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Camilla hatte sich indessen in der hohen Meinung, mit der jedermann zu Virnapor für sie eingenommen war, immer mehr festgesetzt. Der wundervolle Tod der Samorina hatte sie in ganz Malabar zum Gegenstand allerlei Mutmaßungen gemacht. Überall, wo sie sich öffentlich zeigte, wurde sie von einer jubelnden Menge umgeben, und an Hoftagen war jedes Auge auf sie gerichtet. Sie war die Bewunderung des Hofes und der Abgott des Volkes.
Wenn sie sprach, wurde jeder von der reifen Urteilskraft und dem Scharfsinn ihrer Jugend überrascht, und die Bescheidenheit ihrer Weisheit bezauberte jedermann. Ja, die Bescheidenheit ist eine Tugend auch unter den Naïren, aber nur die wahre Bescheidenheit, nicht die Scham, jene falsche Münze, die so oft an ihrer Stelle gilt. Nicht das Kind des Vorurteils, das sich seines eigenen Körpers schämt, sondern die Schwester des Mitleids und der Menschenliebe, die jede Gelegenheit vermeidet, durch die prahlerische Ankündigung seiner eigenen Vortrefflichkeit die Empfindungen eines anderen zu verwunden.
Wie oft schon hatte der Ton ihrer Stimme den Samorin aus seinen Träumereien geweckt, in die er mit dem Gedanken an seine unglückliche Schwester versunken war. Der schwermütige Fürst heftete seine Augen fest auf Camilla und wendete sich dann mit einem Seufzer zu Agalvas Bildnis.
Endlich kamen Firnos und die zwei Damen in Virnapor an. Er stellte seinem Oheim, der seinen Ohren kaum glauben konnte, Fitz Allan vor, Fitz Allan, den Freund Agalvas. Überraschung lähmte seine Zunge und erlaubte ihm nicht, seinen Gast in seinem mütterlichen Saal willkommen zu heißen. Wie unerwartet, wie unbegreiflich war die Erscheinung Fitz Allans, in dessen Hause Osva geraubt worden war.
»Und wo ist Osva?« sagte er, indem er Fitz Allans Hand mit Heftigkeit ergriff. »Ist sie entdeckt? Habt Ihr sie mitgebracht?«
Fitz Allan schwieg; er wußte nicht, was er antworten sollte. Eine hohe Röte färbte seine Wangen, und er schien nicht weniger bewegt als der Kaiser.
Ornors Fassung kehrte endlich zurück, und er versicherte dem Engländer, daß die vielen Lobeserhebungen von ihm in dem Tagebuch Agalvas ihm schon viele Freunde in Malabar erworben hätten, aber daß er, der erste unter dieser Zahl, sich nie geschmeichelt hätte, daß es in seiner Macht stehen würde, ihm die Höflichkeiten zu erwidern, die er seiner Schwester zu Allans Castle erwiesen hätte. »Ach, nie ohne Seufzer denke ich an ihren dortigen Aufenthalt. Doch Ihr seid unschuldig daran, Ihr konntet den traurigen Vorfall nicht voraussehen.«
Fitz Allan war im Begriff, die Gerechtigkeit des Fürsten zu loben, denn der höfliche Fitz Allan ließ keine Gelegenheit unbenutzt, wo er ein Kompliment anbringen konnte, als das Jauchzen und Frohlocken des Volks die Gesellschaft an die Fenster rief. Camilla, von dem jungen Adel des Hofes begleitet, kam eben von der Jagd zurück. Fitz Allan erblickte kaum seine Landsmännin, als Todesblässe sein Gesicht bedeckte, seine Knie zitterten und er sinnlos und ohne Bewegung zu Boden stürzte.
Der Kaiser, der neben ihm stand, konnte seinen Fall nicht hindern. Die Hofleute sprangen zu seiner Hilfe herbei und brachten ihn zu Bette. Man schrieb seine Unpäßlichkeit der Hitze der Witterung zu, doch als er wieder zu sich kam, schien er finster und gedankenvoll.
Der Kaiser und der Erbprinz besuchten ihn in seinem Zimmer; er sprach wenig, und heimlicher Kummer schien an seiner Seele zu nagen. Man konnte ihn durchaus nicht überreden, zu der Gesellschaft zurückzukehren, und die folgende Nacht hörte man ihn beständig in seinem Zimmer auf und ab gehen und mit sich selbst sprechen. Es war sehr spät, ehe er sich zur Ruhe legte, und als ihn der Erbprinz den folgenden Morgen besuchte, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, fand er ihn noch im Bette.
Camilla begleitete den Prinzen bei diesem Morgenbesuch, den er ihrem Landsmann abstattete. Beide setzten sich ruhig neben sein Lager und erwarteten sein Erwachen.
Fitz Allan schien von einem fürchterlichen Traum beunruhigt. Er wirft sich hin und her. »Hilfe, Hilfe!« schreit er endlich laut auf; »rettet sie! sie sinkt!« Er springt aus dem Bett, ergreift Camilla um den Leib und eilt mit ihr nach dem anderen Ende des Zimmers. »Ich bin zu schwach,« sagte er, »ich kann sie nicht retten.« Er läßt sie nun los, und indem er selbst zu Boden fällt, erwacht er aus seinem Traum.
Firnos bringt ihn wieder in sein Bett. Er schlägt die Augen auf und erblickt Camilla. Mit fürchterlicher Stimme ruft er aus: »Ihr Geist, ihr Geist!« und fällt ohnmächtig zurück.
Camilla eilt nach Hilfe, indessen erholt er sich und bittet, man möchte ihn mit dem Prinzen allein lassen.
»Obgleich ich fürchten muß,« sagte er, »daß Ihr jetzt eine verächtliche Meinung, entweder von meinem Kopf oder von meinem Herzen fassen werdet, so muß ich doch der wiederholten Ermahnung von oben gehorchen und Euch ein Geheimnis von der größten Wichtigkeit entdecken. Seit gestern befinde ich mich in einem so fürchterlichen Zustand, daß ich beinahe eine Geisteserschütterung fürchten möchte.
»Von jeher hatte ich mehr Hang zum Skeptizismus als zur Leichtgläubigkeit, doch war es immer mein Wunsch, zwischen diesen beiden Klippen hindurchzusteuern. Die Möglichkeit eines Geistes kam mir immer wie ein kindischer Popanz vor, aber eine Erscheinung, die mir seit meiner Ankunft hier zweimal vorgekommen ist, hat das Gebäude meiner Grundsätze ganz umgeworfen. Leider ist es mit mir so weit gekommen, daß ich fürchten muß, Ihr könntet meinen Verstand im Verdacht haben. Doch Eure Gerechtigkeit wird mich von aller überlegten Bosheit freisprechen, und Ihr werdet mir zugestehen, daß ich an der traurigen Begebenheit, die aus der unglücklichen Vorsicht Eurer Mutter entsprang, ganz unschuldig bin.
»Das Tagebuch der Prinzessin hat Euch schon die Verwirrung beschrieben, die in meinem Schloß herrschte, als man Eure kleine Schwester vermißte, und hat Euch auch von unseren grundlosen Mutmaßungen und fruchtlosen Nachforschungen unterrichtet. Nach fünfzehn Jahren erhielt ich von einem vormaligen Bedienten der Familie diesen Brief:
»Hochwohlgeborener Herr!
»Gnädiger Herr!
»Euer Gnaden werden geruhen, die Freimütigkeit dieses Briefes zu verzeihen. Sie wissen, daß der alte Griesgram, wie Euer Gnaden mich zu nennen pflegten, nie ein Schmeichler war, und nun, da er älter geworden ist, ist er auch mürrischer geworden; auch habe ich jetzt weit weniger Interesse, Euer Gnaden zu schmeicheln.
»Die Gunst Euer Hochwohlgeboren besaß ich nie, und die Wahrheit zu gestehen, verdiente ich sie auch nicht. Stundenlang hielt ich mich öfters in der gotischen Galerie auf und betrachtete die Familiengemälde. Dieser Bube, dachte ich, hat weder die Augen noch die Nase seines Geschlechts. Wem ist er denn sonst ähnlich, dieser unerwartete Gast, der zwei Monate zu früh zum Vorschein kam? Ich weiß, wer ein besseres Recht hat als er, den Namen Fitz Allan zu führen. – Doch genug davon. – Wie schon gesagt, mein Interesse verlangt nicht, Euer Gnaden zu schmeicheln. Ich konnte Sie nie leiden, und dennoch wollte ich nicht grob gegen Euer Gnaden sein. Derjenige, welcher so viel Recht hatte, Ihr ganzes Eigentum, Ihr Alles zu besitzen, ach! der ist nicht mehr! Sein freudeloses Leben endigte sich mit einem schmachvollen Tod. Ich will ihn nicht Ihren Bruder nennen, ob er gleich der Sohn meines gnädigen Herrn war und ihm so ähnlich sah, als ob er ihm aus den Augen geschnitten wäre. Sie werden sich noch des Findlings erinnern, der als Kind mit den jungen Herrschaften spielte. Euer Gnaden waren zwar älter als er, aber er war lange ein Gesellschafter Ihrer Herren Brüder, ein Untertäniger einer untergeschobenen Brut und ein Findling im Hause seiner Väter. Nach dem Tode meines seligen Herrn wurde er, ohne einen Freund, ohne einen Schilling, ohne ein Obdach zu haben, in die weite Welt gestoßen. Euer Gnaden nahmen einen neuen Haushofmeister an, und ich trat in die Dienste des Lords B… Von meinem dürftigen Lohn unterstützte ich den verlassenen Jüngling. Ich hätte ihm gerne eine Stelle in irgendeinem Amte verschafft, oder ihn als Sekretär bei einem Kavalier empfohlen, seine Erziehung war aber zu sehr vernachlässigt worden, er konnte kaum schreiben. Umsonst versuchte ich es, ihn irgendwo als Kammerdiener unterzubringen, er war endlich gezwungen, die Stelle eines Bedienten anzunehmen. Das edle Blut der Fitz Allans floß in seinen Adern, und doch mußte er Livree tragen. Seine gnädige Frau bekam Lust, die Rolle der Gemahlin Potifars zu spielen; unglücklicherweise war sie entweder schöner als jene oder der Jüngling von einem weniger kalten Temperament als Joseph; genug, er wurde ertappt und vor den Richter geführt, der ihn zu einer Geldstrafe von viertausend Pfund verdammte. Eine solche Strafe war für einen Bedienten so gut als eine lebenslängliche Einkerkerung, denn wo sollte er das Geld hernehmen?
»Er wurde auch wirklich, da er nicht zahlen konnte, in das Gefängnis geworfen. Seine Mutter, meine arme Schwester (Euer Hochwohlgeboren werden sich noch der Betty Perkins erinnern, die bei meinem seligen Herrn so lange als Haushälterin diente, und die sogar während einer Zeit zufrieden war, bei ihm ohne Lohn zu dienen), starb mit gebrochenem Herzen. Auf ihrem Sterbebette versprach ich ihr, daß, obgleich der Vater seinen Sohn wie einen Bettler verlassen hatte, ich doch meinen Neffen nie verlassen wollte.
»Ich entschloß mich, alles zu wagen, um ihm seine Freiheit zu verschaffen. Meine Schwester war mir zu teuer, und ich liebte ihren Sohn. Der Lord, mein gnädiger Herr, hatte mir eine Summe Geldes anvertraut; ich wurde zum Verräter. Der Himmel verzeih' mir, es war das erstemal, daß ich je eine Ungerechtigkeit ausübte. Ich benutzte die Summe, um die Geldstrafe zu bezahlen und meinen Neffen in die Freiheit zu setzen. Das Geld wurde vermißt, ich wurde in das Gefängnis geworfen; sobald aber mein Herr den Beweggrund des Diebstahls erfuhr, war er großmütig genug, sich für mich bei dem Oberrichter zu verwenden, und ich wurde nur zu den Galeeren verdammt.
