Joseph von Lauff
Die Heilige vom Niederrhein
Joseph von Lauff

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Zwölftes Kapitel

Wenn der Pfingstvogel ruft, steht die Welt in Gold, werden die Tauben hörend, die Blinden sehend, brauchen die Lahmen nicht mehr nach Kevelaer oder Heiligenbaum hin, um Wachsstöcke oder Revoluzertaler zu opfern, denn die Zauberflöte dieses Wundervogels ist stärker als alles Psalmodieren und Beten, als alles Kasteien und Fasten, als alles Klimpern und Zirpen der freudenreichen und schmerzensreichen Rosenkränze, die so viel des Wunderbaren in sich haben und solches wie Mannakörner verstreuen.

Ja, die Pfingstvögel sangen.

Sie sangen die glückseligen Pfingsttage ein, jubilierten ihnen entgegen, denn diese mußten bald kommen. –

Die Proben zu den Passionsspielen gingen ihrem Ende entgegen. Teils wurde auf der Freilichtbühne selbst, teils an passenden Stätten in Heiligenbaum geübt, letzteres vornehmlich dann, wenn es galt, einzelne Szenen im großen und ganzen festzulegen und ihnen die gehörige Feile zu geben.

Heinrich Verschüren schwebte über den Wassern wie der große Geist mit seinen majestätischen Schwingen über den Wassern schwebte, das Licht ansagte, alles befruchtete und jegliches mit glitzerndem Gold überschüttete. Unter seiner führenden Hand nahmen die Freilichtspiele Form und Gestalt an, wuchsen ins Ergreifende hinein, gewannen Blut und Leben bis in die letzten Masern und Nervenbündel. Nichts blieb ihm unerreichbar, allüberall wirkte seine schaffende Hand mit dem Zauberstabe eines Magiers und Nekromanten. Der ganze Niederrhein stand unter dem Bann der kommenden Spiele – und Heinrich Verschüren, der schlichte Kaplan aus Warbeyen, war ihr Leiter und Führer.

Die Gegensätze zwischen ihm und Heribert Kästner hatten sich um vieles verschärft. Seine Drohung hielt der Kaplan noch hintan. Er wartete und konnte noch warten, und als Henriette ihn bat, den Geist des Versöhnlichen walten zu lassen, spielte ein häßliches Lächeln um seine Mundecken und seine Augen glimmerten wie harte Kiesel in einer abgebauten Sandgrube. Er vergaß nicht und konnte und wollte es nicht. Tagtäglich wärmte er die gefallenen Worte seines ehemaligen Freundes wieder auf, die da lauteten: »An Ehrgeiz mangelt es nicht. Sie scheinen nach den Bildern des Himmelreiches greifen zu wollen. Sie Stellvertreter Christi auf Erden! Lassen Sie sich auslachen, Mann, und wäre die Angelegenheit mit ihren Folgeerscheinungen nicht so betrüblich und ernst, ich würde Ihnen zu Ehren 'nen regulären Purzelbaum schlagen . . .«

Das saß und saß bis zur heutigen Stunde.

Aber wie schon gesagt: er konnte warten und wartete. Nur keine Übereilung. Er hatte Zeit in Hülle und Fülle. Er konnte zusehen, wie sein Widersacher zur Einkehr gelangte, zu ihm trat, das Knie beugte und sein ›pater peccavi‹ herstammelte. Seine Langmut war noch nicht zu Ende, würde sie aber mit der Hundepeitsche gehetzt, dann war er auch Mannes genug, seine letzten Konsequenzen zu ziehen und den Treffelkönig auf den Tisch des Hauses zu knallen.

Trotz seiner regsamen Tätigkeit als Seelsorger, als Schaffender zwischen Versatzstücken und Kulissen, als Regisseur und Dramaturg, als Schlichter und Entscheider in künstlerischen Fragen – er erübrigte Stunden genug, das Anklagematerial zu sichten, es mundgerecht herzurichten, um es gegebenen Falles auf blanker Porzellanassiette feinsäuberlich und mit allen Schikanen der vorgesetzten Behörde unter die Nase zu setzen. In dieser Beziehung war er gerissener wie ein Ferkelstecher am Landgerichte zu Kleve, schmiegsamer als ein spindelbeiniger Doktor beider Rechte an den Ufern des Tiber, verschlagener als ein Advocatus diaboli in der römischen Kurie, salbungsvoller als ein Kapuziner auf der Kanzel im großen Sankt Peter.

