst erproben. Wenn man sich jetzt noch von dieser epidemischen Geisteskrankheit, deren schlimme Wirkungen sichtbar zu werden beginnen, heilte, so könnte jenen Übeln vielleicht noch vorgebeugt werden; wächst sie indessen immer mehr, so wird die Vorsehung die Menschen durch die Revolution selbst, die hieraus entspringen muß, heilen. Denn was auch geschehen möge, so wird, alles in allem genommen, sich alles schließlich zum besten wenden, wenngleich dies nicht ohne Bestrafung derer geschehen darf und kann, welche durch ihre schlimmen Handlungen selbst zum Guten beigetragen haben. Aber ich kehre von dieser Abschweifung zurück, zu der ich durch die Betrachtung der schädlichen Meinungen und des Rechtes, sie zu tadeln, hingeführt worden bin. Da nun in der Theologie die Zensur noch viel weiter geht als anderswo, und da die, welche auf ihre Rechtgläubigkeit pochen, oft die Gegner verdammen – wogegen sich in ihrer Partei selbst diejenigen sträuben, welche von ihren Gegnern Synkretisten genannt werden –, so hat diese Meinung Bürgerkriege zwischen den Strenggläubigen und den Nachgiebigen in einer und derselben Partei erregt. Da es indessen ein Eingriff in die Rechte Gottes ist, denen, die anderer Meinung sind, die ewige Seligkeit abzusprechen, so wollen die Vernünftigsten unter den Verdammern dies nur von der Gefahr verstanden wissen, in der sie die irrenden Seelen zu sehen glauben, und überlassen der besonderen Gnade Gottes diejenigen, deren Bosheit sie nicht unfähig macht, jene Gnade zu empfangen, während sie sich ihrerseits für verpflichtet halten, alle erdenkbaren Anstrengungen zu machen, um sie einem so gefährlichen Zustand zu entreißen. Wenn diese Leute, die andere in derartiger Gefahr glauben, zu dieser Ansicht nach einer angemessenen Prüfung gekommen sind, und wenn es kein Mittel gibt, sie eines anderen zu belehren, so kann man ihr Verfahren nicht tadeln, solange sie keine anderen, als sanfte Mittel anwenden. Aber sobald sie weiter gehen, so heißt das die Gesetze der Billigkeit verletzen. Denn sie müssen bedenken, daß andere, ebenso überzeugt wie sie, gerade soviel Recht haben, ihre Ansichten aufrechtzuerhalten, ja selbst sie zu verbreiten, wenn sie dieselben für wichtig halten. Ausnehmen muß man hiervon solche Ansichten, welche Verbrechen lehren; diese darf man nicht dulden, und man hat das Recht, sie mit aller Strenge zu unterdrücken, selbst wenn derjenige, der sie vertritt, sich ihrer nicht entschlagen kann, wie man das Recht hat, ein giftiges Tier zu vertilgen, mag es auch ganz unschuldig sein. Ich spreche aber vom Vertilgen der Sekte, nicht der Menschen, denn diese letzteren kann man daran hindern, schädliche Dogmen zu verbreiten.

§ 5. Philal. Um auf die Grundlage und die Grade der Zustimmung zurückzukommen, so ist es am Platze, zu bemerken, daß es Sätze von zwei Arten gibt: die einen betreffen Tatsachen, und können, da sie von der Beobachtung abhangen, auf ein menschliches Zeugnis gegründet werden, die anderen sind spekulativ und sind, da sie Dinge angehen, die unsere Sinne uns nicht zu entdecken vermögen, eines derartigen Zeugnisses nicht fähig. § 6. Wenn eine einzelne Tatsache unseren konstanten Beobachtungen und den einstimmigen Berichten anderer gemäß ist, so verlassen wir uns so fest auf sie, als ob es eine sichere Erkenntnis wäre, und wenn sie dem Zeugnis aller Menschen in allen Jahrhunderten, soweit es zu unserer Kenntnis kommen kann, entspricht, so ist dies der erste und höchste Grad der Wahrscheinlichkeit, z. B. daß das Feuer erwärmt, daß das Eisen im Wasser untersinkt. Unser Glaube erhebt sich, sofern er auf solchen Gründen beruht, bis zur Gewißheit. § 7. Zweitens, wenn alle Historiker erzählen, daß dieser oder jener seinen eigenen Vorteil dem öffentlichen vorgezogen hat, so ist, da man zu allen Zeiten beobachtet hat, daß dies die Gewohnheit der meisten Menschen ist, die Zustimmung, die ich derartigen Berichten gebe, ein Akt des Zutrauens. § 8. Drittens, wenn die Natur der Dinge nichts enthält, was für oder gegen ein bestimmtes Faktum spricht, so wird es, sofern es durch das Zeugnis unverdächtiger Leute bestätigt wird (z. B. daß Julius Caesar gelebt hat), mit einem festen Glauben aufgenommen. Wenn aber die Zeugnisse dem gewöhnlichen Naturlauf widerstreiten oder untereinander widersprechend sind, so können die Wahrscheinlichkeitsgrade sich bis ins Unendliche verschieden gestalten und daher stammen all jene Grade, welche wir Glauben, Vermutung, Zweifel, Ungewißheit, Mißtrauen nennen; und da ist denn strenge Prüfung nötig, um ein richtiges Urteil zu bilden und unsere Zustimmung gemäß den Graden der Wahrscheinlichkeit zu erteilen.

