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Ich warte darauf.«
Das zuversichtliche Wort war gefallen, ließ sich nicht mehr zurücknehmen, hinterließ in der Seele des Kaplans eine Wunde, die weder Salben noch Spezereien zu heilen vermochten. Es saß so tief zwischen Bast und Borke, daß es nut eines geringen Anstoßes bedurfte, um sich bis in den innersten Kern des noch gesunden Splintes zu fressen.
»Ja, ich warte darauf«, und Heribert biß die Zähne zusammen, strammte die geballte Hand auf den Tisch, daß die Knöchel ihn schmerzten.
»Und das übrige noch . . .?!«
Noch einmal zog es grau und fahl über seine Stirne. Dann blühte sie wieder.
»Auch ein Opfer des hierarchischen Prinzips«, sagte er wieder ruhig geworden, »und war doch berufen, ein Stiller und Großer zu werden. Leider! Aus Hierodulen werden Hierophanten geschnipselt, aus diesen Völkerzertrümmerer. Wendet nur ein Blatt der Geschichte auf die andere Seite, und jede Seite redet darüber mit feurigen Zungen. Aber lassen wir das. Jedereins hat sich dem entgegenzustemmen, aber auch jeder, der nicht blindlings einhertappt, um sich zu guter Letzt sagen zu müssen: Auch dein Volk ist sichelreif für die klerikale Ernte geworden. Mag kommen, was wolle: ich werfe Panier auf, denn der aufrechte Mann ist nicht dazu da, als Pazifist ins Wetter zu grinsen und den bequemen Strohtod zu sterben.«
Geruhsam durchmaß er sein Arbeitszimmer, trat geruhsam ans Fenster und blickte lange in das werdende Dämmern hinaus.
Ein Sternchen flinzelte auf, ein zweites, ein drittes. Nicht lange mehr, und Gottes Sternenreigen schwebte über Sphärenmusik, über Gerechte und Ungerechte, über das niederrheinische Land voller Wunder und Absonderlichkeiten.
Der Einsame knipste das Licht an und saß bis spät in die Nacht hinein vor dem Manuskript seines neuen Romans, den er bei einer angesehenen Zeitschrift des Westens mit großem Erfolg angebracht hatte.
Bald nach dem Hochamt rief Jakob Ezechiel Schlüpers in der Lehrerwohnung an.
Der alte Herr war rein aus der Sakristei, wie er sagte, knurrte und raunzte unentwegt vor sich hin, durchmaß die Stube nach Länge und Breite, bedachte seinen Kaplan mit etlichen herzhaften Wörtlein, die nicht zu den sanftesten zählten, um sich schließlich in eine Sophaecke zu werfen.
Sein eisengraues Haar hing ihm tief um Stirne und Schläfen.
Unwillig legte er die Hand auf den Tisch.
»Das ist ja, Herr Lehrer, als müßte ich fragen: Hat der allmächtige Gott das Chirarga, könnte nicht dreinschlagen? Ich bin zwar kein Kapuziner und Zungendrescher . . . aber in diesem Falle: der Kapuziner hat recht, und seine Frage ist eine berechtigte Frage.«
»Ich verstehe so ganz nicht, Herr Dechant.«
»Nicht . . .?«
Der Diener Gottes schrumpfelte die Lippen zusammen.
Er war ein knorziges, untersetztes Männlein, bei dem zwischen Kopf und Galle keine lange Wegstrecke führte. Ging's ihm zu bunt her, wurde er krötig. Die Galle schlug ihm alsdann ins Geblüt, von hier auf die Zunge.
»Hallo, mein Bester! Gestern haben Sie doch mit meinem Kaplanus, Ihrem einstigen Busenfreunde, ein kleines Rencontre gehabt, so eins mit Schweinsborsten zwischen den Zähnen?«
»Ganz richtig.«
»So 'ne Art von Epistel an die Gemeinde der Korinther oder die der Kolosser?«
»Auch dieses.«
»Und . . .?«
»Ich bin ihm nichts schuldig geblieben.«
»Wohl, wohl! Ich weiß es. Hat's mir brühwarm aufgetischt und ist nun dabei, seinen Koffer zu packen, um für den erkrankten Konfrater in Heiligenbaum einzutriumphieren.«
Seine erzürnten Äugelchen stachen wie Kardendisteln über den Tisch fort.
»Viel Glück für die Reise! Aber war denn keine Einigung möglich?«
»Schwerlich, Hochwürden. Sein Katechismus ist allzusehr gespickt mit den Errungenschaften des ominösen Novembers. Da kann ich nicht mitgehen.«
»Auch ich nicht.«
Der alte Herr lachte ein bitteres Lachen.
»Christus! Kann es denn nicht friedfertig nebeneinander einhergehen? Früher ging's doch, wenn auch dann und wann mit hitzigen und übereifrigen Köpfen, Aber es waren doch immerhin ehrliche Köpfe und verständige Köpfe. Aber so . . .! Wir lassen uns einen Analphabeten als Kultusminister aufbrummen. Wir dulden's. Novemberlinge, die von Tuten und Blasen keine Ahnung besitzen, rutschen die höchsten Sessel zuschanden, schlucken die fabelhaftesten Gehälter hinter Binden und Brustlätze – und wir haben gar nichts dagegen, Gläubige und Gottesleugner gehen Arm in Arm, sitzen auf der nämlichen Bierbank – und wir nehmen es engstirnig hin, wenn gesagt wird: Es geschieht im Interesse des Großen und Ganzen. Himmel und Herrgott! Es geschieht im Namen des Satans und seiner höllischen Helfershelfer, denn es ist Belials Werk und mit Strunk und Stiel zu verwerfen.«
Er hob die Hand, um sie wieder unwillig fallen zu lassen.
»Christus, wo führt das hin, wenn so was am grünen Holze geschieht?! Zuviel des Leides, zuviel der Unebenheiten und der Widersprüche! Unsinn und Anmaßung, Vaterlandslosigkeit und Dünkel sind auf der Reise zu Gott. Hoffentlich empfängt sie der hohe Herr nach Recht und Gebühr und pfeffert sie nebst Konsorten und Komparenten ohne groß Federlesens zu machen von den goldenen Stufen seines Tempels. Basta!«
Heribert Kästner erstaunte.