Sätzlein, Sentenzen, kleine Abhandlungen, scharfe Einfälle und sonstige Dinge lagen bereits in Schnitzeln unter dem Pultdeckel. Er brauchte sie nur zusammenzustellen, sie feinsäuberlich aneinanderzureihen und eine prickelnde Soße darüber zu gießen – und das Elaborat war absendefertig und postreif geworden. Selbstverständlich hatten dabei über dem Ganzen die Zünglein der Weimarer Verfassung zu flämmern.

»Vogel Bülow, Vogel Bülow!«

Dem Rufe des Wundervogels konnte sich auch Henriette nicht entziehen. Sie horchte und hoffte. Sie hoffte noch immer darauf, Heribert Kästner würde erscheinen, um mit seinem ehemaligen Freunde Frieden zu schließen. Sie hoffte vergebens, allein die seligen Gedanken an die kommenden Spiele hielten sie aufrecht. Nur einzelne Proben standen noch aus. In einigen Tagen fand die Generalmusterung statt und dann ging die große Passion, die Leidensgeschichte des Herrn über die Bretter.

Der ganze Niederrhein feierte.

Heinrich Verschüren hatte es für nötig gehalten, der Kreuzigungsszene noch einen kleinen Auftakt zu geben, eine Szene, die sich zwischen dem Lieblingsjünger und Maria von Magdala abwickeln sollte. Sie war kurz und bündig gehalten, spielte sich auf dem Weg zum Kalvarienberg ab, und Henriette hatte den jungen Lehrer tom Heuvel von Appeldorn in ihr Gärtchen gebeten, willens, mit ihm die Rollen durchzuprobieren und sie in Einklang zu bringen.

Es war um die vierte Nachmittagsstunde und am geruhsamen Samstag, als tom Heuvel erschien, bereits völlig gewappnet und nicht mehr genötigt, ängstlich auf die Souffleuse zu lauschen.

Henriette trat ihm freundlich entgegen.

»Wird's ohne Leseprobe gehen, mein Bester?«

»Die Worte haften bei mir.«

»Dann wird sich Hochwürden freuen. Ich glaube, er wird selber kommen. Aber ich denke: wir warten nicht länger.«

»Gut, Fräulein Henriette. Also fangen wir an. Nur möchte ich wissen . . . Man muß sich in etwa in Szene und Auftritt versetzen.«

»Schön«, lächelte sie. »Zur Klärung diene. Hier dieser Kiesweg ist als Zugang zur Schädelstätte anzusprechen, öde, kahl, steinicht, und mit wenig verkrüppelten Oliven bestanden. Drüben, jenseits der Laube ist Golgatha, unmittelbar links der Palast des Herodes und der Teich der Mandelbäume zu denken. Zur Rechten bei der Gnadenkapelle ragt Zion empor, darüber hinaus der Ölberg und der Berg des Ärgernisses. Ich selber knie am Tore von Genath, durch das der Erlöser geführt wird. Sie, mein Lieber, kommen auf Ihr Stichwort von Golgatha her, wohin sie bereits die heilige Mutter mit ihren Frauen geleitet, um mich, die Wegemüde, zur Trauerstätte zu führen. Jedenfalls wir sind in Erwartung des Dulders . . . Ich denke . . .«

»Genügt mir«, sagte tom Heuvel, klatschte wie ein Dramaturg in die Hände und verschwand hinter der Laube, woselbst er die Stätte von Kalvarien wußte, während Henriette niederkniete und mit ihrer Stirne die harten Kiesel des Weges berührte.

Gleich darauf . . . sie rafft sich empor . . . reißt ihre Flechtenkrone auf . . . strafft die gelösten Strähnen auf ihren jungen Brüsten zusammen und stiert in die Gegend . . .

