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Zehntes Kapitel.

Richard, der während des ganzen Aufenthalts in Italien in fieberhafter Rastlosigkeit gelebt hatte, der am Morgen mit der Sonne aufgestanden und den ganzen Tag in Bewegung gewesen war, um alle Verhältnisse gründlich studieren zu können und einen Ableiter für die tiefe Mißstimmung zu finden, die an ihm zehrte, zog sich schließlich einen Anfall des eigentümlichen römischen Fiebers zu, und die Aerzte rieten ihm deswegen, unverzüglich Rom zu verlassen. Da das Fieber heftig aufgetreten war, hatte es seine Kräfte sehr geschwächt, man konnte deswegen nicht sogleich an die Heimreise denken, sondern ließ sich vierzehn Tage in Frascati nieder, wo die trockene Bergluft die Krankheit gar bald überwand. Von hier aus wollten sie dann, einen kurzen Aufenthalt in Venedig abgerechnet, direkt nach Hause reisen.

Während dieser stillen, unwirksamen Tage in dem jetzt gänzlich verlassenen Frascati, das in seiner ländlichen Ruhe keinerlei Abwechslung bot, legte sich eine peinliche, gedrückte Stimmung auf sie alle. Ein jedes hatte an seinem eignen Kummer zu tragen, niemand konnte dem andern sein Herz ausschütten. Wie ganz anders war es doch gewesen, als sie zusammen ausreisten, als sie so eng miteinander verbunden waren, daß sie alle ihre Freude, alle ihre Sorgen miteinander teilten! Die Briefe aus der Heimat mit den Nachrichten von den Lieben dort waren der Mittelpunkt, um den sich ihr ganzes Interesse drehte, und wurden von ihnen allen mit derselben Begier verschlungen. Die Unterhaltung, wenn sie sich des Morgens am Kaffeetisch trafen, war stets eine so lebhafte, als hätten sie einander seit langen Zeiten nicht gesehen; da war stets so viel zu besprechen, neue Eindrücke, alte Erinnerungen und Zukunftspläne, und wenn man nur den geringsten Einkauf zu machen hatte, so war das eine Begebenheit, an der sie alle drei den lebhaftesten Anteil nahmen. Und jetzt! Wenn sie bei den Mahlzeiten zusammentrafen, wußten sie nicht einmal mehr eine einfache Unterhaltung zu führen, keines von ihnen hatte etwas zu bemerken. Wenn sie ausgingen, so vermieden sie einander, jedes ging seiner Wege. Des Abends saßen Alie und Aagot auf ihrem Zimmer, Richard machte einen Spaziergang, ohne sie zur Begleitung aufzufordern. Die unvermeidliche Einsamkeit des Schmerzes lag über ihnen allen. Es erging ihnen, wie es oft hier im Leben geht: das Glück vereint, der Schmerz aber trennt. Viele können sich an dem Glück eines andern erfreuen, niemand aber kann die Bürde eines andern tragen.

Man befand sich jetzt gegen Ende Oktober, und aus Schweden schrieb man, daß bereits Schnee gefallen sei, daß Wege und Stege in Schmutz und Eisschlamm aufgelöst wären, daß man heizte und Doppelfenster eingesetzt habe, während der Herbstwind um die Häuser pfiff und den ganzen Tag hindurch ein trauriges Halbdunkel herrschte.

Und hier auf der Terrasse vor dem Hotel blühten Veilchen und Rosen im Freien, und in dem hinter dem Hause liegenden Garten standen Kamelien, Chrysanthemum, Pelargonien und andre Bäume und Büsche in Blüte. Die Mandarinen- und Zitronenbäume beugten sich unter der Last halbreifer Früchte und trugen doch gleichzeitig Blumen, welche die Luft mit jenem milden Wohlgeruch erfüllten, der auf den Sinn wirkt wie ein Glück, wie eine Lebensfreude, ohne daß man sich so recht darüber klar ist, was eigentlich diese Stimmung hervorruft. Und unterhalb der Terrasse breitete die unendliche Campagna sich in blauenden Tönen aus, die besonders bei Sonnenuntergang eine täuschende Aehnlichkeit mit dem Meere hatten und Alie an die Via della Circonvollazione in Genua erinnerten; sie brach in Thränen aus, wenn sie daran dachte, daß sie jetzt für ewig dieses Land verlassen sollte, das sie zu Anfang mit Mißtrauen und Kritik, dann mit erwachender, unwiderstehlicher Touristenbewunderung betrachtet hatte, und das sie jetzt liebte wie einen Teil ihres eignen Ich.

