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Der Kaplan trat ins Zimmer.
Beide Männer sahen sich scharf in die Augen, um scheinbar aneinander vorüberzusehen.
Aber nur für eine Augenblicksspanne.
Ich weiß nicht, woher es kam, aber man hatte den Eindruck, zwei wären hier mit einem Fläschchen eingetrockneten Bluts zusammengekommen, um festzustellen, ob es das Blut des heiligen Januarius wäre und Anstalten machen würde, auf geheimnisvolle Weise langsam ins Fließen überzugehen.
Man sah es beiden an: sie gehörten nicht zu denen, von denen man sagen konnte: Medium tenuere beati. Nur die sind glücklich zu nennen, die sich auf ein beschauliches Dasein einstellen und es verstehen, den Leidenschaften ein ›Bis hierhin und nicht weiter‹ zu bieten.
Heinrich Verschüren war sichtlich gealtert, die einst so scharf gemeißelten Züge verfallen. Die Blicke schienen ermüdet, die Haare tot und glanzlos. Von der Tonsur war das milchige Leuchten gewichen.
Er trat dicht an den Tisch, der sich neben dem Sofa erhob, und stützte die Hand auf die Platte. Inmitten der Tafel stand ein Körbchen aus geflochtenen Porzellanstäbchen, mit halbverwelkten Karthäusernelken, die die Abgeschiedene vielleicht noch eigenhändig zugebracht hatte.
Ein fader Geruch ging von den todmüden Blumen aus, der an Sterben und Verwesung erinnerte.
Heinrich Verschüren, dessen Kopf zur Disputa abgeirrt war, wandte ihn wieder voll auf Heribert Kästner, dessen Herz nahe daran war, aus Form und Fessel geworfen zu werden.
Dann drei oder vier schwere Atemzüge, und der Kaplan sagte mit weher und zerbrochener Stimme: »Sie ersuchten um eine Aussprache mit mir. Stimmt das, Heribert Kästner?«
»Ja, durch Herrn Baumann.«
»Und gerade in diesem Hause? Warum das?«
»Weil ich es für nötig erachtete.«
»Ich dachte es mir, obgleich ich vorhatte, heute nicht mehr zu kommen.«
»Liegt da nicht ein Irrtum Ihrerseits vor? Die Lichjungfer bestellte mir eben, Sie würden erwartet, um von der Verstorbenen Abschied zu nehmen.«
»Es war ein Vorwand von mir. Frau Anna Berendonk drängte mich so. Aber ich mußte allein sein. Meine Pflicht lag hinter mir. Ich hatte bereits von ihr Abschied genommen . . . und nun kamen Sie, und ich habe Ihrem Wunsche Rechnung getragen.«
»Das danke ich Ihnen und verzeichne es mit einer gewissen Genugtuung, denn ich hatte Ihnen in den letzten Monaten nicht vieles zu danken, Heinrich Verschüren.«
»Sie belieben es, mir mit harten Worten zu dienen.«
»Wählte ich andere, ich würde mich der Heuchelei schuldig machen, und dieses kann in Ihrer Absicht nicht liegen, denn das weiß ich aus früheren Zeiten: hinterhältig sind Sie niemals gewesen. Bittere Worte lagen Ihnen besser als süße, wenn sie der Wahrheit entsprachen.«
»Dafür schulde ich Dank«, sagte der Kaplan und schien schwer an jeder Silbe zu schlucken, »ja, Dank, daß Sie mir das noch belassen und zubilligen.«
»Ich verstehe so recht nicht.«
Heinrich Verschüren hob die aufgestützte Hand und suchte das Porzellankörbchen an sich zu ziehen. Als er aber die welken Blumen berührte und den faden Duft einsog, schreckte er unwillkürlich zurück.
»Dann eine Frage, Heribert Kästner.«
»Ich warte darauf.«
»Sie sind aus freien Stücken gekommen?«
»Ja.«
»Und mit der Absicht gekommen, mir den saccus benedictus, das Bußhemd überzuwerfen?«
»Nein. Warum fragen Sie das?«
»Weil ich annahm, Sie wären auf Order eines andern erschienen.«
»Auf wessen Order?«
»Auf die eines direkten Vorgesetzten, des Dechanten Jakob Ezechiel Schlüpers. Der Mann ist mir nie zugunsten gewesen.«
»Nein, Hochwürden sandte mich nicht. Wohl hatte er vor, selber vorstellig zu werden.«
»Vorstellig – wo?«
»Beim Bischöflichen Ordinariat.«
»Um was denn?«
»Um irgendeine Sache zu klären, sich Rats zu holen. Er hielt es für nötig, denn die Dinge nahmen für ihn ein böses Gesicht an.«
Ein kurzes Auflachen.