»Das geht zu Herzen, Hochwürden.«
»Soll's auch, Herr Lehrer, denn dafor bin ich da, wie schon der alte Fritz gesagt hat, ich – als Seelenbewahrer und pastor loci dieser Gemeinde. Denn sonst: wohin fahren wir? Was soll aus uns Deutschen werden? Wo ist unseres Bleibens auf Erden und im Himmelreich? Unmündige Übereiferer, Pfründenjäger und Wichtigmacher sind bei der Arbeit, dem Sachlichen, dem gesetzten Alter auf die Köpfe zu spucken. Mit Spielen suchen sie die Welt zu betören, ihr Sand in die Augen zu streuen, anstatt ihr in die Ohren zu schreien: Wachet und betet! Alles recht schön – das mit der werktätigen Liebe durch Weihe und Bühne, aber das Hemd ist mir näher als Rock und Weste. Hand mir vom Leibe! und geht's nicht anders, dann durch Wehren und Waffen. Seid einig und Deutsche, dann ist schon vieles gewonnen. Aber in diesen Tagen der Not, die Blut auf den Lippen haben, die hungern und betteln – noch Spiele . . .?! Einer ist schon darüber sinnig geworden . . . Basta! Fort damit! Aber dies sollten Sie hören . . .« Und der knorzige, untersetzte und krötige Dechant, das Männlein mit dem tapferen Wort zwischen den Zähnen, lachte hell auf, als spazierte ihm eine fidele Geschichte durch sein bisher wehes Gesichtsfeld. »Merken Sie auf! Der römische Landpfleger suchte mich auf!«
»Was, Aloys Ferkulum?!«
»Jawohl, und das gleich nach der Frühmesse. Er hatte es eilig, denn er wollte noch weiter.«
»Weiß der Kuckuck wohin! Jedenfalls er dachte daran, die mir zugedachte Botschaft noch anderweitig anzubringen. Dabei gab er sich noch großartiger wie 'n ausgetragener Ganter auf 'ner grasgrünen Gänsweid.«
»Was wollte der Mann denn?«
»Etwas zum Schreien, mein Bester«, und der alte Herr schlug sich fidel auf die Schenkel. »Ja, was wollte er nur? Ja so, er wollte den Donator spielen mir gegenüber, ohne Gegenleistung und nur mit dem billigen Wunsche, seiner im Gebet zu gedenken. Er sagte: die Stiftskirche in Kleve hat es nicht nötig; ebensowenig die Klöster, Bruderschaften und Stiftungen. Die beziehen Gelder in Masse. Aber die Gemeinde Warbeyen kann so was immer gebrauchen, und so habe ich mich denn im Namen des Herrn und um der Barmherzigkeit willen resolviert, fünftausend Mark preußisch Kurant in Ihre Hände zu legen, um mit diesem Fundus nach bestem Gewissen schalten zu wollen. – So der römische Landpfleger mit dem Gesicht eines hohen Sachwalters unter der Regierung des erlauchten Cäsaren Gaius Julius Cäsar Octavianus semper Augustus. – Großartig, Sie! Darf ich vielleicht im Namen des Kirchenrendanten gleich die Quittung ausstellen oder ist das Geld vielleicht erst später zu haben? – Erst später. Hochwürden. – So! Also erst später. Und wann dürfen wir die Anzahlung dieser Dotation möglicherweise erhoffen? Der Termin wäre mir wichtig. – Nach den Spielen, Hochwürden. Immenses Geld fließt uns zu. Der Herr Kaplan, wie er sagte, weiß seine Komödianten zu lohnen. Ich als Vertreter des Pontius Pilatus, rechne wenigstens mit sieben- bis achttausend Märker, und fünftausend bestimmte ich für mildtätige Zwecke. Daß ich dabei auf Warbeyen verfiel, bitte ich bewerten zu wollen. Addio! Und fort war der römische Landpfleger mit seinem Eierkopf und seinem hohen Zylinder. Vorhang herunter!« und der kleine und vive pastor loci wieherte über den Tisch fort wie ein junges Füllen auf einer spinatgrünen Feld-, Wald- und Wiesenkoppel »Da sehen Sie, wie schon jetzt unter diesen verzweifelten Zeitläuften, bei Freilichtbühnen und namenlosem Elend die niederrheinischen Werte, Belange und Einstellungen gleichsam aus einem Hohlspiegel purzeln. O tempera, o mores . . .!«
Heribert Kästner schmunzelte interessiert vor sich hin.
Mit einem lauten und vehementen »Uff« erhob sich der joviale, kurzgedrungene Dechant aus der alten und gediegenen katholischen Schule, trat seinem jungen Freund dicht unter die Augen, schrumpfelte die eisengrauen Brauen gegeneinander und meinte: »Mein Prinzip ist immer gewesen, man hat beide Parte zu hören. Ich tat's auch. Seien wir weise und gerecht. Ihr zwei befindet euch noch im Stürmen und Drängen. Ihr seid, wie der Psalm 115 vermeldet, gleich den Bergen, die da Bocksprünge machen wie Widder, gleich den Hügeln, die da hüpfen wie Lämmer. Montes exultaverunt, ut arietes, colles sicut agniovium. Das ist es. Auch Sie schlugen aller Wahrscheinlichkeit nach ein bißchen allzu stark über Strang und Latierbaum, brachten meinen Kaplanus aus Leim und Verdiebelung, denn Heinrich Verschüren hat just wie Sie seine Meriten. Aber im großen und ganzen: ich halte zu Ihnen. Stehe Seite an Seite mit dem alten Prinzip und der nationalen Einstellung . . . und will es bekunden. Kommen Sie mit mir. Wir machen einen gemeinsamen Sonntagsspaziergang zusammen, auf daß alle es sehen: Krumme und Gerade, Aufrechte und Nichtaufrechte, Lichtsucher und Finsterlinge, kurz die totale Gemeinde: Pastor und Magister spielen noch immer auf der nämlichen Orgel, singen noch immer gemeinsam ihr lautes Credo zusammen«, und der würdige Herr in der etwas abgenutzten Soutane schob schon seinen Arm in den seines Partners, um den projektierten Spaziergang zu machen.
Sie gingen die Hauptstraße entlang, bogen dann ein und verfolgten den Weg, der durch Wiesen- und Weidendistrikte zum Emmericher Eiland führte.
Drüben in der Niederung lag der van Laaksche Hof, völlig eingebettet in einem Rausch von blühenden Kirschbäumen. Ein müheselig dahinschleichendes Wasser trennte sie von dem stattlichen Anwesen.