Das kleine spießbürgerliche Heim im dritten Stock in der Strandstraße, mit seinen doppelten Fenstern und seiner Petroleumlampe an den langen Winterabenden, dies Heim, das alles umschloß, was während so vieler Jahre das Glück ihres Lebens ausgemacht hatte, wie weit lag das jetzt hinter ihr! Wie fremd war sie selber nicht dieser Welt geworden! Und was hatte sie dort im Grunde zu thun? Gab es dort jemand, für den sie die einzige oder nur die erste war? Wenn sie nie wieder zurückkehrte, würde die alte Frau in ihrer Einsamkeit sicher manchen Abend lang finden, Aagot würde niemand haben, mit dem sie sich über die Wahl einer neuen Toilette beraten konnte, und Richard niemand, der ihm aufmerksam zuhörte, wenn er, auf dem Rücken liegend, von seinen Arbeiten erzählte. Und auch der Kleine würde seinen guten Spielkameraden in ihr verlieren. Aber was weiter? Würde trotzdem nicht jedes einzelne von ihnen – wenn es in seiner Macht stünde – das Leben des andern mit dem seinen erkaufen, ohne sich zu besinnen? Eine Fremde war und blieb sie trotz allem unter ihnen.

Und jetzt mehr denn je zuvor, jetzt, wo sie mit ihren brennenden Erinnerungen unter ihnen sitzen würde, – allein mit ihrem unerträglichen Schamgefühl, das sie niemals einer Seele anvertrauen konnte.

Gleich nach ihrer Ankunft in Frascati hatte sie ihrer ganzen Verzweiflung und Bitterkeit in einem Brief an Serra Luft gemacht. Er liebe sie nicht, habe sie niemals geliebt, weshalb habe er sie denn betrogen und ihre Ruhe gestört; sie war, wenn auch nicht glücklich, so doch sorglos und heiter gewesen, als sie ihn kennen lernte; er hatte mit schändlicher Kunst mit ihr herumexperimentiert, hatte so lange mit ihr gespielt, wie es ihm Vergnügen machte, um sich dann, als er sah, daß es Ernst bei ihr geworden, daß sie ihr Leben darauf einsetzte, mit einer Phrase zurückzuziehen. Und er wagte es noch, sie zu bitten, dem, was für sie zu einer unauslöschlichen Schande geworden war, eine schöne Erinnerung zu bewahren?

Und, – sie konnte es nicht lassen, diese Worte hinzuzufügen, obwohl sie sich deswegen schämte und Ekel vor sich selbst empfand, daß sie im stande war, sich so zu erniedrigen, – und die Schande war um so größer, als er ihr dies alles aus dem Hause der Frau schrieb, um derentwillen er sie opferte.

Sie wartete mit einer dumpfen Gleichgültigkeit auf die Antwort.

Es war ihr, als wenn jetzt nichts ihre Leiden zu erhöhen vermöge, wie auch ein Brief das alte Verhältnis nicht wiederherstellen könne, – das war unwiederbringlich verloren.