»Wo bin ich? Meine Füße schmerzen. Himmel!
Jetzt seh' ich erst, ich bin am düstern Tor,
Am Tor von Genath, das zum Richtplatz führt.
Sie ließen mich allein, so ganz allein,
Geringer als ein Feldstein an der Straße.
Wohin ich sehe – überall ist Blut,
Der Ölberg dunstet fürchterlich herauf
Und selbst der Berg des Ärgernisses blutet.
Der Teich der Mandelbäume nebelt sich
In düsterm Sud, die Pfade dunkeln ein.
Mit tiefem Grau umziehen sich die Berge.
Die Sonne selbst nimmt finster ihren Weg,
Sie kehrt sich ab und scheut sich ihrem Gott
Ins dorndurchstriemte Angesicht zu schauen.
Es kehrt Natur sich wider die Natur
Und wo sonst Spiel und Tanz: im Königshaus
Ertönen jetzt nur schwarze Totenpsalmen.
Man trennte mich von meinem Herrn und Gott,
Man hieß mich geh'n; ich weiß nicht, wo ich bin.
Johannes, hilf mir! Meine Seele schreit.
Sie findet nicht mehr Steg und Weg . . . Johannes, oh . . .!

Johannes. Maria Magdalena!

Magdalena. Gott sei Dank!
Johannes, Ihr, wo ließet Ihr die Frauen?

Johannes.
Wohin sie wollten: hoch auf Golgatha,
Auf wüstem Feld, wo Knecht und Söldner schon
Die tiefe Grube für die Kreuze schaufeln.
Mir wandte sich das Herz, die Mutter stand
Als wäre sie aus starrem Fels gemeißelt.
Und Ihr . . .? Ihr wolltet doch . . . Wo ist der Herr . . .

Magdalena.
Ich wollte – ja. Jedoch man trieb mich fort.
Und wo er ist? – dort in der düstern Gasse
Am Tor von Genath sah ich ihn zuletzt,
Da schrie er auf, als er die Töchter sah,
Die Frau'n und Töchter von Jerusalem:
Anstatt um mich, weint über eure Kinder,
Denn wißt, es kommt der Tag, an dem ihr ruft:
Glückselig die, die gelten Leibes sind.
Die nie gekoren, nie ein Kind gesäugt.
Ihr Berge fallt, ihr Hügel deckt mich zu!
Denn wenn schon das am grünen Holz geschieht,
Was soll geschehen, wenn es dürr geworden.
Herr, meine Seele! und mit wildem Schrei
Brach unterm Kreuz er blutig dann zusammen.

Johannes (verhüllt sein Antlitz.)
Entsetzlich – du, und Magdalena, dann?

Magdalena.
Ich wollte helfen, ihm die Hände reichen,
Mit meinem Schweißtuch ihm die Stirne trocknen.
Doch wiesen mich die Knechte von ihm fort
Zum Tor hinaus, der Schädelstätte zu,
Und riefen Simon von Cirene an,
Ihm beizusteh'n, das harte Kreuz zu tragen.

Johannes.
Da hört! Am Tor ist Waffenlärm und Klirr.
Der Zug scheint in Bewegung sich zu setzen.

Stimme eines Legionärs (vom Tor her.)
Ihr Judenpack, warum denn schreit ihr nicht:
Dem König heil, dem Mann von Nazareth,
Den ihr gekrönt mit einer Dornenkrone?!
Ihr Hunde ihr, greift an, packt zu.
Warum denn laßt ihr euren König warten?!
Der Weg ist frei! Auf nach Kalvarien!

Johannes.
So kommt, daß wir die Stätte noch erreichen,
Bevor sein Fuß noch . . . o mein Herr und Gott!

Magdalena (breitet die Arme.)
O Golgatha, o Gottessohn, o Leid!
Verflucht die Stadt, die uns zu Füßen liegt.

Nochmals die Stimme des Legionärs.
    (Sie wendet sich.)
Seht ihr denn nicht? Die Sonne finstert ein.
Jehova selbst verflucht euch Judenvolk.
Auf, vorwärts denn! Sonst stirbt der König euch
Bevor ihr ihn noch an das Holz geheftet.

Magdalena.
O Tag des Zornes, Stunde des Gerichts . . .!