»Ah! ich verstehe. Und Sie . . .?«
Zwei starre eisige Blicke waren auf Heribert Kästner gerichtet.
»Ich beruhigte und bat ihn vielmehr, davon Abstand zu nehmen, und wenn Sie die Worte hören wollen, die ich ihm dieserhalb entgegenhielt – hier sind diese Worte. Vorher sei bemerkt: der Dechant von Warbeyen ist der Gerechtesten einer. Ihnen gegenüber ist er nie zu ungunst gewesen. Sie irren. Dafür ist der Mann zu lauter in seinem Handeln und Denken und klarer denn hartes Brunnenwasser. Ihm durfte ich sagen, was ich ihm darlegen mußte, um profanen Augen das grelle Licht des Tages abzusperren. Ich sagte: Alles das, Herr Pastor – es fördert nicht und bringt uns nicht weiter. Bleiben Sie ganz aus dem Spiele, Hochwürden. Es würde nur Aufsehen machen, und das zu verhindern, sind wir der Verstorbenen schuldig. Wo ein Totenglöckchen wimmert, da ist bereits des Elends genug. Warum da noch die Feuer- und Sturmglocke läuten? Lassen Sie anstehen. Ich spreche selber mit Heinrich Verschüren . . .«
Die Augen des jungen Klerikers waren nicht mehr versintert und eisig. In der Tiefe begann es wie Holzmulm zu glimmen. Aus diesem Glimmen wuchsen Fünkchen und Funken. Die begehrten auf, als säße ein Sturmwind dahinter.
»Sie . . .?!« fragte er mit einer Stimme, in die jetzt heiße Zungen hineinflackerten. »Das sagten Sie ihm . . .? Und er . . .?! Was sagte er? Was gab der Dechant zur Antwort?! Verdammte oder begnadete er . . .?«
»Keines von beiden. Er sagte nur dieses: Junger Mann, recht werden Sie haben, denn wir, die Alten, wohnen zu sehr in Hinterwaldslanden. Sie müssen es wissen, was erforderlich ist, dieses Dilemma zu lösen. Ihre Hand tastet feiner als meine. Ihr Auge sieht schärfer als meines. Gut so! Also Sie gehen zu ihm? – Noch heute Hochwürden . . . und Sie sehen, ich habe Wort gehalten, Heinrich Verschüren.«
»Ja, ich sehe«, kam es von zuckenden Lippen, in die sich die Zähne hineinbissen und die grau waren wie Asche.
Aber über dieser grauen Asche sickert ein langsamer Blutfaden.
»Ja, ich sehe: du . . . Sie haben Wort gehalten. Ich danke Ihnen, Heribert Kästner.«
Er wollte einen Schritt vorwärts tun, auf den Erschütterten zu, aber die Schuhe versagten den Dienst. Er wollte ihm die Hände entgegenstrecken, allein die Hände krampften sich ein, blieben verlähmt. Nur der langsame Blutfaden sickerte weiter, die Augen brannten mit dem nämlichen Feuer, und er konnte noch sagen: »Zuvor ein Wort über mich. Noch spät in der verflossenen Nacht schrieb ich an die Düsseldorfer Regierung, legte Protest gegen das ein, was ich in verblendeter Erregung gegen Sie vorbrachte, habe ihr dargetan: die Klage gegen Sie ist eine nichtige Klage. Mea culpa, mea maxima culpa! und ihr freimütig und offen gestanden: ein Mensch christkatholischen Glaubens mit deutschnationaler Einstellung, der dem Gewesenen die Treue nicht aufsagt, gilt ebenso viel oder mehr vor seinem Erlöser und Heiland, als einer, der da wähnt, unter dem Parteigeist leben und unter der düsteren Fahne des Zentrums marschieren zu müssen. Die Schuld liegt bei mir . . . und somit ersuche ich um Tilgung des Briefes. Ah!« und seine Stimme flackerte hoch: »Der Dechant von Warbeyen . . . Also er verdammte nicht und er begnadigte nicht . . .?! Wohl mir . . .!« und der junge Kleriker mit dem Antinouskopf und den Balduraugen mußte sich an der Tischkante halten, um nicht taumelsinnig zu werden.
