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Heinrich Verschüren, der junge, straffe, elegante Kaplan vom nahegelegenen Warbeyen, sah sich um.
Er war interessiert.
Sein Wort ›In alle Ewigkeit, Amen‹ wisperte noch durch das dumpfige Stübchen, als er Rundschau hielt, die Umwelt betrachtete, die Schildereien an den verblaßten Tapeten musterte, zu verschiedenen Malen beipflichtend nickte und Jansen ihm sagte: »Nein, diese Ehre . . . und das bei diesem Hundewetter, Hochwürden!«
Heinrich Verschüren lächelte gütig.
»Keine Komplimente, Herr Jansen. Wo Pflichten sind, die karitative Tätigkeit Opfer verlangt und die christliche Nächstenliebe gebietet, darf ein Diener der Kirche die Widerwärtigkeiten des Tages nicht scheuen.«
»Sehr nobel, Hochwürden.«
»Nein, nur christlich-katholisch, Herr Jansen. Denken wir an Johannes den Täufer, an unsern Herrn und Seligmacher. Ersterer zerriß seine nackten Sohlen an den brennenden Steinen der Wüste, trug die Schur des Kameles, predigte den verstockten Menschenkindern unter dem verzehrenden Hauche des Samums, führte sie der Anschauung Gottes entgegen, um letzten Endes sein Dulderhaupt auf einer silbernen Schale zu wissen . . . und unser Erlöser?! Die Straßen Jerusalems sahen sein blutiges Schreiten, die Ölgärten und der Berg des Ärgernisses vernahmen hoch von Golgatha seine unermeßlichen Qualen, im Beisein der verfinsterten Sonne nahm ihm der himmlische Vater das letzte Wort von den Lippen – und da sollte ein schlichter Priester, ein gebrechliches Werkzeug in der Hand des Ewigen . . . Nein, meine Herren, und hätte es Kieselsteine geregnet, der Gang über die versumpfte Straße von Warbeyen nach hier mußte geschehen um der Barmherzigkeit willen.«
»Ah!«
»Ja, Herr Jansen, ich habe eine ernste, eine sakrale Bestellung zu machen.«
»Soll mir angenehm sein. Ich bitte, Hochwürden,« und während er einen Sessel zurecht schob, der Kaplan die Schöße seiner Soutane sorgfältig auf seinen Knien ordnete, ein Regentröpfchen von seinen Beinkleidern knipste, ließ Aloys Ferkulum ein verlegenes Grunzeln vernehmen.
Er verbeugte sich umständlich und machte Anstalten, sich zu empfehlen: »Joris, dann darf ich wohl gehen. Hochwürden, ich habe die Ehre und will weiter nicht stören.«
»Stören? Wieso denn?«
»Hochwürden, von wegen der sakralen Bestellung. Außerdem: Sie könnten mit meinem Freunde Dinge verhandeln, die sich unter 'nem gewissen Siegel befinden. Also – ich darf wohl . . .?«
Der Herr mit dem Gänsehals und den langen Ständern machte nun wirklich Anstalten, Abschied zu nehmen.
Der Kaplan hielt ihn energisch zurück.
»Herr Ferkulum, unter keiner Bedingung. Sie bleiben. Was ich hier vorzubringen habe, können auch Sie ruhig vernehmen. Möglich – Sie sind dabei sogar in gewisser Hinsicht beteiligt.
Hm! Sie werden später darüber verständigt«, und zum Herrn des Hauses gewendet, sagte der junge Kleriker mit dem warmen Ton herzinnigen Bedauerns: »Ja, Herr Jansen, ich komme mit 'ner ernsten und wahrhaft betrübsamen Sache. Sie läßt sich nicht aufschieben, nicht länger verzögern, gebietet vielmehr sofortiges Handeln.«
»Und das ist an meine Adresse gerichtet?«
»Ja, an Ihre Adresse.«
»Dann bitte. Hochwürden. Ich stehe immer zu Diensten.«
»Herr Jansen, der Herr über Leben und Sterben hat in seiner unerforschlichen Weisheit beschlossen, ein von Ihnen und mir hochbewertetes Menschendasein von der Koppel zu nehmen – ganz plötzlich, ohne eine dringliche Mahnung.«
»Na – endlich!«
Der Kaplan hob den feingeschnittenen tonsurierten Kopf mit sichtlichem Unbehagen.
»Wie soll ich das nehmen, Herr Jansen?«
»Gott, Hochwürden, ich meine bloß so! Wir, die wir uns fast immer mit unvorhergesehenen Trauerfällen befassen, nehmen solche Vorkommnisse vielfach auf die mindere Schulter, machen kein groß Wesen darüber. Was kann man auch ändern? Gar nichts, Hochwürden. Man muß sich mit den Darbietungen der Vorsehung bescheiden, ob so oder so. Was dem einen sein Leben, ist dem andern sein Sterben. Ich halt's mit dem zweiten Kasus und dank' unserm Schöpfer für gütigen Beistand, denn bei Lichte besehen, das Geschäft ist bis jetzt unter aller Kanaille, sozusagen vom forschen Oldenburger auf 'nen abgehalfterten Steinesel gekommen, und unsereins kann's in diesen Schmachtlappenzeiten nur mit stiller Andacht begrüßen, wenn's im Betrieb wieder etwas ankurbelt, um nicht totaliter von der Steuerbehörde übergeschluckt zu werden, denn offen gestanden: wir arbeiten mit Leerlauf. Geht's so weiter, fressen uns die Zöllner die letzten Haare vom Koppe, schließen den Laden und schreiben mit Kreide daneben: Wegen Langlebigkeit Matthäi am letzten. Drum nichts für ungut, Hochwürden.«
»Nein, nein, ich nehme nichts übel, finde den Mut nicht, den Stein von der Straße zu heben, um ihn auf meine unwilligen Brüder zu werfen. Es liegt schon ein tiefer Sinn in diesem Mißbehagen, in diesem Aufbegehren gegen Geschäftsflauheit und dem unerbittlichen Anziehen der Steuer- und Enteignungsschraube . . .«
»Höhö!« unterbrach ihn Ferkulum, »letzten Endes zapfen die Kerls Blut statt Milch aus dem Kuhtitt, bloß aus dem Grunde heraus, dem Hornvieh den Rest zu geben und noch 'nen kleinen Profit aus dem abgelederten Fell zu gewinnen.«
»Bitte, lassen wir das. Es stört nur die Weihe und Andacht dieses Hauses.«
»Exküsiert, Herr Kaplan.«
»Ich bitte, Herr Ferkulum. Auch dieses Ihr Wort ist ein verzeihliches Wort, dem an der Stirne das allvergebende ›absolvo te‹ geschrieben steht. Nur – man soll das Kind nicht gleich mit dem Badewasser verschütten.«
»Recht werden Sie haben.«
Der junge Kleriker stellte die schmalen Finger seiner weißen und wohl gepflegten Hände steil gegeneinander. In den Augen des Priesters mit dem Antoniuskopf begann es zu leuchten, in den Tiefen mit dem rätselhaften Glitzern von Florentiner Steinen zu spielen. Die zusammengestellten Spitzen tupften sacht gegeneinander.
