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Der Sommer neigte sich seinem Ende zu, die Tage fingen an, kürzer zu werden, es fiel Schnee, und ein beißend kalter Wind fegte über die Berge. Jeden Tag hatte die Diligence mehrere Extrawagen mit, um die Unmenge von Reisenden zu befördern, die in die wärmeren Gegenden eilten oder in ihre Heimat zurückkehrten. Da waren aber zwei, die nicht wußten, wohin sie reisen sollten, die mit Unruhe diese Auflösung um sich her mit ansahen, denn für sie bedeutete sie den Abschluß einer Periode vollkommenen Glücks, auf die keine Fortsetzung folgen konnte. Sie hatten es stets hinausgeschoben, einen Beschluß in Bezug auf die Zukunft zu fassen, und jetzt standen sie der Notwendigkeit gegenüber, eine Entscheidung zu treffen. Aber welche? Sie wagten es nicht, einander diese Frage zu stellen, sie sahen mit steigender Angst tagtäglich die Scharen der abreisenden Gäste, die ein Stück ihres Glücks nach dem andern mit sich fortnahmen.
»Schaue alle diese heiteren Bürger an, die jetzt in ihr Heim zurückkehren,« sagte Andrea. »Sie sind ausgewesen, um sich zu amüsieren, sie haben eine Zeitlang ihre Börsen weit geöffnet und Extravaganzen begangen, aber nun gilt es wieder zu sparen und zu arbeiten, nun tritt das Alltagsleben mit seinen Mühen und Sorgen wieder an sie heran – möchtest du wohl mit einem von ihnen tauschen?«
»Nein,« erwiderte sie zögernd.
»So ganz sicher scheinst du deiner Sache nicht zu sein. Wie aber kann ein Alltagsleben auf solche Ferientage wie die unsern folgen? Das ist unmöglich. Was meinst du, wenn wir eine Alpenwanderung machten, aber eine wirklich ernstliche und ohne Führer; wir verirren uns, das Dunkel und der Schneesturm überraschen uns, wir thun einen Fehltritt, das geschieht so leicht, um den Leib haben wir ein Tau, das uns miteinander verbindet, und dann: buona notte! Das würde eine Lösung sein, so gut wie jede andre, vielleicht besser als jede andre.«
Es waren seit längerer Zeit keine neuen Gaste mehr im Hotel eingekehrt, als eines Abends ein junges Paar mit der Diligence eintraf und ein Zimmer für die Nacht verlangte. Sie wollten die Reise am nächsten Tage fortsetzen und führten kein Gepäck mit sich. Sie erhielten ein Zimmer Wand an Wand mit dem Alies. Die Thür, die diese beiden Säume ursprünglich verband, war mit einem schweren, alten Sofa verbarrikadiert, auf dem Alie und Andrea ihre Abende zu verbringen pflegten. Sie hatten die Fremden mit gewissem Interesse bei Tische beobachtet. Sie war auffallend schön, mit stolzen, energischen Zügen, großen, dunkelblauen, leidenschaftlichen Augen und üppigen roten Lippen. Er hatte einen feinen, edelgeformten Kopf und eine schlanke, elegante Figur. Aber es lag etwas Müdes, Schlaffes über seiner ganzen Persönlichkeit, obwohl er noch sehr jung war. Die Augen lagen tief und waren von dunkeln Ringen umschattet, der Kopf war beinahe kahl, und sein Ausdruck hatte ein Gepräge von Lebensüberdruß und dumpfer Verzweiflung. Sie tranken viel Wein bei Tische, und sie redete die ganze Zeit hindurch sehr lebhaft. Nach dem Essen zogen sie sich auf ihr Zimmer zurück, und Alie und Andrea hörten durch die Thür, wie sie, nachdem sie eine Weile mit irgend etwas eifrig beschäftigt gewesen waren, gleich zu Bett gingen. Sie selber blieben noch auf und lasen, als sie plötzlich, etwa eine Stunde nachdem da drinnen alles ruhig geworden war, einen Schuß vernahmen, dem ein Ausruf und gleich darauf noch zwei Schüsse folgten. Alle Leute im Hotel eilten herbei, man erbrach die verschlossene Thür und fand sie beide Arm in Arm – tot daliegen.