»Mein Neffe hatte jedoch lange genug im Gefängnis gesessen, um seine moralischen Grundsätze zu verderben, doch blieb sein Herz gut, und die Undankbarkeit war nicht mit unter seinen Untugenden. Das Blatt hatte sich gewendet: ich saß nun im Gefängnis, und er war frei; er blieb aber in der Nähe und arbeitete Tag und Nacht, um mir jede Bequemlichkeit zu verschaffen, die mir meine traurige Lage versüßen konnte. Man hätte sagen können, daß er, nicht ich, wie ein Galeerensklave arbeitete.
»Einst kam er in der Abenddämmerung zu mir, zog einen Schlüssel hervor, schloß meine Ketten auf und rief: ›Fort, fort! Keine Fragen! Keinen Augenblick verloren! Fort, die Flucht muß uns retten!‹ – Sie können leicht glauben, daß ich keine Aufmunterung zur Flucht nötig hatte.
»Bald darauf erfuhr ich, daß Euer Gnaden den einen Bedienten verabschiedet hatten. Ich entdeckte meinem Neffen den Namen seines Vaters und riet ihm, sich um diese Stelle zu bewerben. ›Geh,‹ sagte ich, ›du wahrer und rechtmäßiger Fitz Allan; der untergeschobene Fremde, der von deinem Eigentum schwelgt, ist ebensogut ein Hahnrei wie sein Vorfahr. Seine Ehehälfte sieht auch die Livreen nicht ungern. Geh! suche dich zu empfehlen. Lege die Eier wieder in ihr altes Nest.‹
»›Nein,‹ sagte er, ›nein, bin ich wirklich ein Fitz Allan, so werde ich mich meiner Vorfahren nicht unwürdig erweisen. Wie könnte ich das Wappen am Knopf oder auf dem Ärmel tragen, das an meinem Kredenztisch oder an meinem Wagen glänzen sollte. Nicht List, sondern Kühnheit war der Charakter unseres Hauses, und auch in diesen Adern fließt edles Blut. Ich hatte von jeher eine Ahnung, daß ich von erhabener Geburt wäre, denn ich konnte mich nie vor einem Höheren beugen. Im Gefängnis lernte ich einige brave Kerls kennen, und ich bin jetzt ein Räuberhauptmann.‹
»Ich erfuhr nun, daß er mir meine Freiheit dadurch verschafft hatte, daß er den Galeerenmeister mit einem Diamantring bestach, der ihm einst bei einer nächtlichen Expedition als Anteil der Beute zufiel.
»Ich will weder meine Ermahnungen noch seine Gründe wiederholen, um mich zu bewegen, mit zu ihrer Rotte zu treten. Der Endzweck meines Schreibens ist gar nicht, mir die gute Meinung Eurer Hochwohlgeboren zu erwerben. Es war auch sogar eine Zeit, wo ich mir ein Vergnügen daraus gemacht hätte, Ihnen alles nur mögliche Übel zuzufügen, und solange ich lebe, werde ich Ihnen nie gut werden. Der Sohn meiner Schwester mußte den Namen Fitz Allan führen, und Sie – Gott weiß, wie Sie heißen sollten. Habe ich aber nicht Ursache genug, Sie zu hassen? Kurz, ich vereinigte mich mit den Räubern, und unsere erste nächtliche Unternehmung war wider Allans Castle gerichtet.
»Wir hatten unsere Kerls in dem Park versteckt, und auf ein gewisses Signal sollten sie sich dem Hause nähern. Mein Neffe und ich, die wir jeden Winkel im Schlosse kannten, schlichen uns in der Abenddämmerung, vom Pförtner unbemerkt, hinein. Als wir über eine Galerie gingen, fiel mein Neffe vor dem Gemälde meines seligen Herrn auf die Knie und bat um seinen Beifall und Segen. In dem Augenblick erblickte er auch Ihr Porträt; wütend stand er auf, und ich konnte ihn kaum davon zurückhalten, es von der Wand zu reißen. Wir hörten Fußtritte und eilten fort, um nicht entdeckt zu werden. Endlich kamen wir an ein Zimmer, das, wie wir glaubten, Ihrer Frau Gemahlin gehörte. Mein Neffe kroch unter das Bett, und ich verbarg mich hinter einem altmodischen Schirm.
»Nun erraten Sie wohl, und wenn Sie noch irgendeines menschlichen Gefühls fähig sind, wird es Ihr Herz rühren, daß der Jüngling, der im Zimmer der Dame entdeckt wurde, der Sohn, nicht Ihres Vaters (denn wer war Ihr Vater?), sondern Ihres Wohltäters war, dem Sie Ihren Namen, Ihren Rang, Ihr Vermögen, Ihr Alles (nur Ihr Leben nicht) schuldig sind. Ich klage Sie nicht an, darum gewußt zu haben, denn einer solchen Grausamkeit halte ich Sie nicht fähig. Wenn Ihnen das Geheimnis seiner Geburt bekannt gewesen wäre, so hätten Sie gewiß Pardon für ihn ausgewirkt. – Aber er verzweifelte selbst, je eine seiner Geburt angemessene Rolle spielen zu können. Er konnte seine unwürdige Niedrigkeit nicht ertragen; das Leben war ihm zur Last. Der nämliche Mut, der die alten Ritter, seine Vorfahren, zu Helden stempelte, galt an einem Hausdieb als eine empörende Hartnäckigkeit. Er verweigerte es, auf die Anklage zu antworten, runzelte verächtlich gegen seine Richter die Stirn und hörte sein Todesurteil ohne Bewegung aussprechen. Schauervoller Wechsel des Glücks! Überführt, das Haus seiner Ahnen betreten zu haben, litt er an dem Ort einen schändlichen Tod, wo er das Leben erhalten hatte; an dem Ort, der während so vieler Jahrhunderte der Sitz ihrer Macht und Herrlichkeit, ja ich darf auch sagen, ihrer Güte und Gastfreiheit gewesen war. – Doch zurück zu meiner Geschichte.
»Sobald die Dame, in deren Zimmer wir uns verborgen hatten, meinen Neffen in ihr Kabinett gelockt hatte, rief sie nach Hilfe. Ich kroch hervor und wollte meinen Neffen befreien, aber die Tür war fest verschlossen. Armer Jüngling, ich mußte dich deinem Schicksal überlassen. Doch das Weib, die Urheberin deines Todes, hatte einen schlafenden Säugling im Bett verlassen. Ich hielt die Dame für Ihre Frau Gemahlin und das Kind für das Ihrige. Zweifache Rache also! Rache für das verwirkte Leben, Rache für das gestohlene Gut meines Neffen! Ich bemächtigte mich des Kindes, sprang mit ihm durch das Fenster, entkam glücklich und ohne Schaden, warnte die Räuber, daß sie sich aus dem Staube machen sollten, und entfloh nach Boulogne in Frankreich.
»Zu Boulogne stieg der Gedanke in mir auf, daß mir das Kind als Geisel für das Leben meines Neffen wohl nützlich werden könnte. Ich schrieb drei Briefe an Euer Gnaden und versprach, das Kind zurückzugeben, wenn mein Neffe Pardon erhielte; ich bekam aber keine Antwort, vielleicht waren sie, da ich kein Französisch verstand, unrichtig adressiert, und Euer Gnaden haben keinen erhalten. Voll Unruhe über das Schicksal meines Neffen, kehrte ich nach England zurück. Dort hörte ich sein jammervolles Ende und schwor, Ihr Kind nie zurückzugeben.
»Aus Furcht vor der Polizei blieb ich lange verborgen und floh von einem Wald zum anderen. Einst begegnete ich in dem Walde bei Epham einer Zigeunerin, die beschäftigt war, ein Loch zu machen, um ein Kind zu begraben, dessen Tod ihr sehr unangenehm war, da sie es gebraucht hatte, um durch sein Schreien Mitleid zu erregen und sich dadurch Almosen zu verschaffen. Kurz, das kleine Mädchen wurde mir zur Last, und ich bot es der alten Hexe an, die es mit Freuden annahm.
»Erst vor kurzem habe ich erfahren, daß das Kind nicht Ihnen, sondern einer fremden Dame gehörte, die damals in Allans Castle zu Besuch war. Der Kinderraub galt Ihnen, denn ich haßte nur Sie allein. Die Dame hatte zwar den Tod meines Neffen verursacht; aber wenn ich bedenke, daß sie sich dabei betrug, wie alle anderen sich an ihrer Stelle auch würden betragen haben, und wenn ich nach meinem Schmerz über den Verlust meines Neffen urteilen darf, was sie bei dem Verlust ihrer kleinen Tochter hat leiden müssen, so bin ich geneigt, ihre Schmerzen zu stillen und alle Martern, die ich ihr verursacht habe, wieder gutzumachen.
»Ich hoffe also, daß Euer Hochwohlgeboren nicht versäumen werden, der unglücklichen Mutter die Nachricht mitzuteilen, daß die besagte Zigeunerin mit einer herumziehenden Horde alle Herbst nach Bexley in der Grafschaft Kent zurückkehrt, wo sie bei der Heu- und Kornernte Arbeit findet. Sie trägt eine Narbe an der rechten Schläfe und hat das rechte Auge verloren. Unter der ganzen Nachbarschaft ist sie unter dem Namen der Königin von Ägypten bekannt. Ich bete aus dem Grund meines Herzens für den glücklichen Erfolg Ihrer Nachforschungen wegen des verlorenen Kindes, und daß die trostlose Mutter es bald wieder an ihr Herz drücken möge.
»Die Zeit hat den Groll gegen Euer Gnaden zwar etwas gemildert, doch sehen Sie nur durch die Fenster Ihres Schlosses nach dem Platz, wo der Galgen meines unglücklichen Neffen stand, und fragen Sie dann Ihr Herz, ob Sie einen Wunsch für Ihr Glück und Wohl erwarten können von
Ihrem
untertänigst gehorsamsten Diener
Samuel Perkins.«
»Und wo ist Osva? wo ist meine Schwester?« rief Firnos, der seine Ungeduld nicht länger mehr im Zaum halten konnte.
»Ach!« antwortete Fitz Allan, »ich habe ihren Geist gesehen. Doch laßt mich erst meine Erzählung vollenden. Ich reiste nach dem im Briefe bezeichneten Ort, und nach vielen Nachfragen entdeckte ich die einäugige Zigeunerin. Ich sparte weder Versprechungen noch Drohungen, und endlich kamen folgende Begebenheiten an den Tag. Sie hatte ein kleines Mädchen geraubt in der Absicht, sie zuerst auf ihren Entdeckungsreisen zu gebrauchen und sie alsdann der Familie unter dem Versprechen der Verzeihung und einer großen Belohnung wieder zurückzugeben. Dieses Kind starb zu ihrem größten Leidwesen einige Monate nachher, und sie war eben beschäftigt, es zu begraben, als Perkins sie im Walde traf und ihr das andere Kind schenkte. Dieses nun hoffte sie nach einigen Jahren der Familie des verstorbenen Kindes anstatt ihres eigenen Kindes zurückzugeben, und dies war wirklich geschehen. Eine große Summe Geld hatte diesen abscheulichen Plan belohnt. Eine Dame aus der hintergangenen Familie hatte einen anonymen Brief erhalten und Eure Schwester statt ihrer eigenen Nichte nach Hause geholt.
»Sobald die Alte dieses Bekenntnis vollendet hatte, fiel sie auf die Knie und bat um Verzeihung ihres Verbrechens. Endlich versprach ich sie ihr, im Fall, daß sie mich jetzt nicht wieder betröge, und schickte sie unter guter Begleitung nach Allans Castle. Indessen besuchte ich einen Freund, der in der Nachbarschaft dieser Dame wohnte, in der Hoffnung, von ihm alle Umstände zu erfahren, ehe ich die Absicht meines dortigen Besuchs bekannt machte.
»Es war ein schöner Herbsttag, als mein Wagen nicht weit von meinem Landsitz von einer Jagdgesellschaft in einem engen Wege aufgehalten wurde. Als ich meinen Freund darunter erblickte, stieg ich aus, sprang auf eins seiner Pferde und jagte mit.