»Der Friede sei unter uns, meine Herren. Das Profane des Tages schließen wir aus. So schlimm die Zeiten auch sind – in dieser Stunde lassen wir alle Anfechtungen und Hemmungen des Tages, gedenken wir nur eines lieben dahingegangenen Mannes. Ein stilles Vaterunser für ihn.«
Er legte die schleierweißen Hände zusammen, senkte das Haupt mit unnachahmlicher Grazie.
»Vater unser, der du bist in den Himmeln . . .«
Als er geendet, seine wohltuende Stimme sich in dem warmen Duft nach Firnis, Kreppschleiern und frischgehobelten Brettern verloren hatte, fragte ihn Jansen: »Aber Herr Kaplan, wen hat der Herrgott denn eigentlich zu sich gebeten, ihn würdig erachtet, den Staub der Erde hinter sich zu lassen und des ewigen Lichtes teilhaftig zu werden? Ich meine Hochwürden . . .«
»Gott sei's geklagt! Unser geliebter Meister und Lehrer aus Warbeyen ist von uns gegangen.«
Jansen und Ferkulum sahen sich an, als rieselte es ihnen mit Eispartikelchen über den Rücken.
»Was . . .?! Ildephons Schlickum . . .?«
»Ildephons Schlickum«, bestätigte der geistliche Herr und seine Blicke ergingen sich so innig und suchend in nebelhafte Fernen, als müßte ihnen dort ein lieber Schatten begegnen, gesonnen, im weißen Pilgerkleid die Pforte des Paradieses zu gewinnen. »Es ist nicht mehr zu ändern. Die Vorsehung hat es so wollen. Sie fragt nicht lange. Nur der Wille des Ewigen regiert und lenkt die irdischen Geschicke. Sein Name sei gebenedeit in alle Ewigkeiten.«
»Amen«, respondierte Herr Jansen und brachte sein Sacktuch wieder zum Vorschein, »aber wie ist das nur möglich gewesen, Hochwürden, diese Edelraute von 'nem zutunlichen Menschen so unversehens von 'ner bekömmlichen Magisterrabatte zu schneiden und war doch kumpabel genug, noch etliche Jährchen das Seine auf den Tisch des Hauses und den der Gemeindevertretung zu legen?«
»Ganz plötzlich. Zu Beginn der Woche dachte noch niemand an eine solche Wendung der Dinge. Vorgestern Nacht hingegen, so um die elfte Stunde herum, sandte der Herr seinen Engel mit den dunklen Fittichen. Ildephons Schlickum fühlte sein Stündlein nahen. Ich konnte ihm noch die letzte Zehrung zubringen, ihn mit dem Chrysam und den heiligen Ölen benedizieren. Quaesumus, Domine, pro tua pietate, miserere animae famuli tui . . . und keine fünfzehn Herzschläge vergingen . . .«
Heinrich Verschüren hielt inne. Dann machte er das Zeichen des heiligen Kreuzes: »Und das irdische Licht verlosch, um dem überirdischen Raum zu geben.«
»Per Dominum Jesum Christum«, lispelte Joris, »und nu sind Sie da, Herr Kaplan . . .«
»Ja, und nun bin ich da . . . Ich verstehe, Herr Jansen. Da der nunmehr Verewigte als Junggesell seine Tage dahinlebte, weder Verwandte noch Verpflichtungen hatte, aber über einen recht ansehnlichen Sparpfennig verfügte, solchen in seinem geraden und aufrechten Sinn, laut Testament, der alleinseligmachenden Kirche vermachte, sieht sich auch diese verpflichtet, ihm den letzten Gang so solenn wie möglich zu gestalten.«
»Begreiflich, Hochwürden.«
»Kurz, die Beisetzung geschieht auf Kosten der Kirche . . . und da Ihr Institut außer Wettbewerb steht, ist es der Wille des Vorstandes, mit Ihnen in Verhandlung zu treten.«
»Per sofort, Herr Kaplan. Voranschlag, Kosten und so. Nur einen Momang noch. In meinem Betrieb geht alles so prompt wie's Buttern bei der Gocher Margarinefabrik. Bloß einen Momang noch.«
Aufs neue lärmte die Klingel durch die flauen und laulichen Räume des Anwesens.
Der Stift der linken Ladenseite erschien wie hergeblasen.
»Mynheer . . .!«
»Fipps, Herr Baumann soll kommen.«
»Ist gerade beschäftigt. Trinkt sein Schälchen im benachbarten Kaffee.«
»Tuttswitt! Herkommen soll er, oder ich will mich nicht Joris Jansen benennen.«
»Bonus!«
Der Stift flitzte ab mit der Eilfertigkeit eines jagenden Frettchens.
Der Kaplan geruhte zu lächeln.
»Ich muß offen gestehen, in diesem Hause geht alles am Schnürchen. Zucht und Ordnung. Schon das Gehabe dieses jugendlichen Sendlings gibt mir Gewähr. Wie aus der Pistole geschossen. Wo das umsichtige Auge des Herrn waltet, werden alle Unebenheiten behoben, waltet Umsicht und Zuvorkommenheit.«
»Verzeihung, Hochwürden«, warf Ferkulum ein, »wenn ich auf stunds 'ne gegenteilige Ansicht vertrete.«
»Wieso?« fragte Jansen.
»Joris, seid Ihr denn rein aus der rechten Benehme! Ihr seht doch: der geistliche Herr hat bereits 'nen bitteren Gang hinter sich, fühlt sich abstrapaziert, kommt mit 'ner großen Bestellung und sitzt da ohne ›Trocken und Naß‹ zu empfangen . . . und Ihr, Ihr fragt nicht mal: Herr Kaplan, von wegen dieser Umstände vielleicht 'ne kleine Rekolljierung gefällig?«
Über das markante Gesicht des jungen Klerikers geisterte ein joviales Verstehen.