Alie konnte diesen Eindruck gar nicht wieder verwinden. Des Abends, wenn sie in ihrem Sofa saßen, horchten sie oft nach dem andern Zimmer hinüber, das, nachdem die Leichen fortgeschafft waren, leer dastand, mit offenen Fenstern und Thüren. Und unaufhörlich, Tag und Nacht, verfolgten sie sie, diese beiden jungen Menschenkinder, die lieber gemeinsam in den Tod gegangen waren, als sich von dem Leben trennen zu lassen; sie übten eine eigentümliche Macht auf ihre Phantasie aus.
Auf Andrea hatte dies Ereignis dagegen eine ganz entgegengesetzte Wirkung gehabt.
»Da haben sie mir meine gute Idee vor der Nase weggenommen,« sagte er mit seiner gewöhnlichen Neigung, alles ins Scherzhafte zu ziehen. »Zwei Paare am selben Ort, das würde ja beinahe lächerlich sein, besonders für das letzte Paar. Dazu sind wir denn doch zu gut, du und ich, um die ersten besten nachzuäffen. Wir müssen auf eine originellere Lösung sinnen.«
Alie lächelte mit einem schmerzlichen Zucken um die Mundwinkel.
»Mir würde das Ende originell genug sein, mein Ehrgeiz geht nicht weiter.«
Sie saßen eines Abends nach dem Essen auf Alies Zimmer, wo es so kalt war, daß sie, um sich einigermaßen warm zu halten, auf das Sofa hinaufgekrochen waren, wo sie dicht aneinandergeschmiegt saßen, ein Plaid über die Beine gebreitet. Neben ihnen auf dem Tische stand ein einzelnes Licht, bei dessen Schein sie wie sie es zu thun pflegten, aus einem Buche lasen – aus Ariostos Orlando Furioso. Dies große sechsbändige Werk war ihre Sommerlektüre gewesen, und jetzt näherten sie sich dem Ende. Während ihres ganzen Zusammenlebens hatte keins von ihnen ein Buch geöffnet, um allein zu lesen. Nur gemeinsam konnten sie genießen, was es auch sein mochte, einander mit den Armen umschlungen haltend, beide ins Buch sehend, abwechselnd laut lesend, so hatten sie alle ihre Abende hier oben verbracht, und der mangelhafte Komfort des kleinen Gebirgshotels, die Kahlheit und Kälte des Zimmers verschwanden vor der Wärme und Stimmung, die sie durchströmte, wenn sie zusammensaßen, ganz erfüllt von ihrer Lektüre und dem Beisammensein. Wenn er las, lauschte sie mit gespannter Aufmerksamkeit jedem Tonfall, begierig, nicht nur jedes Wort des Inhalts zu verstehen, sondern auch ihr Ohr so mit dem Klang der Sprache zu sättigen, daß sie später, wenn die Reihe an sie kam, richtig lesen konnte. Sie hatte sich auf diese Weise eine fast vollendete Aussprache des Italienischen angeeignet, so daß es ihm einen Genuß gewährte, sie seine Lieblingsdichter vortragen zu hören. Nur hin und wieder bei den allerschönsten Stellen unterbrach er sie, sprang auf und recitierte nach dem Gedächtnis.
Alie war mit lebhafter Teilnahme Bradomantes und Ruggioros Liebesgeschichte mit ihren so menschlichen, psychologisch wahren Konflikten gefolgt, sie waren gerade an die Stelle gelangt, wo die stolze Amazone erklärt, daß nur ein Mann, der sie im Kampf überwinden kann, sie besitzen soll, als an die Thür gepocht wurde. Vertieft in ihre Lektüre und in dem Glauben, daß es nur das Zimmermädchen sein könne, riefen sie »herein«, ohne ihre Stellung zu verändern, ja ohne vom Buch aufzusehen. Es geschah ja niemals, daß jemand kam, um sie zu besuchen.
Die Thür wurde geöffnet, und es trat jemand herein, aber erst nach mehreren Minuten wurden sie darauf aufmerksam, daß der Betreffende sich nicht vom Fleck rührte. Sie sahen beide auf einmal auf und erblickten nun eine männliche Gestalt, die unbeweglich an der Thür stand. Im selben Augenblick hatte Alie das Plaid beiseite geworfen, das sie bis ans Kinn verhüllt hatte, und mit einem Schrei stand sie jetzt im Zimmer von Angesicht zu Angesicht mit Richard.
