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Eines Tages gegen Ende Juni langte ein junges Paar in einem anspruchslosen kleinen Hotel hoch oben in den Tiroler Bergen an. Alle übrigen Gäste interessierten sich sehr für diese Neuangekommenen. Man sah sie stets nur bei den Mahlzeiten, sie hielten sich niemals nach Tische in dem Gesellschaftszimmer auf, sondern gingen gleich wieder hinauf und machten auch nur selten einen Spaziergang. Aber wenn sie zu Tische kamen und zwar gewöhnlich zu spät, so lag ein solcher Lichtschimmer von Glück über ihnen, – sie waren so abwesend und gleichgültig gegen ihre Umgebung, so offenbar in eine eigne, reiche, geheimnisvolle Seligkeitswelt vertieft, daß sie gleichsam einen Hauch von Poesie und Erotik um sich verbreiteten, sobald sie sich nur zeigten. Alle sprachen von ihnen nur als die »Neuvermählten«, und mehr als ein junges oder älteres Mädchen, mehr als eine ernüchterte Gattin betrachtete mit Neugier und Neid diese glückliche junge Braut, die zusammenzuckte, sobald sie nur jemand anrührte, als habe man sie aus einem Traum aufgeschreckt, die es vergaß, bei Tische die Schüsseln an ihren Nachbar zur Rechten weiter zu reichen, während sie doch beständig daran dachte, für ihren Nachbar zur Linken zu sorgen, die keine Ahnung davon hatte, daß man ihre Schönheit bewunderte und sich flüsternd darüber unterhielt. Während der Mahlzeit sprachen sie kaum miteinander, aber niemand hätte dies auch nur einen Augenblick für Gleichgültigkeit halten können, denn man fühlte instinktmäßig, daß es nur geschah, weil sie nicht miteinander sprechen konnten, ohne sich zu liebkosen, weil sie einander nicht ansehen konnten ohne ein beredtes Lächeln, weil sie nicht im stande waren, gleichgültige, alltägliche Worte zu einander zu sagen. Und wenn er zuweilen eine ganz unbedeutende Frage an sie richtete, zum Beispiel ob sie mehr von diesem oder von jenem Gericht zu haben wünsche, sah sie ihn mit einer solchen Wärme an, mit einer solchen Glut auf den Wangen und mit einem so lebhaften Ausdruck um den Mund, daß ein Deutscher, der ihr bei Tische gerade gegenüber saß, ganz außer sich vor Verliebtheit und Eifersucht geriet und erklärte, er würde sein bis dahin ehrbares Leben als Mörder beschließen, denn sein ganzes Sinnen und Trachten gehe darauf hinaus, eine Gelegenheit zu finden, wie er diesen Italiener aus der Welt schaffen könne.
Alle Versuche, eine Bekanntschaft mit ihnen einzuleiten, strandeten an Alies zerstreuten Antworten und ihrem augenblicklichen Zurücksinken in ihre Träumereien, sowie an Andreas eiskalter Unzugänglichkeit. Man konnte sich nicht einmal klar darüber werden, welcher Nation sie angehöre; man bemerkte, daß sie alle Sprachen sprechen konnte, aber alle mit einem etwas fremden Accent.
So hatten sie mehrere Wochen in demselben Hotel verlebt, ohne auch nur einen einzigen der übrigen Gäste kennen zu lernen.
Aber niemand, der dies glückliche Paar sah, konnte die Schatten ahnen, die sich inmitten all dieses Sonnenscheins allmählich dichter und dichter auf Alies Seele lagerten. Je vollkommener ihr Glück war, desto klarer wurde es Alie, daß es nicht von langer Dauer sein konnte. Sie hatten Andreas Phantasie verwirklicht, in die kurze Frist weniger Wochen hatten sie durch vollen Besitz und Genuß das ganze Liebesglück des Lebens zusammengedrängt. Sie fühlte oft, daß dies zu viel sei, daß es eine unverantwortliche Verschwendung war. Aber das Gefühl der tiefen Finsternis, die ihrer in Zukunft harrte, ließ sie alle Bedenken übertäuben und begehrlich nach dem glücklichen Augenblick haschen, der ihr jetzt beschert ward.