»Nicht so, Herr Ferkulum.«
»Aber ich bitte Ihnen, Hochwürden! 'ner überlieferten Mode soll man in die Parade nicht fahren, denn jedes annehmbare Geschäft, jede Übereinkömmnis mit Voranschlag, Bezahlung und so will vorher ihre diesbezügliche Besänftigung haben, sonst geht alles in Schlappantoffeln und nicht in regulären Schuhen mit Brandleder und sonstigen Zutaten . . . und wenn Joris nicht will oder wegen seiner Odembeschwernis nicht offö ist, zu können, dann wollen wir beide . . .«
Er deutete schmunzelnd auf den verlockenden Inhalt der vor ihm und in Reichweite stehenden Schnapsbouteille: »Nous avons, vous avez . . .«
»Ich danke, aber lassen Sie sich nicht stören, wenn Sie in Ihrer verzeihlichen Schwäche . . .«
Aloys hielt ihm die gespreizte Handfläche vor Augen, gleichsam in Abwehr.
»Nicht in die Düte, Hochwürden, wenn Sie nicht . . . Ich kann mich beherrschen.«
»Auch besser für Sie, besser für Leib und Seele, zutunlicher für eine gesegnete Zukunft. Allzuviel schadet. Quos Deus perdere vult, prius dementat.«
»Bitte . . .?«
»Soll heißen: alle, die Gott verderben will, schlägt er zuvor mit Blindheit, führt sie letzten Endes auf Wege, die keine Rückkehr verstatten.«
»Mich nicht, Herr Kaplan. Er und ich, wir haben immer 'ne gute Freundschaft zusammen gehalten. Verlassen uns nicht. Ziehen immer an dem nämlichen Strämel. Ein Schnäpschen in Ehren . . . Das werden auch Sie noch erfahren. Vielleicht später, zu 'ner kommoderen Stunde . . .«
Er machte die Bewegung des Kippens.
»Et es gut för kalde Füt, Herr Kaplan, und hat noch keiner leiblichen Menschenseele geschadet.«
Ein weißer Zeigefinger bewegte sich wohlwollend, wenn auch etwas verwarnend auf und nieder, um dann stehenzubleiben.
»Quosque tandem Catilina . . .!«
»Wie – bitte . . .?!«
Aloys verstummte, hörte auf eilige Schritte, die draußen laut wurden, auf ein hastiges Klopfen und fummelte still vor sich hin: »Stell auf den Tisch die duftenden Reseden, die letzten weißen Astern trag herbei . . . Kommt benne!« und Severin Baumann, der erste Kommis, Magazinier und Betreuer der rechten Ladenhälfte, also der Teil des Betriebes, woselbst fertige Särge in allen Größen und Formen, Kandelaber, Immortellen- und Perlenkränze zum Verkauf ausgestellt waren, meldete sich gehorsamst zur Stelle.
Seine Erscheinung wirkte wie eine sanfte Erlösung, erinnerte an die kurz zuvor zitierten, ›duftenden Reseden‹, an die ›weißen Astern‹, wenn auch nur bildlich gesprochen, andeutungsweise, gleichsam durch einen feinen dahinziehenden Nebel gesehen. In Herrn Severin Baumann paarte sich getragene Wehleidigkeit mit unerbittlicher Herbe und Strenge, je nachdem es die Stunde von ihm und seinen Pflichten erheischte. Er hatte nur den geregelten Gang des Instituts und seinen Aufstieg im Auge. Ging der Betrieb, jubelte er mit den Lerchen über den Roggen- und Weizenschlägen, war Flaute, konnte er stundenlang an einem frischgefirnißten Sargdeckel herumnasen, ohne jegliches Interesse für Aufgang und Niedergang, für die Tagesgazetten, für das unerquickliche Gezanke in den Staats- und städtischen Parlamenten. Mochte brennen, was brennen wollte, alles drunter und drüber gehen – ihm war's egal, so völlig egal wie es irgendeinem Stein in einem verlorenen Chausseegraben egal war. Als untersetzter, stumpiger, aber lebhafter und energischer Herr mit glattrasiertem Gesicht, winziger Kartoffelnase, kurzverschnittenem Haar und neckischen Falten in der hinteren Kopfschwarte, ein Mann, der seine strammen Beinchen immer zu weit durch die knappbemessenen Hosen steckte, stets die Zipfel eines weißen Taschentuches mit breitem Trauerrand über der linken Brusttasche zeigte, ging er mit reiner Weste durch die Tage der Konkurse und Pfändungen, der Tränen und Widerwärtigkeiten – die Stütze seines etwas abständigen Chefs und das erste Faktotum, die Leuchte des Beerdigungsinstituts ›Pietas‹ in der Kavarinerstraße zu Kleve . . . und dieses erste Faktotum, diese erfreuliche Leuchte – Herr Severin Baumann schlug seine Hacken zusammen und schnalzte bei drei tadellosen Verbeugungen. »Hochwürden, Herr Chef, Herr Ferkulum . . . ich scheine hier benötigt zu werden.«
»Allerdings – ja,« sagte Jansen. »Bitte, nehmen Sie Platz. Der Herr Kaplan hat 'ne Bestellung zu machen.«
»'ne pompöse«, half Aloys nach, »wenn auch ein lieber Bekannter so 'n bißchen voreilig sich auf die letzten Socken machte. Ich kann's von ihm verstehen, denn hier mang die Herren Obergerichtsvollzieher ist doch wenig zu machen, wenn's auch schwer fällt, den letzten Strich unter das irdische Konto zu setzen, dem Summa summarum nichts mehr anhängen zu können. Ja, Herr Baumann, wir haben schon 'nen lieben Solokollegen hergeben müssen.«
»Ich hörte bereits draußen davon. Kirche und Gemeinde Warbeyen verlieren immens, und ich spreche Ihnen, Hochwürden, meine verbindlichste Teilnahme aus.«
»Danke, Herr Baumann. Ihr Chef ist bereits im Bilde. Mit Ihnen habe ich lediglich die Kostenfrage und die Details der Beisetzung zu besprechen. Sie kannten doch Herm Ildephons Schlickum?«
»Wie mein Hauptbuch, Hochwürden, zumal ich vielfach Gelegenheit hatte, mit ihm 'ne Partie ›Napoleon‹ oder ›Schafskopf‹ zu spielen. Ich gehe nicht irre, wenn ich seine Länge auf einen Meter und fünfundsiebenzig taxiere.«
»Das erleichtert die Sache.«
»Kein Zweifel. Danach richten sich Anschlag und Kosten.«
»Gut so.«
»Noch eine Frage, Hochwürden.«
»Ich bitte.«
»Wann segnete Herr Schlickum das Zeitliche?«
»In der Nacht vom Donnerstag auf Freitag.«
»So so!« und Herr Baumann zählte an den Fingern herunter: »Freitag, Samstag, Sonntag, Montag . . . Dann würde die Beisetzung am nächsten Dienstag erfolgen?«
»So ist es gedacht.«
»Dann haben wir Zeit, jegliches ohne Überhasten vorzubereiten. Und wo findet die Aufbahrung statt?«
»Im Schulzimmer der oberen Mädchenklasse. Wir haben mit großem Zuspruch zu rechnen, denn Herr Schlickum erfreute sich allgemeiner Beliebtheit.«
»Ich weiß es . . . und Sie Herr Kaplan, wünschen 'nen Kostenanschlag; natürlich bloß unverbindlich und in großen Zügen gegeben?«
»Jawohl . . . und zur Orientierung diene Ihnen: alle Auslagen gehen zu Lasten der Kirche.«
»So so! ich verstehe. Also 'ne Art von Ehrenbestattung. Schön und höchlichst zu preisen . . . und um nochmals zu fragen: Wie denkt sich der Herr Kassenrendant diese Ehrenbestattung? Mehr bürgerlich-einfach oder etwas reichlich bemessen, sagen wir mit 'nem gewissen Aweck von Verbrämung?«
»Die Kirche ist dankbar.«
»Dann etwas reichlich bemessen . . .« und Herr Severin Baumann entnahm seiner Brusttasche Schreibblock mit Stift, feuchtete den letzteren an und setzte ihn scharf auf das weiße Papier, um sich kurze Notizen zu machen.