Als die Antwort kam, saß sie mit Aagot und Richard am Frühstückstisch. Sie waren die einzigen Gäste im Hotel, und der Kellner, der den Brief gebracht hatte, ging sofort hinaus, um ein neues Gericht zu holen, wodurch sie eine Weile allein blieben. Alle wurde einen Schatten bleicher, als sie den Brief in Empfang nahm, aber sie erhob sich nicht von ihrem Platz, um auf ihr eignes Zimmer zu stürzen und sich dort bei verschlossenen Thüren der Lektüre hinzugeben, wie sie das früher gethan hatte; sie erbrach den Brief im Beisein der andern mit einer gewissen kaltblütigen Ruhe, indem sie zu sich selber sagte, daß sie jetzt den Mut des Armen habe: »Thut mit mir, was ihr wollt. Ich habe nichts zu verlieren.«

Aber während sie las, färbte allmählich eine tiefe, lebhafte Röte ihr Antlitz, und ihren Augen entströmten Thränen, – aber es waren keine Schmerzensthränen, sondern die Thränen einer tiefen, weichen Rührung. Mit glühenden Wangen wandte sie sich jetzt an Richard und sagte schnell und atemlos: »Ich reise nicht mit euch nach Hause, ich gehe nach Genua und bleibe dort.«

Richard sprang von seinem Stuhl aus und zog sie mit sich in den Lesesalon, wo er die Thür abschloß, während Aagot allein im Eßsaal zurückblieb.

»Darf ich mit dir sprechen? Du reist nach Genua! Soll das heißen, daß Serra dich gebeten hat, seine Gattin zu werden?«

»Nein! – aber ich will eine Stelle als Vorleserin bei seiner Tante, der Marquise Serra, annehmen.«

»Als Vorleserin bei seiner Tante! Und das hat er dir vorgeschlagen? Siehst du denn nicht ein, was darin liegt – welche Demütigung das für dich ist? Er hält dich nicht für gut genug, um seine Gattin zu werden, aber es gefällt ihm, mit dir zu tändeln. Das will ich schon glauben! Es passiert einem nicht oft, daß ein so unschuldiges, so schönes Mädchen, – noch dazu mit deiner Ueberlegenheit, – junge Mädchen wie du pflegen einem Mann bei einem so unwürdigen Spiel nicht oft zur Verfügung zu stehen.«

»Pfui, wie häßlich du alles auslegst!« rief Alte, die jedesmal, sobald Richard mit rauher Hand dies Thema berührte, in eine nervöse Empörung geriet. »Du ahnst nicht, was Liebe ist, du mit deiner Natur kannst ein Stimmungsverhältnis wie das unsre nicht begreifen. Für dich mit deinem Unternehmungsgeist besteht die Liebe natürlich nur aus Werbung und Ehe, – und wenn die Sache in Ordnung ist, setzt du dich zur Ruhe und beschäftigst dich mit etwas anderm. So aber ist er nicht. Er kann nicht so gerade auf ein Ziel losgehen. Aber dafür kann er so lieben, wie du es nicht einmal zu ahnen vermagst, – deswegen hat es keinen Zweck, daß du über ihn sprichst oder unsre Verhältnisse beurteilst, – laß du mich nur so handeln, wie ich es für das beste halte, – ich nehme die Verantwortung ganz auf mich.«

»Das kannst du nicht, denn deine Leidenschaft verblendet dich völlig. Aber, gottlob, befinden wir uns in einem Lande, wo es Mittel giebt, einen solchen Herrn für seine Handlungen zur Verantwortung zu ziehen.«

»Was meinst du damit?«

»Ich meine damit, daß ich ihn fordern werde – und nicht im Scherz, sondern im bittern Ernst – am liebsten so, daß entweder er oder ich –«

»Aber, Richard, bist du denn ganz von Sinn und Verstand? Du wolltest etwas so Wahnsinniges, Unvernünftiges thun, wolltest mich oder Aagot zeitlebens unglücklich machen? Außerdem kannst du es ja gar nicht einmal. Ein schwedischer Offizier, der das thäte, würde sofort seinen Abschied erhalten.«

»Das ist mir ganz einerlei. Ich kann dergleichen Rücksichten nicht länger nehmen, – hier gilt es etwas Wichtigeres. Ich werde über Genua zurückreisen, während Aagot und du direkt über Venedig geht und dort auf mich wartet.«