Es währte noch mehrere Minuten, ehe Richard sprach. Endlich rief Andrea aus: »Wie haben Sie es nur angefangen, uns auszuforschen? Ich muß gestehen, das war ein Meisterstück!«
»Es war nicht so schwierig, wie es scheinen mag,« erwiderte Richard in erregtem Ton, es war ihm schwer, die Worte hervorzubringen, und nur mit Mühe wich er Alies Blick aus. Andrea forderte ihn mit einer Handbewegung auf, näher zu treten. Er ließ seinen Blick gleichsam scheu und verlegen durch das Zimmer schweifen, das alle Spuren eines traulichen Beisammenlebens trug, zog die Augenbrauen ein wenig zusammen und setzte sich endlich so weit wie möglich von ihnen entfernt auf einen Stuhl.
»Einer meiner Bekannten ans Stockholm,« fuhr er fort, »war kürzlich auf der Durchreise hier. Er sah Alie im Vorübergehen, stellte Nachforschungen im Hotel an und erfuhr alles. Meine Mutter war ganz außer sich vor Kummer und Verzweiflung, aber auch ohne ihre Aufforderung wurde ich keinen Augenblick gezögert haben, sofort hierher zu reisen und alles aufzubieten, um Alie dieser – dieser entwürdigenden Stellung zu entreißen.«
Alie, welche die ganze Zeit unbeweglich vor ihm gestanden hatte, mit trotzig zurückgeworfenem Kopf, aber mit abgewandtem Blick und zwei dunkelroten Flecken auf den Wangen, machte hier eine Bewegung, als wolle sie ihn unterbrechen, er aber fuhr fort:
»Ich weiß, was du sagen willst,« sagte er. »Ich weiß, daß du mich nicht für unparteiisch genug hältst, um mich in diese Sache einzumischen. Ich empfand dasselbe vor einem Jahr, und das veranlaßte mich, dich so zu verlassen, wie ich es gethan. Glaubst du, daß ich mich sonst durch irgend eine Rücksicht hätte bewegen lassen, glaubst du, daß ich sonst irgend ein Mittel unversucht gelassen hätte, um dich wieder zur Vernunft zu bringen? Aber ich war damals nicht unparteiisch, und ich fürchtete, daß meine Gefühle mein Urteil beeinflussen könnten. Nun aber habe ich dies ganze Jahr hindurch ehrlich gearbeitet, diesen schwachen Punkt bei mir zu überwinden, mein ganzes Streben ist darauf ausgegangen, mich selbst zu erziehen, dir das einzige zu werden, was ich dir noch werden konnte, ein guter, treuer, völlig selbstloser Bruder. Ich fühlte, daß die Stunde kommen würde, in der du eines solchen nur zu dringend bedurftest. Jetzt bin ich hier, du kannst mir ruhig die Hand reichen, du brauchst nicht bange davor zu sein, mir in die Augen zu sehen –«. Er wollte ihrem Blick begegnen, sie aber wich ihm aus. »Du kannst mir glauben, daß der Kampf, den ich gekämpft habe, nicht der leichteste gewesen ist, ich kann ruhig sagen, daß ich nie zuvor in meinem Leben in dem Maße der ganzen Willenskraft, die ich besitze, bedurft habe, aber es ist mir gelungen, und das ist genug.«
Es trat abermals eine Pause ein. Alie fühlte, wie ihr ein warmer Blutstrom zum Herzen drang, ja diese selbstlose Liebe war gleichsam eine rettende Hand für die Ertrinkende, aber noch vermochte sie kein Wort hervorzubringen.
»Und was ist jetzt Ihre Absicht?« fragte Andrea trocken, mit einem schwachen, satirisch verletzenden Lächeln.
»Meine Absicht ist ganz einfach die, Alie die Stütze eines Bruders anzubieten, falls sie derselben bedarf, und wenn sie meint, daß sie derselben nicht bedarf, den ganzen Einfluß anzuwenden, den ich möglicherweise haben kann, oder vielmehr nicht ich, denn ich mache keinen Anspruch darauf, irgend welchen Einfluß auf sie zu haben, sondern den Einfluß, den Vernunftgründe und eine warme Hingebung ausüben können, um sie zu bewegen, sich loszureißen, ehe es zu spät ist, einem Verhältnis zu entsagen, das ein schlimmes Ende nehmen muß. Und wenn Alie jetzt mit mir zurückkehren will, so gelobe ich ihr, daß sie nicht allein ein liebevolles Heim mit der zärtlichsten Mutter, den liebevollsten Geschwistern finden soll, sie soll nicht nur eine unverminderte Liebe bei allen denen finden, die sie mit Fug und Recht als ihre Nächsten ansieht, sondern sie soll auch beständig so geachtet und geehrt werden, wie sie es stets gewesen, kein Schatten eines Vorwurfs oder Mißtrauens soll ihr begegnen, meine Kinder sollen dazu erzogen werden, in ihr die Frau zu sehen, die ich meinerseits stets am höchsten von allen geschätzt habe, die ich meiner Mutter – und – meiner Gattin gleichstelle.«
Andrea sah Alie, die bleich und leblos wie eine Bildsäule dastand, fragend und prüfend an.