»Bei der Gesellschaft befanden sich auch zwei Damen. Eine davon, ein fünfzehnjähriges Mädchen, begleitete oder vielmehr führte die kühnsten Jäger über die gefährlichsten Örter. Ihr Mut überraschte mich, ich zitterte für ihr Leben, ob sie gleich sehr gut ritt. Die ältere Dame fing auch an, besorgt um sie zu werden, und rief sie zurück. Jetzt hatte ich Gelegenheit, ihr Gesicht zu betrachten. Ich erkundigte mich bei meinem Freund, wer sie wäre, und war nun überzeugt, daß die alte Zigeunerin mich nicht belogen hatte. Ja, Prinz, es war Osva, eine so vollkommene Ähnlichkeit hatte ich noch nie gesehen, dieselben Gesichtszüge, dieselbe Farbe, dasselbe dunkelbraune Haar, dasselbe Feuer im Auge, derselbe Ausdruck in ihrer Miene, kurz, alles, was mich an Eurer Mutter so bezaubert hatte, fand ich in ihr wieder vereint. Mein Freund stellte mich den beiden Damen vor, ich gesellte mich zu der Tante, aber nichts konnte die Nichte zurückhalten. Sie blieb noch immer die Anführerin der Jagd.
»Während meiner Unterhaltung mit der Tante lenkte ich das Gespräch auf die Nichte; sie bestätigte die Geschichte, daß sie von einer Zigeunerin gestohlen und wieder zurückgegeben worden wäre, und beschrieb die Dankbarkeit der ganzen Familie bei der Wiedererstattung dieses Kindes, des Erben eines alten Namens und beträchtlichen Vermögens. Darauf hielt sie den guten Eigenschaften der Nichte eine Lobrede, und ich fand nachher, daß ihr Verdienst das Lob weit übertraf. Die ganze Jagdgesellschaft speiste bei meinem Freund, und ich freute mich, Gelegenheit zu haben, das Fräulein zu beobachten. Ich fand sie nicht nur verständig, sondern auch gelehrt. In der Geschichte war sie sehr belesen, sie sprach mit Fertigkeit drei Sprachen und war mit den besten Schriftstellern bekannt; kurz, ihre Geistesbildung und körperlichen Vollkommenheiten waren gleich bewunderungswürdig. Ach! Firnos, dies war Eure Schwester, und wenn sie keine Naïrin gewesen wäre, so verdiente sie doch eine zu sein.«
»Warum foltert Ihr mich mit Ungeduld,« rief Firnos. »Was war das Schicksal dieser unvergleichlichen Schwester? Solche Vollkommenheiten waren in ihr vereint, und sie ist nicht mehr! Sie, auf ewig verloren! – Sprecht, was war ihr Schicksal?«
»Ach, es war grausam. Die gute Tante starb; ihre anderen Anverwandten wollten sie an einen Nichtswürdigen verheiraten. Die Nacht vorher sprang sie entweder vorsätzlich in einen Fluß, oder fiel unglücklicherweise hinein, als sie durch die Flucht ihrem bevorstehenden Joch entgehen wollte.«
»Was,« rief Firnos, »Ihr wußtet, daß es Osva war, und konntet den Betrug zugeben? Ihr konntet ruhig zusehen, wie Fremde sie mißhandelten? Ihr dachtet nicht daran, wie ihre wahre Familie über ihren Verlust trauern müsse? Als Naldor und ich Euch in London besuchten, da leugnetet Ihr alle Kenntnis von ihrem Schicksal; war dies Feigheit oder Bosheit? Ihr, die Ihr Euch von Erscheinungen schrecken lasset, ich weiß nicht, ob ich Euch verachten oder verabscheuen soll.«
»Jüngling, wenn ich auch vor Erscheinungen zittere, so fürchte ich doch keinen Lebendigen. Leichtgläubigkeit war sonst nicht unter der Zahl meiner Schwachheiten. Zuerst werde ich mein Betragen verteidigen und nachher Euch Eure unbesonnene Sprache verzeihen.
»Mein Herz entschuldigt nicht allein, sondern es billigt sogar ein Betragen, das ich zwar als Kavalier nicht verteidigen kann, da ich nicht nur gegen Euch einer Lüge fähig war, sondern auch, wie Ihr sagt, einen Betrug zugab. Aber darüber hatte nicht Eure Familie, sondern diejenige, welche Osva als ihr eigenes Kind erzog, das meiste Recht zu klagen: und doch meinte ich es mit beiden so gut.
»Eure Mutter, aus welchem Beweggrunde weiß ich nicht, gab sich für eine Italienerin aus, und möchten doch die unglücklichen Folgen, die aus dieser einzigen Lüge entsprangen, jedermann von der kleinsten Abweichung, der Wahrheit abschrecken, so verzeihlich und unschuldig, so verdienstvoll und edel sie auch scheinen möge. Nach ihrer Abreise besuchte ich Italien, und bei meiner Zurückkunft nach London redete ich den vorgeblichen Cavaliere in italienischer Sprache an. Seine Farbe veränderte sich, er stockte und wußte nicht, was er antworten sollte; endlich bediente er sich der elenden Ausflucht, daß er, um sich im Englischen zu üben, ein Gelübde getan hätte, kein Wort Italienisch zu sprechen. So oft auf Italien die Rede kam, war seine Unwissenheit in allem, was das Land betraf, zu auffallend. Ich sprach mit einigen Italienern von meiner Bekanntschaft, die mir versicherten, daß weder eine Familie Roverbella noch Pellerini in Florenz existierte, und so oft Italiener bei mir zu Gesellschaft waren, vermied Pellerini sorgfältig das Haus. Dies alles bestätigte meine Meinung, daß Eure Mutter und ihr Begleiter, ob ich gleich nicht begreifen konnte, warum Leute, die so vermögend schienen, ihren wahren Namen verbergen sollten, nicht viel besser als Betrüger wären. (Verzeiht die Härte des Ausdrucks!) Eure Mutter war zwar eine Dame von den vorzüglichsten Eigenschaften, aber wie oft sind nicht Betrüger mit allen Gaben ausgerüstet. Ihr Reichtum war vielleicht nur von kurzer Dauer, und ihr künftiges Schicksal ungewiß. Als ich daher Eure Schwester als den Liebling und die Erbin einer vornehmen Familie fand, die solche Sorgfalt auf ihre Erziehung wendete, die sie für ihr eigenes Kind hielt und sie als ihr höchstes Gut schätzte, so beschloß ich, ihnen die Augen nicht zu öffnen und einen Traum, der ihnen so süß war, nicht zu stören. Unwissend, daß Eure Mutter eine indische Prinzessin war (da wir Europäer überhaupt so wenig von Eurem Mutterlande als von den Ländern im Mond wissen), glaubte ich, daß Eure Mutter mir noch viel Dank wissen müsse, daß ich die glänzenden Aussichten ihrer Tochter nicht verdarb. Hätte mich Eure Mutter ihres Zutrauens gewürdigt, so hätte ich mich gleich mit der kleinen Osva nach Kalekut eingeschifft.
»Ich behielt daher das Geheimnis in meiner Brust verwahrt, kehrte zurück und setzte die alte Zigeunerin in Freiheit. Das schlechte Betragen der Familie gegen Eure Schwester erfuhr ich erst nachher. Ich war in Frankreich, als die gute Tante starb, und ehe ich zurückkehrte, war das unglückliche Mädchen schon tot. Als Ihr mich zu London besuchtet, war sie schon seit einigen Monaten nicht mehr. Die Kenntnis der traurigen Wahrheit hätte Euch also nichts mehr geholfen, und da Ihr immer noch darauf beharrtet, Italiener zu sein, obgleich ich wußte, daß Ihr es nicht waret, so verschaffte Euch dies wenig Ansprüche auf mein Zutrauen.
»Vielleicht hätte ich Euch, um Eure Wunden nicht von neuem wieder aufzureißen, nie von diesen Umständen unterrichtet, wenn ich nicht jetzt schon zweimal von oben herab gewarnt worden wäre. Gestern sah ich eine Erscheinung zu Pferde; Osva als Naïrin gekleidet, von dem jungen hindostanischen Adel begleitet, die sie alle an Vollkommenheiten zu übertreffen schien, ritt durch die frohlockende Menge, und Osva, hätte sie einmal ihre mütterliche Luft eingeatmet, wäre gewiß die Freude des Volks! Heute morgen, als ich eben von einem schaudervollen Traum, in dem ich Eure Schwester in den Strom untersinken sah, erwachte, erblickte ich in diesem Zimmer diesen unversöhnlichen Geist. O Firnos, ich fordere nicht, daß Ihr mir Glauben beimessen sollt, denn auch ich habe bis jetzt an der Wirklichkeit der Geister gezweifelt, und noch in diesem Augenblick weiß ich nicht, ob ich meinen Augen trauen darf.«
Kaum hatte er die letzten Worte ausgesprochen, als der Samorin und die junge Engländerin eintraten.
Fitz Allan erschrak heftig: »Osva! Camilla! der Geist!« schrie er laut auf.
»Sonderbar,« flüsterte der Prinz dem Samorin ins Ohr. »Fitz Allan hält Camilla für einen Geist, und doch weiß er, daß sie Camilla heißt. Armer Mensch! Sein Verstand, fürchte ich, ist dahin! Ich bedauere ihn von Herzen, ob er gleich wenig Ansprüche auf unser Mitleid hat. Ach, er hat mir eine Erzählung gemacht, die Euch erschüttern wird. Meine unglückliche Schwester wurde an eine Zigeunerin verkauft, die sie einer englischen Familie an Statt ihres eigenen Kindes zurückgab. Man mißhandelte sie, man wollte sie zwingen, wider ihren Willen zu heiraten; der Mut einer Naïrin erwachte in ihr, sie stürzte sich in einen Fluß und ertrank.«
»Nein, sie lebt!« rief der Samorin. »Komm in meine Arme, Nichte, Tochter Agalvas. Deine Ähnlichkeit hat mich nicht getäuscht.«
Die Freude erlaubte ihm kaum, sie zu erreichen, um sie in seine Arme zu schließen, die Tränen des Entzückens flossen vereint zusammen. Firnos, der sie noch immer für die Tochter von Margarete Montgomery hielt, blieb in Verwunderung und Zweifel versunken bewegungslos stehen, und Fitz Allan wußte nicht, ob er seinen Augen trauen sollte, als Camilla Harford vor ihm stand.
Die Nachricht lief bald wie ein Blitz durch das ganze Schloß. »Es lebe die Tochter Agalvas! Es lebe Osva Agalvina! Es lebe Osva von Hindostan!« so rief das jubelnde Volk im Schloßhof, und das Freudengeschrei erweckte Firnos aus seinem Erstaunen; der Oheim und die Nichte fühlten, daß es kein Traum war.
Osva eilte fort, um die kleine Marina zu holen; wie froh war ihr mütterliches Herz, als sie die Wärterin von einer ergebenen Menge umringt fand. Ihre kleine Tochter lag bald in des einen, bald in des anderen Armen, jeder strebte danach, sie zu liebkosen. Die Mutter erschien, alles drängte um sie; man bedeckte ihre Hände mit Küssen. »Freue dich, Malabar, du wirst nicht unter ein fremdes Zepter fallen! Blühe ewig, Geschlecht Samoras! blühe in der Nachkommenschaft Osvas!«
Osva kam mit Marina, der zukünftigen Hoffnung von Hindostan, zurück. Der Kaiser riß sie aus ihren Armen und drückte sie an seine Brust.
Firnos erzählte nun seiner Schwester, wie sie von der Zigeunerin an Cornelia Northcote an Statt ihrer eigenen Nichte verkauft wurde, und Osva unterrichtete ihren Bruder, wie sie von Northcote Park die Flucht genommen und bei Margareta Montgomery Schutz gefunden hatte.