Und inzwischen konzentrierte sie die ganze Energie ihrer Seele auf den Gedanken, daß sie Kraft haben wollte, ihn in dem Augenblick freizugeben, wo er es selber wünschte, daß sie nicht im entscheidenden Moment ihre innerste Natur verleugnete, deren ganzes Streben darauf hinausging, lieber selbst zu Grunde zu gehen, als einen andern unfreiwillig an sich gefesselt zu sehen.
Und inmitten seiner glühendsten Umarmungen, seiner heißesten Küsse konnte sie vor ihrem inneren Auge die große Einsamkeit sehen, die kommen würde, konnte sie über die unvermeidliche Trennung grübeln, die bevorstand. Sie hatte im Geiste alle die verschiedenen Formen durchlebt, welche diese Trennung annehmen konnte. Sie dachte sich, daß Stockholmer Bekannte eines schönen Tages zufällig an denselben Ort kommen und entdecken würden, in welchem Verhältnis sie sich hier befand, dann würden sie an Frau Rode schreiben, und Richard würde es für seine Pflicht halten, noch einmal einzugreifen; er würde Tag und Nacht durchreisen und verlangen, daß sie ihm folgen solle. Und diesmal würde sie sich nicht widersetzen. Sie würde Andrea sagen, daß sie nur besuchsweise in die Heimat reise. Sie würden sich trennen, ohne sich selber oder andern zu gestehen, daß es für immer aus war. Und von Stockholm aus würde sie ihm dann schreiben, – würde sie ihm alles schreiben, was sie im stillen gedacht hatte, während sie in seinen Armen ruhte und in seinen Küssen eine Liebe empfand, die alles im Nu gab und nichts für die Zukunft aufsparte.
Oft, wenn sie zu Tische hinunterging, stellte sie sich vor, daß sie unter den Neuangekommenen Gästen diesen oder jenen ihrer Bekannten erkennen würde. Verwunderte Ausrufe: »Du hier! Und allein! Mit wem bist du hier!« Sie bereitete sich darauf vor, sich so lange wie möglich zu verteidigen: »Ich bin mit einer italienischen Familie hier, wir wohnen ganz in der Nähe, – ich habe heute nur eine Fußtour hierher gemacht ...« Und dann auf und davon, die Koffer gepackt und fort, in eine andre Gegend.
Das würde sie jedoch nur vor den Unannehmlichkeiten des Augenblickes schützen, vor der Demütigung, das Verhältnis, in dem sie lebte, und das für sie heilig war, erhaben über dem Urteil der Welt, mit Verachtung und Unwillen betrachtet, als etwas Gemeines, Erniedrigendes gestempelt zu sehen. Dann aber würde die Entdeckung, die Katastrophe kommen, so wie sie kommen mußte.
An Frau Rode hatte sie geschrieben, daß sie sich auf der Reise mit der Marquise befinde. Sie holte selbst ihre Briefe von dem kleinen Posthause in der Nähe. Sie, die nie zuvor in ihrem Leben gelogen hatte, fand es jetzt leicht und natürlich, alle zu betrügen. Sie befand sich in einem Zauberkreis, der sich enger und enger um sie zusammenzog, alles Außenstehende erschien ihr unwirklich, rückte ihr fern.
Andrea gab sich indessen dem Glücke völlig sorglos hin, – endlich besaß er sie so, wie er es ersehnt hatte, heimlich, ausschließlich für sich. Jede Wolke war von seinem Sinn gewichen, sein Glück war jubelnd, voll leidenschaftlicher, wilder Ausbrüche, ein ununterbrochenes begehrliches Besitzergreifen, es war ihm, als könne er sie nie genügend besitzen, er war eifersüchtig auf jede Minute und konnte sich nicht darein finden, daß sie sich mit etwas anderm beschäftigte als mit ihm.
Wenn sie sich hin und wieder einmal hinsetzte, um an Frau Rode zu schreiben, stand er ungeduldig hinter ihr und klagte darüber, daß sie sich zu lange damit aufhielt, obwohl diese Briefe immer kürzer und seltener wurden.
Aber eines Tages traf ein Brief von Aagot ein, der Alies Gefühle für alle die, welche ihr früher die Nächsten gewesen waren, so lebhaft aufflackern ließ, daß sie sich sofort hinsetzte, um ihn zu beantworten.
Aagot teilte ihr mit, daß um Weihnachten ein Zuwachs der Familie erwartet werde, und daß sie sehr glücklich darüber sei.