Sie waren kaum eine Viertelstunde gegangen, hatten sich an dem goldenen Weihrauch der Weidenkätzchen und dem sanften Geläut der Wasserfrösche und Unken erfreut, als sich aus dem Kirschbaumgehege ein dunkler Punkt löste, der immer näherkam und mit ausholenden Schritten jenseits des stillen Wassers heranmarschierte.
»Christus!« rief der Pastor und verhielt sich, »Achtung, der Landpfleger kommt.«
Und richtig, so war es.
Aloys kam so großartig seines Weges daher, als durchmäße er die Strecke von Dan bis Berseba, aber durch ein Land der Frühlingsfreude, und nicht durch eines, wo die Wüste weint und die Steine bluten. Zu seinen Füßen spreitete sich ein unabsehbarer Teppich von Wiesenschaumkraut, die ersten hastigen Mehlschwalben begleiteten ihn.
»Holla, Herr Landpfleger«, rief ihn der munter gelaunte Dechant an, »woher denn des Weges?«
»Von meinem Freund Dores van Laak. Ich hab' ihm bereits die Sache vermolden.«
»Was für 'ne Sache?«
»Die von der Dotation von fünftausend Märker oder so ähnlich.«
»Und was sagte van Laak denn?«
»Es wär' über alles Ermessen. Einfach eins a. Man müsse mir in Warbeyen 'ne Art von Denkmal errichten. Er würde bei nächster Gelegenheit im Gemeinderat vorstellig werden.«
»Aber erst mit den Geldern heran.«
»Natürlich. Je eher, je besser. Drum schickt er mich zu Matthieu Thönissen hin. Der habe sie liegen und täte sie gern auf mein Komödiantensalär hin als Vorschuß beleihen.«
»So richtig.«
»Meine ich auch.«
»Dann gute Verrichtung.«
»Merci, Hochwürden.« Und mit einem stolzen »Addio!« zog Pontius Pilatus weiter landeinwärts, dem ferngelegenen Fluchthügel zu, auf dem Matthieu Thönissen sein schönes Anwesen hatte.
Jakob Ezechiel Schlüpers sah ihm offenen Mundes nach, stieß die Zwinge seines Eichenheisters tief in den lauwarmen Boden, kicherte wie ein Schwarzspecht und fragte: »Nun sagen Sie mal, mein lieber Herr Kästner, ist dieser geschwollene Mannskerl als unser regulärer Teich- und Wasserfrosch (rana esculenta) oder als nordamerikanischer Ochsenfrosch (rana catesbyana) anzusprechen, dessen Gelärm seine Landsleute mit ›more rum‹, also mit ›Mehr Rum‹ übersetzen? Ich glaube, wir können ihn getrosten Herzens den nordamerikanischen Spektakel- und Ochsenfröschen beizählen, ohne irrezugehen. Doch sei wie ihm wolle, ich für meine Person lasse mir diesen niederrheinischen Pontius Pilatus auf meinen neuen Pfeifenkopf malen, so bin ich doch, was ich immer erhoffte, um ein munteres Erinnern reicher geworden, von dem ich singen und schmunzeln kann: In manus tuas commendo spiritum meum.«
Noch an demselben Tage trat Heinrich Verschüren seine Übersiedelung an.
Er hatte vor, sie ganz heimelig und unauffällig zu bewerkstelligen, denn er war kein Freund von Ovationen und Überraschungen.
Aber wie sollte er staunen!
Eine übereifrige und frömmelnde Seele hatte sie bereits telephonisch nach Heiligenbaum weitergegeben. Alles was Beine, Hände und gute Gesinnung aufbringen konnte, nahm sich vor, ihm einen herzinnigen Willkomm unter die Füße zu legen. In geschäftiger Eile zimmerte Imanuel Kerskes mit Gesellen und Lehrjungen eine Ehrenpforte vor dem Pastorat auf, woselbst ihm eine Wohnung bereitet. Die Frau Paramentenpräsidentin Anna Berendonk, Luischen und die übrigen noch nicht flüggen Hühnchen des Vereins sorgten für Guirlanden, Fähnchen in den päpstlichen Kulören und die sonstigen Zutaten. Herr Stephan tom Heuvel, Junglehrer im benachbarten Appeldorn, dichtete eine sinnige Begrüßung, die da lautete:
»Wer so wie du nicht fehlt und irrt,
Der ist ein wahrer Seelenhirt;
Des Ruhm steigt in den Himmelsraum
Gleichwie ein lichter Weihnachtsbaum.
Drum sei von allen Guten, Frommen
Dahier aufs herzlichste willkommen«,
schrieb und malte sie auf einen blütenweißen Karton und bekrönte damit den Ehrenbogen in höchst sinniger Weise.
Aller Augen war auf die nicht ferne Haltestelle des großen Personenautos gerichtet, von wannen er herkommen mußte.
Jetzt tutete es.
Bald darauf wandelte eine schlanke Soutane die Straße herauf.
Eine Bewegung entstand. Vom Turme der Gnadenkapelle rief ein Glöckchen herunter, dann ein zweites. Schließlich einten sich vier Glöckchen und Glocken zu einem weihevollen und harmonischen Läuten.
Mein Gott! Was war das nur? Also doch, sie hatten es wirklich erfahren, und er wollte doch kommen wie der gute Hirt, der seine Schäfchen nicht mit großem Gepränge aufsucht, sondern schlicht und einfach und mit nüchternen Sinnen, so wie es der Heiland immer gehalten, wenn er auszog, seine Lämmlein, gesunde und räudige, frohe und unfrohe an den Bachränften des Gelobten Landes oder in der Ebene Jesrael zu hirten.
Er war nicht ganz bei der Sache, als er die zutunlichen Menschen mit freundlichen Worten begrüßte, ihnen versprach, sie nach den Satzungen des Herrn zu führen, den Gnadenort noch gebenedeiter zu machen, denn die Begegnung mit Heribert Kästner bedrängte ihn heftiger, als er dachte, und das um so mehr, als auch Henriette ihn willkommen hieß, in schwarzem Gewand, einer trauernden Königin ähnlich und mit Tränen in den verschleierten Augen.
»Nun mögen wir frohlocken, Herr Kaplan«, sagte sie leise. »Ich ersehnte die Stunde.«
Dann ein kaum wahrnehmbares Zeichen, und vierzig Mädchenstimmen sangen das herzerquickende ›Gott grüße dich‹ durch den werdenden Abend. Und eine Stimme . . . wie ein schneeweißes Täubchen schwebte sie auf zum vergoldeten Himmelreich, das sich über Heiligenbaum und seinen Fluren ausgetan hatte.