Aber es fruchtete nicht. Er brach in die Knie zusammen wie von einer hinterhältigen Sense getroffen.
Den Arm auf dem Tisch, die Stirn gegen die harte Kante gedrückt, hob er den Kopf langsam von dem starren Pfühl, stierte er seinen früheren Freund an, fielen ihm die Worte wie Bleistücke vom Munde herunter: »Du – ich spiele hier keine dramatische Szene. Lasse mich so, hier auf den Dielen. Meine Knie wollen nicht mehr, sind wie verlähmt. Außerdem – ich verdiene es reichlich, vor dir knien zu müssen . . . und wenn du den Stolz aufbringst, mir den Schuh in den Nacken zu setzen – setze mir getrost den Fuß in den Nacken, auch das verdiene ich so reichlich, als wäre mir bereits vor Stuhl und Schrein das Urteil gesprochen. Heribert – du . . .!« und sein rechter Arm fiel wie ein Holzscheit zu Boden, um sich gleich darauf wieder auf den Tisch zu legen, sich dort anzuklammern. »Hören sollst du mich. Aber höre genau zu, denn ich habe dir ein Geständnis zu machen. Der Herr hat gerichtet. Ich wurde getroffen, aber du wurdest schlimmer getroffen . . . und sie . . .«
Vor diesem wilden Ausbruch schreckte sein Kläger zusammen: »Heinrich, lasse sie ruhen in Frieden.«
»Soll sie auch. Ruhen soll sie in Frieden, denn es ist ja doch nichts mehr anders zu machen. Aber du und ich, wir leben, leben noch immer unter ihrem barmherzigen Schatten – und das ist entsetzlich, denn dieser Schatten steht wider mich auf, unbewußt, während er dich mit himmlischem Leuchten umkleidet . . .«
»Heinrich . . .!«
»So ist es, und der rauhe und doch großzügige Pastor von Warbeyen, den ich wider mich hielt – er sprach mir das Urteil wie ein Großer in Israel. Ja, ich bekenne: ich bin schuldig und dennoch nicht schuldig. Ich bin durch Sünde gegangen, aber nicht durch Sünde, die bitterer ist denn wirkliche Sünde. Ich bin ein Gesalbter, aber auch nur ein Mensch . . . und das Weib machte mich hungern. Ich gehrte nach ihm, ohne seines Leibes teilhaftig zu werden. Die Scheu hielt mich ab. Die Scheu vor mir selber und die vor meinem Gelübde Gott gegenüber. – Heribert, ich bin noch nicht fertig. Ich bitte dich, höre auch dies noch. Da trat sie in mein Leben, sie, die gebenedeit war unter den Weibern, schön und still und feierlich wie ein schönes, stilles und feierliches Licht vom Berge Tabor herunter. – Ich betete das Weib an – sie, die Hohe und Schöne. Ich gönnte sie keinem. Niemand sollte sie haben. Keiner sollte sich ihrer reinen Seele und sich ihres stolzen Leibes erfreuen. Auch du nicht. Pflichtig sollte sie bleiben, heilig sollte sie werden – im Magdalenenkleid pflichtig und heilig mir gegenüber. Das war es . . . Und dieses: ich schreie zu Gott: Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa! Ich bekenne es vor Gott und den Menschen: Und das ist meine Sünde – meine Sünde ihr gegenüber und dir gegenüber. Ich zerpflückte die Blüte eures Glückes bis tief in den Kelch hinein, bis zur letzten Maser und Faser. Aber bei Gott und in seinem heiligen Namen« – und er wuchtete sich schwer wie ein Kranker auf seinen verlähmten Knien nach oben – »rein und unangetastet blieb sie, rein blieb ihr Leib wie eine Hostie im Tabernakel des Herrn.«
»Heinrich . . .!«
Mit einem Schrei stürzte ein Verzweifelter vor.