»Das werde ich nicht thun.«

»Alie, begreifst du denn nicht, daß ich alles thun muß, um dich zu retten? Ich kann nicht lieben, sagst du. Ich besitze nicht diese südländische Glut, diese sinnlichen Liebkosungen, die dich berauscht haben, – das ist wahr. Aber wenn du mich vor vier Jahren hättest verstehen wollen, dann würdest du vielleicht gesehen haben, daß ich weit tiefer lieben kann, weit leidenschaftlicher als er, – mit einer männlichen Treue, von der diese weichen Südländer keine Ahnung haben. Kannst du denn den Unterschied nicht sehen! Er hat nicht den Mut, deinetwegen auf seine Stellung als Grandseigneur zu verzichten, er hat nicht den Mut, mit seinen vornehmen Verwandten zu brechen, weder Mut noch Kraft, für dich zu arbeiten. Ich dagegen, – was hätte ich nicht für dich thun können, falls deine Wahl auf mich gefallen wäre! Ich habe eine Frau, die ich noch vor wenigen Wochen liebte –«

»Aber so schweige doch, um Gottes willen, was fällt dir nur ein?«

»Es hilft nichts, du mußt mich anhören. Ich habe eine Stellung, Zukunft, Vermögen, mein Kind, meine Mutter, – alles, was einen Mann in gemütlicher Beziehung wie in Bezug auf Ehrgeiz binden kann, – aber dies alles würde ich von mir schleudern und mit Füßen treten, wenn du die Meine werden wolltest. Ich würde meine Karriere aufgeben und mit dir nach Amerika fliehen, wenn du nur wolltest! Mit leeren Händen würde ich dir dort ein Haus erbauen, in welchem du einen sicheren Schutz, ein helleres, glücklicheres Heim finden würdest als jemals in dem Stammpalast deines Prinzen, der sich davor schämt, dich zu empfangen.«

»Ach, Richard!« rief Alie zitternd vor Erregung aus. »Welchen Zweck hat es, daß du mir dies alles sagst? Du zeigst mir dadurch nur, wie sehr ich Serra liebe. Denn ich kann ja nur einräumen, daß in dem, was du mir sagst, viel Wahrheit enthalten ist, – du bist stark und sicher, – er ist schwach und zweifelnd, – er liebt mich nicht so voll und ganz, und er kann nicht kämpfen, um mich zu erringen – das alles sehe ich sehr wohl ein – und doch – wenn ich dich reden höre, so fühlt sich mein ganzes Herz zu ihm hingezogen. Du bist so stark, so kampflustig, so thatkräftig, daß du sehr gut allein stehen kannst. Er aber ist weich, schwankend, er gehört zu denen, die sich eher vor Verzweiflung das Leben nehmen würden, als für ihre Sache zu kämpfen, – und deswegen, gerade deswegen liebe ich ihn doppelt innig, denn ich habe mehr Mut, mehr Glauben als er, weil ich ihn stützen, ihn stärken kann, weil – ja selbst seiner Fehler wegen liebe ich ihn, – und hätte er nichts als Fehler und Mängel, und besäßest du nichts als große Eigenschaften – so würde ich seine Fehler zehntausendmal mehr lieben als deine Verdienste, – verstehst du das? Ich liebe ihn, und es ist völlig fruchtlos, daß du schlecht von ihm sprichst.«

»Gut, ich werde nicht sprechen, – statt dessen werde ich aber handeln. Es ist mir unmöglich, kalten Blutes mit anzusehen, wie du dich in eine erniedrigende Stellung verwickelst, – begreifst du denn nicht, welcher Art die Folgen sein müssen?«

»Welche Folgen?« Sie sah ihm fest ins Gesicht.