»Hier hat Alie allein eine Entscheidung zu treffen,« sagte er. »Ich kann ihr nicht dasselbe versprechen, was Sie ihr bieten, ein ruhiges Familienglück. Was ich ihr zu bieten vermag, ist ein Leben steten Kampfes unter schwierigen Verhältnissen, sie mag meine Frau sein oder nicht, folglich muß sie selber wählen.«
Jetzt erhob Alie ihren Blick zum erstenmal und sah ihn mit einem Ausdruck so tiefen Schmerzes, so herzlicher Liebe und angstvoller Verzweiflung an, daß er ihr hätte zu Füßen fallen und sie um Verzeihung bitten können, daß er nicht anders konnte, als sie auf diese Weise gleichsam zerreißen.
Er konnte nicht anders! Und wenn es ihr Leben und das seine gegolten hätte, wäre es ihm in diesem Augenblick unmöglich gewesen, durch ein Wort auf ihren Beschluß einzuwirken.
»Ich verlange natürlich nicht, daß du dich gleich heute abend entscheiden sollst,« brach endlich Richard das peinliche Schweigen. »Ich bin bereit, zu warten, solange du willst, ich bin in dem andern Hotel eingekehrt, ich werde dir nicht lästig sein; wenn du meiner bedarfst, stehe ich zu deinen Diensten, du kannst zu jeder Stunde über mich verfügen.«
Mit diesen Worten verabschiedete er sich, und Andrea begleitete ihn bis zur Thür, ohne daß Alie noch einen Blick mit ihm gewechselt hatte; während der ganzen Zeit, daß er sich im Zimmer befand, war nicht ein einziges Wort über ihre Lippen gekommen.
Als sie wieder allein waren, und die Thür sich hinter ihm geschlossen hatte, löste sich ihre krampfhafte Starrheit. Sie warf sich vor Andrea auf die Erde, barg den Kopf in seinem Schoß und rief unter Thränen aus: »Andrea, Andrea! bitte mich, zu bleiben! Bitte mich darum!«
Er schob sie heftig, fast gewaltsam von sich und sprang auf.
»Ich kann nicht!« erwiderte er.
Sie kroch auf dem Fußboden hinter ihm her, hängte sich an seine Kniee und flehte unter strömenden Thränen: »Bitte mich, bitte mich darum! Sage nur ein Wort, daß du es willst, sage nur, daß du ohne mich unglücklich werden, zu Grunde gehen wirst. Sage, daß du, gleich mir, alles einer Trennung vorziehen würdest. Bitte mich darum, Andrea!«
»Ich kann nicht, ich kann nicht!« wiederholte er ganz außer sich, indem er zurückwich. Er ergriff seinen Hut, eilte auf die Thür, riß sie auf und stürzte in die Nacht hinaus.
Als die Thür hinter ihm ins Schloß gefallen war, überfiel sie eine eisige Kälte. Sie erhob sich, betrachtete ihr aufgeschwollenes Gesicht im Spiegel, glättete ihr Haar und begann dann ihren Koffer zu packen. Sie ordnete ihre eignen Sachen und die seinen, die in liebevoller Unordnung durcheinanderlagen, sie zählte kaltblütig ihre eignen Taschentücher und dann die seinen nach, sah nach dem Namen in den Büchern, die ihm gehörten, und legte sie zur Seite, alles in einem traumähnlichen Zustand, als nachtwandle sie oder handle in Fieberphantasien.
Sie hatte kein klares Bewußtsein von dem, was bevorstand, nur ein Gefühl sich steigernden, unerträglichen Schmerzes an irgend einer Stelle, über die sie sich nicht so recht klar war, und eine Atemnot, so daß es ihr zuweilen war, als müsse sie ersticken. Sie nahm die sechs rot eingebundenen Bände von Ariosto, die er ihr geschenkt hatte, und begann im Stehen das Sonett zu lesen, das er ihr ans die erste Seite geschrieben hatte. Sie las es mehrmals, und es erschien ihr so wunderbar leer und sinnlos.