»Was sagst du . . .?!«
Da schob sich ein starrer Arm wie ein hartes Holz in die Höhe und zwei Finger der Schwurhand streckten sich vor.
»Heribert, so wahr mir Gott helfe – rein wie eine Hostie im Tabernakel des Herrn . . . wenn ich auch Schuld trage, eine Liebe verwüstet zu haben.«
Wie gebrochen sackte der Arm wieder am Leibe herunter.
»Ich habe nichts mehr zu sagen, nur dies noch«, und das Antlitz Heinrich Verschürens, fahl und grau wie Kirchhofserde, stierte starr und stumpf in das seines Gegners. »Was nun? der Tod steht zwischen uns. Der Mund, der jetzt sprechen müßte, ist für ewig versiegelt. Nur du kannst noch sprechen – und bangen Herzens – ich erflehe dein Urteil, und wenn du willst: ich will in der Wüste verdursten.«
Heribert Kästner wandte sich ab.
»Ich habe das Recht nicht«, sagte er leise, fast lautlos, »aber der Herr wird vergeben. Was rein geblieben, ist rein. Die Schuld ist minder, als mein Herz sie verbuchte. Der Herr wird denken wie ich, denn er sieht dich noch besser, als meine Seele dich sieht . . .«
»Heribert, du . . .« und mit erstickter Stimme sagte der Verstörte aus tiefen Qualen heraus, »und wer wird sie morgen bestatten? Mein Amt will, daß ich ihr die letzten Weihen erteile. Aber ich kann nicht.«
Kästner wandte sich jählings.
»Wer denn anders als du?«
»Sie wird mich im Grabe verfluchen . . .« und die Seele des Priesters schrie auf wie ein gehetztes Tier zwischen Dornen.
Da tastete die Hand Kästners nach der seines wiedergefundenen Freundes.
»Heinrich lass' gut sein. Du mußt. Schon der Welt gegenüber und um der Barmherzigkeit willen.«
Noch einmal klang es wie ein Wimmern aus einem zersprungenen Herzen.
»Sie wird mich im Grabe verfluchen, denn deine Liebe ist bei ihr und behütet die Stätte.«
»Heinrich, sie wird dich segnen im Grabe. – Nun komm . . .«
»Wohin . . .?«
»Zu ihr.«
Da sagte der andre still vor sich hin: »Was auch geschehen – auch deine Liebe war Liebe«, und gemeinsam betraten sie die Kammer der Toten.
Die meisten Kerzen waren gelöscht. Nur drei flämmerten noch, eine zu Häupten, die anderen zur Seite der Aufgebahrten.
Eine friedliche Dämmerhelle durchgeisterte das mit feinen Stimmen umwisperte Zimmer.
Als die beiden eintraten, hatte die Lichjungfer just die Stube verlassen und Maria Salomea und Maria Kleophä gebeten, für sie die Totenwache übernehmen zu wollen. »Ja,« sagte sie dabei im Abgehen, »ja, ja! über Turteltäubchen und Aasvögel lächelt Gottes Sonne ebenso freundlich wie über Jüngferlein und üppige Dirnen auf rosinfarbigen Tieren; aber es ist doch ein Unterschied, wohin sich ihre goldenen Strählchen verlieren. Sonne ist eben nicht überall Sonne. Hier ist sie wie die allerfeinste Glorie in der Gnadenkapelle«, und dann hatte sie den beiden noch dargetan, gegen die vierte Morgenstunde käme sie wieder, um auch noch das Letzte zu regeln und alle Kerzen auf den Stöcken aufs neue in Gang zu bringen.
Mit leisem Schluchzen wollten sich jetzt auch Maria Salomea und Maria Kleophä entfernen, um ja nicht zu stören.
»Ihr stört nicht«, sagte Heribert Kästner. »Bleibt nur. Ihr könnt ruhig dabei sein, wenn wir von der Abschied nehmen, die uns teuer und lieb gewesen im Leben, die bei uns sein wird bis zur Stunde, die uns allen beschieden.«
Die Worte zerbröckelten ihm zwischen den trockenen Lippen.
»Ach, die Liebe, die Heilige!« wimmerte Maria Kleophä und nahm ihr das weiße Tüchlein vom Antlitz.
Die große Kerze am Kopfende flackerte auf.