»Ich habe oft über unser Gespräch am letzten Abend in Frascati nachgedacht,« schrieb sie. »Und jetzt finde ich, daß wir beide damals gehörige Dummheiten sagten. Ich glaube nicht, daß man glücklich werden kann, wenn man so überspannt ist, und Richard hat gar kein Verständnis für dergleichen, – aber wir sind deswegen ebenso glücklich, und ich wünsche nichts anders als es ist.«
Alie schrieb und gab ihrer lebhaften Freude Ausdruck, daß sich alles so nach Wunsch gestaltet hatte. Sie richtete eine Unmenge von Fragen an Aagot, ihr Leben, den Kleinen und Frau Rode betreffend. Ihre Liebe und ihr Interesse für sie erwachten aufs neue infolge Aagots vertraulicher Mitteilung.
Andrea wurde ungeduldig, als er sie so eifrig beschäftigt fand, er fragte, ob sie den Brief nicht am nächsten Tage vollenden könne, er wolle jetzt gern ausgehen.
Sie antwortete, ohne aufzusehen: »Nein, laß mich jetzt fertig schreiben.«
Er stand noch eine Weile da und sah sie an, wie die Feder über das Papier hinflog und wie sie vorübergebeugt mit roten Wangen dasaß, ganz erfüllt von ihrem Thun.
»Komm jetzt, Alie!« sagte er freundlich und wollte ihr das Papier fortnehmen.
»Nein, laß es, ich möchte den Brief gern noch heute abend fortsenden.«
»Wie du willst, aber dann gehe ich allein.« Sie bemerkte eine kleine Andeutung von Ungeduld in seiner Stimme, sprang auf und legte die Hände auf seine Schultern.
»Du willst allein gehen? Wie kommst du nur darauf? Glaubst du, daß ich das zugebe?«
»Wenn du den ganzen Nachmittag dasitzst und schreibst, ohne auch nur einmal aufzusehen!«
»Ich habe kaum eine halbe Stunde geschrieben, aber das ist einerlei. Der Brief muß bis morgen liegen bleiben.«
Es war nicht das erste Mal, daß sie mit Freude und Unruhe sah, wie anspruchsvoll seine Liebe war. Ein gleichgültigerer Tonfall in ihrer Stimme, eine augenblickliche Zerstreutheit genügte, um ihm die Laune zu verderben. Und sie fühlte mit Zittern, daß im selben Augenblick, wo sie seine Gedanken nicht völlig würde ausfüllen können, wo sie nicht im stande war, ihre Zärtlichkeit fortwährend zu erneuern, ihr Verständnis bis ins Unglaubliche zu erweitern und auf jede seiner Stimmungen einzugehen, – er erkalten und seine Phantasie eine andre Zufluchtsstätte suchen würde. Nur ein Verhältnis, so voll und reich, so ewig neu und vielseitig, daß es die menschlichen Kräfte überstieg, es so auf die Dauer zu bewahren, würde ihn fesseln können.
Er fuhr auch ununterbrochen fort, mit ihr zu experimentieren, ihre Zärtlichkeit auf die Probe zu stellen; es war ihm ein gewisser Genuß, sie zu tyrannisieren, ihren Widerstand nach jeder Richtung hin zu brechen, zu sehen, daß sie keinen Willen, keinen Gedanken hatte, der nicht der seine war.
»Wenn das dein Ideal ist,« sagte sie zuweilen lächelnd, »so verstehe ich nicht, weshalb du dich gerade in mich verliebt hast, da es so viele einfältige kleine Mädchen giebt, die keinen andern Wunsch haben, als der treue Hund ihres Geliebten zu sein.«
»Begreifst du denn nicht, daß mich so ein kleines Mädchen sofort langweilen würde. Aber einen Willen wie den deinen zu brechen, einen Stolz wie den deinen zu Kreuz kriechen zu sehen, dich so verliebt zu machen, daß du dich um nichts weiter kümmerst, als mich festzuhalten – koste es, was es wolle –, das reizt mich.«
Es lag schon eine weniger freimütige Zuversicht in Alies Ton, als sie antwortete:
»Das wird dir doch nimmermehr gelingen!«
Sie machten keine größeren Gebirgstouren, weil eine gewisse Indolenz, die stets in seinem Wesen lag, auch sie angesteckt hatte, und weil sie keinen Führer mitnehmen wollten, dessen Gesellschaft sie störte. Aber sie unternahmen hin und wieder kleinere Ausflüge, fanden selbst den Weg über die kleinen Waldpfade und verirrten sich in dem dichten Gestrüpp, wo sie sich dann stundenlang zur Ruhe in das Gras legten, unbekümmert, ob sie je wieder zum Hotel zurückfinden würden.