Welches Vergnügen gewährten beiden diese Entdeckungen. Firnos hatte nicht nur eine Schwester, sondern auch in derselben das Weib gefunden, das ihm unter allen Engländerinnen die meiste Hochachtung eingeflößt hatte. Und Osva, der mutige Zögling von Cornelia Northcote, die aufgeklärte Freundin von Margareta Montgomery, jetzt nicht mehr eine Verbannte, die bei Fremden einen Zufluchtsort gegen die Verfolgungen ihrer eigenen Anverwandten suchen mußte, jetzt nicht mehr das Opfer des Vorurteils, war nun ein Mitglied eines freien Landes, eine Prinzessin von kaiserlicher Geburt, der Stolz ihrer Familie und der Abgott des Volks, ein Abkömmling der Semiramis und eine Tochter Agalvas, die sie beinahe wie ein höheres Wesen betrachtet hatte.
Die Freude glänzte auf jedem Gesicht und belebte jedes Herz, und obschon das Bild seiner unglücklichen Schwester öfters vor seinen Augen schwebte, so blieb doch auch der Samorin selbst nicht mehr ganz untröstlich. Die Reichsfürsten wurden durch eine Proklamation eingeladen, in seinem mütterlichen Saal zu erscheinen, um Osva, der Mutter ihrer künftigen Kaiser, zu huldigen und alle Umstände dieser Begebenheit zu erfahren.
Der Tag zu dieser Feierlichkeit war festgesetzt. Nach allen Vorkehrungen, die man machte, mußte man seit den Zeiten der ritterlichen Gastfreiheit nichts Prächtigeres und Herrlicheres gesehen haben. Die eichenen Tafeln sollten sich unter den rauchenden Schüsseln beugen, die schäumenden Pokale in der Reihe herumgehen, und die Kanonen sollten dem Himmel verkündigen, daß die Neffen der Helden und die Söhne freier Weiber auf das Glück und die Nachkommenschaft Osvas tranken.
Aber nicht das prächtige Gastmahl im Rittersaal allein, nicht der Bürgerschmaus auf dem Rathause, nicht die Lustbarkeiten der Bauern in der Dorfschenke und auf der Wiese sind die einzigen Kennzeichen der allgemeinen Freude. Die Dankbarkeit der Naïren muß auf eine edlere Art, auf eine Art ausgedrückt werden, die eines großmütigen Volkes wie der Naïren würdig ist. Die Hauptzierde einer Prozession an irgendeinem römisch-katholischen Feiertag ist oft nicht der Schenkel des heiligen Christoph oder das Kinderzeug der gebenedeiten Jungfrau, sondern besteht in einer Reihe Mitmenschen, die die christliche Milde aus mohammedanischer Gefangenschaft erlöst hat. Und so muß auch in Hindostan jede Feierlichkeit durch die Gegenwart einiger Weiber, die aus den persischen Harems befreit sind, geziert werden.
Am Abend vor dem Huldigungstage begrüßten die Kanonen des Kastells die Krieger, die von diesem Befreiungsgeschäft aus Persien zurückkamen, und die Leibwache trat unter das Gewehr, um drei Rittern, die den übrigen vorausgeeilt waren, die militärischen Ehrenbezeigungen zu machen. Sie stiegen von ihren Pferden und erkundigten sich nach dem Großmeister des Phönix. Man führte sie in den Audienzsaal des Kaisers.
Der Großmeister war eben zu Kalekut. Er hatte den unüberwindlichen Fels in der Mitte des Indus, der der Hauptsitz des Ordens war, verlassen und war nach Malabar gekommen, um dem Samorin zu der Entdeckung seiner Nichte Glück zu wünschen.
Der Großmeister erkundigte sich nach dem Ausgang der Expedition, und ein Ritter stattete ihm folgenden Bericht ab:
»Ihr werdet Euch noch des Abends erinnern, gnädiger Herr, als wir von unserem Fels die Boote des Reichs erblickten, die über den Indus nach Persien segelten. Die Veranlassung dazu verursachte bei unserem Orden das lebhafteste Vergnügen, und mit brennendem Eifer benutzten dreihundert Ritter Eure Erlaubnis, sich mit ihren Landsleuten zu vereinigen. Wir landen am feindlichen Ufer, unsere Macht reißt wie ein Bergstrom alles unwiderstehlich mit sich fort; unsere Schwerter mähen die Wachen der Serails nieder; wir waten durch das Blut der Verschnittenen bis in die Kerker des Harems. Überall ergreifen die feigherzigen Muselmänner die Flucht, und aufgemuntert durch unseren Nationalcharakter eilen die Weiber unseren Umarmungen entgegen. Obschon wir weit ins Land vorgerückt waren, hatten wir doch noch keinen Verlust erlitten. Unser Heer, anstatt abzunehmen, nahm immer mehr zu, denn die Weiber, nachdem sie in unseren Armen geruht und den Erzählungen der Taten unserer Kriegsleute zugehört hatten, wurden, von einem neuen Mut belebt, Heldinnen für die gute Sache. Sie gaben nicht zu, daß wir, wie es die Vorsicht empfahl, uns zurückziehen durften, sondern ermunterten uns immer, irgendeiner gefangenen Schwester oder Freundin gleiche Freiheit, gleiches Glück zu erstreiten.
»Einst hatten wir das Serail eines mächtigen Mirza mit Sturm genommen, und der folgende Tag war zu unserem Rückzug bestimmt. Es war Nacht, die indischen Krieger und unsere Ritter ruhten in den Armen der Liebe. Ich und diese zwei Ritter, wir waren die einzigen, die kein einziges Weib befreit hatten. Wir gingen im Garten herum und überlegten unsere Schande. Wenn unsere Landsmänninnen unter unser siegreiches Heer Lorbeeren austeilen würden, hatten wir allein keine verdient. Nein! riefen wir einstimmig, lieber den Tod, als diese Schande. Wir weckten eine Anzahl Truppen auf und überredeten sie, uns in einer Unternehmung beizustehen, die ihrem Glauben und ihrer Tapferkeit viel Ehre machen würde. In weniger als drei Stunden waren wir zu Candahar, der Hauptstadt des Sultans, angekommen.
»Es wäre Tollkühnheit gewesen, wenn so eine Handvoll Leute es mit der Wache des fürstlichen Serails hätten aufnehmen wollen, es war unser Vorsatz, bloß den Harem irgendeines Privatmanns anzugreifen und, ehe der Morgen graute, mit den von uns befreiten Weibern nach der Hauptarmee zurückzukehren.
»Das Glück gab unserem Vorhaben eine andere Wendung. In der Vorstadt begegneten wir drei Sklaven aus dem Serail des Sultans. Wenn diese Lärm machten, so war es um uns geschehen, wir fielen sogleich über sie her und stießen sie mit unseren Dolchen nieder … Plötzlich faßte einer meiner Mitbrüder den kühnen Gedanken, uns ihre Sklaventracht anzuziehen und in dieser Kleidung in den Palast zu dringen. Augenblicklich waren wir aus- und angezogen. Die Wache ließ uns ungehindert durch, wir gingen durch eine Reihe von Höfen und Sälen; überall herrschte eine Todesstille, kein Laut als der Widerhall unserer Fußtritte, keine Stimme als das Losungswort der Verschnittenen, die in den Galerien des inneren Harems ihre Wache hielten.
»Als wir uns der Tür näherten, wurde sie von innen aufgeriegelt, wir verbargen uns hinter den Pfeilern. Es kamen zwei Stumme aus dem inneren Harem, die einen schwarzen Verschnittenen mit sich schleppten, und nachdem sie ihm einen Strick um den Hals gelegt hatten, waren sie eben im Begriff, ihn zu erdrosseln. Wir stürzten aus unseren Schlupfwinkeln hervor, und die Stummen fielen unter unseren Dolchstichen. Ich befreite den zitternden Verschnittenen von seiner Schnur. ›Nein, Hassan,‹ sagte er, ›wenn du deine Verräterei gutmachen willst, so rette den Prinzen; ist es der Wille des Propheten, so laß mich sterben! Warum willst du mich in dieser Jammerwelt zurücklassen?‹
»›Narr,‹ rief einer von uns, ›glaubst du denn, daß du im Paradies so gern gesehen wirst? Hat dein Prophet ein Mittel, dir deine Mannheit sowohl als die Jungfernschaften der Houris wiederherzustellen?‹
»Er blickte auf und sah sich unter Fremden. Wir entdeckten ihm uns und unseren Vorsatz. Er fiel auf die Knie und bekannte uns, daß er vom Sultan den Befehl erhalten habe, einen von seinen jüngsten Brüdern zu erdrosseln. Da er aber den Prinzen gerettet habe, so solle er selbst diesen Tod sterben. Die Sklaven, deren Kleider wir trugen, und für welche er uns anfänglich gehalten hatte, waren eben nach der Vorstadt abgeschickt, um den armen Jüngling aus seinem dortigen Zufluchtsort herzuschleppen. ›Ich weiß,‹ fuhr der Schwarze fort, ›daß kein Verschnittener von Euren Landsleuten Mitleid hoffen darf. Ich bitte nicht um mein Leben, denn ich wünsche nicht zu leben. Aber rettet den Prinzen aus den Händen seines grausamen Bruders.‹
»Wir befahlen dem Verschnittenen, uns zu folgen, gingen wieder durch die Wachen, ohne entdeckt zu werden, holten den Prinzen aus seinem Zufluchtsort, vereinigten uns dann mit unseren Kameraden in der Vorstadt, und ehe die Sonne aufstieg, waren wir schon auf dem Rückweg zur Hauptarmee.
»Nun, gnädigster Herr, müssen wir untertänig um Eure Verzeihung bitten, da wir in zwei Punkten wider die Regel des Ordens gesündigt haben. Erstlich haben wir einen Muselmann gerettet, anstatt die Weiber, die unter dem mohammedanischen Joch seufzen, zu befreien. Aber die Vorteile, die daraus entspringen können, wenn ein persischer Prinz nach naïrischen Grundsätzen erzogen wird, und die Betrachtung, daß der Bruder des Sultans eines Landes, wo Revolutionen so häufig geschehen, uns einst eine wichtige Geisel werden könne, mit der wir wenigstens eine Menge Weiber loskaufen können, verleitete uns, von unserer Pflicht abzuweichen. Der Prinz wird bald mit den übrigen ankommen. Verzeiht uns auch zweitens den Ungehorsam gegen das Gesetz, das jeden Verschnittenen, der innerhalb eines Harems entdeckt wird, zu einem augenblicklichen Tode verdammt. Die Menschenliebe, die dieser Elende bewiesen hatte und die in diesen verächtlichen Geschöpfen selten ist, bewog uns, ihm eine Frist zu gestatten, bis Euer höchster Wille sein Schicksal entschieden habe.«
Mit feierlicher Stimme sprach der Großmeister die Ritter von der Strafe des Ungehorsams los, sonst würde keiner von ihnen es gewagt haben, sich dem Boudoir einer großmütigen Naïrin zu nahen, und keine Dame von Ehre würde sie ihrer Umarmung wert gehalten haben.
Als Freund gab er nachher ihrem Mut das verdiente Lob und befahl, daß man den Verschnittenen, der zitternd im Vorsaal wartete, vorführen solle.
Kein Abkömmling Abrahams hätte schwerlich in der Gegenwart des Großinquisitors zu Lissabon solche Furcht verraten. Er bebte wie Espenlaub; seine Knie beugten sich nicht aus Höflichkeit, sondern die Furcht drückte ihn nieder, und er lag in den Staub ausgestreckt. Seine Augen waren an den Boden geheftet, und es dauerte lange, ehe er sie aufzuheben wagte und die Entdeckung machte, daß der Großmeister des Phönixordens keinen Pferdefuß hatte, wie er immer von den rechtgläubigen Bonzen von Persien vorgestellt wird.
Der Großmeister nahm ihn sehr gnädig auf, konnte ihn aber nicht überreden aufzustehen, bis er ihm feierlichst Pardon zugesichert hatte.