Theoph. Die Juristen haben bei ihrer Behandlung der Beweise, Präsumptionen, Konjekturen und Indizien viel Richtiges über diesen Gegenstand gesagt und manche bemerkenswerte Einzelheiten hierüber beigebracht. Sie beginnen mit dem Notorischen, für das kein Beweis erforderlich ist. Darauf kommen sie zu vollständigen Beweisen oder zu solchen, die dafür gelten und auf Grund deren man, wenigstens in Zivilsachen, Entscheidungen ergehen läßt, während man in Kriminalsachen in manchen Fällen zurückhaltender ist. Hier nämlich fordert man nicht mit Unrecht mehr als volle Beweise und namentlich das, was man je nach der Art des Tatbestandes das corpus delicti nennt. Es gibt also mehr als volle Beweise und auch volle Beweise im gewöhnlichen Sinne. Ferner gibt es Präsumptionen (Annahmen), die vorläufig, d. h. bis zum Beweise des Gegenteils als vollständige Beweise gelten. Sodann gibt es mehr als zur Hälfte vollständige Beweise, bei denen man dem, der sich auf sie stützt, zur Ergänzung den Eid erlaubt ( juramentum suppletorium); wieder andere, die weniger als zur Hälfte vollständig sind und bei denen man umgekehrt den, der die Tatsache leugnet, zum Reinigungseid zuläßt ( juramentum purgationis). Außerdem gibt es noch viele Grade von Konjekturen und Indizien. In Strafsachen insbesondere gibt es Indizien ad torturam, um zur peinlichen Frage zu schreiten (welche selbst wieder ihre durch die Urteilsformeln bezeichneten Grade hat); es gibt Indizien ad terrendum, die dazu hinreichen, den Angeschuldigten die Marterinstrumente sehen zu lassen und alle Vorkehrungen zu treffen, als ob man zur Tortur schreiten wollte. Es gibt deren ad capturam, um sich eines Verdächtigen zu versichern, und ad inquirendum, um sich unter der Hand und ohne Aufsehen zu unterrichten. Diese Unterschiede können auch bei anderen entsprechenden Fällen brauchbar sein, und das ganze Prozeßverfahren in der Justiz ist in der Tat nichts anderes als eine Art Logik, die auf Rechtsfragen angewandt wird. Auch die Ärzte haben eine Menge Grade und Unterschiede ihrer Symptome und Indikationen, welche man in ihren Büchern nachsehen kann. Die Mathematiker unserer Zeit haben anläßlich der Spiele begonnen, die Glückschancen abzuschätzen. Der Ritter de Meré, dessen » Belustigungen« und andere Werke gedruckt sind, ein Mann von durchdringendem Geist, der ein Spieler und ein Philosoph war, gab dazu Veranlassung, indem er Fragen über die Partien aufstellte, um zu wissen, wieviel das Spiel, wenn es in diesem oder jenem Punkte unterbrochen würde, wert sei. Er veranlaßte dadurch seinen Freund Pascal, diese Dinge ein wenig zu untersuchen. Die Frage machte Aufsehen und gab Huygens Gelegenheit, seinen Traktat de Alea (über das Würfelspiel) abzufassen. Andere Gelehrte nahmen gleichfalls teil. Man stellte einige Prinzipien fest, deren sich auch der Ratspensionär de Wit in einer kleinen, holländisch geschriebenen Abhandlung über die lebenslänglichen Renten bediente Über den Chevalier de Mere, dessen »Agréments« 1693 in Amsterdam erschienen sind, siehe Band II, S. 403 f., Huyghens' Schrift »De ratiociniis in aleae ludo« ist in Franc. von Schootens Exercitationes mathematicae (Leyden 1657) abgedruckt. Jan de Wits Werk über die Leibrenten: Waerdye van lyfrenten nar proportie van los-renten ist 1671 (nur in 30 Exemplaren) gedruckt worden, ein Neudruck erschien 1829.. Der Grund, auf den man sich hierbei gestützt hat, kommt auf die Prosthaphaeresis, d. h. darauf zurück, daß man zwischen mehreren gleich annehmbaren Voraussetzungen ein arithmetisches Mittel nimmt: ein Verfahren, dessen sich unsere Bauern gemäß ihrer natürlichen Mathematik schon lange bedient haben. Wenn z. B. eine Erbschaft oder ein Landgut verkauft werden soll, bilden sie drei Gruppen von Taxatoren; diese Gruppen werden im Niedersächsischen Schurzen genannt, und jede davon macht eine Abschätzung des fraglichen Gutes. Setzen wir, daß die eine es zu dem Werte von 1000 Tlr., die andere zu 1400 Tlr., die dritte zu 1500 Tlr. schätzt, so bildet man die Summe dieser drei Schätzungen mit 3900 und nimmt davon, da es drei Gruppen gewesen sind, den dritten Teil, der 1300 beträgt, als den gesuchten Mittelwert an, oder, man nimmt, was auf dasselbe hinausläuft, die Summe der dritten Teile jeder einzelnen Schätzung. Dies ist das Axiom aequalibus aequalia – Annahmen, die gleich möglich sind, muß man gleichmäßig in Betracht ziehen. Sind die Fälle indes nicht gleich, so stellt man das Verhältnis zwischen ihnen fest. Wenn z. B. bei zwei Würfeln der eine Spieler gewinnen soll, wenn er 7 Punkte, der