»Ja, wenn du wünscht, daß ich ganz offen reden soll, – du bildest dir ein, daß so ein Italiener einer platonischen Liebe fähig ist, – er mag sich bis dahin so gestellt haben, du kannst aber sicher sein, daß es nicht lange währen wird, bis du ihm selbst entgegenkommst, – und bist du dann deiner Stärke so sicher?«

»Ich will schon für mich selber einstehen,« rief sie aus, und eine tiefe Röte flammte abermals auf ihren Wangen. »Du hast kein Recht, dich in diese Angelegenheit hineinzumischen. Wenn du wirklich mein Bruder wärest, so würde das eine ganz andre Sache sein, – aber jetzt, – und besonders nach allem, was du mir soeben gesagt hast ... Du wirfst mir vor, daß mich Leidenschaft verblende, – sei dem so, – ergeht es dir aber nicht genau so? Wie kann ich Zutrauen zu deinen Warnungen haben, wenn ich weiß, daß du in deinem eignen Interesse redest!«

»In meinem eignen Interesse? Nein, das thue ich nicht. Ich weiß nur zu gut, daß es fruchtlos sein würde. Wenn ich dein Bruder wäre, – würdest du dann auf meine Warnungen gehört haben?«

»Das weiß ich nicht – aber du wirst begreifen können, daß du mit deine Hilfe auf ganz andre Weise hättest angedeihen lassen können.«

»So laß mich dir ein Bruder sein! Ich gehe auf alles ein, wenn du mich nur anhören willst. Ich nehme alles zurück, was ich gesagt habe. Es war Wahnsinn, Uebereilung. Thue nur eins, um was ich dich bitte, Alie: kehre mit uns in die Heimat zurück, bleibe dort und sieh, ob er dir folgen wird. Oder hast du nicht einmal so viel Vertrauen zu seiner Liebe, daß du ihn auf diese Probe zu setzen wagst?«

»Laß uns nicht weiter darüber reden,« sagte sie ungeduldig. »Du verstehst weder ihn noch mich, – du kannst nicht urteilen.«

Damit verließ sie ihn und setzte sich hin, um Serras Brief noch einmal zu lesen.

»Du redest von Erniedrigung,« schrieb er; »Du allein hast unser ganzes Verhältnis erniedrigt, indem Du eine Verdächtigung aussprichst, die Deiner unwürdig ist. Eine Beatrice hat das Recht, denjenigen, den sie liebt, mit kleinlicher Eifersucht zu quälen, – Du solltest zu stolz dazu sein. Aber da Du nun doch einmal diese häßlichen Dinge berührt hast, so will ich Dir doch sagen, daß mein Verhältnis zu meiner Schwägerin weit eher Deine höchste Achtung verdient. Ich bewundere sie, und ich halte es für meine Pflicht, ihr der zärtlichste Bruder zu sein, – wenn sie einen Liebhaber hätte, so würde ich sie deswegen nicht verdammen, – daß ich aber niemals diese Stellung ihr gegenüber einnehmen kann, darüber bin ich mir stets klar gewesen. Ich liebe die großtönenden Worte nicht, – sonst würde ich sagen, daß ich die Heiligkeit der Familienbande respektiere. Die Gattin meines Bruders darf mir nichts weiter sein als eine Schwester, – freilich eine Schwester, die ich herzlich liebe, das gebe ich zu, und die ich unter keiner Bedingung würde verletzen können. Sie hat indessen nicht das geringste mit meinem Entschluß zu thun, – Du hast mich nicht verstanden, wenn Du nicht einsiehst, daß meine Neigung, alles auf die Spitze zu treiben und Deine Liebe auf die härtesten Proben zu stellen, einzig und allein in meiner schwankenden Natur ihren Ursprung hat. Thue jetzt, was Du willst. Reise und betrachte mich als niedrigen Menschen, der seinen kranken Bruder unter seinem eignen Dache betrügt und gleichzeitig ein unschuldiges junges Mädchen verführt, um sie sofort wieder zu verlassen, – wenn Du Dich des Mannes, den Du einmal geliebt hast, auf diese Weise zu erinnern wünschest. Ich bedaure, daß Dein Schicksal Dich mit einem Manne zusammengeführt hat, der Deine Ansprüche nicht befriedigen kann, – weshalb hast Du denn Deine Liebe nicht auf Deinen Richard geworfen, der zweifellos ein starker und energischer Charakter, eine gute, treue Natur ist? Er hätte Dich glücklich machen können, während ich nur Disharmonie um mich her verbreite und alles mit meinen eignen Zweifeln vergifte. Wenn ich mich in Deiner Nähe befinde, wenn ich Dich sehe und höre, so glaube ich zuweilen, daß Du mich befreien, mich aus diesem Zustand herausreißen und mir die Lebenskraft geben könntest, deren ich ermangle, – aber wenn ich von Dir getrennt bin, kehrt der Zweifel mit verdoppelter Macht zurück, und ich empfinde ein fast wahnsinniges Verlangen, alle die Samenkörner, aus denen mein und Dein Glück hätte entstehen können, auszureißen, zu vernichten, niederzutreten. Aber Du glaubst mir nicht. Ich analysiere mich selber, ich lege mich nackend unter Deine Hände auf den Sektionstisch – und Du sagst: Komödienspiel, Lügen! Was Du mir da zeigst, sind nicht Deine wirklichen, inneren Teile. Dies Herz ist nicht Dein Herz, dies Gehirn, diese Lungen sind nicht die Deinen! Dein Inneres ist auf ganz andre Weise zusammengesetzt. – Buona notte! Wie Du willst!«