»Ich habe unter Euresgleichen viele Elende gefunden,« sagte das Oberhaupt des Ordens, »Elende, denen die höchste Schande eine Ehre ist, die, stolz auf das niederträchtigste Amt unter den Menschen, sogar wegen ihrer Treue, der einzigen Tugend, deren sie sich rühmen können, verächtlich sind, weil sie aus einer verdorbenen Quelle von Neid, Eifersucht und Verzweiflung entspringt: die die Auswürfe beider Geschlechter sind und, nach Rache lechzend, sich freiwillig vor der Tyrannei des Stärkeren beugen, wenn sie nur seine Helfershelfer gegen das Schwächere werden können; die den Vorrang, den sie in ihren Stellen genießen, bloß ihrer Unvollkommenheit und Häßlichkeit schuldig sind; geschätzt, weil zu leben unwürdig, sind sie die ewigen Schildwachen an den Toren des Harems, härter noch als die Schlösser und Riegel derselben, und als Werkzeuge der Eifersucht ihrer Herren rühmen sie sich langer Dienstjahre in ihren entehrenden Stellen. Solche abscheuliche Unholde habe ich immer, so oft ich Eure Landsleute anfiel, meiner Pflicht und meinem Abscheu aufgeopfert. Aber Ihr, dessen Denkungsweise so erhaben, wie Euer Beruf verachtungswürdig ist, dessen Betragen so edel und dessen Herz unter der Sklaventracht mit solcher Großmut schlägt, wer seid Ihr? Müßte nicht Eure vollkommene Seele aus ihrer mangelhaften Wohnung zürnend entfliehen? Was hat Euch zu dieser uneigennützigen Handlung bewogen, die unsere entblößten Schwerter von Euch ableitete und einem Verschnittenen Anspruch auf die Bewunderung des Naïren gibt? Man hat Euch der Rechte eines Menschen beraubt, und doch besitzt ihr so viel Menschenliebe? Sprecht! Euer Erbfeind bittet Euch, die Quelle dieser Widersprüche aufzuklären.«
Nach vielen Aufmunterungen fing der schwarze Verschnittene wieder an, Mut zu schöpfen, und da die ganze Gesellschaft ihn mit Lobeserhebungen überhäufte, wagte er es endlich, seine Lippen aufzutun, um dem Oberhaupt des Ordens eine Antwort zu geben.
»Dieses Lob«, sagte er, »übertrifft meine Verdienste. Eine lange Übung meines Amtes hat nicht mein Herz abgehärtet. Der Schnee des Alters ist noch entfernt, der allein mein innerliches Feuer auslöschen kann. Ach! wie oft empfinde ich jene zärtlichen Gefühle, ohne sie einflößen zu können, und dieser Gedanke macht mich vollkommen unglücklich. Nicht alle meine elenden Mitbrüder verdienen Euren Haß. Viele von uns sind Eures Mitleids, aber leider eines Mitleids, das nahe an Verachtung grenzt, wert.
»Nur das Alter Montesquieus persische Briefe. setzt uns in den Stand, Tyrannen zu werden. Wenn die unruhige Zeit der Jugend vorüber ist, folgt eine Todesstille. Alsdann wird vielleicht der graue Verschnittene fähig sein, die Weiber mit Gleichgültigkeit anzusehen, ihre Verachtung sogar mit Zinsen zu bezahlen, und ihnen alle Martern, die sie ihm verursacht haben, zu vergelten. Er wird sich erinnern, daß die Männer zum Herrschen geboren sind, wird glauben, durch die Ausübung seines Ansehens seine Mannheit wiederzuerhalten. Er wird die Weiber vielleicht hassen, wenn er sie ohne Empfindungen ansehen kann und seine Vernunft ihm ihre Schwäche zeigt. Obschon er sie bloß für andere bewacht, wird er ein heimliches Vergnügen fühlen, sie gegen seine Befehle gehorsam zu finden. Der Harem ist ein kleines Reich, und seine Wichtigkeit beruhigt seinen Ehrgeiz, jetzt seine einzige Leidenschaft, er wird sich vielleicht ein Vergnügen daraus machen, ihre unschuldigsten Vergnügen zu stören, und unerbittlich gegen die kleinsten ihrer Wünsche sein; er wird es sich für ein Verdienst anrechnen, ihren Haß zu erregen, denn ihr Haß ist für uns Verschnittene in den Augen unseres Herrn die größte Empfehlung. Ein alter Verschnittener kann hoffen, diesen Grad von Unempfindlichkeit zu erreichen, aber nicht so der jüngere. Wie groß sind meine Leiden gewesen, seitdem mein Herr zuerst den grausamen Entschluß faßte, mir seine Weiber anzuvertrauen, und mich durch Drohungen und Versprechungen dahin brachte, auf meine Mannheit Verzicht zu tun.
»Ermüdet von dem beschwerlichen Dienst willigte ich ein, meine Leidenschaften der Ruhe und dem Glück aufzuopfern. Ach! ich dachte nur an die Belohnung und nicht an den Verlust. Ich hoffte, von dem Verlangen nach dem Genuß der Liebe durch die Unfähigkeit, ihn zu befriedigen, befreit zu sein. Doch ach! nur bloß die Werkzeuge der Leidenschaften, nicht ihre Ursachen waren in mir getötet. Und weit entfernt ruhig zu sein, fand ich mich beständig mit Gegenständen umgeben, die sie immer mehr aufreizten. Ich trat in den Harem ein, wo alles, was ich sah, mir meinen Verlust nur noch empfindlicher machte. Jeden Augenblick wurde meine Phantasie erhitzt, tausend natürliche Reize schienen sich nur meinen Augen darzustellen, um mich noch unglücklicher zu machen. Ich hatte immer einen glücklichen Mann vor mir, der den höchsten Genuß der Liebe schmeckte, und so oft ich ein Weib zu dem Lager meines Herrn führte und sie entkleidete, so oft kehrte ich in meine Kammer, entweder vor Rache brennend oder in Verzweiflung versunken, zurück.
»Mit Kummer und Verdruß beladen, hatte ich keinen Vertrauten, in dessen freundlichen Busen ich sie ausschütten konnte, und mußte also meine Qualen verbergen. Gegen dieselben Weiber, die meine Augen so zärtlich betrachteten, mußte ich den Blick der ernstesten Strenge annehmen. Ich wäre verloren gewesen, hätten sie meine innere Bewegung sehen können, denn welchen Nutzen würden sie nicht aus meiner Schwäche gezogen haben. Ich entschloß mich, ihr Tyrann zu sein, sobald ich meine Neigung fühlte, ihr Anbeter zu werden.
»Aber auch ich für meinen Teil habe der Unruhen und Beschwerden nicht wenig gehabt, denn die rachsüchtigen Weiber bezahlten mich für die, so ich ihnen verursachte, und zwischen uns war eine beständige Ebbe und Flut von Herrschaft und Gehorsam. Sie veranstalteten es immer so, daß jede niedrige Beschäftigung auf mich fiel, ließen mich wohl zehnmal des Nachts wegen der geringsten Kleinigkeit aufstehen. Ich wurde beständig mit Befehlen, Aufträgen und wunderlichen Einfällen überladen, sie schienen sich einander abzulösen, um mich immer in Übung zu erhalten und mir keinen Augenblick Ruhe zu gönnen. Sehr oft täuschten sie mich mit falschem Zutrauen, denn bald hatte die eine einen jungen Mann nahe an der Mauer des Serails gesehen, bald die andere ein Geräusch gehört oder einen Brief empfangen. Alles dieses mußte mich natürlich beunruhigen, und wenn sie mich nun lange genug gequält hatten, lachten sie mich aus. Zu einer anderen Zeit stellten sie sich, als ob sie krank oder ohnmächtig wären, oder als ob sie sich sehr fürchteten, allein zu sein, und hielten mich Tag und Nacht hinter der Tür. Genug, es fehlte ihnen nie an Mitteln, mich zu plagen, und bei diesen Gelegenheiten mußte ich ihren Launen blinden Gehorsam leisten; denn wenn ich nur einen Augenblick angestanden hätte ihnen zu gehorchen, so hatten sie die Macht, mich zu strafen.
»Doch dies ist noch nicht alles. Ich war keinen Augenblick der Gunst meines Herrn gewiß, denn ich hatte zu viel Feinde in seinem eigenen Herzen, die meinen Untergang gern bewirkt hätten. Diese Weiber hatten ihre Augenblicke, wo ich nicht aufmerksam genug sein konnte, wo ihnen nichts abgeschlagen wurde und ich immer unrecht hatte.
»Wenn ich meinem Herrn ein erzürntes Weib zuführte, so hatte ich alles von ihren Tränen, Seufzern, von ihren Umarmungen und von dem Vergnügen, das sie ihm verschaffte, zu fürchten. Auf diesem Kampfplatz war sie ihres Sieges gewiß. Ihre Reize wurden mir fürchterlich; ihre gegenwärtigen Dienste löschten meine vergangenen aus, und nichts konnte mir die Gnade meines Herrn versichern, der nicht mehr seiner selbst mächtig war.
»Wie oft bin ich mit seiner Gnade zu Bett gegangen und mit seiner Ungnade aufgestanden! Einst war ich nahe daran, gegeißelt zu werden, und was war mein Verbrechen? Der verstorbene Sultan lebte zu der Zeit noch, und ich brachte ihm ein Weib in seine Arme. Er hatte befohlen, daß einige Perlen unter seine Weiber ausgeteilt werden sollten, und diese Favorite glaubte, ich hätte ihr die schlechtesten gegeben. Sobald als sie ihn nun erhitzt sah, vergoß sie eine Flut von Tränen, sie beklagte sich über mich und wußte ihre Klagen so gut einzuleiten, daß sie sich immer in demselben Maße, wie seine Begierden stiegen, vermehrten. Ich war an dem Rand des Verderbens, als ich es am wenigsten erwartete. Ich wurde vor ihn gefordert.
»Die boshafte Favorite saß auf einem Ruhebette, von dem die Kissen hier und da im Zimmer zerstreut lagen. Mein Herr wollte sie in seine Arme schließen, sie stieß ihn aber zurück, eine hohe Röte färbte ihre Wangen, und ihre Schönheit wurde durch diesen Widerstand nur noch hinreißender. Umsonst hatte er versucht, ihr das Kleid auszuziehen, dessen leichtes Gewebe den Umriß ihres Körpers deckte, ohne seine Reize zu verbergen. Hier und da war es von seiner Ungeduld zerrissen, und diese Stellen, die eine schneeweiße Haut sehen ließen, wurden von seinen begierigen Augen verschlungen und von seinen brennenden Küssen bedeckt.
»›Nein, erst haltet Euer Wort,‹ sagte sie und versuchte aufzustehen.
»Seine Gerechtigkeitsliebe schwieg. Er gab das unglückliche Zeichen, die Sklaven warfen mich auf die Erde, zogen meine Füße zur Bastonade in die Höhe und schwangen schon die schreckliche Peitsche, als die Mutter des Prinzen Abas hereintrat.
»Ach, gnädiger Herr, eine solche Frau haben diese Augen nie gesehen. Sie besaß eine solche Würde, etwas so Majestätisches in ihrem Wesen, daß der Sultan vor ihr wie ein Kind bebte und sogar Selim, der strenge Verschnittene, nicht das Herz hatte, ihr ins Gesicht zu sehen. Und Zelida war so schön, so schön wie die Weiber des Propheten; aber auch der Prophet selbst – Gott verzeih' mir – würde sich vor ihr gefürchtet haben, und doch war sie so gut, hört nur, wie gut sie war.