Die Verstorbene schien lebendig zu werden.
Ihr schönes, wächsernes Medaillengesicht ruhte leicht zur Seite geneigt. Ihre immer noch rosigen Lippen umblühte ein Lächeln.
Es war aber nicht mehr von dieser Erde, sondern schon vom Herrn gezeichnet.
Die beiden Männer standen hoch neben dem Schrein, jetzt ruhig, gefaßt, ehern, wie von einem Postament herunter, in der Totenkammer errichtet.
Nur Heinrich Verschüren war bleicher als die Verstorbene selber.
Er tastete nach den wächsernen Händen, die ein Rosenkränzlein und ein beinernes Kreuzlein umfaßten.
»Vergib mir!«
Die beiden Freundinnen verhüllten ihr Antlitz.
»Ach – du . . .!«
Heribert Kästner beugte sich nieder.
Seine Hand legte er auf ihre Stirn, seinen Mund auf den ihren.
So verharrte er zehn Herzschläge hindurch.
Als er sich aufhob, haftete ein Partikelchen Rauschgold auf seinem Munde, das er von ihren Lippen genommen. –
Anderen Tages zur festgesetzten Zeit wurde Henriette Jansen dem Staub übergeben.
Wie die Mainzer Frauen und Jungfrauen ihren Heinrich Frauenlob trugen, so wurde sie von sechs der feinsten Jünglinge aus den Jungmannschaften von Heiligenbaum und Appeldorn zu Grabe getragen.
Alle Straßen waren mit Maien bestellt, alle Wege und Stege mit zerkleinertem Buchs und Kalmus in Blumenteppiche verwandelt.
Vom Trauerhause mit den beiden verschnittenen immergrünen Bäumen setzte sich der Zug in Bewegung.
Ein Blütenreigen von weißgekleideten Mädchen, die ihre Schülerinnen waren, bewegte sich zu beiden Seiten des Sarges.
Hinter ihm schritten Heribert Kästner und Jakob Ezechiel Schlüpers. Letzterer mit schwerem Eichenheister und auf lauten Schuhen. »Es geht mir doch hart an die Nieren«, sagte er mit ungelenker Zunge, »so ein junges Weib von der Koppel geworfen zu sehen. Sie dauert mich innig. Aber was ist da zu machen? Garnichts. Gott hat es wollen. Er wird schon wissen warum und wird Euch beistehen. Nein, diese Welt! Fast fünfzig Jahre zirkelt mir das Schermesser den kreisrunden Taler auf den Haarschopf. Dreißig davon pastoriere ich bereits in Warbeyen und seinen Kappesplantagen herum. Bin vertapert bei den dortigen Böcken und Schafen. Auch mein Latein ist verbauert. Insonsten schrieb ich die Sprache Ciceros wie 'n feiner Lateiner. Jetzt ist sie wie Bohnenstroh und Häcksel geworden. Das reinste Küchenlatein. Leider! Aber eins ist nicht verbauert, mein Lieber. Mein Herz nicht. Es ist warm und drähtig geblieben – und ich fühle so recht in seiner ganzen Weite und Tiefe: Ihr habt's brav gemacht mit Heinrich Verschüren. Den bösen Funken tratet Ihr aus. Die in Münster haben das Nachsehen und können kein Feuer mehr machen. Besser für alle. Gott lohn's Euch. Es darf keine Brunst und Lohe mehr geben . . .«
Die letzten Worte verschluckte das Geläut von der Gnadenkapelle.
Alle Glocken begannen zu singen, zu trauern.
Zuerst wehten die Fahnen und Banner der Bruderschaften.
Der junge Lehrer Stephan tom Heuvel aus Appeldorn führte sie an.
Dann kamen die Schulen.
Unmittelbar vor dem mit Blumen überschütteten Schrein bewegte sich Heinrich Verschüren, im Röckling, die Blicke am Boden, überragt vom Kruzifix, das der Küster und Kantor, von zwei Messejungen begleitet, vorantrug.
Man sah es dem jungen Kaplan an: es war ein schweres Gehen und Schreiten, ein Pilgern unter den Qualen der Seele und denen des Marterholzes, das er sich selber auferlegt hatte. Ihm war so, als ließe ihm ein ungeschickter Kerzenanzünder unentwegt glühende Wachstropfen auf die Herzgrube fallen. Alle sahen mit ersticktem Schluchzen, wie Henriette Jansen mit ihrem weißen Geleit und in voller Blütenpracht wie eine Königin zum stillen Gottesacker dahinzog.