Der unterdrückte Schmerz und die Bitterkeit, sowie das Gefühl der eignen Schwäche, das in diesem Ausbruch lag, hatten Alie so tief ergriffen, hatten neue Saiten in ihr ertönen lassen.

Dies im Verein mit Richards Anklagen gegen ihn, ja mit dem Gefühl der Ueberlegenheit in Richards Charakter, rief bei ihr das beste und tiefste Gefühl wach, das in der Liebe einer Frau enthalten ist, – das mütterliche in derselben. Und ihr ganzes Wesen durchdrang jenes Gefühl der Zärtlichkeit und der Innigkeit, das wohl tiefer in dem Gemüt der Frau wurzelt als nur die bloße erotische Leidenschaft.

Am Abend stand sie mit Aagot auf der Terrasse vor dem Hotel und betrachtete die Campagna, die sich zu ihren Füßen unendlich und geheimnisvoll im Mondschein erstreckte. In weiter Ferne, am Rande des Horizontes funkelte ein Lichtzirkel, der die Konturen der ewigen Stadt erkennen ließ.

Aagot hatte sich niemals mit besonderer Begeisterung über Italien geäußert, deswegen war Alie sehr erstaunt, als sie sie jetzt ausrufen hörte: »Ach, wenn ich daran denke, daß dies der letzte Mondschein hier ist, und daß wir bald wieder zu Hause sein werden, so fühle ich mich ganz verzweifelt!«

»Wie, Aagot! Du sehnst dich nicht nach der Heimat? Ist das möglich?«

»Sehnst du dich etwa danach?« fragte Aagot und sah ihr forschend in die Augen.

»Nein. Ich reise nicht mit in die Heimat.«

»Darin thust du recht. Ich würde es auch nicht thun, wenn ich nicht dazu gezwungen wäre.«

»Du, Aagot! Du hast ja deinen kleinen Sohn, deinen Gatten, deine Eltern, dein schönes Heim, – alles!«

»Und hast du nicht etwa genau dasselbe? Was habe ich, was nicht auch das Deine wäre?«

»Ich? Ich habe ja nicht das geringste von alledem.«

»Du weißt sehr wohl, daß du es alles hast. Es ist weit mehr das Deine als das Meine, – alles. Der Kleine, die Schwiegermutter, ja sogar Richard, – du bist ihnen allen viel mehr als ich. Ich könnte sterben, und alles würde genau ebenso gehen, – du verläßt uns, und wir wissen nicht mehr, was wir anfangen sollen!«

Alies eigne Gedanken! War das möglich? Aagot, die glückliche Gattin, Mutter und Tochter, sie empfand dieselbe Leere und dieselben Entbehrungen wie sie, die Einsame, die weder ein Heim noch eine Familie hatte! Dasselbe verzweiflungsvolle Gefühl, keinen Menschen zu besitzen, der uns alles ist, für den wir alles sein können.