So trat Heinrich Verschüren seinen neuen Wirkungskreis an.
Herr Stephan tom Heuvel, der Junglehrer von Appeldorn, der in der Passion den Lieblingsjünger darzustellen hatte, wandte sich an die beiden Marien der Leidensgeschichte, an Maria-Salomea und Maria von Magdala und sagte: »Möge sein Wirken dahier ein gottwohlgefälliges sein, ein Ruhmesblatt für die kleine Gemeinde.«
»Er wird es«, antwortete ihm die letztere mit brennenden Augen, aber ihr Medaillengesicht war wie das einer Sterbenden geworden.
* * *
Die Welt schmückte sich immer voller und schöner. Die Syringenbüsche in den Vor- und Landgärten nahmen bereits einen violetten Schimmer an. Tazetten und Stiefmütterchen machten sich breit auf den Frühlingsrabatten. An den Altwassern steckten Riedgräser und Schwertel ihre langen Wehren aus, als müßten sie das stille Geflügel behüten, das sich in dichten Gehegen häuslich eingerichtet hatte. Vom Reichswald lief ein Flüstern und Gleiten bis zur Hügellehne von Heiligenbaum, woselbst zwischen lichten Birkenstämmen und saftgrünen Baumgruppen die Freilichtbühne ihrer Vollendung entgegenharrte. Ihre ernsten und doch frohen Farben grüßten weit in die Gegend, trugen schon jetzt dazu bei, den Ruf der kommenden Spiele weit durch die Grafschaften und deren Grenzen zu tragen.
Trotz der bedrohlichen und armseligen Zeitläufte, der Irrungen und Wirrungen, der angehäuften Schmach und Demütigungen – es blieb immer dasselbe. Das Volk blieb nun einmal dabei: panem et circenses. Sonst ging es nicht anders, und wenn darüber Deutschland aus allen Fugen und Gelenken knackte, gottjämmerlich versackte und für immer verquiemte. Die Hefe und etliche stinkende Blasen blieben letzten Endes doch an der Oberfläche haften, um dort mit häßlichem Gurgeln zu zerplatzen.
Und Heribert Kästner wartete.
Er wartete auf Nachricht von Heinrich Verschüren.
Das harte Wort ging ihm nach.
Auch heute, an einem Samstagnachmittag, wartete er.
Er befand sich in seinem weltabgeschiedenen Magistergärtlein, das ihm der selige Ildephons Schlickum als hortologisches Kleinod zugebracht hatte.
Die Wege blitzeblank, der Buchsbaum ohne magere Stelle, Mistbeete, Zugänge und Gemüserabatten wie an der Meßschnur gezogen, so bot sich das trauliche Gewese dar, das den nunmehrigen Heger und Pfleger sichtlich über alle Maßen erfreute.
Er war gerade mit dem Anhäufeln der Frühkartoffeln fertig geworden und ging nun dazu über, seinen türkischen Bohnen hilfreiche Hand und Stütze zu bieten. Gerade diese waren ihm ans Herz gewachsen. Die Ranken waren schon tapfer in die Höhe geschossen. Hier und da war eine zu binden, irgendein Greifärmchen um die Stangen zu wickeln. Diese standen wie die Grenadiere im Gliede. Der Sergeant Kristokat von der 3. Kompagnie des Leibregimentes in Stallupönen hätte seine Rekruten nicht besser ausrichten können, so schnurgerecht stand jeder einzelne neben dem andern, die Nasen gespannt, blank wie von der Knopfgabel herunter. Es brauchte nur das Kommando erfolgen: »Parademarsch! Auf der Stelle getreten. Achtung! Mit Gott für König und Vaterland – los denn dafür!« Und die Feuerbohnenstangen wären in tadelloser Richtung durch den kleinen Magistergarten gestakelt.
Ja, Heribert Kästner hatte seine Freude daran, fand Trost in dieser gärtnerischen Tätigkeit, um sich wohler und freier zu fühlen.
»Holla!«
Der muntere Kopf Seiner Hochwürden sah über die Ligusterhecke in das emsige Schaffen.
»Man muß schon, Herr Dechant, um sich das Geschmeiß von dummen Gedanken vom Leibe zu halten.«
»Sie denken doch nicht dabei an meinen etwas ungetreuen Adlatus?«
»So 'n bißchen läuft schon bei der Sache mit unter.«
»Unsinn! Was sollte ich denn erst sagen? Jetzt, wo ich in die Siebenzig hineinspaziere, das Frühjahr einem schon mehr oder weniger in den alten Knochen herumscharmuziert, habe ich bei meiner Seelenklientel von morgens bis spät in den Abend hinein herumzukalfatern, diesem räudigen Bock 'ne Läusefalle zu verschreiben, 'ner Betschwester ihren Mausdreck aus der Seele zu fegen, 'nem Weibstollen mit der babylonischen Hure gruseln zu machen und mir dabei die Sohlen bis zum Brandleder abzustolpern – ja, das habe ich alles zu schaffen . . . und siehe: währenddessen spielt mein junger Mann den großartigen Dramaturgen in Heiligenbaum, läßt sich von Maria Kleophä und Maria Salomea bedienen, findet dabei womöglich noch Zeit und Muße, den wohlgesinnten Katholiken entgegenzueifern und Ihnen bei Ihrer vorgesetzten Behörde so 'n kleines Feuerchen unter dem Sitzfleisch abzubrennen.«
»Schon möglich, Herr Dechant.«
»Natürlich schon möglich. Aller Voraussicht nach sogar bald zu erwarten. Trotz seiner unbestreitbaren Vorzüge, Heinrich Verschüren ist scharf wie ein Fuchseisen, zudem beseelt von einem eisernen Willen. Den von ihm als richtig taxierten Weg verfolgt er mit einer Zähigkeit eines eigensinnigen Lemmings, selbst dann, wenn es gölte, einen hundertmeiligen Pfad über Stock und Sturzacker zu verfolgen. Aber ich bin auch noch da, ich, Jakob Ezechiel Schlüpers, pastor loci hiesiger Kirchengemeinde . . . und riechen Sie Lunte – ich bitte um Nachricht. Der Kaplan führt eine geschmeidige Sohle, ich einen derben Bauernschuh, und wird dieser Triarier aufgerufen, setzt es Fetzen, zum wenigsten Krähenaugen ab. Das soll hiermit gesagt sein.«
»Ich danke, Hochwürden.«
»Nichts zu danken, mein Bester. Gärtnerieren Sie weiter. Ich statte derweilen Besuch ab. Diesmal als Schlichter. In der Nachbarschaft haben sich zwei in der Wolle: Männlein und Weiblein. Bloß das Weibsbild ist dem Mannskerl um das Dreifache über. Da muß mein Bakel dazwischen, sonst leidet der Herr der Schöpfung Schaden am eigenen Leibe, und unsereins darf das eigene Geschlecht nicht in der Minderheit lassen. Was von der Mannesrippe stammt, hat dem Manne untertänig zu sein, ihm zu dienen wie der Weinstock über der Tür seines Hauses, auf daß er Gescheine ansetzt und taugliche Früchte, sonst ist jegliches eitel und nichtig und nur Krawall unter den Dachsparren. Mit Gott denn, und zum Angelusläuten ein Dämmerschöppchen im ›Blauen Schiffchen‹ zusammen.«
Damit war der markante Kopf des geistlichen Herrn von der Ligusterhecke verschwunden.