In einer kleinen halben Stunde war dort alles vorüber.
Der Kaplan hielt sich tapfer. Nur einen Augenblick mußte der Küster ihn halten.
Als die ersten Erdschollen niederfielen, begann es in den Zweigen der großen Eiche zu säuseln.
Eine kreisrunde Wolke übersegelte den Friedhof.
Ein weicher, laulicher, später Maienregen fiel nieder und segnete die, die nicht mehr aufwachen sollte.
Gleich darauf lächelte der Himmel wieder in seiner früheren Reinheit.
Heribert Kästner ging allein seines Weges. Am Kirchhofsgatter stieß er auf Severin Baumann.
»Herr Kästner, ich habe Gelegenheit. Wir sind allein, und wenn Sie mitfahren wollen. Ich bringe Sie nach Warbeyen hin.«
»Innigen Dank. Aber ich habe noch mit dem Kaplan durch die Wiesen zu gehen, um mit ihm einige Worte zu sprechen. Eine Stunde und mehr kann's dauern, und wenn Sie Zeit haben und die Güte hätten, auf mich warten zu wollen . . .«
»Aber mein hochverehrtester Gönner«, und der Chef des Hauses ›Pietas‹ zog seinen neumodischen Zylinder so würdig und doch so devot von seinem Haupte herunter, daß sich ein Oberzeremonienmeister des Hauses Reuß, Schleitz und Lobenstein ein Exempel daran nehmen konnte, »und wenn ich bis übermorgen mit meinem Wagen hier ausharren müßte . . . für einen, der Liebe für meine stille Teilhaberin im Herzen trug und alle Aussichten hatte . . .«
Heribert Kästner machte eine wehe Bewegung.
»Ja so, ich verstehe«, sagte Herr Baumann mit einer unendlichen Zartheit, »aber eins muß ich dartun, schöner ist im Herzogtum Kleve noch keine beigesetzt worden, keine mit so vielen Tränen gesegnet. Eine Königin konnte sie deshalb beneiden.«
Er wischte sich ein helles Wasser von den Wimpern herunter.
»Also – ich warte an der Gnadenkapelle.« –
Das Goldnetz des Abends hing feierlich über der weiten Niederung. Himmel und Erde standen in Gold.
Die Wiesen und Felder rings um Heiligenbaum waren mit Myriaden lichter Pünktchen getempert. Die Häuser und Häuschen verbargen sich hinter Erlen und kanadischen Pappeln, deren Blätter sich silberig in einer leichten Brise auf und niederbewegten. Es ging ein Flimmern und Flüstern über die einsame Landschaft. Ein unabsehbarer zartvioletter Farbenrausch von Kuckucksblumen, zwischen denen der feinmaschige Speichel von Schaumzirpen glitzerte, umzirkte den Gnadenort mit den Schleiern eines überirdischen Teppichs. Es war so . . . über ihn konnte es mit Engelsfüßchen einhertrippeln, konnte eine lichte Schar von Cherubim und Seraphim ihres Weges daherziehen bei Psalter und Harfen und mit abgedämpften Pauken am Reigen . . . und jeden Augenblick konnten ihre Stimmen erwachen und singen und sagen:
»Wunderschön Prächtige,
Hohe und Mächtige,
Liebreich holdselige, himmlische Frau . . .«
so trostreich war es ringsum, so von der Nähe der Gottesmutter umgeistert, als müßte sie jeden Augenblick erscheinen, um in lichtblauem Mantel, ein Kränzlein von sieben Sternlein um Stirn und Schläfen gezirkt lächelnd durch diese Wiesen, über diesen zartvioletten Teppich von Kuckucksblumen zu pilgern.
Das Goldnetz zerfaserte.
Himmel und Erde schienen in eins zu zerfließen.
Vereinzelte Schwalben waren noch rege, teils niedrig am Boden, teils hoch in den Lüften.
Die Weiten dämmerten ein.
Die Fernen dem Rhein zu nahmen einen violblauen Ton an.