»Ich fasse nicht, Aagot, wie du nur auf solche Gedanken verfallen kannst!«

»Nein, du kannst es nicht fassen, weil du daran gewöhnt bist, mich als seelenlose Puppe, ohne Gefühl zu betrachten, – so betrachtet ihr mich ja alle. Aagot ist mit allem zufrieden, – Aagot findet sich in alles. Ja, so bin ich gewesen, aber ich habe auf dieser Reise Verschiedenes gesehen und gelernt, an das ich wohl besser nicht hätte denken sollen. Unsre Natur ist zu kalt, um zu lieben!«

»Was sagst du nur einmal, Aagot? Ich begreife nicht, was dir heute abend in den Sinn gekommen ist. Der Mondschein macht dich sentimental.«

»Willst du vielleicht behaupten, daß Richard im stande ist, zu lieben?« rief Aagot aus, und ihre weißen Wangen färbten sich plötzlich. »Hat er mich etwa einen einzigen Tag oder auch nur eine einzige Stunde mit einer solchen Liebe umgeben, mit einer solchen Zärtlichkeit, einer so unbeschreiblichen, – ja, wie soll ich mich ausdrücken, – Erotik, Leidenschaft etwa, – ich weiß selbst nicht, was es ist, – oder so, wie Serra mit dir verkehrte? Glaubst du etwa nicht, daß ich den Unterschied gesehen und gefühlt habe? Richard und ich sind miteinander wie ein Paar alter Großeltern, – aber das genügt mir nicht mehr, ich bin jung wie du, ich bin ebenfalls hübsch, ich will auch etwas von alle dem haben, was die Poesie und das Glück des Lebens ausmacht.«

Das Ungewohnte in ihrer warmen Ausdrucksweise versetzte Aagot in eine heftige Gemütsbewegung. Sie schämte sich fast ihrer Worte und berauschte sich gleichzeitig an ihnen; ihre Wangen glühten, und ihre Augen strahlten, so wie Alie es noch niemals an ihr gesehen hatte.

»Aber, liebste Aagot, ich glaube wirklich, daß dies dein eigner Fehler ist. Soweit ich mich erinnere, hast du selber Richard niemals die geringste Zärtlichkeit erwiesen.«

»Nein, das ist völlig wahr. Ich bin in den Ideen erzogen worden, daß die Frau stets zurückhaltend sein soll, daß sie sich niemals verliebt zeigen darf; nur wenn sie kühl und keusch ist, wird sie sich die Liebe ihres Gatten bewahren. Und infolgedessen war ich kalt und keusch, nahm alle Liebkosungen, alles Leidenschaftliche so ruhig hin, daß Richard meiner überdrüssig wurde, – und jetzt, wo ich ganz das Gegenteil bin,« sie konnte vor Schluchzen kaum die letzten Worte hervorbringen, – »jetzt kann ich beinahe vor Sehnsucht nach Zärtlichkeit vergehen – aber er – er wendet mir den Rücken zu und schläft – oder denkt an etwas andres.«

Sie brach in Thränen aus und barg ihr Haupt an Alies Schulter.

»Ja, auf diese Weise verscherzen wir Frauen oft unser Glück,« erwiderte Alie. »Wir wagen es nicht, zärtlich und hingebend zu sein, – wir wollen nur nehmen, aber nicht geben. – Aagot!« fuhr sie nach einer kleinen Pause fort, indem sie den Kopf der Freundin in die Höhe hob und ihr mit dem Ausdruck eines festen Entschlusses in die Augen sah. »Wollen wir uns darüber einigen, daß wir die sogenannte Weiblichkeit abstreifen und wahr und mutig sein wollen?«

»Was meinst du damit?« sagte Aagot und trocknete ihre Augen, lächelnd und ganz verschämt über ihre Offenherzigkeit.