»Also Hochwürden, zuerst das Nötigste: den Sarg oder die letzte Behausung. Wir haben diese überreichlich auf Lager, vornehmlich jetzt, wo jedermann dem seligen Methusalem nacheifert, ihn zu übertrumpfen sucht.«
Er lächelte über seinen eigenen Witz, um dann weiter zu sprechen: »Wir verfügen über solche von Palisander und feinstem Mahagoni, reichlich verkröpft und auf schwerversilberten Liebhaberfüßen.«
Er winkte ab.
»Bei diesen Zeiten: ich würde nicht zuraten. Das kann sich selbst die Kirche nicht leisten. Höchstens ein Margarinemagnat oder 'n Gewerkschaftssekretär von den ganz schlauen. Indessen wir führen auch solche aus dem Holz der Tyroler Arve oder aus dem der Spessarteiche. Ganz prächtige Ware! Mit dem nötigen Zinnschmuck versehen, wirken solche Särge wie das friedliche Häuschen zu Bethanien, fordern ordentlich auf, sich mit ihnen eng zu befreunden . . . und wenn meine unmaßgebliche Ansicht Bewertung finden sollte – ich kann nur empfehlen, Hochwürden.«
»Einverstanden, Herr Baumann. Wählen wir also deutsche kernige Eiche. Das wird den wackeren Ildephons Schlickum noch auf seinem letzten Gang bis tief in die reine Seele erfreuen.«
»Ist vermerkt, Herr Kaplan. Kandelaber, Wachskerzen, Kruzifixus und sonstige sakrale Dinge stellt wohl die Kirche?«
»Stellt sie, Herr Baumann.«
»Steht, Herr Kaplan. Aber dann noch . . . Einkleidung des Verewigten, innere Ausstattung des trauten Gemaches, Saaldekorierung: wie Flore, Trauerbordierung und silbernen Fransen – wie soll ich das halten?«
»Wird ganz dem Ermessen der Firma anheimgestellt.«
»Ist gebucht, Herr Kaplan.«
»Damit wäre die Angelegenheit im großen und ganzen geregelt, nur – wie hoch werden sich im allgemeinen die Kosten belaufen, alles in allem gerechnet, ohne mit Apothekergewichten zu wägen?«
Der erste Kommis und Betreuer der rechten Ladenhälfte brachte Schreibblock und Krayon wieder an Ort und zuckte die Schultern: »Bedaure, Hochwürden. Kann es auch cum grano salis nicht sagen. Müßte zuvor eine kleine Berechnung anstellen, um vor meinem Gewissen bestehen zu können.«
»Und wie lange würde sich diese zu tätigende Aufstellung hinziehen?«
»'ne kleine halbe Stunde vielleicht. Möglich, ich kann es noch eher erzwingen.«
»Soll mir angenehm sein. Dann aber bitte, Hochwürben, mich im Magazin beehren zu wollen, damit Sie in der Lage sind, sich ein ungefähres Bild von Palisander, Mahagoni, deutscher Spessarteiche und Tyroler Arve zu machen. Nur zur Belehrung, Hochwürden.«
»Ich komme, Herr Baumann.«
Dieser erhob sich, dankte und schwand wie ein Schatten, den eine gespenstische Hand von einer gekalkten Mauer fortgewischt hatte.
Herr Joris Jansen sprach ein stilles Gebet.
Aloys Ferkulum knipste befriedigt mit Daumen und Mittelfinger.
Sonst Schweigen – das imponierende solenne Schweigen nach einer getätigten Handlung, die sich selbst in ihrer ganzen Größe und Hoheit bewunderte. So richtig, denn die getätigte Handlung schloß eine gewisse Weihe und Würde in sich, wies auf den Gottesacker, auf die Stätte der Abgeschiedenen, wo es zwischen Kreuzen, Blumen und Gräsern flüsterte: »Tu es pulvis et ad pulverem reverteris.«
Sie bewegte auch Heinrich Verschüren.