andere, wenn er 9 Punkte hat, so fragt sich: welches Verhältnis findet zwischen ihren Wahrscheinlichkeiten zu gewinnen statt? Ich antworte, daß die Wahrscheinlichkeit für den letzteren nur zwei Drittel der Wahrscheinlichkeit für den ersteren beträgt, denn der erste kann mit zwei Würfeln die 7 auf drei Arten erreichen (nämlich mit 1 und 6 oder 2 und 5 oder 3 und 4), während der andere die 9 nur auf zwei Arten erreichen kann, indem er entweder 3 und 6 oder 4 und 5 wirft. Da nun alle diese Würfe gleich möglich sind, so werden sich die Wahrscheinlichkeiten, die wie die Zahlen der gleichen Möglichkeiten sind, wie 3 zu 2, oder wie 1 zu ? verhalten. Ich habe mehr als einmal gesagt, daß eine neue Art Logik nötig wäre, die die Wahrscheinlichkeitsgrade behandeln müßte, da Aristoteles in seiner Topik nichts weniger als dies geleistet, sondern sich vielmehr damit begnügt hat, gewisse leichtfaßliche, nach den Gemeinplätzen eingeteilte Regeln in bestimmter Ordnung aufzustellen, die gelegentlich von Nutzen sein können, wenn es sich darum handelt, den Vortrag zu bereichern und ihm einen größeren Schein der Wahrheit zu geben – ohne sich darum zu bemühen, uns eine Wage in die Hand zu geben, die notwendig ist, um die Wahrscheinlichkeiten abzuwägen und auf Grund hiervon ein gesichertes Urteil zu fällen. Gut wäre es, wenn derjenige, welcher diesen Gegenstand behandeln wollte, die Prüfung der Glücksspiele weiter fortsetzte, wie ich denn überhaupt wünschen möchte, daß ein geschickter Mathematiker ein großes Werk, mit genauer Detaillierung und strenger Begründung für alle Arten von Spielen abfassen wollte. Dies würde von großem Nutzen sein, um die Erfindungskunst zu vervollkommnen, denn der menschliche Geist tritt in den Spielen besser, als bei den ernstesten Angelegenheiten, zutage Vgl. hierzu bes. Leibniz' Brief an Remond de Montmort vom 17. Januar 1716 (Gerh. III, 668 f.), sowie mehrere Ansätze zu einer Theorie der Spiele in den Opuscules et fragments inédits (éd. Couturat) S. 568 ff..

§ 10. Philal. Das Gesetz Englands beobachtet die Regel, daß die Abschrift eines Aktenstückes, wenn sie von Zeugen als authentisch anerkannt wird, ein guter Beweis ist, daß aber die Abschrift einer Abschrift, möge sie auch noch so sehr durch die glaubwürdigsten Zeugen beglaubigt sein, vor Gericht niemals als Beweismittel zugelassen wird. Ich habe noch niemand diese weise Vorsicht tadeln hören. Wenigstens kann man die Bemerkung daraus ziehen, daß ein Zeugnis in dem Maße weniger Kraft hat, als es sich von der ursprünglichen Wahrheit, die in der Sache selbst besteht, entfernt. Bei manchen Leuten freilich findet man ein schnurstracks entgegengesetztes Verfahren angewendet: die Meinungen erhalten Kraft, indem sie altern, und was vor tausend Jahren einem vernünftigen Manne und einem Zeitgenossen dessen, der es zuerst bezeugt hat, nicht wahrscheinlich vorgekommen wäre, gilt gegenwärtig für gewiß, weil es viele auf jenes Zeugnis hin nacherzählt haben.

Theoph. Die Kritiker im historischen Fach legen großes Gewicht auf die zeitgenössischen Zeugen der Begebenheiten, indessen verdient selbst ein Zeitgenosse im wesentlichen nur hinsichtlich der öffentlichen Angelegenheiten Glauben; spricht er aber von Beweggründen, von Geheimnissen, von verborgenen Triebfedern und strittigen Dingen, wie z. B. von Vergiftungen, Mordtaten, so erfährt man wenigstens, was viele geglaubt haben. Procop ist sehr glaubwürdig, wenn er vom Krieg des Belisar gegen die Vandalen und Goten spricht; wenn er aber in seinen Anecdota die ärgsten Lästerungen gegen die Kaiserin Theodora auftischt, so mag sie glauben, wer will. Im allgemeinen muß man sehr zurückhaltend darin sein, den Satiren zu glauben; wir kennen deren, welche man zu unserer Zeit veröffentlicht hat, und die, wenngleich aller Wahrscheinlichkeit entgegen, dennoch von den Unwissenden gierig verschlungen worden sind. Vielleicht wird man noch einmal sagen: Ist's möglich, daß man solche Dinge zu jener Zeit zu veröffentlichen gewagt hätte, wenn nicht irgendein Wahrscheinlichkeitsgrund dafür war? Aber wenn man eines Tages so spricht, so wird man sehr falsch urteilen. Die Welt ist indes geneigt, sich der Satire hinzugeben. Um nur ein Beispiel hierfür anzuführen, so hat der verstorbene Mr. du Maurier Sohn in seinen vor einigen Jahren gedruckten Memoiren auf Grund irgendeines verschrobenen Urteils gegen den unvergleichlichen Hugo Grotius, schwedischen Gesandten in Frankreich, manche völlig ungegründete Dinge vorgebracht, da er allem Anschein nach durch irgend etwas gegen das Andenken