Dann setzte sie sich hin, um ein Billet an Richard zu schreiben, in welchem sie erklärte, daß sie sich entschlossen habe, am nächsten Tag mit ihm zu reisen, die Post ginge um sieben Uhr ab. Sie schellte und gab Befehl, das Billet sofort zu besorgen, sie um sechs Uhr zu wecken und ihr die Rechnung für die letzte Woche zu bringen. Sie hatte es sich nicht nehmen lassen, stets ihre eignen Ausgaben zu bezahlen.
Nachdem dies alles besorgt, der Koffer gepackt und abgeschlossen und die Handtasche bereitgestellt war, um am nächsten Morgen die letzten Sachen aufzunehmen, legte sie sich aus das Bett, übermüde und mit einem solchen Gefühl völliger Hirnlosigkeit, daß sie nicht einmal im stande war, sich über Andreas langes Ausbleiben zu wundern. Sie fiel bald in einen tiefen, dumpfen Schlaf, erwachte jedoch schon nach wenigen Stunden. Das Licht brannte noch auf dem Tisch. Sie gewann sofort ihr Bewußtsein wieder und sprang mit heftigem Herzklopfen auf. Sie ließ ihren Blick durch das Zimmer schweifen und sah sofort, daß Andrea dort gewesen, aber wieder gegangen war. Er hatte seinen Ueberrock fortgenommen, der vorhin auf dem Stuhl gelegen, und sein Zigarettenetui, das sie, als sie den Koffer packte, auf die Toilette gelegt hatte. Sie wußte, daß das sein gewöhnlicher Tröster war, wenn er sich in starker Gemütsbewegung befand. Dann pflegte er zu rauchen und spazieren zu gehen. Die Nacht war kalt und mondhell, das sah sie durch das Fester, vor dem sie das Rouleau nicht herabgelassen hatte.
Sie sah nach der Uhr. Erst eins! Erst in sechs Stunden konnte sie fortkommen, es schien ihr eine Unendlichkeit zu sein. Sie empfand jetzt dieselbe ungeduldige Sehnsucht nach dem, wovor sie sich so lange mehr gefürchtet hatte als vor dem Tode, wie es Dante so treffend bei dem ersten Eintreten der Verdammten in die Hölle schildert, wenn sie in Charons Boot hinabsteigen sollen, um sich zu unerhörten Qualen führen zu lassen:
Chè la divina giustizia gli sprona
Si che la tema si volge in disio.
Ja, sie sehnte sich nach dem Morgen, sie sehnte sich danach, im Wagen zu sitzen und zum letztenmal diese Züge, diese Gestalt zu sehen, die sie so wahnsinnig geliebt hatte, ohne doch das zu gewinnen, worauf sie die ganze Energie ihrer Seele mit einer solchen Gewalt gerichtet hatte, daß es ihr war, als blute sie noch aus tausend Wunden, ihn zu gewinnen, ganz und für immer. Er hatte die letzte Probe nicht bestehen können, die sie zur Bedingung gemacht, die sie zur Bedingung hatte stellen müssen, um sich für immer an ihn zu binden, er hatte nicht das eine kleine Wort aussprechen können, das genügt haben würde, um sich ihm für ewig zu unterwerfen. Sie hatte einen ihrer Ansprüche nach dem andern aufgegeben, war Schritt für Schritt zurückgewichen, aber in diesem letzten Punkt konnte sie nicht nachgeben. Er mußte einmal den Willen haben, den festen, klaren Willen, sie für immer zu besitzen, sie hatte die ganze Zeit hindurch vergebens darauf gewartet und wenn er auch jetzt einen solchen Beschluß nicht zu fassen vermochte, so blieb ihr keine andre Wahl.
Er kam und ging noch ein paarmal im Laufe der Nacht, ruhte sich stundenweise auf dem Sofa und ging dann wieder. Sie lag mit geschlossenen Augen und hämmernden Pulsen da, die schwachen Schläge der Uhr zählend, bis sie in Schlaf fiel, um aber immer wieder mit einer angstvollen Beklemmung vor der Brust zu erwachen, mit einem Gefühl, als müsse sie ersticken oder ohnmächtig werden.