Da Alie mehr daran gewöhnt war als er, in solchen öden Gegenden umherzustreifen, und da sie sich heimischer fühlte, umgeben von Tannen und Fichten, Felsblöcken, Moos und brausenden Bächen, so wollte sie gern den Weg bestimmen, aber er wollte nach seinem Kopf gehen, und dann stritten sie sich, welcher der verschiedenen Fußpfade einzuschlagen sei. Er entschied jedoch die Sache stets kurz, indem er den Weg ging, den er gewählt hatte, und Alie folgte ihm dann protestierend.
»Weshalb folgst du mir denn?« fragte er lachend, »weshalb gehst du nicht deinen eignen Weg?«
Dann wandte er sich nach ihr um, sah sie kletternd hinterdrein kommen, ohne ihr die Hand zur Hilfe zu reichen, – sobald sie ihn aber erreicht hatte, faßte er sie um die Taille und hob sie hoch in die Höhe.
»Kannst du jetzt sehen, daß du die Meine bist?« sagte er. »Es ist überflüssig, daß du protestierst. Du folgst mir doch, wohin ich gehe. Und wenn ich mich jetzt dort in den Wasserfall hinabstürzen wollte, so würdest du mir auch dahin folgen.«
Er trat mit ihr hart an den Felsrand heran, wo sich ein schwindelnder Abgrund über dem brausenden weißen Gletscherstrom öffnete.
Eines Tages waren sie vom frühen Morgen an umhergestreift und kehrten erst um Sonnenuntergang heim, ihre Schritte beschleunigend, um nicht von der Dunkelheit überrascht zu werden. Alie war sehr müde, lehnte es aber ab, sich auf ihn zu stützen, da sie annahm, daß er ebenso angegriffen sein müsse, obwohl er es nicht einräumen wollte. Dann aber kamen sie an eine Stelle, wo der Weg sich teilte. Auf der einen Seite eine breite Landstraße, die hier einen bedeutenden Bogen machte, ehe sie nach der Richtung ging, die sie einschlagen mußten. Nach der andern Seite ein kleiner Steg, der über eine ziemlich unsichere, sumpfige Wiese führte, der ihnen aber den ganzen Umweg ersparen würde.
»Laß uns hier gehen,« sagte Alie.
»Nein, es ist zu spät, um sich auf unbekannte Wege einzulassen,« wandte er ein.
»Aber es ist ja ganz klar, daß dieser viel kürzer ist.«
»Bitte – laß dich nicht abhalten – ich wähle die breite Landstraße.
›Chi lascia la via vechia per la via nuova
Sa cio chi lascia ma non sa cio che trova.‹«
Wer den alten Weg für den neuen verläßt, weiß, was er verläßt, aber nicht, was er findet.
deklamierte er lachend, indem er seinen Weg fortsetzte, überzeugt, daß sie ihm folgen werde.
Aber diesmal lehnte sie sich gegen ihn auf. Es war zu unsinnig, einen solchen Bogen zu machen, wenn man so müde war und sich der schönste Richtweg bot.
»Laß uns sehen, wer zuerst kommt,« rief sie ihm munter zu, indem sie auf den kleinen Weg abbog und sehr schnell zu gehen begann, eifrig, einen großen Vorsprung zu gewinnen. Sie sah ihn ruhig und langsam die große Landstraße entlang schreiten und triumphierte schon bei dem Gedanken, wie lange nach ihr er kommen werde. Freilich war der Fußpfad ein wenig unangenehm, eine Menge dorniger Büsche hielten ihre Röcke fest, und der Boden war stellenweise so sumpfig, daß sie bis an die Knöchel versank. Aber das schadete nicht, sie hatte schon einen großen Vorsprung vor ihm gewonnen. Noch eine kleine Strecke, und sie stand auf der Landstraße an einer Stelle, die er erst nach drei großen Biegungen erreichen konnte. Und noch immer schritt er so langsam einher!