dieses berühmten Freundes seines Vaters aufgebracht war: Behauptungen, die dann von einer Menge von Autoren nach Herzenslust wiederholt worden sind, obwohl die Verhandlungen und Briefe des großen Mannes hinlänglich das Gegenteil zeigen. Man geht sogar so weit, in der Geschichte Romane zu schreiben, und der Verfasser der neuesten Lebensbeschreibung Cromwells hat sich zur Ausschmückung des Stoffes für berechtigt gehalten, bei der Schilderung des Privatlebens dieses schlauen Usurpators, ihn nach Frankreich reisen zu lassen, wohin er ihm in die Wirtshäuser von Paris folgt, als ob er sein Reisemarschall gewesen wäre. Aus der Geschichte Cromwells, die von Carrington, einem unterrichteten Manne, verfaßt und Cromwells Sohn Richard, als dieser noch den Protektor spielte, gewidmet ist, geht jedoch hervor, daß Cromwell die britischen Inseln niemals verlassen hat Carrington, O. Cromwells life and death, zuerst 1659 erschienen.. Am wenigsten zuverlässig sind die Einzelheiten. Man hat fast gar keine guten Beschreibungen von Schlachten; die meisten, die Titus Livius, so wie die, die Quintus Curtius gibt, scheinen aus der Phantasie geschöpft zu sein. Man müßte die Berichte genauer und fähiger Männer von beiden Parteien haben, die sogar Pläne von der Schlacht entwerfen müßten – gleich denen, die der Graf Dahlberg, der schon mit Auszeichnung unter König Karl Gustav von Schweden gedient hatte und der als Generalgouverneur von Livland Riga vor kurzem verteidigt hat, über die Kriegstaten und Schlachten dieses Fürsten stechen ließ. Man muß indessen einen guten Geschichtschreiber auf das Wort irgendeines Fürsten oder Ministers hin, der bei irgendeiner Gelegenheit gegen ihn auftritt – sei es wegen irgendeines Punktes, der nicht nach seinem Sinne ist, sei es wegen eines solchen, bei dem vielleicht wirklich ein Fehler vorliegt –, nicht sogleich verschreien. Man erzählt, daß Karl der Fünfte, wenn er sich etwas aus Sleidan Johannes Sleidanus (1506-1556); De statu religionis et reipublicae Carolo V Caesare commentarii, Straßburg 1555. vorlesen lassen wollte, sagte: Bringt mir meinen Lügner, und daß Carlowiz, ein in jener Zeit wohl bewanderter sächsischer Edelmann, zu sagen pflegte, die Geschichte Sleidans zerstöre bei ihm all die gute Meinung, die er von den alten Geschichten gehabt habe. Dergleichen, sage ich, darf bei wohlunterrichteten Personen nicht ins Gewicht fallen, um das Ansehen der Sleidanschen Geschichte umzustürzen, deren bester Teil sich aus den öffentlichen Akten der Reichstage und Versammlungen und aus von Fürsten beglaubigten Staatsschriften zusammensetzt. Und wenn hieran noch der geringste Zweifel bleiben sollte, so ist er gerade jetzt durch die ausgezeichnete Geschichte meines berühmten Freundes, des verstorbenen Herrn von Seckendorf, gehoben worden – einem Werke, bei dem ich jedoch nicht umhin kann, den Ausdruck »Luthertum« auf dem Titel zu mißbilligen, der sich infolge einer schlechten Gewohnheit in Sachsen eingebürgert hat Veit Ludwig von Seckendorff; De Lutheranismo Commentarius, Leipzig 1688.. Hier werden die meisten Berichte Sleidans durch zahllose Beweisstücke aus den sächsischen Archiven, die Seckendorf zu seiner Verfügung hatte, bestätigt – wenngleich Mr. de Meaux, der hierbei angegriffen wird, und dem ich das Buch schickte, mir nur antwortete, das Buch sei von einer fürchterlichen Weitschweifigkeit. Ich jedoch wünschte, daß es in derselben Art zweimal größer wäre; denn je weitläufiger es wäre, um so mehr Handhaben böte es, da man die Stellen nur zu wählen brauchte, abgesehen davon, daß es geschätzte historische Werke, die viel größer sind, gibt. Übrigens schätze man auch die Schriftsteller, die später sind als die Zeit, von der sie sprechen, nicht gering, wenn nur, was sie erzählen, auch sonst bestätigt wird. Mitunter kommt es auch vor, daß sie Stücke älterer Berichterstatter aufbewahren. Man war z. B. in Ungewißheit, aus welcher Familie Suibert, Bischof von Bamberg, nachher Papst unter dem Namen Clemens II., stammte. Ein anonymer braunschweigischer Geschichtschreiber, der im 14. Jahrhundert gelebt hat, hatte seine Familie genannt, aber Gelehrte, die in unserer Geschichte bewandert sind, haben auf diese Angabe nichts geben wollen: ich habe aber eine viel ältere noch ungedruckte Chronik vor mir gehabt, in der sich dieselbe Angabe mit genaueren Einzelheiten findet und aus der hervorgeht, daß er von der Familie der alten Feudalherren von Hornburg (in der Nähe von Wolfenbüttel) stammte, deren Land durch den letzten Besitzer dem Halberstädter Dom geschenkt wurde.