»Der alte Sultan, der von seiner Jugend an gewohnt war, die Weiber in seinem Harem nur als Werkzeuge seines Vergnügens zu betrachten, die er nur zu sehr zu beehren glaubte, wenn er sie zu seinem Bett zuließ, mußte die kleinste Gunstbezeigung von Zelida mit Dank annehmen, oder mit Geduld ihre Weigerung ertragen. Dies war eine ganz neue Lehre im Harem. Sogar die böse Favorite hatte von ihr ihre eigene Stärke gelernt, und ihre jetzige Widerspenstigkeit war nur eine Nachahmung von Zelida. Mein Herr hatte aufgehört, Zelida mit seinen Liebesanträgen zu verfolgen, nicht etwa, weil er der Reize, die er so selten genoß, überdrüssig war, sondern weil er zu stolz war, die Gunstbezeigungen zu erbitten, die er fordern, aber nicht erzwingen konnte. Es wird Euch befremden, gnädiger Herr, zu hören, daß die Stelle eines Verschnittenen eine Ehrenstelle sei. Wir sind eine Art Hofleute, und der, der die Gunst seines Herrn genießt, ist dem Haß seinesgleichen am meisten ausgesetzt; dies war mit mir der Fall. Ich war der Günstling; die Nachricht, daß ich in Ungnade gefallen sei, fuhr wie ein Blitz durch das Serail, und zwei Verschnittene, die durch meinen Fall zu steigen hofften, wünschten sich Glück. Zelida behorchte sie, und dankbar für die Schonung, mit der ich sie immer behandelt hatte, entschloß sie sich, mich zu retten. Sie kam eben zu meiner Hilfe und warf sich auf die elastischen Kissen. Ihr reizender Busen hebt sich wallend empor, die Augen des Sultans weiden sich an den schneeweißen Hügeln, die durch einen Nebel von Musselin hervorscheinen, und seine Einbildungskraft läßt ihren verborgenen Reizen Gerechtigkeit widerfahren. Ihre alltägliche Nebenbuhlerin zittert, von dem Bewußtsein ihrer Unwürdigkeit niedergeschlagen. Der berauschte Sultan steht auf, stößt sie mit dem Fuß aus dem Zimmer und treibt mich und meine Henker nach ihr hinaus. Auf diese Art entkam ich der Peitsche, und der graue Wollüstling kehrte zu einem Liebesschmaus zurück, wozu ihn das Mitleid, nicht die Neigung seiner Geliebten einlud.
»Bald darauf schickte mich der Sultan zu einem benachbarten Weibermarkt, um ihm ein paar der fettesten Zirkassierinnen, die ich treffen würde, einzukaufen. Diese sollten ihn nach der Vorschrift eines jüdischen Arztes bedienen, wie der berühmte König David sich von den Sunamitinnen bedienen ließ. Ehe ich aber zurückkam, war der alte Sultan gestorben, und der jetzige hatte alle Weiber und Beischläferinnen seines Vaters verkauft, so daß ich das Schicksal Zelidas nie erfahren konnte.
»Der jetzige Sultan war noch nicht zwei Jahre auf dem Thron, als die Nachricht kam, daß der Schah zu Ispahan ermordet worden wäre. Eine der Sultaninnen erschreckte meinen Herrn beständig mit dem Gedanken, daß wohl eine ähnliche Revolution ihm sein Leben und seinen Kindern die Erbfolge rauben könnte; auch ließ sie ihm nicht eher Ruhe, bis er alle seine Brüder hinrichten ließ und seine Schwestern an Verschnittene oder an alte Hofbeamte verheiratete, von deren Umarmung keine Nachkommenschaft zu fürchten war.
»Ich war meiner Verbindlichkeit gegen Zelida eingedenk und entschloß mich, selbst mit Gefahr meines Lebens, ihren Sohn zu retten. Ach, wie zitterte ich, als der Sultan die Köpfe seiner zweiundzwanzig Brüder zu sehen verlangte, aber glücklicherweise gab er sich nicht die Mühe, sie zu zählen.
»Mein Ungehorsam sollte aber nicht lange unentdeckt bleiben, und die Liebe, eine Leidenschaft, von der Ihr wohl glaubt, daß ich ganz von ihr verschont geblieben sei, war die Urquelle dieser Entdeckung. – Ich sehe ein Lächeln auf Euren Lippen schweben, gnädiger Herr; verbittert nicht noch mehr durch Eure Verachtung meine unaufhörlichen Leiden.
»Eines Tages, als ich ein Weib in das Bad brachte, fühlte ich mich so entzückt, daß ich alle meine Besinnungskraft verlor und es wagte, mit meinen Händen das Heiligtum der Liebe zu entweihen. Als ich wieder zu mir selbst kam, glaubte ich, daß meine letzte Stunde nun würde geschlagen haben, doch mit Vergnügen bemerkte ich, daß die Schöne, anstatt über meine Vermessenheit erzürnt zu sein, mich noch zu größeren Freiheiten ermunterte. Mit einem Wort, sobald alles im Harem schlief, erlaubte sie mir, in ihre Kammer zu schlüpfen, und mehrere Monate hindurch war ich der begünstigte Liebhaber.«
Der Verschnittene wurde jetzt durch ein lautes Gemurmel unterbrochen, denn so eine unnatürliche Liebschaft empörte die Naïren.
»Ach, diese kurzen Monate waren der glückseligste Zeitpunkt meines ganzen Lebens. Ich war töricht genug, zu glauben, daß die Schöne mich liebte, indem sie doch nur mit mir vorliebnahm. Wenn aber die Eifersucht ein Beweis der Liebe ist, so war ich ihr nicht ganz gleichgültig. Da sie bemerkt hatte, daß ich jeden Tag zu einer bestimmten Stunde den Harem verließ, so warf sie einst einem Sklaven, der im äußeren Garten arbeitete, ein Armband zu und befahl ihm, mich zu belauern. Er folgte mir auf jedem Tritt bis an das Haus des Freundes, dem ich den jungen Prinzen anvertraut hatte, und wurde nun Teilhaber meines wichtigen Geheimnisses.
»In der folgenden Nacht, als ich in die Arme der Geliebten eilen wollte, stieß sie mich mit verächtlicher Miene zurück, warf mir den Verlust meiner Mannheit vor und befahl mir, den Sklaven herzuholen. Ich war wie vom Donner gerührt. Was sollte ich nun tun? Die Tränen traten mir in die Augen, und die unerträgliche Hitze des Zorns brannte wie Feuer auf meinem Gaumen. Aber mein Leben und das Leben des jungen Prinzen standen in ihrer Gewalt. Wie haßte und beneidete ich den Nichtswürdigen, vorher der Gegenstand meiner tiefsten Verachtung. Ich biß in das Kopfkissen vor Wut, als ich den Mann, den ich verabscheute, in den Armen meiner Geliebten gelassen hatte.
»Ich durfte meine Klagen nicht laut werden lassen, Verdruß und Verzweiflung stürmten auf mein Herz, und ohne Aufhören flossen meine Tränen. Ach, wer kann die Bitterkeit meiner Gefühle beschreiben, da ich jede Nacht ihre Zusammenkünfte erleichtern mußte. Wenn mein Nebenbuhler erschien, flog die Schöne in seine Arme, und jeder Kuß, den sie ihm gab, war ein Dolchstich in mein Herz. Ich verlor meinen Appetit, und die Befehle meines Herrn achtete ich nicht mehr. Meine Mitbrüder sahen das Ende meiner Favoritschaft voraus, denn täglich beging ich irgendeinen Fehler und bekam einen Verweis. Oft hob ich meinen Arm, um mein Leben zu endigen, aber die Hoffnung hielt ihn immer zurück. In die entlegensten Gänge des Gartens zog ich mich zurück und sann auf Liebeserklärungen. Ich fiel zu ihren Füßen und sie erkundigte sich nach meinem Nebenbuhler; – ich entfloh und lief wie ein Besessener im Garten herum. Oh! ihr Muselmänner, ihr Rechtgläubigen, wer hat euch berechtigt, eure Mitmenschen zu Werkzeugen eurer Eifersucht zu erniedrigen! Mohammed, du göttlicher Prophet, warum hast du unser Elend in ein System gebracht?
»Das Schwert hing indessen nur an einem Haar über unseren Scheiteln, denn ihre Liebschaft war von einer zweiten Sultanin entdeckt, die es einer dritten wiedersagte, und alle beide forderten zum Lohn ihrer Verschwiegenheit, an den Gunstbezeigungen des Sklaven mit teilzunehmen. Die erste mußte nun, aber nicht ohne Schmerzen, einwilligen. So gingen die Sachen lange Zeit in einem Strome fort, der auch mich mit fortriß, und obgleich mein Leben in beständiger Gefahr schwebte, wurde ich doch von allen als ein wahres Unding behandelt. Eines Abends, als ihre Scherze ausgelassener waren als gewöhnlich, weckte der Lärm, dem meine Vorsicht keinen Einhalt tun konnte, eine vierte Sultanin, die in einer nicht weit entfernten Kammer schlief. Diese bestand auch darauf, daß der Sklave sie lieben sollte, aber der Nichtswürdige hatte sich schon den anderen zu Gefallen zu sehr erschöpft. Umsonst bat er sie, bis den nächsten Abend zu warten. Sie hielt dieses für Geringschätzung ihrer Reize, ein unverzeihliches Verbrechen in einem Harem. Ihre Klagen weckten das ganze Serail auf. Mit gezogenem Säbel stürzte der Sultan herein, trennte die Köpfe der schönen Verbrecherinnen von ihren Körpern und war eben im Begriff, auch ihren Liebhaber aufzuopfern, als der Elende sich auf die Knie warf und sich erbot, um den Lohn seines Lebens einen Hochverrat zu entdecken. Sogleich verriet er den Zufluchtsort des jungen Prinzen und wurde mit zwei anderen Sklaven abgeschickt, um ihn herzuschleppen.
»Die Zeit oder vielmehr die Neigung für eine andere Sultanin hatte Balsam in meine Wunde gegossen, und als ich, in Träumereien über die Vollkommenheiten dieser neuen Schönen versunken, im Garten spazieren ging, kündigten mir die Stummen mein Schicksal an. Die tödliche Schnur war schon um meinen Hals gelegt; als die drei tapferen Ritter, die ich anfänglich für die drei Sklaven, deren Kleider sie angezogen hatten, hielt, aus ihren Schlupfwinkeln hervorsprangen und mich aus ihren Händen retteten.«
Als der schwarze Verschnittene geendigt hatte, kündigte der Donner der Kanonen die Annäherung des prächtigen Aufzugs an, und die Kriegsmusik rief die Gesellschaft auf den Balkon des Schlosses. Der Großmeister bat die Ritter, den Verschnittenen nicht eher aus den Augen zu lassen, bis sein besonderes Verdienst dem Volke bekannt gemacht wäre; denn so groß war der Nationalhaß gegen alle Verschnittenen, daß er sonst Gefahr gelaufen wäre, vom Volk mißhandelt zu werden.
Zuerst kamen mit der Fahne der Stadt die Bürger von Kalekut und Hindostan, die an dem Ruhm und der Gefahr dieser Unternehmung als Freiwillige Anteil genommen hatten. Dieses brave Korps hieß: die Söhne der freien Weiber.
Darauf folgte das zweite Korps: die Edlen des Reichs. Ihre Schwerter waren mit den Turbanen der Muselmänner behängt, die sie ihrem Erbhaß geopfert hatten. Dieses großmütige Korps trug den Namen: die Neffen der Helden.
Demnächst erschienen die Naïren, die ehrbare Wunden erhalten hatten. Sie ruhten auf Sänften, worauf die Turbane der Getöteten ausgebreitet waren. – Sie wurden nicht von Sklaven, ob es gleich, um den Triumph zu verherrlichen, nicht an Sklaven fehlte, sondern von ihren eigenen Landsleuten getragen, die ihnen dadurch ein öffentliches Merkmal ihres Beifalls zu geben suchten.
Der junge Prinz in seiner persischen Tracht folgte hierauf. Zwei von den tapferen Rittern, die ihn gerettet hatten, gingen neben ihm her, um den kleinen Mohammedaner vor irgendeiner pöbelhaften Beleidigung zu schützen.
Nachher wurde die große Standarte des Phönix von einem Ritter des Ordens getragen.