Sein fester Schuh knarzte aber noch lange auf der geräumigen Straße.
Heribert Kästner horchte ihm nach.
»Ja, wenn alle so wären«, sagte er bedrückt vor sich hin, »es stände besser um vieles, besser um Treue und Glauben, besser um Deutschland.«
Hierauf begann er aufs neue zu krauten, aufs neue zu häufeln.
Eine Viertelstunde mochte darüber vergangen sein, da war es ihm so, als vernähme er das traurige ›Rattata, rattata‹ aus der Kavarinerstraße in Kleve.
Er suchte lange die Umgegend ab, ohne den Grund des unheimlichen Pochens finden zu können.
Endlich – da sah er. Der Besitzer des Nachbargartens hatte auf hoher Stange einen Starenkasten errichtet. Darüber hinaus ragten vier niedliche Windmühlenflügel, die es verstanden, bei der geringsten Brise ein kleines Hammerwerk in Bewegung zu setzen. Die beiden Starmätze ließen sich hierdurch keineswegs stören. Also hier war des Rätsels Lösung zu finden, und dennoch: dem Einsamen wurde es seltsam zumute. Ein unbestimmtes Od büschelte von der Kavarinerstraße herüber, ein gewisses Etwas, dem er sich nicht zu entziehen vermochte und das ihn mit kalten Fingerspitzen berührte.
»Rattata, rattata, rattata!« während die gesprenkelten schillernden Sprähen lustig und äußerst kregel dazwischen parlierten.
Er horchte hinaus, über das Bohnenfeld hin, über die Stachelbeersträucher und Erbsenrabatten. Ihm schien es, aus dem alten geräumigen Giebelhaus mit dem warmen Geruch nach dunklem Tuch, nach Firnis und Kreppschleiern wollte sich irgend etwas mit ihm in Verbindung setzen, sich mit ihm verständigen, um das letzte Fazit der verflossenen Monde endgültig zu regeln; denn das fühlte er selber: so ging das nicht weiter – entweder Trennung oder das heißersehnte Ziel zu erreichen.
Er war kein Hellseher oder einer von den Blassen im Lande. Er wurzelte in Gedanken, Worten und Werken fest auf der Scholle, hatte keine seltsamen Eingebungen, hörte keine heiligen Zungen aus dem Jenseits – aber in diesem Augenblick war es ihm doch, als würde ihm von Geisterhänden irgendeine wichtige Botschaft zugetragen. Er vernahm ein klagendes Seufzen vom Gartentörchen her, dann zögernde Schritte, die immer sicherer und emsiger wurden.
Jemand schien ihn zu suchen.
So trat er denn auf den Kiespfad hinaus, um das mit Syringen umbuschte Grundstück besser überblicken zu können, und siehe: ein untersetzter, stumpiger, aber lebhafter und energischer Herr mit glattrasiertem Gesicht, kurzverschnittenem Haar und neckischen Runen in der hinteren Kopfschwarte, ein Mann in Halbtrauer, die strammen Beinchen etwas zu weit durch die knappbemessenen, aber mit tadellosen Bügelfalten ausgestatteten Hosen geschoben, kam feierlichst den Hauptweg herauf: Herr Baumann.
Er trug eine tadellose Tazette im Knopfloch.
Bei Heribert Kästner angekommen, schlug er die Hacken zusammen, salutierte straff und bündig, indem er den schwarzumbordeten Hartmann abnahm, um sich wieder ebenso straff und schnittig zu bedeckeln.
»Ich gebe mir die Ehre, Herr Kästner. Ich störe doch nicht?«
»Immer herzlichst willkommen. Solchen Besuch weiß ich allzeit zu schätzen.«
»Ist für mich äußerst lieblich zu hören.«
»Warum sind Sie denn nicht schon früher vorgesprochen, Sie und Ihre werte Gesponsin, vornehmlich jetzt, wo die Welt in Blust und Blüte steht und die Menschen ein Anrecht drauf haben, endlich mal hoffen zu dürfen?«
»Leider, die Geschäfte gehn vor, und die meinen ließen keine freie Stunde ersparen. Wie die Krähenvögel fielen sie ein. Meine Dachsparren wurden schwarz von Dohlen und Raben, so dicht saßen diese Komparenten nebeneinander. Die Frühlingstage haben viel auf ihr Konto zu buchen.«
»Und heute?«
»Ein ganz besonderer Fall.«
»Und der wäre, Herr Baumann?«
Der nunmehrige Alleinchef des Beerdigungsinstituts ließ die Augendeckel herunter.
»Herr Lehrer«, sagte er etwas benaut vor sich hin. »Ich sprach in Ihrer Privatwohnung vor. Leider nicht da. Hierauf im ›Blauen Schiffchen‹. Vor 'ner guten halben Stunde fortgegangen, so hieß es. Wohin? Unbekannt. Dann auf die Straße hinaus, und keine drei Minuten vergingen, da trat mir auch schon der Herr Dechant entgegen. Der wußte Bescheid. Nur tapfer ausgeschritten, Herr Baumann. Der sitzt in seinem Magistergärtlein, sieht seine türkischen Bohnen wachsen und hört, was die Starmätze pfeifen.«
Seine schweren Lider hoben sich wieder.
»Ich bin glücklich, Sie gefunden zu haben, denn meine Angelegenheit darf ich als dringlich bezeichnen.«
Heribert Kästner zuckte zusammen, als vernähme er abermals das unselige ›Rattata, rattata‹ aus der Kavarinerstraße in Kleve.