Mitdem eine Stimme aus der Tiefe des Gärtchens:
Stephan-Johannes, brav habt Ihr's gemacht.
Und Henriette-Magdalena – Ihr,
Ein jedes Wörtlein war so scharf geprägt,
Als wär's von Magdalena selbst
Dereinst auf ihrem Leidensweg gesprochen.
Nun fehlt mir nichts mehr an der Passion,
Und frohen Mut's kann ich den Tag erwarten.
Habt Dank, ihr beide . . .«

Und siehe: erhobenen Hauptes trat Heinrich Verschüren aus dem verschwiegenen Laubgewind, woselbst er stummer Zeuge gewesen, dankte ihnen und freute sich der Stunde und des wohlgelungenen Zusammenspiels in dem traulichen Gärtchen.

»Es ist alles so leicht und sachlich gegeben«, sagte er anerkennend, »so aus der Situation heraus, so daß es mich freut, diese kleine Szene noch geschrieben zu haben, und Sie, Herr tom Heuvel – ich freue mich, daß Sie hier in der Nähe amtieren. Trotz aller Schlichtheit: so ein Lieblingsjünger hat sich mit Fleisch und Blut zu umkleiden, hat zu erschüttern . . . und wahrlich ich sehe . . .«

»Ich weiß Ihre Worte zu schätzen. Hochwürden, aber da sind noch andere Lichter, die schöner brennen würden denn ich.«

»Und so ein Licht wäre, mein Bester?«

»Heribert Kästner.«

»Wie kommen Sie gerade auf ihn«, fragte der Spielleiter, »und das gerade in dieser Stunde, unter den obwaltenden Umständen?«

»Nichts von Belang. Ich kenne ihn kaum; aber vor einigen Tagen bin ich noch mit ihm zusammengekommen. Nicht persönlich mit ihm, aber mit den ersten Kapiteln seines großangelegten Romans, den eine bedeutsame Zeitschrift des Westens veröffentlicht. Das wetterleuchtet und blitzt darin, als spielte der Herr mit seinem Feuerwerk, und ernsthafte Autoren nehmen den Hut vor ihm ab . . .«

Heinrich Verschüren legte ihm rasch die Hand auf die Schulter.

Jedes weitere Wort schnitt er ab.

»Lassen wir das. Es würde nur stören. Seine Talente und Vorzüge sind unbestreitbar, aber wenn ein guter Acker keine Saat in unserem Sinne annehmen will, wenn er sich hartnäckig weigert, Früchte zu liefern, die unseren Interessen entsprechen, dann hat der Pflug des Zornes seine Schollen zu reißen und seine Ackerkrumen unfruchtbar und gelte zu machen. Wer unsere Kreise stört, turbiert auch den stetigen Gang der alleinseligmachenden Kirche.«

»Wie meinen. Hochwürden? Ich spreche von Heribert Kästner.«

»Sehr wohl, Herr tom Heuvel. Auch ich spreche von ihm. Sie scheinen noch nicht im richtigen Bilde zu sein. Zur Aufklärung diene: Glauben Sie denn, Petri Felsen und seine Tempel ständen so fest, wenn seine Hüter nicht Tag- und Nachtwache hielten, von dem göttlichen Willen beseelt und durchdrungen: Halt! Werda! Das Ganze geht vor den einzelnen Baustein. Stürzt ein einzelner Gralsritter – er mag stürzen. Der Gral bleibt bestehen.«

Stephan tom Heuvel zuckte auf.

»Dann bitte ich um Entschuldigung, wenn ich dieses berührte . . .«

»Warum denn, mein Lieber? Ich selber . . .Ganz richtig. Ich verstehe Sie völlig. Auch ich glaubte in ihm einen Förderer der Passion zu finden, der Freilichtbühne durch seine Person und sein Können einen besonderen Glanz zu verleihen, hatte aber statt in Wachs in Stein zu bossieren, so daß mir der Spachtel zerbrach und die Hände erlahmten. Kurz, unter nichtigen Gründen warf er mir das geplante Werk vor die Füße – kränkte somit nicht nur den guten Willen und die gläubigen Seelen des Niederrheins, sondern im gewissen Sinne durch mich auch die Kirche – und das war die Trennung, leider Gottes die Trennung, von der ich hoffe, sie wird sich eines Tages wieder beilegen und einrenken lassen.«