Aber was war das? Erschrocken stand sie still. Ein Bach! Der Fußpfad führte an einen Bach, der so breit war, daß sie an ein Hinüberspringen nicht denken konnte. Wie hatte sie das auch vergessen können! Die Landstraße führte ja über eine Brücke. Und deswegen ging er so langsam, er wußte, daß sie umkehren müsse, und freute sich jetzt über ihre Niederlage.
Nein, den Triumph sollte er nicht haben. Der Fußpfad führte weiter, am Bach entlang; da mußte sich doch schließlich eine Brücke finden. Auf irgend eine Weise mußte man doch hinüberkommen können! Im schlimmsten Falle konnte sie ja ins Wasser springen und durch den Bach waten. Mutig ging sie weiter, ihre Schritte beschleunigend, so daß sie zuletzt beinahe sprang, immer schneller und schneller, je dunkler es wurde. Sie war jetzt schon so weit von der Landstraße entfernt, daß sie nicht mehr wußte, wie ihre Beine sie tragen sollten, wenn sie sich gezwungen sah, die ganze Strecke noch einmal zurückzulegen. Aber je weiter sie kam, desto breiter und tiefer wurde der Bach, der sich seiner Mündung in den kleinen See näherte. Vergebens spähte sie zwischen den Büschen und Sträuchern, die sein Ufer bestanden, nach einer Brücke oder einer seichteren Stelle. Sie hatte nicht einmal Zeit, sich nach ihm umzusehen.
Auf der gegenüberliegenden Seite vernahm sie das Rollen eines Wagens, aber sie blickte nicht einmal auf, ehe sie lautes Rufen vernahm. Jetzt sah sie hinüber und erkannte Andrea, der in einem kleinen Bauernwagen schnell vorüberfuhr, während er lachend den Hut schwenkte. Einen Augenblick später entzog ihn eine Biegung des Weges ihrem Blick. Gerade an der Stelle, die sie vor ihm erreichen zu können geglaubt hatte.
Entsetzt blieb sie stehen. War es möglich? Konnte er so ohne weiteres an ihr vorüberfahren? Nein, es war natürlich nur ein schlechter Scherz; er würde gleich zurückkommen und ihr entgegengehen. Sie wußte jetzt, daß es aussichtslos war, weiterzugehen, und trat ihren Rückzug an, noch immer fast laufend, ermüdet, mit schmerzenden Füßen, zerrissenem Kleid und jenem Gefühl von Hilflosigkeit, das Kurzsichtige im Dunkeln zu befallen pflegt. Und als Andrea sich noch immer nicht zeigte, fing sie an, ernstlich böse auf ihn zu sein. Der Scherz ging denn doch zu weit! Wie konnte er es übers Herz bringen, sie so allein im Dunkeln zu lassen, nur um die Freude zu haben, sie demütigen zu können.
Ihre Müdigkeit und ihr Zorn nahmen mit jedem Schritt zu. Wie schmerzlich entbehrte sie jetzt nicht seinen Arm, um sich darauf zu stützen! Er wußte das, und er verließ sie um eines dummen Scherzes willen!
Nein, der Triumph, auf den er gehofft hatte, sollte ihm nicht zu teil werden! Jetzt war die Reihe zu strafen an ihr!
Gleich hinter dem Moor, auf dem sie sich jetzt befand, diesseits des Baches, lag ein andres kleines Dorf mit einem Hotel. Dahin wollte sie gehen und die Nacht dort zubringen. Sie wollte doch einmal sehen, ob er ihr diesmal nicht doch nachkommen würde.
Andrea hatte mit dem Bauern, den er auf dem Wege getroffen, verabredet, daß er mit ihm zurückfahren solle und sie am Scheidewege abholen; erst aber wollte er sie glauben machen, daß er sie wirklich verlassen habe, um zu sehen, wie sie es auffassen würde; er legte sich deswegen hinter einen Felsblock auf die Lauer und beobachtete sie. Er sah ihr ungleichmäßiges, nervöses Laufen und freute sich bei dem Gedanken, sie, die so müde war, in seine Arme nehmen, sie auf den Wagen heben zu können, und sie zu fragen, ob sie jetzt gelernt habe, daß es für sie das beste sei, ihrem eigenen Willen zu entsagen und ihm blindlings zu folgen. Dann aber sah er sie stehen bleiben und zögern, als sie den zum andern Dorf führenden Weg erreichte. Mit einer raschen, energischen Bewegung bog sie in den Weg ein und verschwand bald hinter den Häusern.