»Ich höre, Herr Baumann.«
»Es handelt sich um meine stille Teilhaberin. Gleich nach dem Mittagessen sprach sie unter dem Vorwande bei mir vor, etliche Aufklärungen über den Geschäftsgang der Firma einzuholen, obgleich ihr der Betrieb so wesensfremd, ja so gleichgültig schien wie die schöne Profitkolonne des letzten Vierteljahres, die ich ihr vorführen konnte. Es war eben ein Vorwand, wie ich schon sagte, denn plötzlich liefen ihr heiße Tränen über die Wangen, schob sie alle ihr vorgelegten Kassabücher, Journale und Rechnungsbelange verächtlich beiseite, als wären diese Aufstellungen von mir bloß so aus den Fingern gesogen. Ich weiß, sagte sie heftig. Sie machen alles schon richtig. Drum bin ich gar nicht gekommen . . . und ihr Gesicht wurde wie das einer Verzweifelten, der nichts mehr übrigblieb, als alles auf eine Karte zu setzen.«
»Aber Herr Baumann . . .!«
»So ist das und nichts dran zu ändern. Ich bekam's mit der Angst und wollte schon meine Frau um Beistand ersuchen. Nichts da. Nur Sie können mir helfen. Ihre Mundecken verzerrten sich. Sie erhob sich mit einem leisen Schrei, der an den eines verwundeten Tieres erinnerte. Alles erstarrte an ihr. Sie müssen mir helfen, sagte sie nochmals. Aber ihre Stimme war heiser geworden. Ich muß ihn unbedingt sprechen . . . und das noch heute, Herr Baumann . . . Aber nicht hier . . . drüben, auf neutralem Boden, Herr Baumann . . .«
»Also hier?« keuchte Heribert Kästner.
»Ja, Henriette Jansen ist bei mir . . . wartet bei Derksen . . . und wenn Sie befehlen . . . Ich glaube: in diesem verschwiegenen Garten ist alles vorhanden, was sie benötigt: Ruhe und Einsamkeit. Außerdem – ihr Wunsch ist erfüllt: auf dieser Stätte hat sie neutralen Boden gefunden.«
Die Blicke des gütigen Vermittlers suchten in denen Heriberts, dessen eherne Züge immer eherner wurden. Lind und warm klangen die Worte ihm zu: »Und wenn Sie befehlen . . . ich meine, wenn Sie die Güte aufbringen würden . . .«
Er räusperte sich, weil ihm der Mut fehlte, weiterzusprechen, nestelte die Tazette aus seinem Knopfloch, spielte mit ihr, um sie wieder an Ort und Stelle zu bringen und entschlossen und fester zu sagen: »Ja, mein Verehrter, wenn Sie befehlen . . . sich eine Aussprache ermöglichen ließe; ich glaube, die Seelenängste eines verzweifelten Weibes würden um vieles behoben. Auch die meinen, denn sie ist immer die Tochter meines abgeschiedenen Seniorchefs, dem ich Dank schulde bis zur letzten Stunde, wo sie auch mir das ›Oremus‹ singen. Und da möchte ich doch herzinniglichst bitten . . .«
Eine Hand schob sich rasch in die seine.
»Ich warte, Herr Baumann.«
»Gott sei gedankt!«
Ein befreienderes Seufzen war dem Magistergärtlein wohl kaum zu Ohren gelangt, ein rascheres Schreiten hatten seine Kieswege schwerlich vernommen. Selbst die beiden Starmätze, die eifrigst ab- und zuflogen, gaben ihre muntersten Noten zum besten, ohne von dem störenden Mühlengeklapper unterbrochen zu werden.
Heribert war dicht in den schmalen Schatten der Springenlaube getreten, deren weitverzweigte Büsche jedes profane Auge von dieser verschwiegenen Stätte fernhielten, sie als heilig und unantastbar erklärten.
Trotz seiner erzwungenen Ruhe, er fühlte das Aufbegehren seiner heißen und aufgestöberten Sinne.
Er brauchte nicht lange zu warten.
Bald darauf kam sie.
Mit niedergeschlagenen Augen betrat sie den Garten, barhaupt, die mächtigen Flechten zu einer stolzen Krone gewunden. Ein dunkles Gewand mit Florbesatz, das sich geschmeidig um ihre Glieder legte, umkleidete sie. Alles Trauer in Trauer – und in dieser Trauer dennoch diese berückende Schönheit, dieses Weib, das selbst in seinem brütenden Schmerz die Leidenschaften des Mannes erregte.
Willenlos schritt sie der dunklen Laube entgegen.
Keine Erregung in ihr. Ihr Atem ging nicht stärker als sonst. Ihre junge Brust hob sich so ebenmäßig, als wenn sie zum Altarsakrament ginge. Nur ihre wächsernen Hände nestelten an einem schwarzseidenen Tüchlein, das ihr von den Schultern herabhing. Im Weiterschreiten straffte sie es über Nacken und Büste, zog es immer enger zusammen.
»Henriette!«
Die Kehle war ihm trocken geworden.
Seine Blicke richteten sich voll leidenschaftlicher Gier auf die hohe Gestalt, die ihn mit dem feinen Wildgeruch des Sinnlichen streifte. Daß er sie herbeisehnte, wie der Schwerkranke das steigende Licht des jungen Tages, wußte er lange, daß sie aber nach all den Bitternissen und herben Entsagungen begehrenswerter und schöner geworden, nein – das wußte er nicht, das sah er erst heute.
Er trat auf sie zu.
Ihr Fuß wurzelte an. Ihre Augen öffneten sich, als müßten sie erst jetzt das Bild preisgeben, das in ihren Tiefen lohte und brannte. Die bleichen Hände ließen den dunklen Schleier fahren, umgriffen das Goldkreuz an ihrem Halse, um bei ihm gleichsam Schutz und Stärke zu finden.
Er sah die rasche Bewegung. Das Aufreizende ihres geschmeidigen Körpers.
»Henriette . . .!«
Die verträumte Umgebung, die Nähe des geliebten Weibes, der Hauch, der ihrem jungfräulichen Leibe entströmte, wirkten erregend auf ihn, machten ihn weich wider Willen, lähmten die Kraft eines entschlossenen Mannes in ihm, die Unveräußerlichkeit eines gepanzerten Herzens . . . und noch bevor sie es zu hindern vermochte, hatte er sie an sich gerissen: »Du . . .!«
Mit hellem Schrei bog sie sich rücklings.