Die Sille war jetzt fühlbar, war eine unendliche geworden.
Zwei hohe Schatten bewegten sich durch Wiesen und Weiden Heiligenbaum zu.
Kurz vor Eingang des Ortes, an einem Heckengäßchen, blieben sie stehen.
»Was noch erforderlich war, haben wir alles besprochen«, sagte Heribert Kästner. »Alle Zweifel wurden behoben. Oder hast du noch welche?«
»Nein«, sagte der andre. »Nur noch eines bedrängt mich, frißt mir wie ein Geier am Herzen. Immer aufs neue drängt sich mir die Pein und Marter auf: Buße ist nötig. Du hast dich bei deiner vorgesetzten Behörde zu melden. Bei ihr ist die letzte Entscheidung.«
Kästner fuhr auf.
»Nein«, sagte er schartig, fast unwillig. »Du kennst meine Ansicht, auch die des Dechanten von Warbeyen. Oder glaubst du, wir wären nur dazu da, Spreuicht und leeres Häckselstroh zu dreschen? Oder aber muß ich dir zum drittenmal sagen: es ist des Elends genug? Das Wimmern des Sterbeglöckchens genügt. Oder soll auch die Sturm- und Feuerglocke noch läuten?! Aber du – wenn du ein übriges tun willst«, und seine Stimme wurde zutunlich und ging weich durch den Abend: Gehe in dich, sprich mit dem Dechanten. Der sieht die letzte Not und den letzten Faden in Herz und Nieren. Er deckt sie auf, er heilt sie, er nimmt sie hinweg: nunc et in hora mortis tuae. Er wird dir dasselbe sagen, was ich dir jetzt sage: Nimm Urlaub . . . hebe dich auf . . . gehe etliche Monde von hinnen . . . in die Eifel vielleicht . . . in eine einsame Pfarre . . . zu einem kleinen aber sprudelfrischen Pastor in verlorene Einöd . . . bis die Schwalben abziehen . . . und die Schneesternchen fallen und alles zudecken, was vielleicht an Spreuicht noch übrig geblieben . . . und die in Münster werden aufatmen und dartun: was nicht erforderlich ist, angeschlagen zu werden, braucht auch nicht an die große Glocke zu kommen. Manche, die fehlten, hoben sich auch von selbst wieder auf, ohne fremde Beihilfe, ohne Zutun irgendeiner lauten Posaune. – Und dann noch: Siehe dorthin . . .« und seine Hand deutete über den Rhein fort: »Aus Dämmern und Düstern hebt es sich auf, einfach und dennoch mit Gottesgewalt aus Porst und Sand der Golzheimer Heide gestoßen: starr und nackt – ein Kreuz wie niemals erschauet. Es spricht zu den Völkern der Welt, denn an dieser Stätte zerriß französisches Mörderblei die Heldenbrust Schlageters. Er fiel für sein Vaterland, für seinen Herrn und König . . . und er konnte noch lächeln. Dorthin gehe und bete: Ich will sein ein Diener in Gott und ein Diener im Sinne des Reiches, kein Priester der Partei und von jenseits der Berge. Erziehe die Jugend im Sinne des Helden, der fiel, um Deutschland Leben zu geben, Leben und Auferstehen unter einem sacrum imperium. Knie nieder, küsse die Heide – denn die ist heilige Erde. Wer solche Helden erzieht, verdient sich das Himmelreich und den Dank seines Volkes. Und nun gehe in Frieden. Dir wurde vergeben«.
Langsam schritten die beiden Schatten einem größeren Schatten zu, der aus Häusern und Häuschen, aus Gärten und Gärtchen emporwuchs: der Gnadenkapelle von Heiligenbaum.
Das matte Licht des Abendsterns löste sich sacht aus dem bläulichen Glanz des Abendhimmels. Er wurde immer lichter und freier und glitzerte über der Krone des stolzen Baumes, unter dem die ruhte, die eine Heilige war und sich vielleicht nur einmal vergaß, ihr Herz für eine Augenblicksspanne an den zu vergeben, der es nicht mehr aufnehmen durfte . . . um ihr Herz gleich darauf wieder umzukleiden in die weiße Seide für den, für den sie dieses weiße seidene Kleid immer getragen hatte, wenn auch unter Bangen und Zagen, Harren und Hoffen.