Er tippte aufs neue die zusammengestellten Fingerspitzen sacht gegeneinander. So konnte er besser sinnen und seinen Betrachtungen nachgehen. Er dachte an manches. Das Haus in der Kavarinerstraße war ihm kein unbekanntes Haus, der Inhaber kein unbeschriebenes Blatt. Sein verstorbener Vater und Joris Jansen hatten sich schon in jungen Jahren gefunden, auch gemeinsam auf derben Sohlen einen großen Teil der deutschen Heimat durchwandert, waren sogar über Nürnberg und München hinaus bis zu der Wunderstadt mit dem Stephansdom gekommen – jener als fixer Stellmacher, Jansen als talentierter Tischler- und Schreinergeselle. Dem ersteren blühte kein Glück, dem letzteren fiel es in großem Ausmaß zwischen die Hobelspäne. So wuchs denn der junge Heinrich Verschüren, der jetzige Kaplan von Warbeyen, in knappen Verhältnissen zu Lobberich auf, obgleich dieser Feuerkopf mit den asketischen Anwandlungen bei den Sternen weilte, nach dem Höchsten suchte und forschte. Sein Ringen war ein vergebliches Ringen, bis eine mildtätige Seele ihm den Besuch des Lehrerseminars zu Kornelimünster verstattete. Hier stieß er mit einem Landsmann der Grafschaft, mit Heribert Kästner zusammen, auch einer von denen, die mit heißen Sinnen Ehren und Sterne erstrebten, in hohem Enthusiasmus die Welt und ihre Anschauungen, ihre Werke und Nichtigkeiten aus den rostigen Angeln zu heben gedachten . . . kurz, zwei Stürmer und Dränger, die etwas zu bieten und zu sagen hatten, fanden sich in lauterer Freundschaft, wenn auch ihre vaterländischen und politischen Anschauungen sich zeitweilig schroff gegenüberstanden, sich wechselseitig bekämpften. Fort damit! Die lautere Freundschaft blieb Sieger, schweißte die beiden immer enger zusammen. Ihr stilles Kämmerlein hörte manche gemeinsam verfaßte Ode, weltliche und geistliche Lieder zum Preise der allerseligsten Jungfrau, manch stolze Ballade. Kein Wanken und Weichen. Ihre beruflichen und sittlichen Pflichten gipfelten auf freundlichen Höhen, von denen Ölbäume rauschten. In Kornelimünster begann beider Namen zu klingen, so daß sich eines Tages der geistliche Herr und Direktor der Anstalt bewogen fühlte, an sie mit der bündigen Frage heranzutreten, ob sie nicht Neigung und Liebe verspürten, sich dem priesterlichen Stande zu widmen. Heribert Kästner lehnte ab: er dächte nicht dran; der von ihm gewählte Beruf sei ihm lieb und teuer geworden; er müsse sich unter allen Umständen die ungebundene Freiheit des Leibes und die seines Willens bewahren. »Gut so. Ich kann es verstehen . . . und Sie, Freund Pylades?« Heinrich Verschüren griff zu. »Endlich!« rief er mit leuchtenden Augen. »Gott möge es fügen!« »Er wird es,« lächelte der Leiter der Anstalt, um drei Tage später sich an die bischöfliche Behörde in Münster zu wenden: »Hast du guten Samen, so streue ihn auf fruchtbares Erdreich im Namen des Ewigen. Ich habe guten Samen, hochwürdigster Herr, und möchte ihn auf eine Ackerkrume bringen, wo er dreißigfältigen Ansatz gewährleistet. Er ist ein Edelkorn sonder Milben und Schimmelpilzen und sehr zu empfehlen. Selbiges Edelkorn steht zur Zeit unter meiner Pflege und Obhut, ist eines schlichten Stellmachers Sohn, benennt sich Heinrich Verschüren und verspricht ein Wegebereiter im Weinberge des Herrn zu werden. Aus solchen Jünglingen werden Generalvikare geschnipfelt. – Halten zu Gnaden, hochwürdigster Herr, ich wollte nur in aller Demut darauf aufmerksam machen . . .« und siehe: die bischöfliche Behörde hatte ein Einsehen, ermöglichte dem Empfohlenen das Abiturientenexamen, um ihm vier Jahre später den bleifarbigen Taler auf den Hinterkopf zirkeln zu lassen. Das Geschick tat ein übriges. Die Freunde fanden sich wieder, gewannen abermals Ärmel- und Tuchfühlung. Heribert Kästner amtierte als wohlbestellter Lehrer an der ersten Knabenschule in Kleve, Heinrich Verschüren als Kaplan im benachbarten Warbeyen, bestimmt, die Verheißung des biederen Seminardirektors wahrzumachen und den violetten Kragen eines Vicarius capitoli zu tragen. Leider, die wechselseitigen guten Beziehungen von einst und ehedem schienen im Laufe der Monde gefährdet, abzublassen, langsam aber stetig zu zerbröckeln. Die früheren Gegensätze vertieften sich, wenn auch im Stillen . . . und es geschah nichts, dieser Entfremdung ein energisches Paroli entgegenzusetzen . . . und dennoch: Blut ist dicker als Wasser, und wenn auch kein verwandtschaftliches Blut durch ihre Adern kreiste – das Blut alter Beziehungen, das Blut der Seelengemeinschaft hielt sie zusammen, kettete sie fest aneinander, ohne den schönen harmonischen Klang aus früheren Tagen wieder in ein volles, allbefreiendes und warmes Tönen zu bringen. Gegensätze und doch keine Gegensätze! Wechselseitiges Verstehen und doch ein Voneinandergleiten aus Gründen, die niemand zu klären vermochte – selbst sie nicht. Seltsam! Diese Charakterköpfe durchlebten ihr eigenes Leben, ohne sich endgültig lassen zu können, erstrebten die Anschauung eines preziösen Lichtes von einem hohen Berge herunter, ohne dieser Anschauung teilhaftig zu werden: denn siehe: ein feiner Nebel hüllte es ein, rückte seinen Glanz in unermeßliche Fernen, die sich kaum noch erreichen ließen. Ach, dieses verlorene Leuchten, dieses Sehnen und Suchen, dieses Pilgern mit gebreiteten Armen, ohne den warmen Puls der Herzen wahrhaft finden zu können! Herr, ich rufe zu dir. Herr, du hörst mich wohl, ohne mich hören zu wollen, Herr, was soll ich beginnen vor deinem Angesicht, auf daß ich genese? Herr, sei mir gnädig und führe mich auf eine sonnige Weide, denn dein ist die Stärke, die Güte, sind die Barmherzigkeiten, die herrlichen Werke, nur dazu da, deinen Geschöpfen, o Herr, die lindernden Hände aufzulegen, sie wieder herzenseinig und eines Sinnens zu machen . . . sicut erat in principio, et nunc et semper, et in saecula saeculorum, Amen.
Die Stille hielt an.
Der geistliche Herr hob kaum merklich den Kopf.
Ein zartes Scheinen umbüschelte ihn.
Das Wetter klärte sich auf. Der Regen ließ nach, sickerte nicht mehr so emsig an den angelaufenen Scheiben herunter.
Jenseits der Werkstätte und des Magazins hub es an in lichteren Farben zu spielen. Eine aufkommende Helle ließ das sonst so ernste Zimmer weniger düster erscheinen. In den Schildereien glimmerte es mit zarten Reflexen. Der Perpendikel in der alten Kastenuhr begann offener und freier zu plaudern.
Selbst Joris Jansen, der sich dem bangen Schweigen geraume Zeit nicht zu entziehen vermocht hatte, erwischte einen bekömmlichen Atemzug und sagte: »Herr Kaplan, wenn auch mortuus est – der Verewigte ist doch nicht so gänzlich vereinsamt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich sehe – er bezieht noch 'nen erquicklichen Abend.«
»Brav so«, pflichtete Ferkulum zu. »Joris denkt doch an alles, ganz tutt mäm schos, ob es die Lebendigen oder die Toten angeht.«
»Ich denke noch mehr, an ganz andere Dinge, zum Exempel daran, wer das Glück haben könnte, in die angenehme Position von Ildephons Schlickum zu treten. Die schulpflichtigen Kinder von Warbeyen müssen doch baldigst wieder auf den diesbezüglichen Turnus geraten, um mit den Nachbargemeinden konkurrenzfähig zu bleiben, zumal die heutige Jugend mehr einer festen Hand und des Riedstockes bedarf als zu früheren Zeiten.«
Der Kaplan merkte auf.