Er durchschaute ihren Plan. Sie glaubte, er wurde ihr nacheilen, er würde reuig und besorgt zu ihr kommen und sie anflehen, ihm zu folgen!
Ein häßlicher Gedanke ergriff ihn. Er bestieg den Wagen wieder und sagte dem Bauern, er solle nur zufahren.
»Wollen wir nicht umwenden und die Signorina holen?«
»Nein, es ist nicht nötig.«
Alie wartete in größter Spannung den ganzen Abend in ihrem kleinen Zimmer im Hotel. Natürlich würde er sich aufmachen, um nach ihr zu suchen. Und da lag es ja so nahe, zu vermuten, daß sie hier Zuflucht gesucht habe; er mußte hierher kommen und sie holen.
Aber es wurde Nacht, und er kam nicht. Das konnte er also übers Herz bringen! Größer war seine Liebe nicht! Er wußte sie allein im Dunkeln draußen und sah sich nicht einmal um, was aus ihr geworden war! Wenn er aber glaubte, daß sie jetzt zu ihm kommen würde, so irrte er. Sie wollte geduldig auf ihn warten, einen Tag, – zwei Tage, – kam er dann nicht, ja, dann mußte sie glauben, daß er diese Gelegenheit ergriff, um sie abzuschütteln, – und dann blieb ihr nichts andres übrig, als ein Billet zu lösen und zu verschwinden ...
Den ganzen folgenden Tag wartete Andrea auf sie. Er war fest überzeugt, daß sie kommen würde, aber er war auch sehr empört darüber, daß sie ihn auf diese Weise hatte verlassen können. Er ging den ganzen Tag vor dem Hause auf und nieder und rauchte eine Zigarette nach der andern, die halbgerauchten fortwerfend und neue rollend, während er den Weg hinabspähte. Eine eigentümliche Kälte legte sich auf ihn. War es nicht weiter her mit ihrer Liebe? Ließ sie sie bei einer so geringen Probe im Stich? Dann hatte er sich ja völlig in ihr geirrt; es war eine Illusion gewesen, wenn er geglaubt hatte, daß er sie so völlig gewonnen habe, daß sie sich nie wieder von ihm frei machen könne. Und wozu sollte denn das Ganze führen? Er hätte es ja wissen können, daß die Sache ein Ende nehmen müsse, wie alle andern Verhältnisse. Nur hatte er nicht geglaubt, daß es so bald kommen werde. Aber es war gut so, wie es war; es war die höchste Zeit, daß er wieder frei wurde; er war ja auf dem besten Wege, in der banalsten Weise an diesem jungen Mädchen hängen zu bleiben. Morgen wollte er abreisen. Jetzt wußte er doch wenigstens, daß sie sich trösten würde. Er hatte sich stets so davor gefürchtet, ihr einen unheilbaren Schmerz zuzufügen. Gottlob, daß dies keine Gefahr hatte!
Als die Dämmerung hereinbrach, ging er noch immer rauchend auf dem Wege auf und nieder. Er war so nervös und reizbar geworden, daß er kurz davor war, einen kleinen Knaben zu schlagen, der auf ihn zugelaufen kam, als habe er ihm etwas zu melden, und der ihn dann nur um einen Soldo anbettelte. Er hielt mehrere Bauern, die des Wegs gefahren kamen, mit der sinnlosen Frage an, ob sie nicht eine Dame auf dem Wege getroffen hätten, und als die Wirtin im Hotel ihn fragte, ob die Signora auch heute nicht heimkehre, bat er sie in heftigem Tone, sich nicht in Sachen einzumischen, die sie nicht angingen.
Alie hatte inzwischen mit der Kaltblütigkeit einer Verzweifelten erwogen, was sie zu thun habe. Wie sollte sie es anfangen, mit dem wenigen Geld, das sie in der Tasche hatte, und ohne jegliches Gepäck zu reisen? Sie wollte noch einen Tag warten, und dann wollte sie ihm einen Boten mit einem Billet senden, in welchem sie ihn um die Auslieferung ihrer Habseligkeiten bat. Sie hatte dies Billet im Laufe des Tages geschrieben und zerrissen und wieder geschrieben, hatte die ursprüngliche Bitterkeit gemildert, bis der Ton schließlich beinahe liebevoll geworden war.