»Hoffen wir«, sagte tom Heuvel, »denn Heribert Kästner hat der Welt noch etwas zu sagen, und es wäre schade um ihn, wenn ihm jetzt schon Widersacher erwüchsen. Stoß zeugt Gegenstoß, fördert den Willen zur Tat – gewißlich, aber es tut nicht gut, einen jungen Baum in der Jugend zu ringeln. Er könnte verbluten. Das muß verhütet werden. Und wenn Sie können, Hochwürden . . .«

Er sah Henriette an, als erwüchse ihm in ihr eine Mithelferin, eine Fürsprecherin, eine Mittlerin.

Die sah in den Garten hinaus, als hätte die Pfingstfreude ihre schönsten Blüten verloren.

Nur noch einige verbindliche Worte wurden gewechselt.

Bald darauf empfahl sich Stephan tom Heuvel. Er hatte mit der Frau Paramentenpräsidentin und ihrem Luischen noch einige dringliche Vorkehrungen zu treffen. Sein Schritt war nicht zuversichtlich, nicht siegesgewiß für die kommenden Tage. Gesenkten Hauptes ging er ungewiß und still seines Weges.

Als er außer Hörweite war, sagte Henriette mit eigenartigem Tonfall: »Wie konnten Sie nur?« Dabei verschränkte sie die Hände, wie um einen gewissen Unmut niederzuzwingen.

»Das war hart, Herr Kaplan.«

»Hart – gegen wen?«

»Gegen Heribert Kästner.«

»War er zart gegen mich? Hat er mich auf Daunenkissen gebettet? Mir vielmehr nicht ein hartes Pfühl errichtet und solches noch stacheldrähtig umfriedet?«

»Nicht so . . .! Ich bitte darum«, sagte sie heftig.

Unter ihren Brauen brannte eine unwillige Helle.

»Ich kann es nicht hören, denn trotz aller Wirrnisse, ich schätze Heribert Kästner und bin ihm verpflichtet.«

»Verpflichtet? Auch jetzt noch? Sie – auch jetzt noch verpflichtet?« Und seine Stimme wurde lind wie das Flüstern in sommerlichen Riedbeständen. »Sie, die da den schweren Weg auf sich nahmen, ihn anderen Sinnes zu machen, ihm die Pfade zu ebnen, ihm die Worte der Reue und Buße in die Seele zu hauchen – Sie, die immerverzeihende, die allzeit allgütige, die stetig gerechte . . . und da noch verpflichtet?! O Henriette!« Und er nahm die Hand der Willenlosen und streichelte ihr sacht über die schlanken Fingergelenke: »Man könnte um Ihretwillen eine zweite Litanei neben die Lauretanische setzen, um Ihre Güte unter die Menschen zu tragen, ohne der himmlischen Mutter in ihren Gerechtsamen nahezutreten. Im Gegenteil – sie würde sich freuen. Sie segnen, denn Ihr Opfer, wenn auch ein vergebliches Opfer, ist ein großes gewesen. O Sie! Wie oft habe ich auf Kästner gewartet, von dem heiligen Wunsche beseelt, den Unfried in Frieden zu kehren, ihm das Drohende von den Schultern zu nehmen. Aber mein Warten war ein vergebliches Warten. Wie oft habe ich am Fenster gestanden, fest überzeugt: heute erscheint er. Viele Menschen kamen und gingen vorüber. Aber ein Schritt von Heribert Kästner war niemals darunter. Er hielt diesen Besuch für einen Gang nach Kanossa. Mag er es tun, aber meine Geduld ist vorüber.«

»Gewiß – er wird kommen.«

Ein häßliches Lachen.