»Ganz logisch gedacht, Herr Jansen. Auch kann ich schon eine gewisse Andeutung machen.«
»Und die wäre, Hochwürden?«
»Bevor ich Sie in Anspruch nahm, suchte ich den zuständigen Schulrat auf, erkundigte mich auch bei dem hiesigen Landrat, um mir gewisse Fingerzeige einzuholen, denn die Kirche hat ein zweifelloses Anrecht und Interesse daran, sich mit den weltlichen Leitern der Schulen auseinanderzusetzen, mit ihnen harmonisch zu arbeiten, sonst werden in den jetzigen Zeiten des Niederganges nur Ackerparzellen befruchtet, auf denen lediglich die Disteln der Zuchtlosigkeit und die Stechäpfel der Gottesverleugnung zum unermeßlichen Schaden aller Gutgesinnten gedeihen.«
»Sehr richtig . . . und wen darf die Gemeinde erhoffen? Ich meine nur so, ohne mich in andermanns Sachen drängen zu wollen.«
»Herr Jansen, Sie kennen ihn ebensogut, wie Sie mit Herrn Severin Baumann bekannt sind. Auch Sie, Herr Ferkulum, sind, wenn ich nicht irre, schon häufiger mit ihm zusammen gekommen, sowohl bei Gelegenheiten freudiger Natur wie bei solchen, die gerne eine heimliche Träne zerdrückt hätten.«
»Und der wäre, Hochwürden . . .?!«
Vier Augen wurden zu Hummeraugen, vier Ohrmuscheln stülpten sich vor, um besser hören zu können.
»Na – und, Herr Kaplan?«
Heinrich Verschüren hob die Hand, gleichsam im Hinblick darauf, seinem Wort eine gewisse Bedeutung zu geben: »Wenn alle Zeichen nicht trügen: der hiesige Lehrer Heribert Kästner.«
»Potztausend – was Sie nicht sagen!«
Jansen fuhr mit dem Kopf in die Höhe wie ein Schwadronsgaul, dem die Trompete in die Ohren hineintutet: »Attacke! Marsch, marsch!«
»Was – Heribert Kästner . . .?!«
»Ich glaube meine Nachricht verbürgen zu können.«
»So, so! und was halten Sie selbst von dem Manne?«
Die Blicke des kurzatmigen Herrn hingen erregt an den Lippen seines großzügigen Kunden.
»Eine heikle Frage, Herr Jansen, aber ich bleibe der Klärung halber die Antwort nicht schuldig, gehe ihr nicht aus dem Wege. Sie ist mit kurzen Worten erledigt. Ich kenne Sie und Sie kennen mich. Sie weisen Ihren Bruder in Christo nicht ab. Ich auch nicht, es sei denn, daß wichtige Gründe für eine Abweisung sprechen. Meines Erachtens nach liegen solche nicht vor, haben niemals vorgelegen, werden auch niemals in die Erscheinung treten. Vielmehr – auf ihn passen die mit heiligen Chrysam gesalbten Worte: Beatus vir, qui timet Dominum; in mandatis eius volet nimis. Glückselig der Mann, der den Herrn, seinen Erlöser, fürchtet, er wird große Lust bezeigen an seinen Geboten. Das ist Heribert Kästner, so und nicht anders, zudem ein Kopf mit eigenartigen Einfällen und hohen Gedanken. Schon im Seminar zu Kornelimünster waren wir Freunde, sind es bis heute geblieben, und wenn auch die sozialen Errungenschaften der Jetztzeit von ihm anders bewertet werden, als ich sie bewerte, er dem monarchischen Prinzip beipflichtet, ich der stolzen Verfassung von Weimar täglich, stündlich ein Lorbeerkränzlein flechte, ihrer in meinem Brevier allmorgens gedenke, auch unsere Weltanschauungen sich nicht immer desselben Hammers und derselben Zimmermannsnägel bedienen – ich leugne meinen Bruder in Christo nicht ab, bereite ihm gern die Pfade, räume ihm, falls er straucheln sollte, jeden Stein, jede Unbequemlichkeit aus dem Wege, selbst dann, wenn er lieber die Melodie eines preußischen Militärmarsches daherpfeift als mit mir in den Psalm einzustimmen, der da anmutet, als von himmlischen Sängern und Harfenisten vorgetragen: Confitibur tibi, Domine, in toto corde meo, in consilio justorum et congregatione. O Herr, ich will dich preisen aus tiefster Seele, im Rate und in der Versammlung der Gerechten. Das, meine Herren steht mir zu, sonst – ich würde mich in meinem priesterlichen Gewissen bedrängt fühlen. Sine ira et studio – ich wäge mit ehrlichen und reinen Gewichten.«
»Bravo!«
Aloys Ferkulum hub an, zustimmend in die Hände zu klatschen.
»Nobel, Herr Kaplan!«
Jansen wollte etwas vorbringen, mußte aber erst einen widerspenstigen Schnaufer einfangen, um zu Worte zu kommen.
Endlich war er so weit.
»Wie . . . was?!« rief er aus. »Und glauben Sie, er käme durch sein neues Lehrertum in eine gehobene Stellung?«
»Kein Zweifel. Es stellt eine Beförderung dar, ist ein Sprungbrett für später.«
»Zacker zucker noch mal! fliegen denn diesem Menschenkind die gesottenen Enteneier, die gebackenen Krammetsvögel so propter und prätorius und ohne eigenes Zutun direktemang ins Mundwerk?! Das wäre doch, um auf die Akazienbäume zu klettern!«
»Höhö!« lachte Ferkulum, »er hat seine Bedeutung . . . und was ich vor 'ner halben Stunde schon sagte, tu ich in diesem Momang mit 'nem besonderen Strich unterfertigen.«
»Wieso das?«
»Die Sache ist für mich offenkundig geworden. Die beiden Leutchen kommen ganz sicher zusammen, vornehmlich, wo er jetzt 'ne Art von Sprungbrett besitzt, um sich in seinem Magisteramt großartig zu betätigen.«
»Ausgeschlossen«, wies Jansen die aufgestellte Behauptung seines Freundes energisch zurück.