§ 11. Philal. Auch ich möchte nicht den Glauben erwecken, daß ich das Ansehen und den Nutzen der Geschichte durch meine Bemerkung habe herabsetzen wollen. Denn sie ist die Quelle, aus der wir mit überzeugender Klarheit einen großen Teil unserer nützlichen Wahrheiten erhalten. Ich kenne nichts Schätzenswerteres, als die Denkwürdigkeiten, die uns aus dem Altertum überliefert sind, und wollte, daß wir sie in noch größerer Zahl und weniger verfälscht besäßen. Aber es bleibt immer wahr, daß keine Abschrift sich über die Gewißheit der ersten Urschrift erhebt.

Theoph. Wenn man als Gewährsmann einer Tatsache nur einen einzigen alten Schriftsteller hat, so geben die, die ihn ausgeschrieben haben, ihm kein neues Gewicht oder müssen vielmehr für nichts gerechnet werden. Es steht dann ganz ebenso, als gehörte das, was sie sagen, zu den ἅπαξ λεγόμενα d. h. zu dem, was nur einmal gesagt worden ist, – worüber Menage ein Buch verfassen wollte Über Menage s. Anm. 41 (Buch III).. Noch heute würde, wenn z. B. hunderttausend kleine Schriftsteller die Schmähreden Bolsecs wiederholen wollten, ein vernünftiger Mensch sich ebensowenig daran kehren als an das Geschrei der Sperlinge » Bolsec (Jérôme) serait un homme tout à fait plongé dans les ténèbres de l'oubli, s'il ne s'était rendu fameux par certains ouvrages satiriques, que les moines et les missionnaires citent encore quoiqu'il faille avouer qu'ils en parlent moins souvent que l'on n'en parlait sur la fin du XVIe siècle et au commencement du XVIIe« ( Bayle im Diction. histor. et critique). Als Werke Bolsecs sind dort die »Historie de la Vie, Moeurs, Actes, Doctrine, Constance et Mort de Jean Calvin, jadis ministre de Génève« (Lyon 1577) und die »Historie de la Vie, Moeurs, Doctrine et Déportements de Théodore de Bèze, dit le Spectable, grand ministre de Génève« genannt.. Juristen haben de fide historica (über die historische Glaubwürdigkeit) geschrieben, aber dieser Gegenstand verdiente eine tiefer eingehende Untersuchung, und einige von jenen Schriftstellern sind zu nachsichtig gewesen. Was das hohe Altertum betrifft, so sind hier manche der hervorstechendsten Tatsachen zweifelhaft. Gescheite Leute haben mit Grund gezweifelt, ob Romulus der erste Gründer der Stadt Rom gewesen ist. Man streitet über den Tod des Cyrus, und außerdem hat der Widerspruch zwischen Herodot und Ktesias Ungewißheit über die Geschichte der Assyrier, Babylonier und Perser verbreitet. Die Geschichte von Nebukadnezar, von Judith, ja auch die von Ahasveros aus dem Buch Esther leidet an großen Schwierigkeiten. Die Römer widersprechen mit ihrer Erzählung vom Gold von Toulouse dem, was sie über die Niederlage der Gallier durch Camillus erzählen. Vor allem verdient die eigene und private Geschichte der Völker keinen Glauben, wenn sie nicht sehr alten Quellenschriften entnommen ist und wenn sie mit der allgemeinen politischen Geschichte nicht in genügender Übereinstimmung steht. Darum gilt alles, was man uns von den alten deutschen, gallischen, britischen, schottischen, polnischen und anderen Königen erzählt, mit Recht für bloße Fabel und willkürliche Erfindung. Jener Trebeta, Ninus' Sohn, Gründer von Trier, jener Brutus, der Stammvater der Britonen oder Briten, sind genau ebenso wahrhaft als die Amadis. Die Geschichten, welche Trithemius, Aretin und selbst Albin und Sifrid Petri über die alten Fürsten der Franken, Bojer, Sachsen, Friesen irgendwelchen Märchenerzählern entnommen und die sie uns aufzutischen sich erlaubt haben, nebst dem was Saxo Grammaticus und die Edda uns von den fernsten nordischen Altertümern erzählen, kann nicht mehr Gewicht haben, als was Kadlubko, der erste polnische Geschichtschreiber, von einem ihrer Könige erzählt, welcher Eidam des Julius Cäsar gewesen sein soll. Wenn aber die Erzählungen verschiedener Völker sich in Fällen begegnen, bei denen es keinen Anschein hat, daß der eine den anderen abgeschrieben habe, so liegt hierin ein bedeutsames Anzeichen für die Wahrheit. Solcher Art ist in vielen Fällen die Übereinstimmung des Herodot mit der Geschichte des Alten Testaments, wenn er z. B. von der Schlacht von Megiddo zwischen dem Könige von Ägypten und den Syriern Palästinas, d. h. den Juden spricht, in der nach dem Bericht der Heiligen Schrift, die wir von den Hebräern haben, der König Josias tödlich verwundet wurde. Auch die Übereinstimmung der arabischen, persischen, türkischen Historiker mit den griechischen, römischen und anderen abendländischen Schriftstellern ist denen, welche den Tatsachen nachforschen, sehr willkommen, ebenso wie das Zeugnis, das Münzen und Inschriften, die sich aus dem Altertum erhalten haben, den Werken der Alten, die bis auf uns gekommen sind und die im Grunde Abschriften von Abschriften sind, ausstellen. Was die Geschichte von China uns noch lehren wird, und wie weit sie Glaubwürdigkeit mit sich führen wird, bleibt abzuwarten, bis wir besser imstande sein werden, darüber zu urteilen.