»Wir haben die Gelegenheit, uns zu trennen, nach der Du so lange gesucht hast, gefunden,« so wollte sie endlich schreiben. »Laß uns nicht mit Bitterkeit auseinandergehen. – Ich meinerseits werde die unaussprechlich glücklichen Tage segnen, die Du mir geschenkt hast.«
Dies wurde unter strömenden Thränen geschrieben.
Im Laufe des Tages wurde ihre Stimmung weicher. Eine heftige, unerklärliche Sehnsucht gewann die Oberhand in ihr. Ihn nie wiedersehen! Das war ja nicht möglich! Vorbei für immer! Und sie sollte nun die lange Heimreise nach Schweden allein antreten, sollte Tag und Nacht im Coupé sitzen mit diesem tödlichen Kummer im Herzen, – um schließlich was zu erlangen? Ein Leben voll ungestillter Sehnsucht, Tage und Nächte, Wochen und Jahre, die für sie keinen andern Inhalt haben würden als ein unablässiges Brüten über das, was sie besessen und verloren hatte. Nein, es war zum Wahnsinnigwerden! Und wahnsinnig würde sie werden, wenn sie nach Hause zurückkehrte. Was war da zu machen? Fortreisen mußte sie, – sie mußte ihn wissen lassen, daß sie gereist sei, – und dann? Wenn sie während der Nacht in der Diligence über den wilden Bergpaß fuhr! Sie wollte einen Platz oben nehmen, diesen entzückenden Doppelsitz, in dem sie beide gesessen hatten, als sie kamen, und von wo aus die Abgründe so schwindelnd aussahen, – und dann – in der Nacht – mit einem Sprung! Ja, das war das einzige, was ihr übrig blieb.
Gegen Abend ergriff sie eine unerklärliche Angst. Wenn er das, woran sie nur gedacht, schon ausgeführt hatte. Wenn er mit der Diligence gereist war! Wie viel Uhr war es jetzt? Um neun Uhr ging die Diligence, dann hatte sie noch Zeit genug.
Und verzweifelt, besinnungslos, alles andre über dem einen Gedanken, ihn an der Abreise zu verhindern, vergessend, stürzte sie den zum Dorfe führenden Weg entlang.
Er stand noch vor dem Hotel und rauchte. Es war bereits dunkel geworden, und er erwartete sie nicht mehr. Aber er hatte es abgelehnt, zu Tische hineinzugehen, als sich die andern Gäste zum Abendessen versammelten. Als die Wirtin in ihn drang, daß er doch etwas genießen solle, hatte er ihr so energisch zugerufen: »Ach, so lassen Sie mich doch in Frieden!« daß ihm niemand mehr nahezukommen wagte. Er sah den großen, schweren Postwagen mit sechs Pferden langsam auf die Station zu rollen, und er überlegte gerade, ob er schon heute abend fahren solle, als er kurze, hastige Schritte vernahm und eine kleine weibliche Gestalt auf sich zulaufen sah.
Er warf die Zigarette fort, ging ihr einige Schritte entgegen, um sich zu überzeugen, daß sie es sei, und seine Augen blitzten voller Jubel, es sauste ihm vor den Ohren und hämmerte in seinen Schläfen, so daß er nahe daran war, den Verstand zu verlieren, er öffnete seine Arme und zog sie, ohne ein Wort zu sagen, mit sich auf ihr Zimmer. Laut schluchzend sank sie ihm an die Brust, sie waren beide so von Sinnen, sie lachten und weinten abwechselnd und erdrückten einander fast mit ihren Umarmungen, ohne nur ein einziges Wort äußern zu können. Und als sie endlich reden wollte, schloß er ihr den Mund mit heißen Küssen.
»Laß mich nur fühlen, daß ich dich wieder habe,« sagte er und preßte sie fest an sich. So blieben sie bis spät in die Nacht hinein sitzen, ohne sich zu rühren.
*
Er kam später oft hierauf zurück. »Es nützt nichts, daß du davon sprichst, mich zu verlassen,« sagte er, »denn nun hast du ja gesehen, daß es dir nicht möglich ist. Und selbst wenn ich auch oft den Wunsch hege, dich los zu sein, so wird mir das nicht mehr gelingen, – du hältst mich schon fest!«
Sie versuchte, ihm zu widersprechen, sie thue es ebensosehr um seinet- wie um ihretwillen. Sie wisse, daß sie ihn unglücklich gemacht haben würde, wenn sie ihn auf diese Weise verlassen hätte. Wenn sie aber einmal zu der Ueberzeugung gelange, daß es für ihn besser sei ...