»Joris, das will ich auf die Gabel nehmen und dreifach beschwören.«
»Bitte geruhsam, Herr Ferkulum«, warf der junge Kleriker ein: »Man soll mit Eiden nicht leichtfertig umgehen.«
»Ich will nicht indiskret werden, aber es würde mich doch als Seelsorger interessieren, was Sie mit diesen ernsten Worten bezwecken.«
»Ganz einfach, Hochwürden. Es handelt sich hier um den besagten Herrn Lehrer und Hendrinecke Jansen . . . und wenn sie auch ihre Belernung aufgeben müßte, sie wird sich doch als vernünftiges Frauenzimmer immerhin sagen: Besser in die ehelichen Posen hinein, als in Heiligenbaum toujours als Lehrerin einspännig schlafen zu müssen.«
Heinrich Verschüren verfärbte sich.
»Ob ich mir's dachte!«
Der Hausherr fuhr auf.
»Was dachten Sie, bitte?!«
»Offengestanden: auch mir ist gestern Abend etwas darüber zu Ohren gekommen.«
»Auch Ihnen . . .?!«
»Ja, aber nicht auf direktem Wege, Herr Jansen. Durch Zufall ist mir eine kleine dichterische, nicht untalentierte Arbeit in die Hände gefallen, die es in mancher Beziehung trefflich verstand, Geist und Seele zu fesseln. Manches in ihr redete mit leuchtenden Zungen. Als Verfasser zeichnete Heribert Kästner.«
»Was – der . . .?!«
»Kein Zweifel . . . und er versteht es, zu schildern, Seelenkonflikte zu knüpfen, sie glücklich wieder auseinanderzuzwirnen. Nur – diese Novelle hat ein gewisses Bedenken. Die Heldin in ihr, ihr Verehrer und Anbeter . . .«
Joris Jansen erhob sich.
Seine Augen perlmutterten mit dem toten Glanz von Schellfischaugen.
»Sind Kästner und meine Tochter Henriette, Hochwürden?!«
»So nehme ich an. Hier dieses . . .«
Der Soutane entnahm er ein schmales Werkchen, legte es ab und sagte mit kindlicher Einfalt: »Audiatur et altera pars. Ich bitte, sich orientieren zu wollen.«
»Höhö!« rief Aloys dazwischen, »was ich nicht sagte!«
»Himmel und Herrgott!« und der erregte Herr riß sein Käppchen vom weißen Adlerflaum, kniffelte es mit Troddeln und Glasperlen zusammen und pfefferte es gegen den altmodischen Uhrkasten, als wenn dieser harmlose Stundenansager ihm das gebrannteste Herzeleid angetan hätte, »der Deubel hole das niederträchtige ›Was ich nicht sagte‹!«
Der geistliche Herr griff vermittelnd ein.
»Linder, linder, Herr Jansen! Lassen wir das. Es bringt nur Erregung. Herr Ferkulum und ich denken nicht dran, Ihnen Ihre Kreise zu stören . . . und wenn zwei Herzen für einander bestimmt sind, das bleibt doch immerhin eine gütige Fügung des Himmels. Ich kenne Heribert Kästner . . . ich hebe den Stein nicht wider ihn auf . . . benediziere ihn vielmehr als Mensch und als Freund unserer gemeinsamen Studien. Jedenfalls« – und seine Stimme wurde ernst und bestimmt – »ich wasche meine Hände in Unschuld, zumal ich bestrebt war, einen geruhsamen Frieden über diese Schwelle zu tragen.«
Der Alte warf den Kopf in den Nacken.
»Waschen Sie nur, waschen Sie nur! Aber hier stehe ich als Erzeuger einer bisher unbescholtenen Jungfrau und habe auch was zu sagen. Ja, ich habe auch was zu sagen, denn wie kann so 'n einfacher Lehrer, und wäre er der nobelsten einer, meine eingeborene Tochter mit so 'ner impertinenten Druckerschwärze behaften?! Wie kann Henriette hinter meinem väterlichen Rücken und ohne mein Jawort so 'ne heimliche Liebschaft betreiben?! Das ist ja nächst dem leibhaftigen Satan! Das priestern ja die Spatzen von ihren Drecknestern 'runter und beschmeißen ihr weibliches Honnör, ihre totale ehrenhafte Aufmachung mit ihrem leiblichen Unrat. Mein Gott und mein Heiland!«
Er griff durch die Luft. Die Worte zerfaserten ihm zwischen den schmalen Lippen. Mit einem wehen Laut sackte er in die Lehnen zurück, verkrampfte die Hände und schnappte nach Atem.
Ein pfeifendes Geräusch stieg hinter seiner Halsbinde auf, verlor sich im Rucksen der Standuhr, die sich anschickte, die Stunde zu melden.
Vier einzelne Schläge.
»Herr Jeses, auch das noch! Schon viere. Nu muß Baumann erscheinen . . . und wenn Baumann erscheint . . .«
Er rang die Hände.
»Christus, dieses Hiobskapitel!«
Und Baumann erschien, wurzelte aber stumpf und dumpf am Eingang und wußte nicht, was er mit diesem Wandel der Dinge anfangen sollte.
Der Kaplan trat näher heran, legte dem Verzweifelten die Hand auf die Schulter.
»Herr Jansen, bleiben Sie der alte, vernünftige und bedachtsame Jansen. Was bezweckt dieses Gehabe? Wo soll es hinausführen? Warten wir ab. Möglich, es ist alles nur ein müßiges Reden, wenn nicht: Heribert Kästner ist ein Mann von hohen Qualitäten . . .«
»Herr Kaplan, ich will höher hinaus . . . ich muß in meiner Position gewisse Ansprüche machen . . . ich kann mich nicht so ohne weiteres mit dem ersten besten einverstanden erklären. Ich muß drauf bestehen, meine väterliche Handhabung in Estimierung zu wissen, oder kreuzmillionen nochmal . . .«
Er begann wieder aufzubegehren.
»Ich ersuche nochmals um Ruhe, Herr Jansen. Ihre Tochter ist aus den Kinderschuhen heraus, ist mündig genug, ihre Entschlüsse nach bestem Ermessen zu betätigen.«
»Natürlich, aber das verdammte Geseire um sie, das Gerede um sie, das Beschmeißen mit dem leiblichen Unrat . . .«
»Reicht nicht bis an den Saum ihres Kleides. Sie irren. Sie reiten auf fahlem Pferde, Herr Jansen. Niemand denkt daran, ihr übel zu wollen. Im Gegenteil: ihre Lichtgestalt wird von allen bewertet. Außerdem, wenn Sie Zweifel hegen, ich werde selbst mit ihr sprechen. Seien Sie froh im Herrn. Große Dinge stehen noch aus. Sie wird erhöht und erhoben, zumal sie bestimmt ist, für die vorgesehenen Passionsspiele die Maria Magdalena zu verkörpern.«
Der Alte fuhr sich schwer über die Augen.