Fünfzig Triumphwagen, von milchweißen Hengsten aus dem kaiserlichen Marstall gezogen, stellten den Augen des Publikums die Schönheiten des Serails dar: Schönheiten, die bis jetzt vor den Augen ihrer nächsten Anverwandten verborgen geblieben waren, Schönheiten, die die Sonne noch nie beschienen hatte. Aber ihre Schleier waren jetzt heruntergerissen und zierten die Schwerter ihrer tapferen Befreier, die diese Wagen auf persischen Pferden mitten unter dem Zuruf einer bewundernden Menge begleiteten. Selbst ihre Rosse sogar schienen den Triumph ihrer Reiter zu teilen und sich mit der Befreiung ihrer Landsmänninnen zu brüsten.
Die Sprache ist nicht reich genug an Worten, und die Malerkunst hat keine Farben, um das Erstaunen und die Bewunderung auszudrücken, die auf den Gesichtern dieser befreiten Gefangenen sich zeigten. Man muß in ihrer Lage gewesen sein, um ihre Gefühle begreifen zu können. Sklavinnen waren sie gewesen, und nun fühlten sie sich frei und außer der Gewalt ihrer Tyrannen. Das Herz einer jungen Witwe kann nicht freudiger schlagen.
Jeder Gegenstand, den sie erblickten, war ihnen neu und überraschend. In den Straßen sahen sie Männer und Weiber in gemischten Haufen stehen, sie sahen das nämliche Weib mit zwei verschiedenen Männern sprechen, derselbe Mann grüßte zwei verschiedene Weiber, und kein Dolch blitzte in den Händen der Männer, die mit ihnen waren, um diese Beleidigung zu rächen. Wie sonderbar erschien ihnen auch Kalekut, obgleich sie schon andere Städte gesehen hatten, seitdem sie über den Indus gekommen waren. Wie unähnlich war Kalekut den Städten Persiens, wo die Eifersucht jedes Fenster innerhalb des Hofes gebannt hat, so daß die Tyrannei jedes häuslichen Despoten auch sogar dem nächsten Nachbar unentdeckt bleibt und der müde Reisende in den Straßen wie durch eine Reihe Gefängnisse geht. Aber hier in Kalekut sind die Häuser voll von Fenstern, die nach den Straßen zu gehen, und diese Fenster voll von Männern und Weibern, die sich miteinander mit ebensowenig Zwang unterhalten, als jene auf den Straßen. »O ihr Houris, wir beneiden euch nicht um die Umarmungen, von denen wir ausgeschlossen sind! Wir haben unser Paradies auf der Erde gefunden.«
Dies ist der Tag der Wunder, jeder Augenblick vermehrt ihr Erstaunen. Das verschwenderische Gastmahl ist nun auf der Tafel ausgebreitet, und der Hoffurier ladet sie ein, Platz zu nehmen. Wie reizend ist der Gedanke, welche Neuheit in ihrer Lage! jedes Weib sitzt neben ihrem heldenmütigen Befreier, eine Vertraulichkeit, dem Harem ganz unbekannt, wo die beiden Geschlechter nie zusammen essen. Das schwache Weib darf sich unterstehen, sich mit dem Mann, ihrem Herrn und Gebieter, an den nämlichen Tisch zu setzen. Doch hinweg mit diesem unnatürlichen Titel, sie ist unter dem Schutz der naïrischen Gesetze, und ihre Rechte sind durch die Tapferkeit des Phönix gesichert. Der Zwang ist von dem Fest entfernt, und doch fühlt sie kein Bedürfnis, zu essen, die Wunder binden ihre Lippen, aber ihre Augen verschlingen ihren Nachbar.
Der belebende Ton der Geige ruft sie vom Tisch hinweg zum Tanz; aber wie verschieden ist dieser von den persischen Tänzen. Öfters hatten diese schönen Gefangenen diese entzückende Kunst vor ihren stolzen Gebietern geübt, die in ihrer eingebildeten Majestät, mit ihren Pfeifen im Mund, ruhig auf ihren Kissen sitzen blieben. Umsonst hatten sie durch ihre verführerischen Stellungen das Feuer auszudrücken gesucht, das sie verzehrte. Nur eine konnte das Schnupftuch erhalten, und der Tropfen, der ihre Flamme löschte, war Öl in das Feuer ihrer Gefährtinnen. Jetzt war es der Tanz der Freiheit und nicht der Sklaverei. Es war kein Zeichen der Huldigung mehr, das der hochmütige Despot sich herabließ von ihrem Geschlecht anzunehmen, und das er selbst zu tun als eine Herabwürdigung seines Geschlechts würde angesehen haben; hier war es der Zeitvertreib beider Geschlechter, die einander auf gleiche Art entgegenkamen: alle beide strebten zu gefallen, beiden war es leicht zu gefallen, und so wurde dies wahrscheinlich die Vorgängerin von ferneren Vertraulichkeiten.
Welches Vergnügen strahlte aus ihren Augen! Welche Lebhaftigkeit in ihren Bewegungen! Mit welcher Herzlichkeit nahmen sie jedes Anerbieten eines neuen Tänzers an! und mit welcher Bereitwilligkeit kehrten sie wieder zu ihrem vorigen zurück! Obschon anfangs etwas ungeschickt, konnte es doch nicht fehlen, daß sich ihr Tanz unter solchen Lehrmeistern immer mehr verbesserte, und jedes Herumdrehen brachte sie der Vollkommenheit des Walzers näher, den sie vorher gar nicht gekannt hatten.
Der junge Muselmann war erstaunt, daß ein Mann sich so weit herablassen konnte, zu tanzen, er ging im Zimmer mit sichtbaren Zeichen der Verachtung auf und ab. Osva näherte sich ihm zufällig, und jemand aus der Gesellschaft, der neugierig oder gutmütig genug war, sich mit ihm in eine Unterredung einzulassen, zeigte sie ihm als eine kaiserliche Prinzessin. Abas erschrak heftig und lief, so geschwind er konnte, aus dem Saal.
Ein Bedienter, der ihm nachgeschickt wurde, holte ihn ein, konnte ihn aber nicht bereden, wieder zurückzukommen. Endlich wurde der Verschnittene, der in dem Gemach des Großmeisters geblieben war, nach ihm geschickt, und mit vieler Mühe brachte er ihn endlich wieder in den Saal zurück.
Der Verschnittene, den man nach der Ursache seiner Flucht fragte, erzählte folgendes: »Vergangenen Sommer brachten wir die Weiber des Sultans nach dem Palast, wo sich der Hof gewöhnlich während der heißen Witterung aufhält. Die Sklaven hatten schon das Zeichen gegeben, daß das Volk sich entfernen solle, und wir hatten die Favoritinnen schon in die Kisten gebracht, in denen sie über das Wasser geführt werden sollten, als man Abas an dem Ufer entdeckte und ihn wegen seiner Sorglosigkeit fast zu Tode prügelte. Seit der Zeit hat er jedesmal bei der Annäherung einer Prinzessin gezittert, und er vergaß, daß er im Lande der Freiheit war, als die Prinzessin bei ihm vorüberging; denn wenn bloß das Unglück, die Kisten gesehen zu haben, die die fürstlichen Beischläferinnen in sich schließen, eine so strenge Strafe verdient, mit welchen Martern muß die Verwegenheit desjenigen bestraft werden, dessen Auge eine Prinzessin ohne Schleier gesehen hat?«
Die Gesellschaft lächelte über diese Erzählung, und der junge Mohammedaner hatte sich noch nicht ganz wieder erholt, als Osva, um seine Verlegenheit zu vermehren, die Bosheit hatte, ihn in der Mitte des Saals zu küssen, und da Abas ein hübscher Jüngling war, so folgten viele andere Damen ihrem Beispiel.
Der Tanz, der indes immer fortgegangen war, wurde jetzt auf einmal durch einen Zufall unterbrochen, der aus derselben Quelle, nämlich aus der Unterjochung der mohammedanischen Weiber, entsprang. Raida war lange die nutzlose Zierde des Harems gewesen. Für die Eitelkeit und nicht für die Glückseligkeit ihres Gebieters unterhalten, war sie ihm weniger nützlich, als zusammengehäufte Schätze einem Geizhals sind, denn dieser findet ein Vergnügen in dem Anblick seines Goldes, sie im Gegenteil, unter einer Menge Nebenbuhlerinnen übersehen, war niemals in seine Gegenwart gerufen worden. Sie war eine Blume in einem schon bearbeiteten Garten, aber der verzärtelte Besitzer ging an ihr vorüber, und sie schien verdammt zu sein, ihren lieblichen Duft unbemerkt wie die Rose in der Wüste auszuhauchen. Weit entfernt, selbst glücklich zu sein, konnte sie sich nicht einmal schmeicheln, zu der Zufriedenheit eines anderen beizutragen. Wie unerträglich war ihre Lage! Ein Feuer brannte in ihren Adern, und sie träumte nicht einmal, daß es eine Macht in der Natur gäbe, die es löschen könne. In ihrer Einfalt glaubte sie sich bezaubert, fand aber in einer Menge Amuletten, die Stellen aus dem Koran enthielten, keine Hilfe; sie band sie an ihren Arm, sie legte sie an ihr klopfendes Herz, doch überall keine Hilfe. Sie fühlte sich sehr krank und wurde immer schlimmer, denn sie kannte die Ursache ihrer Krankheit nicht. In einer solchen unerträglichen Lage befand sie sich, als die Armee der Naïren sich dem Serail näherte; die Riegel sprangen zurück, und die eisernen Ketten wurden heruntergerissen. Ein Ritter des Phönix kam, sah und siegte; er gab ihr die Freiheit, und sie gab ihm zur Belohnung ihren jungfräulichen Schatz. Mit einem Stab, mächtiger als der des Äskulap, verbannte der liebenswürdige Zauberer ihre Klagen, und jetzt nun, da sie ihre vollkommene Gesundheit wiedererhalten hatte, teilte sie mit ihm das Vergnügen des Tanzes. Oh, welche verschwenderischen, welche hinreißenden Gefühle! Vorher, wenn sie gefährlich krank war, war es ihr bloß erlaubt, ihre Zunge und ihre Hand durch ein Loch des Vorhangs dem Anblick und der Berührung ihres Arztes zu überlassen, und nun sah sie sich in den Armen des Mannes, den sie liebte. Sie atmete seinen Atem und fühlte sein Herz gegen ihre Hand schlagen. Im Herumwalzen lächelt ihr Geliebter ihr bedeutend zu, in ihren Augen stehen Tränen des Entzückens, aber aus Furchtsamkeit wendet sie ihr Gesicht von ihm hinweg, als auf einmal der Anblick des Verschnittenen sie zu Boden schlägt; es war, als ob der schwarze Engel des Todes gekommen wäre, sie aus dem Paradies zu reißen; die Röte flieht aus ihrem Gesicht, eine tödliche Kälte bemeistert sich ihres ganzen Körpers, und die Arme des Ritters hindern sie eben noch am Niedersinken. Sie wird auf ein Sofa gebracht, und ihr alle Hilfe geleistet. Endlich öffnet sie die Augen. »Der Verschnittene, der Verschnittene! helft mir, rettet mich!« ruft sie aus und klammert sich fest an ihren Beschützer. Ihr Geliebter flößt ihr bald ihr voriges Zutrauen wieder ein, sie lächelt über ihre Schwäche, die aus der Macht der Gewohnheit entsprang, und beginnt den Tanz von neuem. Das Gemurmel gegen den Verschnittenen unter den Zuschauern auf der Galerie wurde jedoch so groß, daß man ihm zu verstehen gab, er möge sich zurückziehen, und die Prinzessin Osva und der Großmeister, um ihm ein öffentliches Zeichen ihres Beifalls zu geben, begleiteten ihn in das anstoßende Zimmer.