Aber er hielt sie. Brust lag an Brust.
Ihre Nasenflügel öffneten sich. Ihr Atem stürmte. Die weichen Arme strafften sich. Ihr Mund keuchte: »Und weißt du denn eigentlich, warum ich gekommen bin?!«
Er gab keine Antwort. Er fühlte nur sie, er sah nur sie, er wußte, daß er ohne sie nicht mehr zu leben vermochte.
»Heribert, weißt du . . .?!«
»Ich sehe nur dich, ich fühle nur dich.«
Sein heißer Mund stand dicht über dem ihren.
»Henriette, rette mich, hilf mir!«
Seine Worte flehten, seine Augen baten, sein eigenes Blut rauschte ihm zu, als müßte ein Sommerwald in seinem eigenen Rauschen ersticken. Nie wohl wurden ihm die heißen Strophen des Hohenliedes Salomonis lichter und klarer denn in der jetzigen Stunde. Du bist wie ein elfenbeinerner Turm, der gen Damaskus schauet. Die Grübchen deines Leibes sind gesegnet mit Benzoesalbe. Du bist ein verschlossener Garten, ein versiegelter Born. Die Turteltauben lassen sich hören im Lande, die Feigenbäume haben Knospen angesetzt, und in all dieser Herrlichkeit: deine jungen Brüste stehen gegeneinander wie Granatäpfel, die Anstalten machen, sich heimlich zu fliehen. Der kleine umbuschte Magistergarten wurde zum Paradiese für ihn, zur geweihtesten Stätte im Heiligen Lande, die die Wasser des Jordans durchplätschern. In diesem Garten vergaß er alles, was sie ihm angetan hatte, obgleich eine zwingende Stimme ihn mahnte: »Bleibe dir getreu, bevor es zu spät ist.«
Sie selber konnte sich der drängenden Gewalt des Mannes nicht mehr entziehen. Ihre Züge versteinten. Die Augen nahmen einen seltsamen Glanz an. Die unterdrückte Leidenschaft des Weibes in ihr tat sich auf wie der Sturm, der über die Deiche und über die Schleusenwerke dahinwollte.
Und wieder die stammelnden Laute: »Die Granatäpfel winken mir zu, es ist blau von Veilchen um mich, die Turteltauben lassen sich hören im Lande . . .«
»Ach – du . . .!« und wider Willen, nicht Herrin über sich selbst mehr, streckte sie sich, hob ihre Arme, umflocht ihn, drückte sie ihren heißen Mund auf seine zuckenden Lippen, als sei sie gewillt, ihm den letzten Blutstropfen aus dem Herzen zu trinken. Und dann – von diesem Taumel gefaßt, aus diesem Geben und Nehmen rangen sich Worte und verzweifelte Laute, die sich wechselseitig beleuchten, sich nicht zu einem harmonischen Klingen vereinigen wollten: »Heribert – wie bitter ist das, und doch wie süß und verzehrend. Ich greife durch Licht und dennoch durch unermeßliche Finsternis. Ich trinke die lauterste Reinheit, wenn ich auch fühle, es ist Essig und Wermut dazwischen. So geht das nicht weiter. Ich harre des Wunders, und werde doch nicht des Wunders teilhaftig. Wenn die einsame verschwiegene Lampe doch aufhellen würde! Wenn wir allein wären! Wenn ich doch sagen dürfte: Heribert, es wird dir alles gegeben. Ich hab' nichts Geheimes mehr, was du nicht hinnehmen könntest. Es wird heilig in deiner Umarmung, heilig vor Gott und seinen Blutzeugen. So aber – du . . .« und ihre junge Brust stürmte gegen die seine. »Warum das? Weshalb bin ich mit diesem furchtbaren Stigma behaftet, mit diesen herben Gedanken und Zwangsvorstellungen? Warum denn? Ich kann doch nicht dafür, daß eine unwiderstehliche Gewalt mich zu Gott hinzieht, zu seinen Thronen und Herrschaften, eine Gewalt, die mich zwingt, ihm mich unterzuordnen, seinem Willen als Werkzeug zu dienen, selbst auf die Gefahr hin, seinem Stellvertreter und Priester zu dienen . . .«
»Was – du?!«
»So ist es«, und bevor er es noch verhindern konnte, hatte sie sich von seinem Herzen gerissen und ihn von sich gestoßen.
Hoheit umgab sie. Ihr Seidentüchlein war ihr von den Schultern geglitten. Knisternd sank es zu Boden. Sie fußte darauf, als wäre es nicht wert und würdig, aus dem Staube gehoben zu werden.
Sie stand vor ihm, wachsbleich, regungslos, mit einer Ruhe im Herzen als wäre gar nichts geschehen.
»Mein Gott und mein Heiland . . .!«
Er machte Anstalten, näherzutreten, aufs neue ihren Leib zu umfangen.
»Bleibe«, gebot sie, »oder was dachtest du dir . . .?«
Heiß flammte es in ihrem Innern auf.
Krampfhaft verflocht sie die Hände.
»Ja, was dachtest du dir . . .? Nach allem, was ich dir schrieb und dir mitteilen mußte, nach allem, was du mir entgegenhieltest, nach all den Anwürfen, die mich bitterlich kränkten, da kannst du doch nicht annehmen wollen, es wäre an mir vorbeigeglitten wie Sternschnuppen in laulichen Sommernächten, ich wäre gekommen, um Reue und Leid zu erwecken und heimlich zu stammeln: Herr, vergib deiner Magd, auf daß sie wieder würdig werde der Gnade des Herrn.«
Er war bleich wie eine gekalkte Mauer geworden.
»Hohn oder Werktätigkeit?« fragte er heiser.
»Keines von beiden; nur Liebe.«
»Weib . . .!« fuhr er auf.
Seine Rechte packte zu, umgriff ihr Handgelenk, schnürte es wie mit eisernem Schraubstock.
»Verkehre mir das eigene Wort nicht im Munde. All das Öde und Leere, all das Unausgesprochene, das Trauern in Worten und Werken ist meistens auf dein Konto zu buchen. Ich bin nicht schuldlos, aber deine Schuld sündigt wider den heiligen Geist.«
»Heribert . . .!«
»Schweige! Um deinetwillen wurden mir die Tage vergällt, die Nächte zu Nächten, die ich um aller Seligkeiten willen nicht mehr zurückrufen möchte. Um deinetwillen bettelte ich wie ein Wegemüder an der Landstraße bei einem Kieselstein bettelt, ein Stück Brot zu empfangen, bis ich schließlich zur Erkenntnis gelangte: du bist dir selber ein Gespött und ein Gespött der Menschen geworden . . . um anderen Tages . . . ja, um anderen Tages . . .«
Ein trockenes Schluchzen erschütterte ihn.