»Was heißt das, Hochwürden?«
»Ich sagte schon eben: sie wird erhöht und erhoben. Nicht lange mehr, und sie schreitet durch eine Fülle von Lichtgarben. Das Drama ist fertig. Ich selber . . . Fast alle bedeutsamen Rollen sind in den zuständigen Händen. Kurz vor Quasimodogeniti beginnen die Proben. Und Fräulein Henriette . . .! In der Pfingstwoche wird der Herr sie begnaden, auf der Freilichtbühne bei Heiligenbaum als Maria von Magdala ihre große Kunst zu entfalten . . .« und er sprach mit Bedeutung: »als Büßende, als Geläuterte, als Triumphierende am Fuße des Kreuzes von Golgatha.«
»Ja – aber . . .?!«
»Nichts mehr von ›aber‹! Legen Sie alles getrost in meine Hände, Herr Jansen. Ich bin der gute Hirt und führe meine Schäflein auf gute Weide und der Name Henriette Jansen wird sein wie eine Schwinge der Seligen, die mit lindem Säuseln alle Herzen begnadigt . . . et nos, qui vivimus, benedicimus Domino von nun an, bis in alle Ewigkeit, Amen.«
Der Alte hob langsam die Arme, um sie ebenso langsam wieder fallen zu lassen.
Seine Blicke erschlossen sich, nahmen einen seltsamen Glanz an – wie in Erstaunen.
»Wenn es denn so ist . . .?!«
»So ist es.«
Jansen erhob sich, tastete bewegt nach der Hand seines Samaritans und sagte mit einer Stimme, die sich in einem florigen Schleier bewegte: »Ich danke, Hochwürden, für getätigten Zuspruch.«
Sein Blick fiel auf seinen ersten Kommis.
»Herr Baumann, alles im Lot?«
»Alles – Anschlag und so. Kein Tiftelchen fehlt dran. Nur bitte ich die Herren, mich nicht im Magazin, sondern im Laden beehren zu wollen. Ich hab's schon so fertig gebracht und ist schon kommoder. Also bitte, um es einfach zu sagen.«
In bestem Einvernehmen verließen Jansen und der geistliche Herr das schon etwas eingedunkelte Zimmer, um dem Rufe Baumanns zu folgen.
Aloys Ferkulum verhielt sich noch unter dem Vorwand, sein linkes Sitzfleisch habe mal wieder das niederträchtige Ameisenkribbeln bezogen, er käme gleich nach und würde unter keinen Umständen fehlen, in Wirklichkeit aber, um sich die dritte Besänftigung aus der Bouteille zu holen.
»Ne, diese geistliche Leuchte aus Warbeyen!« sagte er beim Einschenken vergnügt vor sich hin. »Was die nicht alles aufstellt von Klev' bis ins Gelderland zu! Jetzt nimmt sie sogar die heilige Passion beim Kanthaken, läßt Hendrinnecke Komödienspielerin werden, bloß aus christkatholischer Nächstenliebe heraus. Höhö! gar nicht so ohne, aber wo bleiben ich bei diesen Barmherzigkeiten?! bei diesem Mirakel mit allerhand Zutaten?!«
Sein Gänsehals hob den blanken Eierkopf steil in die Höhe.
Ein großer Gedanke schien bei ihm jung und flügge geworden.
»Ich hab's schon. Nur keine Bange.«
Gierig nahm er das Gläschen: »Aloys, es gilt: nous avons, vous avez – und nu is se weck. Ich meine natürlich die deliziöse Anisette mit 'nem Schuß Rum mang die Rippen. Profiziat!«
Die Sache war aufs beste geregelt.
Dann ging er.
Der Voranschlag war inzwischen im Laden für sachlich und richtig befunden worden.
Herr Baumann hatte bereits einen blitzsauberen Diener gemacht und dem Kaplan gerührt für getätigten Zuspruch gedankt, als Ferkulum eintrat.
Er fand die Herren in tiefer Bewunderung vor einem Sarge aus kerndeutscher Spessarteiche. Er war schlicht und einfach gehalten, aber von gefälliger Form und mit einem zutunlichen Lack überfirnißt. Steif und straff lag ein Palmzweig aus getriebenem Zinn auf dem gekröpften Aufsatz, traurig und doch nicht unerfreulich anzusehen.
»Phoenix spinosa«, erläuterte Baumann.
Sacht und liebkosend glitt er dabei mit der Rechten über die sinnige Verzierung.
»Also – der, Herr Kaplan?!« fragte Ferkulum.
»Ja, der. Ich gab den Ausschlag. Und Ihre Ansicht darüber?«
»Nicht besser zu machen. Propere Wahl und tiefes Verständnis.«
»Ich danke . . . und nun zu Ihnen, mein Bester. Ich deutete vorhin schon an . . . und möchte Sie hiermit ersuchen, schon morgen als Leichenansager in Warbeyen und Umgebung fungieren, auch bei der Beisetzung den Medaillenstab führen zu wollen. Durch diese Maßnahme möchte ich Herrn Schlickum eine besondere Ehrung erweisen.«
»Sehr obligiert, Herr Kaplan. Selbstverständlich mit allen Schikanen. Dafür aber«, und Aloys lächelte verlegen wie ein Künstler von einem Schmierentheater, »eine Gegenbitte, Hochwürden.«
»Und diese wäre . . .?«
Heinrich Verschüren sah ihm starr in die Augen.
»Kurz gesagt, Herr Kaplan: in der Passion möchte ich den Pontius Pilatus hinlegen.«
Jansen prallte zurück.
»Was – Ihr . . .?!« rief er heiser.
Aloys schob energisch seine rechte Hand zwischen Schemisettchen und Weste. Unter seinen mageren Brauen begann es zu funken.
»Joris, warum nicht?! Ich bin der, der ich bin, und hab' schon ganz andere Dinge geleistet.«
Der Kaplan schabte sein scharfrasiertes Kinn und musterte den selbstgefälligen Petenten von oben bis unten.
»Also den Pontius Pilatus, den Abgesandten des Kaisers?«
»Jawoll.«
»Ich sehe . . .« und der junge Herr geruhte, einige Schritte rückwärts zu treten. »Ja, ich sehe . . . gar nicht so ohne . . . Römerkopf . . . scharfes Profil . . . die nötige Ruhe . . .«
Er hielt ihm die Hand hin.
»Einverstanden, Herr Ferkulum. Sie fehlten uns gerade. Ja, Sie sollen den Landpfleger spielen.«