Der Nutzen der Geschichte besteht hauptsächlich in dem Genuß, den Ursprung der Völker zu erkennen, in der Gerechtigkeit, die man denen, die sich um die anderen wohl verdient gemacht haben, widerfahren läßt, in der Begründung einer historischen Kritik und vor allem der heiligen Geschichte, welche das Fundament der Offenbarung bildet, und endlich (wenn wir die Genealogien und die Rechte der Fürsten und Mächte beiseite setzen) in den nützlichen Lehren, die die Beispiele uns liefern. Ich halte es nicht für überflüssig, die Altertümer bis auf die kleinsten Kleinigkeiten genau zu untersuchen, denn mitunter kann die Erkenntnis, die die Kritiker hieraus ziehen, zu den wichtigsten Dingen dienlich sein. Ich bin z. B. einverstanden damit, daß man selbst die gesamte Geschichte der Kleidungen und der Schneiderkunst, – von den Anzügen der hebräischen Hohenpriester oder, wenn man will, von den Pelzröcken an, die Gott den ersten Ehegatten bei ihrem Abschiede aus dem Paradiese gab, bis zu den Fontangen und Falbalas unserer Zeit –, schreibe und ihr alles hinzufüge, was man aus den alten Skulpturen und den Gemälden der letzten Jahrhunderte entnehmen kann. Auf Verlangen würde ich sogar hierfür die Memoiren eines Augsburgers aus dem letzten Jahrhundert liefern, der sich mit all den Kleidern, welche er seit seiner Kindheit bis zum dreiundsechzigsten Jahre getragen hat, abgemalt hat. Auch hat mir jemand erzählt, daß der verstorbene Herzog von Aumont, ein großer Kenner der schönen Altertümer, eine ähnliche Neugier besessen hat. Dies würde vielleicht dazu dienen, die wirklichen Altertümer von denen, die es nicht sind, zu unterscheiden, von manchem anderen Nutzen nicht zu reden. Und da es den Menschen erlaubt ist, zu spielen, so wird es ihnen auch erlaubt sein, sich mit dieser Art von Arbeiten, wenn die wesentlichen Pflichten nicht darunter leiden, zu unterhalten. Aber ich wünschte auch, daß es Leute gäbe, die sich besonders darauf legten, aus der Geschichte das Nützlichste, wie z. B. außerordentliche Beispiele von Tugend, Bemerkungen über die Bequemlichkeiten des Lebens, politische und Kriegslisten herauszuziehen. Auch möchte ich, daß man eigens eine Art von Universalgeschichte gründete, die nur solche Sachen und einige andere von besonderer Wichtigkeit anmerkte. Denn mitunter kann man ein umfangreiches Geschichtsbuch lesen, gelehrt, gut geschrieben, dem Zwecke des Verfassers selbst entsprechend und in seiner Art ausgezeichnet, das aber doch kaum irgendeine nützliche Unterweisung enthält. Ich verstehe darunter jedoch nicht bloße Moralsprüche, mit denen das Theatrum vitae humanae Diese große Realenzyklopädie Theod. Zwingers, welche von Lycosthenes begonnen worden war, erschien in Basel bei Euseb. Episcopius in 29 Teilen, die 4 oder 5 Bände auszumachen pflegen, zuerst 1586 und ist dann noch öfters gedruckt (Sch.). und andere solche Blumenlesen angefüllt sind, sondern Geschicklichkeiten und Kenntnisse, an welche im Notfall nicht jeder sogleich denken würde. Auch wünschte ich, daß man aus den Büchern der Reisenden möglichst viele Dinge dieser Art, aus denen man Nutzen ziehen könnte, nach der Ordnung der Gegenstände zusammenstellte. Aber erstaunlicherweise vergnügen sich die Menschen, während so viel Nützliches zu tun bleibt, fast immer nur mit dem, was schon getan ist, oder mit ganz Unnützem oder wenigstens mit dem minder Wichtigen; und dagegen sehe ich kein Mittel, bis nicht in ruhigeren Zeiten die Öffentlichkeit selbst sich mehr hiermit befaßt.