* * *
Spät noch saß Heribert Kästner in seinem Arbeitszimmer zu Warbeyen.
Mit Severin Baumann und Fränzchen, die während der ganzen Fahrt ihr Nastüchlein nicht von den Augen brachte, trat er die Heimreise an. Als sie zu Hause ankamen, brannte noch Licht beim braven Dechanten. Gleich darauf nahm er Abschied von seinen Bekannten und trat über die eigene Schwelle, vermied es aber, das elektrische Licht anzudrehen, weil es ihm zu grell für seine Seele erschien, begnügte sich vielmehr damit, eine Wachskerze auf einem Porzellanstock anzuzünden und Licht und Leuchter auf die grüne Platte seiner Schreibkommode zu stellen.
Hier ließ er sich nieder.
Dämmerhelle umgab ihn.
Er stützte das wehe Haupt in die Hand und dachte an die noch weheren Stunden des Tages. Neben ihm lag noch der aufgeschlagene siebente Band von Goethes neuen Schriften, in der schönen Ausgabe von 1800, verlegt bei Johann Friedrich Unger, Berlin. Er enthielt die neuen Lieder, die Balladen und Romanzen des Dichters.
Unwillkürlich legte er die linke Hand auf die aufgeschlagenen Blätter.
Er suchte sich zurechtzufinden, sein Herz zusammenzureißen, das Traurige weniger traurig zu machen. So dachte er denn an Kampf und Not und an die Zukunft des Reiches. »Wir wollen kein Reich römisch-deutscher Nation, sondern ein solches mit deutschem Blut und deutschen Waffen errungen, voll des deutschen Geistes. So wie es war, bevor Quertreiber, Pazifisten und Revoluzer es elend zerschlugen. Nicht das Reich des fränkischen Karl, der der römischen Kurie pflichtig wurde und seine Hände mit dem Blut von 4500 hingemordeten freien Sachsen befleckte. Nein, das alte, deutsche, glorreiche Reich aus dem edelsten Mark des deutschen Volkes, edler Fürstengeschlechter und deutscher Errungenschaften. Sei getreu bis in den Tod!«
Sein Kopf sank nach vorne.
Ihm wurde seltsam zu Sinnen.
Es war so, als bewegten sich die leichten Gardinen an den Fenstern, als würden sie durch einen kaum wahrnehmbaren Lufthauch gehoben, als käme es vom Flur aus über die Dielen gegangen, mit den Schritten eines Wesens, das nichts mehr Irdisches an sich hatte.
Die Kerzenschnuppe kohlte zusammen, die Flamme büßte ihr emsiges Scheinen ein.
»Mein Gott, was geht vor?!«
Er weiß nicht mehr, wo er sich befindet, was die Stimme will, die um ihn ist, die ihn umschmeichelt, die aus den aufgeschlagenen Blättern, von der ›Braut von Korinth‹ gar Wundersames berichtet.
Seine Augen sind blind, versagen den Dienst, nur Gefühl und Gehör sind so fein und preziös wie die zarten Lichtlein in der Mandorla der ewigen Mutter.
Ja, er hört die Blätter deutlich sprechen und lispeln. Er vernimmt jede einzelne Silbe:
»Und sie kommt und wirft sich vor ihm nieder,
Ach! wie ungern seh' ich dich gequält!
Aber, ach! berührst du meine Glieder,
Fühlst du schaudernd, was ich dir verhehlt.
Wie der Schnee so weiß,
Aber kalt wie Eis,
Ist das Liebchen, das du dir erwählt.«
»Henriette . . .!«
Er breitet die Arme.
Seine Augen weiten sich maßlos.
Er fühlt ihre Liebe, ihr heißes Verlangen.
»Heribert – du . . .!«
»Liebe schließet fester sich zusammen,
Tränen mischen sich in ihre Lust;
Gierig saugt sie seines Mundes Flammen,
Eins ist nur im andern sich bewußt.
Seine Liebeswut
Wärmt ihr starres Blut;
Doch es schlägt kein Herz in ihrer Brust.«
Aber ihre Lippen haften zusammen, lassen nicht voneinander, selbst dann nicht, als bereits die Kerze verglimmt und ein zartes Rauchwölkchen aufsteigt.
Ende