Großmeister: »Mein lieber Freund, ich wünschte, wir könnten Euch einen Schutzort anbieten, wo Ihr Euer Leben wenigstens in Ruhe zubringen könntet, denn nichts, glaube ich, kann Euch einen glückseligen Zustand versprechen. Die Rache des Himmels wird diejenigen erreichen, die die Werke des Schöpfers so sehr entstellen. Ihr seid unserer Achtung so sehr würdig, doch nichts wird fähig sein, fürchte ich, den eingewurzelten Haß meiner Landsleute gegen Eure elende Klasse zu verändern.«
Verschnittener: »Ach, sowohl hier als irgendwo anders werde ich doch nur ein elendes Pflanzenleben führen, in England allein kann ich hoffen, mein Leben zu genießen. Dort würde ich mir ein Weib kaufen und mein Leben zum Endzweck ihrer Glückseligkeit machen. Ihr Harem sollte eine goldene Decke haben, und sie sollte auf prächtigen Teppichen gehen. Die Würmer von Damaskus sollten ihr die Seide zu ihren Kleidern spinnen, Perlen aus Arabien sollten ihren Hals zieren, und Juwelen von Golconda ihre Ohren schmücken. Sie sollte sich in Essenzen von Rosen baden, und der feinste Reis ihr Nahrung geben. Sklavinnen sollten vor ihr tanzen, um sie zu belustigen oder sie in den Schlaf zu singen. Mein ganzes Vermögen (denn ich habe einige Schätze gespart) wollte ich für ihr Vergnügen aufopfern. Oh, wie glücklich würde ich mit einer Engländerin sein! Niemals würde ich sie strafen, niemals sie im Finstern einschließen, nie ihr verbieten, ihre besten Kleider anzulegen, und nie sie ohne Abendbrot zu Bett schicken.«
Osva: »Meine Landsmänninnen müssen Euch für eine so gute Behandlung außerordentlich verbunden sein. Vielleicht wißt Ihr nicht, daß ich in England geboren bin.«
Verschnittener: »In England? – Oh, sagt mir doch, wie weit ist England von hier? Wie viel Tagereisen hat man zu machen?«
Osva: »England ist eine Insel.«
Verschnittener: »Wohl denn; in wie viel Tagen würde ich mit einem Kamel dort ankommen?«
Osva: »Ich sage Euch ja, England ist eine Insel.«
Verschnittener: »Nun denn, wie viel Tagemärsche braucht man?«
Osva: »Man muß zu Wasser gehen.«
Verschnittener: »Aber ich hasse das Wasser. Ich würde das Reisen zu Lande vorziehen, und wenn ich auch einen noch so weiten Umweg machen müßte.«
Osva lächelte und dachte, wie unwissend eine Nation sein müsse, wo die Erziehung der vornehmsten Leute der Sorge der Verschnittenen anvertraut wird, und der Verschnittene murmelte zwischen den Zähnen: »Es ist doch seltsam, daß ein Weib auch auf die einfachste Frage niemals eine bestimmte Antwort geben kann.«
Für Osva war der sonderbare Vorzug, den der Verschnittene England gab, befremdend, und ihre Neugierde verleitete sie, das Gespräch wieder anzuknüpfen.
Osva: »Da Ihr gesonnen seid, England zu besuchen, so können Euch meine Empfehlungen dahin von Nutzen sein. Habt Ihr Freunde dort? oder seid Ihr mit einem Engländer bekannt?«
Verschnittener: »Ich habe keinen Freund dort, denn ich habe nie einen Engländer gesehen, aber eine Engländerin ist mir bekannt, und wenn die Weiber ihres Landes alle ihr gleichen, so werde ich nie, solange ich atme, wünschen, England zu verlassen. Aber sie ist nicht in England und wird auch wahrscheinlich niemals wieder dahin kommen.«
Osva: »Wo ist sie denn?«
Verschnittener: »Zu Candahar, in dem Serail des Sultans. Höret meine traurige Erzählung: Euer Blick ist der Blick des Mitleidens, Eure Stimme kündet ein fühlend Herz an. Ihr seid die Landsmännin meiner Geliebten und werdet auch Gefühl für die Leiden eines Verschnittenen haben.
»Vor einigen Monaten kaufte der Sklavenhändler unseres Harems eine Engländerin, und ich erhielt den Befehl, sie ins Bad zu bringen, um sie zu meines Herrn Umarmungen vorzubereiten. Sie schien in einem Zustand von Unempfindlichkeit zu sein, ihre Augen, worin tiefe Schwermut saß, waren entweder auf den Boden gerichtet, oder sie betrachtete die Gegenstände um sich herum, ohne auf etwas achtzuhaben. Sie öffnete nie ihre Lippen, und ohne Zufriedenheit oder Abneigung blicken zu lassen, erlaubte sie mir, sie mit wohlriechendem Wasser zu waschen und sie nach Belieben zu kleiden.
»Wenn ihre Gefühllosigkeit, dachte ich, sich nicht von den Strapazen einer langen Tagereise herschreibt, die sie durch Wüsten und über Berge, in einem engen Käfig eingeschlossen, und auf dem Rücken eines Kamels gemacht hat, so ist sie das trägste, dümmste und uninteressanteste Geschöpf der Welt.
»Ein Sklave kam und meldete mir, daß der Sultan seine Mahlzeit geendigt habe und nun die Neuangekommene in seinem Schlafzimmer erwarte. Ich unterrichtete sie von seinen erhabenen Befehlen, sie erwachte aus ihrer Schlafsucht. Ihre Gesichtszüge wurden von einem neuen Ausdruck belebt; Rache und Wut brannte in ihren Augen und hob ihren Busen. Sie brach in eine Flut von Tränen aus und wollte schlechterdings nicht vom Fleck gehen. In diesem Augenblick fand ich sie sehr anziehend und bemerkte, daß sie ein schönes Weib war. Mein Herr, ungeduldig über diesen ungewöhnlichen Verzug, stürmte in das Zimmer und wollte sie in seine Arme schließen. Mit Verachtung stieß sie ihn zurück und fing an, unseren großen Propheten und seine heiligen Gesetze zu lästern. Sie riß ein Halsband von Perlen, mit dem ich sie vorher geziert hatte, von ihrem Hals und warf es ihm ins Gesicht. Mein Herr floh aus dem Zimmer, als ob er vor einer Wahnsinnigen flöhe.
»Er kehrte endlich zurück und fand sie ruhiger. Sie warf sich ihm zu Füßen und bat ihn mit Tränen in den Augen, ihrer Ehre und Tugend zu schonen; damit meinte sie aber, wie ich nachher erfuhr, ihre Keuschheit; vielleicht ist die Keuschheit eine Tugend in England, ob sie gleich von dem Propheten durchaus verboten ist, denn ein Weib ohne Kinder ist ein Baum ohne Früchte. Ich will Euch hier nicht eine umständliche Beschreibung seines Ungestüms und seiner Heftigkeit, sowie ihrer Leiden und ihres Widerstandes machen. Während einiger Monate konnten weder Drohungen noch Bitten, weder Härte noch Geschenke noch jede Aufmerksamkeit, die ihrer Eitelkeit schmeicheln mochte, und ebensowenig die Schrecken des Gefängnisses bei Brot und Wasser eine Änderung in ihrer Abneigung gegen meinen Herrn hervorbringen. Brauchte er Gewalt, so vermehrten sich nach der Hitze seiner Angriffe auch ihre Kräfte. Sie gebrauchte zu ihrer Verteidigung ihre Nägel, die öfters in Anfällen ihres Wahnsinns ihrer eigenen Schönheit, der Quelle ihrer Verfolgungen, gefährlich wurden, und selbst die Sklaven, die mehr als einmal zu seinem Beistand gerufen wurden, waren genötigt, von ihrem Unternehmen abzustehen.
»Einst war sie in ein dunkles Zimmer eingeschlossen, und der Schlüssel davon war meiner Sorge anvertraut. Als ich ihr eines Morgens ihre tägliche Speise brachte, fing sie ein Gespräch mit mir an. Sie betrug sich sehr artig gegen mich, und in Gegenwart meines Herrn war sie der Teufel selbst, mit einem Wort, sie versprach, mich zu heiraten, wenn ich sie aus dem Harem befreien könnte, und obschon sie mir nicht die geringste Freiheit erlaubte und mich nicht einmal ihre Hand küssen ließ, so ist sie doch das einzige Weib, das mich in meinem Leben einem Manne vorgezogen hat.
»Wie oft war mein Herr genötigt, in seinen Versuchen gegen diese widerspenstige Engländerin getäuscht, seinen Kummer in den Armen einer gutwilligen Sultanin zu begraben, und doch versprach mir diese Engländerin, mich zu heiraten.
»Ich nahm mir vor, mich selbst auf den nächsten Markt zu begeben und dort zu meines Herrn Gebrauch einige Sklavinnen einzukaufen, deren außerordentliche Schönheit und Vollkommenheiten die Engländerin aus seinen Gedanken vertreiben sollten. Er sollte dann ihre Abneigung mit Kälte erwidern, und da er mir schon oft meine Freiheit und eine Sklavin zur Heirat versprochen hatte, so wollte ich ihn zur Belohnung meiner vieljährigen Dienste um die Engländerin bitten. Dies war der Plan meiner Liebe und war eben der Gegenstand meiner Träumereien in derselben Nacht, als der elende Sklave mich seiner eigenen Sicherheit aufopferte.«
Der schwarze Verschnittene schwieg, und da auch in demselben Augenblick die Musik auf dem Ball aufhörte, wünschte ihm Osva eine gute Nacht und begab sich in ihr Schlafzimmer.
Ihre Kammerfrauen hatten die Prinzessin verlassen, sie warf sich auf ihr Lager und dachte dem traurigen Schicksal der unglücklichen Engländerin nach. Es war die Stille der Mitternacht. Plötzlich hörte sie die Töne einer Harfe, welche von der Stimme einer Hofdame, die ein angrenzendes Zimmer bewohnte, auf folgende Art begleitet wurden:
Weiber mit dem grünen Gürtel,
Ihr, die kein verhaßter Zwang
Fesselt an entnervte Krieger,
Ihr, der schönste Lohn der Sieger,
Weiber, horchet dem Gesang.
Mirva, stolz an Wuchs und Sitten,
Pranget, Kalekuttas Ruhm,
Schöner, wenn zu ihren Füßen
Goldne Locken wallend fließen
In der Liebe Heiligtum.
Maldor, wenn die Schlacht erfochten,
Eilt in der Geliebten Arm;
Ruht, das edle Haupt umschlungen
Mit dem Lorbeer, erst errungen,
Ihr am Busen liebewarm.
Doch was naht im Kriegsgetümmel?
's ist der Feind von Candahar.
Hat des Indus Flut durchfahren,
Und des Persers stolze Scharen
Rücken schon gen Malabar.
Rüsten gegen diese Feinde
Muß sich jeder Mutter Sohn;
Feige Muselmänner, bebet,
Wenn der Phönix dräuend schwebet
Bei der Kriegsdrommete Ton.
Frei von häuslich enger Sorge
Und zum Kampfe stets bereit,
Kann der Jüngling ohne Zagen
Sich ins Feld des Todes wagen,
Zu dem blutig heißen Streit.
Keck mit freier Brust versuchet
Der Naïr der Waffen Glück;
Denn es hält ihn bei den Seinen
Nicht der zarten Kinder Weinen,
Nicht der Gattin Arm zurück.
Und geordnet stehn die Heere,
Fordern laut der Schlacht Beginn.
Da ruft Aigrof kühn im Kriege:
»Führt uns Maldor nicht zum Siege?
Wo ist Maldor Marsorin
Maldor war der Sohn Marsoras.?«
Und er eilet hin, wo Maldor
Fern vom Schauplatz der Gefahr
Ruht in süßen Liebesträumen.
»Seh' ich recht! hier kannst du säumen?
Du, der Stolz von Malabar?
»Du ein Held, und darfst die Feinde
Sehn im mütterlichen Land?
Rona eilst du nicht zu retten?
Rona trägt der Perser Ketten,
Löse du ihr schimpflich Band!«
Drauf der Erste der Naïren:
»Auch mich hält der Fesseln Zwang!«
Auf des seidnen Haares Flechte
Zeigt er, die um seine Rechte
Sich gleich goldner Kette schlang.
Aber Mirva schnitt entschlossen
Rasch ihr langes Haar entzwei.
»Dient als Sehne Maldors Pfeilen,
Tödlich Feinde zu ereilen;
Schaut, den Helden macht' ich frei!«