»Der und kommen?!« rief der Kaplan in plötzlicher Wallung. »Der schießt lieber fünfunzwanzig Luderkrähen an einem Morgen zusammen, als nur einen einzigen Schritt in meine Behausung zu setzen. Ich hab's satt und genug, die mir von ihm angetane Kränkung zwischen Zäpfchen und Magen sitzen zu haben. Schluß wird gemacht. Noch gestern Abend . . . alle die Einzelheiten, alle die Schnipsel, alle die Gedankenspäne und Splitter, die ich im Laufe der Tage gesammelt und heimste, aber um der Barmherzigkeit willen nicht verarbeitete und zu Papier brachte – noch gestern abend, bis spät in die Nacht, wurden sie zu einem Ganzen verschweißt, niedergeschrieben und siegelfertig gemacht. Nicht um meinetwillen, nicht aus dem niedrigen Drange heraus, kleinlichen Anfeindungen Rechnung zu tragen, sondern um das, wofür ich stehe, kämpfe und falle, um den Triumph des Zentrums, um das Prinzip, was es nunmehr vertritt, seine politische Vorherrschaft nicht zu gefährden, ist das alles geschehen. Bis heute wartete ich. Ich wartete auf ein befreiendes, erlösendes Wort. Das Wort blieb aus . . . und so kann ich nicht anders. Das fertige Schreiben geht noch heute an die Düsseldorfer Regierung. Kein Warten mehr. Handeln geboten.«

»Heinrich . . .

»Wie . . .?!«

Ein kurzer Schrei durchgellte das verträumte Gärtchen.

»Hochwürden, ich meine . . .«

Zwei Hände griffen vor, tasteten ins Leere.

»Sie werden doch nicht . . .! Sie wollen ihn doch nicht brot- und stellungslos machen.«

»Henriette, die große und geweihte Sache geht vor. Daran konnte er denken. Mußte er denken, wäre er nicht mit Hochmut oder Blindheit geschlagen gewesen.«

»Warten Sie noch. Geben Sie noch eine kurze Befristung, um der Barmherzigkeit willen.«

»Die Zeit ist um. Ich kann nicht mehr warten. Wer allzu lange zögert, versperrt sich selber den Weg, den ihm die Vorsehung anwies, zu gehen. Zu spät ist ein entsetzliches Wörtchen. Es wird zur Hydra, zur lernäischen Schlange und bringt einen selber zur Strecke. Ich glaube, ich habe schon zu lange gewartet.«

»Nein«, keuchte sie atemlos, wie aus einer tiefen Verstörung heraus. »Ich bürge für ihn. Heinrich . . .!« Und sie nahm nun wirklich die Hand, die geweihte Hand, die weiße Hand, die sonst segnete und die Hostie konsekrierte, die reine und schuldlose Hand des Priesters und drückte sie an sich. »Ich bürge für ihn. Warte noch ab. Er wird kommen und sein Unrecht bekennen, so wahr ich meinen Erlöser erhoffe und seine Ankunft ersehne. Hochwürden, mir will das Herz auseinander . . .« Und wieder stand Henriette Jansen hoch und hehr unter dem Himmelreich.

»Ja«, sagte der Kleriker. »Na denn . . . Um Ihretwillen . . . bis zur Hauptprobe . . . oder noch besser: die Zeit bleibt mir überlassen – sei Friede gesetzt . . . dann aber ist meine Langmut zu Ende . . . und nochmals gesagt: nicht ich richte und rechte. Dafür ist ein anderer gesetzt. Ich bin nur ein Werkzeug in seinen Händen. Dem Großen und Ganzen hat sich jeder zu fügen. Nicht nur in Glaubenssachen, sondern in allem, was dienlich erscheint, eben diesem Großen und Ganzen sich unterzuordnen. Wäre es anders – das göttliche Ziel ginge verloren. Und nochmals sei hiermit betont: Fällt ein Gralsritter dabei, so möge er fallen. Der Gral bleibt bestehen.«

Das Gesicht des Sprechers war wie aus Stein herausgeholt. Keine Muskel zuckte darin. Dafür aber fielen weiche Glockenrufe sacht über den kleinen Garten, den schon lichte Goldfäden durchzwirnten.

»Angelus Domini nuntiavit Mariae. Et concepit de Spiritu Sancto«, betete Heinrich Verschüren.

Von der nahen Gnadenkapelle wurde der ›Engel des Herrn‹ geläutet.

 


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