§ 12 Philal. Ihre Abschweifungen gewähren ebensoviel Vergnügen als Vorteil. Von den Wahrscheinlichkeiten der Tatsachen wollen wir aber zu denen der Meinungen über solche Dinge, die nicht in den Bereich der Sinne fallen, übergehen. Diese sind keines Zeugnisses fähig; so z. B. die Meinungen über das Dasein und Wesen der Geister, der Engel, der Dämonen usw., über die körperlichen Stoffe, welche auf den Planeten und anderen Wohnplätzen des großen Weltgebäudes vorkommen, endlich über die Wirkungsart der meisten Werke der Natur, und alles dessen, was wir nur mit Vermutungen erfassen können, wobei die Analogie die große Wahrscheinlichkeitsregel ist. Denn da derartiges nicht bezeugt werden kann, so kann es nur insofern wahrscheinlich sein, als es mit den feststehenden Wahrheiten mehr oder weniger übereinstimmt. Wenn die starke Reibung zweier Körper Wärme, ja selbst Feuer hervorbringt, wenn die Brechung an durchscheinenden Körpern Farben erscheinen läßt, so schließen wir, daß das Feuer in einer heftigen Bewegung unwahrnehmbarer Stoffteilchen bestehe, und daß die Farben, deren Ursprung wir nicht kennen, aus einer ähnlichen Brechung stammen. Und wenn wir finden, daß eine stufenweise Verknüpfung in allen Teilen der Schöpfung herrscht, die der menschlichen Beobachtung unterworfen werden können ohne irgendeine beträchtliche Lücke zwischen ihnen, so haben wir alle Ursache zu denken, daß die Dinge sich auch nach und nach und in unmerklichen Graden der Vollkommenheit annähern. Es ist schwer zu sagen, wo das Empfindende und Vernünftige beginnt, und welches die tiefste Stufe der lebenden Wesen ist. Es verhält sich hiermit, wie in einem regelmäßigen Kegel, bei welchem die Größe (von der Spitze bis zur Grundfläche) stetig zu- oder abnimmt. Es besteht zwischen manchen Menschen und manchen Tieren ein ungeheurer Unterschied, aber wenn wir den Verstand und die Fähigkeit mancher anderen Menschen und Tiere vergleichen wollten, würden wir darin so wenig Unterschied finden, daß es sehr schwer wäre, sich zu vergewissern, ob der Verstand dieser Menschen stärker oder umfassender sei als dieser oder jener Tiere. Da wir also eine solche unmerkliche Gradabstufung zwischen allen Teilen der Schöpfung vom Menschen bis zu den niedrigsten Teilen unter ihm bemerken, so betrachten wir es kraft der Regel der Analogie als wahrscheinlich, daß es eine ähnliche Gradabstufung in den Dingen gibt, die über uns und außerhalb des Gesichtskreises unserer Beobachtungen liegen; und diese Art von Wahrscheinlichkeit ist die große Grundlage vernunftgemäßer Hypothesen.

Theoph. Auf Grund dieser Analogie urteilt Huygens in seinem Cosmotheoros, daß der Zustand der anderen Hauptplaneten dem des unsrigen ganz ähnlich sei, abgesehen davon, daß der verschiedene Abstand von der Sonne eine gewisse Verschiedenheit verursachen muß Über Huyghens' Cosmotheoros s. Anm. 40 (Buch III).. Darüber hat Herr von Fontenelle, welcher schon früher seine geistvollen und gelehrten Unterhaltungen über die Mehrheit der Welten herausgegeben hatte S. Band II, S. 264., hübsche Dinge gesagt, indem er die Kunst erfand, einen schwierigen Gegenstand angenehm zu gestalten. Man möchte beinahe sagen, daß es dort, wie in Harlekins Mondkönigreich, ganz wie bei uns zugeht. Allerdings ist man betreffs der Monde, welche bloß Trabanten sind, ganz anderer Ansicht, als bezüglich der Hauptplaneten. Kepler hat ein kleines Buch hinterlassen, das eine sinnreiche Erdichtung über den Zustand des Mondes enthält Joh. Keppleri mathematici olim imperatorii Somnium seu opus posthumum de Astronomia Lunari divulgatum a M. Ludovico Kepplero filio … impressum partim Sagani Silesiorum, absolutum Francofurti, sumptibus heredum authoris. Anno 1634. (Opera ed. Frisch, VIII, 27 ff.), und ein Engländer von Geist hat die spaßhafte Beschreibung von einem Spanier (seiner Erfindung) gegeben, den die Zugvögel nach dem Monde entführten, Cyranos nicht zu erwähnen, der nachher auf die Suche nach diesem Spanier ging S. oben S. 228.. Manche geistreiche Leute, die vom anderen Leben ein schönes Bild entwerfen wollten, lassen die seligen Geister von Welt zu Welt wandern, und unsere Einbildungskraft findet hierin einen Teil des schönen Lebens, das man den Geistern zuschreiben kann. Aber welche Mühe sie sich auch geben mag, so zweifle ich doch, daß sie ihren Zweck erreichen kann, wegen des großen Abstandes zwischen uns und jenen Geistern und deren großer Mannigfaltigkeit. Und bis wir Brillen erfinden, wie Descartes sie uns in Aussicht stellte, um damit auf der Scheibe des Mondes Teile, nicht größer als unsere Häuser, zu unterscheiden, können wir nicht bestimmen, was eine von der unsrigen verschiedene Weltkugel enthält.

Nützlicher und wahrheitsgemäßer würden unsere Vermutungen über die inneren Teile irdischer Körper sein. Ich hoffe, man wird in vielen Fällen über die bloße Vermutung hinauskommen, und glaube schon jetzt, daß wenigstens die heftige Bewegung der Teile des Feuers, von der Sie soeben sprachen, nicht unter diejenigen Dinge gerechnet werden darf, die nur wahrscheinlich sind. Schade, daß die Hypothese Descartes' über die Struktur der Teile der sichtbaren Welt durch die Untersuchungen und Entdeckungen, die man seither gemacht hat, so wenig bestätigt worden ist, oder daß Descartes nicht 50 Jahre später gelebt hat, um uns auf Grund der jetzigen Kenntnisse eine ebenso geistvolle Hypothese zu geben, wie die es war, die er auf Grund der Kenntnisse seiner Zeit gab.