»Du sollst dich Richard so zeigen, wie du dich mir soeben gezeigt hast, – du sollst ihm alles sagen, was du mir soeben gesagt hast, – und ich glaube, daß du ihn zurückgewinnen wirst. Ich, – ja, was ich thun werde, darüber bin ich mir völlig klar.«

»Du reist nach Genua?«

»Ja.«

»Und er hat nicht um deine Hand angehalten?«

»Nein, und das ist auch nicht nötig. Ich will ihm meine ganze Liebe, meine ganze Hingebung schenken, – ich will ihm jeden Winkel meiner Seele weihen. Aber ich will nichts von ihm verlangen, ich will nicht ›stolz‹ sein und warten. Thue du dasselbe, Aagot, ich bitte dich dringend darum, so dringend, als ich nur kann. Und wenn du es nicht thust, so verdienst du nicht, glücklich zu sein und geliebt zu werden.«

An diesem Abend hing sich Aagot mit ungewöhnlicher Zärtlichkeit an den Arm ihres Mannes, als sie sich zurückzogen. Er war aber wortkarg und zerstreut und beachtete sie kaum. Am nächsten Morgen brannte sie vor Ungeduld, mit Alie zu reden; sobald sie aufgestanden war, pochte sie an ihre Thür. Sie wußte nicht so recht, was sie ihr eigentlich sagen wollte, aber sie war so daran gewöhnt, sich mit ihr über alles zu beraten, daß sie trotz der erwachenden Eifersucht keinen andern Ausweg sah, als Alie ihr Herz in ihrem großen Kummer auszuschütten, der ihr Gemüt mehr und mehr belastete. Als niemand auf ihr Klopfen antwortete, öffnete sie die Thür und trat ein.

Das Zimmer war leer! Sollte Alie schon ausgegangen sein? Aber ihr Koffer war ja verschwunden! Und auf dem Tisch lag ein an Richard adressierter Brief. Sie ergriff ihn und zögerte einen Augenblick. Alles, was von einem wohlerzogenen jungen Mädchen und einer musterhaften Gattin in ihr war, lehnte sich gegen diese Handlung auf, zu der sie aber die brennende Eifersucht schließlich doch trieb. Mit zitternden Händen erbrach sie den Brief und las: »Ich reise nach Genua und bitte Dich, mir meinen Willen zu lassen. Bedenke, daß Dir nichts das Recht giebt, in mein Lebensschicksal einzugreifen, daß aber Dein Feingefühl Dich verhindern sollte, Dich in meine Angelegenheiten einzumischen und mich zu verurteilen. Ich setze doch auf alle Fälle nur mein eignes Glück aufs Spiel.«

Aagot ging direkt zu Richard hinein und reichte ihm den Brief.

»Hast du ihn gelesen?« fragte er, nachdem er den Inhalt durchflogen hatte.

»Ja.«

»Und welchen Eindruck hast du davon?«

»Daß es gut ist, daß sie reiste,« erwiderte sie, ihren Arm um seine Schulter legend. »Jetzt hast du nur mich – aber du sollst sehen, daß ich weit mehr für dich sein werde, jetzt, wo sie nicht beständig zwischen uns steht und mich mit ihrer Ueberlegenheit zu Boden drückt. Jetzt will ich dir alles, alles sein!«

Ein Gefühl schmerzlicher Leere ergriff ihn bei diesen Worten.

Es wäre tausendmal besser gewesen, wenn sie gleichgültig geblieben wäre, wie sie es früher war, – aber daß sie jetzt, in diesem Augenblick kam und Zärtlichkeit von ihm verlangte, – daß bei ihr der Gedanke erwacht war, mehr für ihn zu sein als früher, gerade jetzt, wo er es bitter empfand, daß sie ihm nichts sein konnte, wo seine Seele durch Alies Grausamkeit zu Tode verwundet war, – das war denn doch zu viel!

»Laß uns vor allen Dingen nicht sentimental werden,« sagte er. »Du bist mir alles gewesen, was ich verlangt und gewünscht habe.«

Und er wandte sich ab und verließ sie.


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