»Heribert, so sei doch nicht so gänzlich verzweifelt. Du irrst dich. Du mußt doch begreifen . . . Ich konnte nicht anders und durfte nicht anders. Eine Stimme ist in mir, die mir gebietet, so mein Leben zu leben, wie die Vorsehung will und gebietet. Ich kann nicht dafür, daß eine unwiderstehliche Gewalt mich zu Gott und seinen Spielen hinzieht, mich zwingt, seinem heiligen Willen als Werkzeug zu dienen. Ich bin eine Magd des Herrn und habe als solche zu folgen. Sei mit mir bis die Zeit sich ausreift, wo wir die Ernte erhoffen. Bauen wir auf, statt herunterzureißen. Lieben wir unsere Feinde, wie wir unsere Freunde verehren. Bitten wir denen ab, die wir kränkten, auf daß kein Ärgernis werde. Gehen wir zu denen, denen wir die Seele zerfleischten, und sagen wir ihnen: Vergib uns unsere Schuld, denn wir sind an euch schuldig geworden . . . und siehe: alles, was die Harmonie des Daseins bedrohte, wird sich wieder vereinen und aufs innigste fügen.«
»Das meinst du?«
»Ja, Heribert, aus dem tiefsten Grund meines Herzens.«
Sein ehernes Gesicht verfärbte sich, wurde fahl, um gleich darauf wieder hart und ebenmäßig zu werden.
»Dann eine Frage.«
»Ich bitte darum.«
»An wen ist diese Mahnung gerichtet?«
»An dich«, sagte sie ruhig.
»Und für wen nehmen diese Worte Partei und verpflichten mich, Reu' und Leid zu erwecken?«
Ihr Kreuz bog sich ein. Jede Linie ihres schönen Leibes wurde geschmeidig.
»Das weißt du, wo das doch alles passiert ist. Für seine Hochwürden.«
Er gab ihr Handgelenk frei und taumelte rücklings.
»Betteln bei dem?!«
Das war ein Peitschenhieb, der ihm Leib und Seele durchstriemte.
»Also bei dem da . . .?! Bei Heinrich Verschüren, der mich ans Marterholz brachte?! Weib – du! Also da will's hinaus?! Und kamst nicht um der Liebe und der Barmherzigkeit willen?! sondern nur, um mich in seinem Namen in die Knie zu zwingen?!«
»Ja – du! Das Unrecht muß erst aus der Welt . . . will Sühne um deinetwillen, um unseretwillen, bevor es zu spät ist. Das Unheil steht wider dich auf . . . zertritt dich . . . zermalmt dich . . .«
»Also Buße für mich?« fiel es ihm bleiern vom Munde. »Buße in Sack und Asche für mich . . . in die Knie mit mir, bevor es zu spät ist«, und ein gelles erschütterndes Lachen durchschnitt das Magistergärtlein mit der Schärfe eines Rasiermessers.
Er streckte die Hand aus.
»Ah! siehe da . . . Da steht das Weib, die Barmherzigkeit selber, die ich bis zum Wahnsinn liebte und auf den Händen trug, und erniedrigt sich zur Botin und Trägerin dieses Priesterbefehls! Bitten wir ab, auf daß es kein Ärgernis werde. Ein Wort, würdig des Heilands. Nur es gehört an die rechte Adresse. Wer hat abzubitten – er oder ich?! O du – du linde und barmherzige Seele! Satt und genug! Hier scheiden sich unsere Pfade. Der große Nebel setzt ein. Nur ein Letztes noch: Sagen Sie dem Mann in der schwarzen Soutane: umgekehrt ist hier Trumpf in der Karte . . .«
Sie rang verzweifelt die Arme.
»Heribert, ich rufe zum Letzten! Auf zu ihm, auf daß Friede zwischen euch werde, bevor es zu spät ist.«
»Niemals! Oder nur dann, wenn ich es für erforderlich halte.«
»Dann ist meine Mission hiermit zu Ende«, sagte sie tonlos.
»Völlig, aber es wäre besser gewesen, wir wären uns nicht mehr begegnet.«
Sie nickte und wandte sich zum Gehen.
»Du!« fuhr er auf.
Mit beiden Händen hatte er ihre Schultern ergriffen, sie geschüttelt mit der Verstörung eines verzweifelten Mannes.
Sein Gesicht stand dicht vor dem anderen. Noch einmal berührten sich ihre Atemzüge, noch einmal pochten ihre Herzen gegeneinander.
»Weißt du, wer du eigentlich bist?« fragte er mit glanzlosen Augen. »Wer bist du? Ein Engel aus den himmlischen Chören oder das Weib aus der Offenbarung Johannes? Ich kann es nicht sagen. Aber das weiß ich: so seid ihr Weiber all miteinander. Kaum, daß ihr wißt, wozu ihr auf Erden bestimmt seid, kaum, daß eure Glieder sich runden und zu Fangarmen werden, kaum, daß eure jungen Brüste sich mit Rosen besticken – saugt ihr uns das Blut aus den Adern . . . quält uns . . . oder zermartert uns mit Freuden, hinter denen ein langsames Sterben wartet . . . Laß mich! Ich habe nichts mehr zu sagen . . . außerdem: deine Zeit ist bemessen. Die Geistlichkeit wartet nicht gerne. Sie will prompte Bedienung. Da gibt's kein Paktieren. Religion und Kirche sind duldsam. Sie stammen von Gott, nicht immer ihre Vertreter und Diener. Sie schlagen ihre besonderen und eigenwilligen Psalter, und wenn zu viele solcher Priesterharfen im Staate angeschlagen werden, vernimmt er zuletzt das hohe, wenn auch traurige Lied vom ›zerstörten Jerusalem‹. Also – lasse seine Hochwürden nicht warten . . .«
Er trat in den Schatten zurück und lauschte auf langsame und verlorene Schritte. Auch glaubte er ein stilles Weinen zu hören.
Aus dem Nachbargarten klang wiederum das monotone ›Rattata, rattata‹ über Fliederbüsche und Ligusterhecken – dasselbe Hämmern und Pochen wie im Beerdigungsinstitut des braven heimgegangenen Joris Jansen auf der Kavarinerstraße 15 in Kleve.