»Selbst dann nicht,« unterbrach er sie. »Du wirst mich doch festhalten, – aber weshalb verteidigst du dich, als ob es eine Anklage sei? Verstehst du nicht, daß es sich um mein Glück handelt?«
»Aber du selber – du würdest mich wirklich verlassen haben, wenn ich nicht zurückgekehrt wäre?«
»Ja, ohne Zweifel.«
»Wie sonderbar du bist! Du willst immer, daß ich alles thun soll, – und du selber willst keinen Finger ausstrecken, um mich zu halten!«
»Ja, siehst du, das kommt daher, weil wir im Alter so verschieden sind. Wenn man jung ist wie du, hat man genügend Enthusiasmus, um zu glauben, daß es sich verlohnt, für etwas zu kämpfen. Ist man dagegen alt und weltklug ...«
»Wir sind ja ganz gleich alt.«
»Persönlich, ja, aber nicht als Rasse betrachtet. Du entstammst einem jungen Volk. Unsre Liebesgeschichte ist im kleinen dasselbe, was die Eroberung des alten Rom durch die Barbaren war. Kannst du dir die Sache umgekehrt denken, – daß die Römer gegen die Barbaren auszogen?«
»Ja, das habt ihr sicher auch oft gethan!«
»Freilich, zu einer Zeit, wo wir noch jung genug waren, um ein Eroberungsvolk zu sein. Als wir aber erst den Höhepunkt der Weltmacht und der Kultur erreicht hatten, da gab es nichts, das uns hätte aus unsrer Ruhe herausreißen können. Wir bedurften des neuen Blutes, wir ließen uns überhaupt gerne von fremden Eroberern regieren, weil das bequemer war, – aber selbst wenn uns jemand gesagt hätte, daß die Quelle ewiger Jugend im Lande der Barbaren zu finden gewesen sei, glaubst du, daß wir dann danach ausgezogen wären? Nein, wir hätten gesagt, falls wir überhaupt der Geschichte Glauben geschenkt hätten, daß es ja schön sein könne, ewig jung zu sein, daß wir es aber, wenn es so große Anstrengungen kostete, lieber aufgeben wollten.«
»Pfui, wie abscheulich! Du machst mich ganz verzweifelt, wenn du so redest.«
»Und ich befinde mich äußerst Wohl in der Gefangenschaft bei meinem urfrischen kleinen Barbarenmädchen. Aber was für eine ernste Miene setzt du auf? Woran denkst du?«
»Ich denke daran, daß ich dich so gern einmal auf die Probe stellen möchte, um zu sehen, ob du wirklich nicht im stande sein solltest, einen Kampf zu kämpfen, um mich zu gewinnen.«
»Das ist ein häßlicher Gedanke, den du dir aus dem Sinn schlagen mußt. Alles, was Streit und Kampf heißt, ist so unschön, – ich hasse es so sehr, daß nicht viele Tage vergehen würden, ehe ich mich selber fragte: Ist denn auch der Preis des Kampfes wert? Und wenn ich trotzdem aushielte – was ich sicher nicht thun würde –, so würde ich jedenfalls keine Freude daran haben, denn die Unannehmlichkeiten, die ich hätte durchmachen müssen, würden ihren Schatten auch auf die Zukunft werfen.«
»Wie ganz anders du bist als wir, – als Richard zum Beispiel.«
»Richard, ja! Der ist ja so ein echter, typischer Barbar, – der den Kampf um seiner selbst willen liebt.«
Alie konnte es nicht lassen, im stillen zu wünschen, daß Andrea ein wenig von der Kampflust besessen hätte, die sie früher so oft an Richard getadelt hatte. Sie wäre dann ruhiger für seine Zukunft gewesen. Aber sie dachte in diesem Fall an seine Schwäche, wie eine Mutter an die Fehler ihres Kindes denkt, die es untauglich zum Kampf mit dem Leben machen, – ohne einen Schatten von Tadel, nur mit einem unendlichen Drang, es zu stützen und zu stärken.