Er hatte den abgeschlossenen Koffer gesehen, hatte gesehen, daß seine eignen Sachen zusammengepackt auf einem Stuhl lagen, und alles verstanden. Eine dumpfe Erbitterung gegen sie, die so stark war, daß er sich nicht einmal entschließen konnte, sich ihr zu nähern, gärte in ihm. Ach, wie hatte sie ihn so betrügen können! Er hatte geglaubt, ja, er hatte es schließlich wirklich geglaubt, daß er hier diese Fülle und Vollkommenheit des Lebens finden würde, die das tiefste Bedürfnis seiner Natur waren, er hatte an eine Liebe geglaubt, die über jede Probe erhaben ist, und nun war sie im Begriff, ihn so grenzenlos zu täuschen. Mit glühenden Rachegedanken ging er umher. Dieser Richard, dieser elende Moralist und Spießbürger mit seinen ekelhaften, banalen Phrasen!
Er hätte auf sein Zimmer gehen mögen, wo er schlief, und ihm einen Schlag mit der geballten Faust ins Gesicht versetzen, und dann mit ihm auf Leben und Tod kämpfen.
Und sie, die dort lag und ganz ruhig schlief, nachdem sie mit einer solchen Genauigkeit und Ueberlegung seine Taschentücher gezählt und die ihren dazwischen herausgelesen hatte! Ja, auch sie wollte er töten! Weshalb nicht? Weshalb sollte er es nicht so machen wie das andre Paar, sie ganz einfach töten!
Er blieb schließlich an ihrem Bett stehen und sah sie an. Sie schlummerte leicht, aber unruhig, die Brust hob und senkte sich stürmisch. Er hatte sich früher oft darüber gefreut, wie schön sie war, wenn sie schlief. Auch jetzt legte der Schlaf einen rosigen Schimmer über ihr Gesicht. Sie lag auf der Seite, die eine Hand unter der Wange, die andre auf der Decke ausgestreckt. Das Haar fiel ihr weich in die Schläfen und in den Nacken hinab. Die Lippen waren halb geöffnet und zitterten wie im Schmerz, selbst die Augenlider zuckten zuweilen schwach, aber das Profil, das sich von dem Kissen erhob, war so bewunderungswürdig rein und fein, so seelenvoll und weich, daß Andrea sich, von Bewegung übermannt, über sie warf und sie fast mit seiner Umarmung erstickte.
Sie fuhr auf und starrte ihm ins Gesicht mit dem erschrockenen Blick des plötzlich Erwachenden. Er umfaßte ihren Hals hart mit beiden Händen und hielt sie so fest. Sie kam zu sich, las den gleichsam beginnenden Wahnsinn in seinen Zügen, warf sich in die Kissen zurück und sagte mit schwacher, stöhnender Stimme, aber mit einem glückseligen Lächeln:
»Ja, ja, töte mich! Thue es! Ich bitte dich, töte mich!«
Seine Hände sanken langsam herab, und die unnatürliche Spannung in seinen Zügen löste sich, während seine Augen sich mit Thränen füllten.
Da schlang sie die Arme um seinen Hals, schmiegte sich fest an ihn und flehte mit vollem Bewußtsein: »Töte mich, oder laß uns zusammen sterben, wie die andern!«
»Liebst du mich so innig?« fragte er, und ein Glücksschimmer verbreitete sich über sein Gesicht. »Weshalb willst du mich denn verlassen?«
»Ich will dich ja nicht verlassen, ich kann es ja nicht! Und deshalb will ich sterben!«
»Und wer zwingt dich denn, mich zu verlassen?«
»Du selber!«
»Ich, der ich nur auf diesen Augenblick gewartet, gehofft hatte, der fühlte, daß mein ganzer Glaube an das Leben, die einzige Möglichkeit, von dem Skeptizismus geheilt zu werden, der mich tötete, davon abhing, ob du als Siegerin aus dieser Probe hervorgehen würdest, jetzt weiß ich es sicher und bestimmt, du wirst mich stets festhalten. Jetzt können wir allem trotzen und uns verheiraten, du hast mir die Kraft gegeben, die mir fehlte, jetzt kann ich kämpfen, jetzt kann ich für dich arbeiten. Du brauchst es nur von mir zu verlangen, dann wird es schon gehen.«
Sie schlang die Arme fest um ihn und schluchzte noch lange an seiner Brust. Aber es waren keine Thränen der Verzweiflung mehr, es waren Thränen des Glücks, das – sie fühlte es – zu groß war, um ewig zu währen. Sie war sich klar darüber, daß sie sich in diesem Augenblick einem Leben voller Kampf weihte, und das glückselige Gefühl, mit dem sie der Zukunft entgegenging, war mit Angst und Beben vermischt. Sie wußte, daß das vollkommene Glück nur eine flüchtige Minute währt, und daß es stets teuer erkauft ist.