Was die gradweise Abstufung der Arten betrifft, so haben wir darüber schon in einer früheren Unterredung gesprochen, wobei ich bemerkte, daß manche Philosophen bereits Betrachtungen über die Lücken in den Formen oder Arten angestellt hatten. Alles geht in der Natur stufenweise und nichts sprungweise vor sich: eine Regel hinsichtlich der Veränderungen, die einen Teil meines Gesetzes der Kontinuität ausmacht. Die Schönheit der Natur aber, welche deutliche Wahrnehmungen will, fordert scheinbare Sprünge und sozusagen musikalische Intervalle in den Erscheinungen, und findet ihre Lust daran, die Arten zu mischen. So hat die Natur, wenngleich es in irgendeiner anderen Welt Arten geben mag, die zwischen Mensch und Tier (je nachdem man den Sinn dieser Worte nimmt) in der Mitte stehen, und wenngleich es wahrscheinlich irgendwo vernunftbegabte Wesen gibt, die über uns stehen, es dennoch für gut befunden, sie von uns fernzuhalten, um uns die unstreitige Überlegenheit zu geben, welche wir auf unserem Erdball haben. Ich rede von den Mittel arten und will mich hier nicht auf die menschlichen Individuen, die den Tieren nahestehen, einlassen, weil es sich bei diesen offenbar nicht um einen Mangel in der Fähigkeit selbst, sondern um ein Hemmnis ihrer Ausübung handelt: derart daß, meiner Ansicht nach, der einfältigste Mensch (der sich nicht durch Krankheit oder durch einen anderen, der Krankheit gleichen, dauernden Fehler in einem naturwidrigen Zustande befindet) unvergleichlich viel vernünftiger und gelehriger als das klügste aller Tiere ist, obwohl man mitunter, als ein Spiel des Witzes, das Gegenteil behauptet. Übrigens billige ich die Erforschung der Analogien sehr: das Studium der Pflanzen und der Insekten und die vergleichende Anatomie der Tiere werden uns deren mehr und mehr liefern, besonders wenn man in der Anwendung des Mikroskopes noch mehr als bisher fortschreiten wird. Und bei noch allgemeineren Fragen wird man finden, daß meine Ansichten über die allenthalben bestehenden Monaden, über ihre endlose Dauer, über die Erhaltung des Lebewesens sowohl wie der Seele, über die in einem gewissen Zustand, wie der Tod der einfachen Tiere ein solcher ist, kaum noch hervortretenden Perzeptionen, über den Körper, den man vernünftigerweise den Geistern zuschreiben muß, über die Harmonie zwischen Seelen und Körpern, der zufolge jedes seinen eigenen Gesetzen vollkommen folgt, ohne durch das andere gestört zu werden, und ohne daß zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Handlungen hierbei ein Unterschied zu machen wäre – man wird, sage ich, finden, daß alle diese Ansichten ganz und gar der Analogie mit all dem entsprechen, was uns bekannt ist, und daß ich sie nur über unsere Beobachtungen hinaus ausdehne, ohne sie auf bestimmte Teile des Stoffes oder auf bestimmte Arten der Tätigkeit zu beschränken, so daß also hier kein anderer Unterschied, als der des Größeren und Kleineren, des Merklichen und Unmerklichen obwaltet.

§ 13. Philal. Nichtsdestoweniger gibt es einen Fall, wo wir der Analogie mit den natürlichen Dingen, die wir durch Erfahrung kennen, weniger Glauben schenken, als dem entgegengesetzten Zeugnisse einer auffallenden Tatsache, die sich von ihnen entfernt. Denn wenn übernatürliche Ereignisse den Zwecken desjenigen, welcher die Macht hat, den Lauf der Natur zu ändern, entsprechen, so haben wir, wenn sie wohl bezeugt sind, keinen Grund, den Glauben an sie zu verweigern, und das ist der Fall bei den Wundern, welche nicht allein selbst Glauben finden, sondern ihn auch anderen Wahrheiten mitteilen, die einer solchen Bestätigung bedürfen. § 14. Endlich gibt es ein Zeugnis, welches über jede andere Bestätigung den Sieg davonträgt: das ist die Offenbarung, d. h. das Zeugnis Gottes, der weder täuschen noch getäuscht werden kann. Die Zustimmung, die wir ihr geben, heißt Glaube, und dieser schließt allen Zweifel ebenso vollständig aus, wie die gewisseste Erkenntnis. Aber die Hauptsache hierbei ist, daß man davon überzeugt ist, daß die Offenbarung göttlich ist, und daß man sicher ist, ihren wahren Sinn zu begreifen, sonst setzt man sich dem Fanatismus und den Irrtümern einer falschen Auslegung aus. Ist jedoch das Vorhandensein und der Sinn der Offenbarung nur wahrscheinlich, so kann die Beistimmung keine größere Wahrscheinlichkeit haben, als die Gründe, auf die jene Wahrscheinlichkeit sich stützt. Aber davon wollen wir noch weiter sprechen.

Theoph. Die Theologen unterscheiden unter den Motiven der Glaubhaftigkeit, wie sie sie nennen, die natürliche Zustimmung, die aus diesen Motiven hervorgeht und die nicht mehr Wahrscheinlichkeit haben kann, als sie selbst besitzen von der übernatürlichen Zustimmung, die eine Wirkung der göttlichen Gnade ist. Man hat eigene Bücher über die Analyse des Glaubens verfaßt, die nicht ganz miteinander übereinstimmen; aber da wir in der Folge davon reden werden, so will ich jetzt nicht vorwegnehmen, was wir an seinem Orte darüber zu sagen haben werden.


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